Knape (2006) – Virtualität und VIVA

Transcrição

Knape (2006) – Virtualität und VIVA
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VIRTUALITÄT UND VIVA-VIDEO WORLD
JOACHIM l<NAPE
Im letzten Sommer habe ich die Ferien mit meinen beiden Söhnen Felix
und Florian auf der spanischen Insel Ibiza verbracht. Wir bewohnten eine
Ferienwohnung in einem ausgedehnten Gebäude des Küstenorts Santa
Eulalia. Eines Nachmittags bog ich auf meinem Weg durch die unübersichtlichen Arkadengänge des Innenhofs um eine Ecke, und plötzlich
stand eine junge attraktive Frau vor mir, eine ungewöhnliche Schönheit.
Wir versperrten uns ungewollt den Weg, sie lachte, wir sahen uns an, ich
lächelte zurück und gab ihr mit leichter Augenbewegung den Weg frei.
Eine unerwartete Erscheinung mit angenehmer Wirkung auf mich. Ich
sah sie nie wieder.
Meine Söhne und ich waren gerade dabei, der alten Dorfkirche auf
dem Berg einen Besuch abzustatten, auch um den Blick über die Küste
zu genießen. Wir bestiegen den Berg und traten in die kleine Kirche. In
den engen Seitennischen stand etwas Devotionalienkitsch. Der Hauptraum war weiß getüncht, völlig kahl und schmucklos, mit ein paar Sitzgelegenheiten. Es gab nur einen einzigen Blickfang: den sehr schmalen
barocken Hochaltar, der in der Mitte der Vorderwand völlig isoliert in
die Höhe ragte. Die Architektur seiner wenigen Aufbauten bestand aus
vergoldeten Säulen und Rankenwerk mit Bildelementen und einer Statue
von Santa Eulalia in der Mitte. Die kleine barocke Pracht, in ihrer südlichen Omamentfülle leicht befremdlich, konzentrierte und fesselte den
Blick Momente lang. Dieser „goldige" Altaraufbau war eng begrenzt und
hob sich in seinem Glanz der Vorderseite abrupt von der farblosen Kargheit der ihn umgebenden Wand ab. Blickte man auf die beiden Seiten des
goldenen Säulenaufbaus, sah man übergangslos weiße, roh gefügte Bretter mit ausgeleierten Türverschlägen, die verhinderten, dass man hinter die
Altarkonstruktion sehen konnte. Nur wenn man direkt vor dem schmalen
Altaraufbau stand, erblickte man das goldglänzende Phantasma des heiligen Schreins. Die Oberfläche der Vorderseite evozierte Glanz, jeder Blick
zur Seite brachte ernüchternde Kahlheit. „Merkwürdig," denke ich beim
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JOACHIM KNAPE
Hinausgehen, „dass allein die handwerkliche Bearbeitung der Vorderseite
eines Holzgerüsts mir solch ein besonderes Erlebnis verschaffi. Es sind die
Oberflächen, die uns affizieren. Dirigieren sie uns auch?"
Zurückgekehrt entschlossen wir uns, nach dem Abendessen fernzusehen. In der Ferienwohnung waren die deutschen Kabelkanäle eingestellt, wir machten Platz für den Apparat, schalteten ein, und meine Söhne begannen zu zappen. Nach einiger Zeit blieben sie beim Musikvideokanal VIVA hängen, dessen Programm natürlich auch mich interessierte.
Aber während ich die unendliche Reihe der Videoclips neugierig an mir
vorbeiziehen ließ, versuchten meine Söhne bald immer mal wieder wegzuzappen, ja, suchten sich bald Zusatzbeschäftigungen: der eine las
„gleichzeitig" eine Zeitschrift, der andere machte sich an seiner begonnenen Serie von Comiczeichnungen zu schaffen. Am Ende saß ich allein
konzentriert vor den Videoclips.
1.
LEBENSWEL TLICHE WAHRNEHMUNGSHIERARCHIEN
UND MENSCHLICHES INTERPRETATIONSVERMÖGEN
Ich habe ihnen gerade eine Reihe von Wahrnehmungsereignissen aus einem beliebigen Tag meines Lebens geschildert. In der Fülle von unkontrolliert ablaufenden Alltags-Perzeptionen gibt es einige wenige, die
schon im Vorfeld, aufgrund unserer Erwartung, apperzeptiv markiert
sind oder nachträglich von uns aus dem Fluss der Erfahrung herausgezogen, isoliert und höherwertig eingestuft werden. Aber nicht nur diese
Differenz ist wichtig zwischen der permanenten, gewissermaßen naturwüchsigen Perzeption, die jeden Tag unseres Lebens bestimmt, beginnend mit dem ersten Lidschlag nach morgendlichem Erwachen, und der
kontrollierten bzw. erwartungsgesteuerten Apperzeption gespannt herbeigeführter Wahrnehmungsereignisse.
Wichtig ist insbesondere der Realitätsstatus, den ich Wahrnehmungsereignissen aufgrund meiner Interpretation zugestehe. Für Platon haben
jene Dinge, die sich mir zeigen, die phainomena, unterschiedlichen
Seinsstatus. Wir sagen heute natürlich, dass wir ihnen höchst persönlich
den für uns maßgeblichen Status zuschreiben, denn ich bin - mit Alfred
Schütz gesprochen - das Zentrum meiner Wirkwelt (vgl. Knape 2000:
42), aber auch meines Selbstsorge-Umfelds. Ich muss fähig zur Realitätskontrolle sein, ich muss in der Lage sein, die bei mir verarbeiteten Informationen in „fact and fiction" zu sortieren, weil ich sonst etwa verhungere. Die eine Art der von mir als Information verarbeitbaren Phänomene nennt Platon „wahr", die andere „bloß darstellend" (mimetos);
mit Aristoteles würden wir sagen: „simulativ". Alles Imitative oder Simulative aber ist für Platon höchst bedenklich, weil es uns in Konflikt
mit den eigentlichen, überlebenssichemden Realitäten bringen kann.
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VIRTUALITÄT UND VIVA-VIDEO WORLD
Heute ist für mein pl';rsönliches Handeln und Entscheiden wichtig, ob es
sich bei den Wahrnehmungen nach meinem Urteil - und nur nach meinem Urteil - um reine Erscheinungen bzw. Bilder ohne materielle Seinsreferenz handelt, die Platon fragwürdige phantasmata nennt („Politeia"
598b). War die schöne junge Frau unter den Arkaden ein Traumgesicht
oder war es ein Erlebnis, dem ich eigentlichen Realitätscharakter zuschreibe? Ist es die Erinnerung an einen Film? Habe ich die Geschichte
gar zum Zweck dieses Vortrags erfunden?
Wir sind jetzt an einem Punkt, der uns zu dem im Fluss meiner Alltagshandlungen auftretenden Medienphänomenen führt. In meiner Lebenspraxis tritt immer wieder und inzwischen verstärkt TechnischMediales auf. Ist der Santa Eulalia-Altar demgegenüber kein Medium?
Wenn doch, welchen Text trägt er? Welche Information vermittelt er?
Wie tritt er apperzeptiv als Relief aus dem Kontinuum meiner ständigen
Perzeptionen hervor?
2.
OHNMACHT UND REALITÄTSVERLUST DES
ir
WAHRNEHMENDEN UND INTERPRETIERENDEN
INDIVIDUUMS IM BANN DER MEDIEN?
Um mein Wahrnehmen, Erleben und Handeln lebensweltlich zu bewältigen, brauche ich auch eine gut trainierte Kompetenz auf dem Gebiet der
Symbolisierungen und der Medien, damit der Informationskomplex „eigentliche Realität" mir nicht entgleitet. Will ich mir Rat bei Medienkritikern wie Jean Baudrillard holen, dann lese ich, dass nicht nur wir uns als
handelnde Wirkzentren auflösen, sondern dass sich auch die sich zeigende Realität in undifferenzierte Faktenfiktion auflöst. Das Ich könne dem
medialen Overkill nicht mehr entrinnen, versinke im Medien-Smog, will
sagen: breche unter der Last des überbordenden Angebots audiovisueller
Texturen geradezu zusammen. Baudrillards Analysen gehen von dem
unbestreitbaren Faktum aus, dass die technische Medienwelt in der Gegenwa11 ungeahnte Dimensionen angenommen hat, sich permanent und
zunehmend in unser Leben mischt. Sind seine Schlussfolgerungen aber
immer akzeptabel? Dies betrifft insbesondere die These vom Ende der
Realität und vom Ende des handlungs_mächtig eingestellten, wenn auch
nicht immer handlungsmächtig reüssierenden Wahrnehmungssubjekts.
Kann ich seinen Erfahrungsdeutungen zustimmen, die in seinem Beitrag
„Videowelt und fraktales Subjekt" auf eine Olmmachtserklänmg des
handelnden Individuums (als einer bedingt selbstgesteuerten sozialen Entität) und die Feststellung seiner völligen Selbstentfremdung hinauslaufen? Das Textangebot der Medien verschlinge, so Baudrillard, selbst unsere intimsten menschlichen lnteraktionsmöglichkeiten und lasse uns nur
noch eine faktenfingierende Illusion übrig:
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JOACHIM l<NJIPE
„Da die Anderen als sexueller und sozialer Horizont praktisch verschwunden
sind, beschränkt sich der geistige Horizont des Subjekts auf den Umgang mit
seinen Bildern und Bildschirmen. Was sollte da noch Sex und Begehren für es
bedeuten? Als minimales Element eines umfassenden Netzwerkes wird es unempfänglich für die anderen und für sich selbst, und seine Gestalt entspricht der
Wüstengestalt des Raumes, die aus der Geschwindigkeit entsteht, und der des
Sozialen und des Körperlichen, die durch Kommunikation und Information, und
der des Körpers, der durch unzählige Körperprothesen verwüstet wird. Das
Ganze des menschlichen Wesens, seine biologische, muskuläre, tierische Körperlichkeit ist in die mechanischen Prothesen übergegangen. Nicht einmal mehr
unser Gehirn ist uns verblieben, sondern flotiert in den unzähligen Hertzschen
Wellen und Vernetzungen, die uns umgeben. Das ist keineswegs ScienceFicticn, sondern bloß die Verallgemeinerung der Theorie Mcluhans über die
,Auscfehnung des Menschen'." (Baudrillard 1989: 114)
Ich möchte an solcher Analyse leise Zweifel anmelden und zudem fragen, ob der hier heranzitierte McLuhan den medialen Ausdehnungen des
Körpers nicht durchaus etwas Positives abgewinnen konnte. Gibt es denn
keine Lernerfahrung der technisch versierten Jungen? Medialer Overkill
führt inzwischen auch zu Abwehrreaktionen (Knape 2005a: 143-144).
Baudrillard meint, mit den technischen Medien der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts sei für unsere Erlebniswelt etwas qualitativ Neues,
Gefährliches in die Welt gekommen. Aber ist es denn nicht so, dass unsere W ahmehmung immer schon gefährdet war? Weichen Realitätsstatus
unsere Wahrnehmungen haben, ist, denke ich, schon immer umstritten
gewesen, und die früher nur vom Hörensagen oder durch Zeitungen vermittelte Politik war noch sehr viel manipulations- und fiktionsanfälliger
als die Politik-Darstellung heutiger Echtzeitmedien, die für Baudrillard
besonders problematisch sind. Dass sich unsere Wirklichkeit ganz und
gar in Simulakra auflöse und zu einer gigantischen Referenzlosigkeit
wahrgenommener Bildweiten führe, die Baudrillard „Hyperrealifät"
nennt, scheint mir fraglich. Solange wir Menschen noch nicht hilflos mit
jen Apparaten nach Mensch-Maschine-Modellen vernetzt sind, bleibt es
)ei lebensweltlichen Korrekturvorgängen und Realitätsproben diverser
<\rt.
Modeme Medientheoretiker meinen, die „virtual reality" mit all ihren
]efahren sei ein Produkt der neuen Medien: „The possibility that we will
>e able to mould and shape our own private alternative worlds, that there
vill ex ist for each of us a means ofrealizing some personal Platonic ideal
1ehind the mask of a stereoscopic LCD display, raises serious issues
:onceming the epistemological status of the real." (Keep 1993: 2) 1 Jch
nöchte dem entgegenhalten, dass unser menschliches Bewusstsein schon
nmer der größte und wichtigste Spielplatz virtueller Realitätsbildung
1ar und der Realitätsstatus von Außenwelt stets ein Problem darstellte.
Vgl. auch Baudrillard 1994.
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Nur wer mit historisch verkürztem Denken an die mediale Entfremdungsproblematik der Gegenwart herangeht, kann in ein ahistorisch situiertes Lamento der genannten Art verfallen. Es hat schon immer zu den
fundamentalen lebensweltlichen Risiken der Dimission (also der Kommunikation über Raum und Zeit hinweg) gehört, den nicht selbst generierten Infom1ationen fremder Quellen vertrauen zu müssen. Da von deren Validität oft große persönliche und soziale Investitionen abhängen,
hatten die Verfahren der „Möglichkeits-" und der „Realitätsprobe" stets
besonderes Gewicht (Knape 1997: 52-59).
Was uns gegenwärtig bisweilen theoretisch als Ausweg aus Baudrillards angeblich neuem Realitätsverlust angeboten wird, überzeugt mich
nicht immer. Die modernen Cyber-Realitäten („the ecstatic realm of the
virtual") sollen nach C.J. Keep die Differenz von Außenwelt und (mentaler) Innenwelt aufheben:
„The virtual then perhaps offers a way out of the cultural and epistemological
dead-end of Baudrillard's theory of hyperreality. The real ceases to be real for
Baudrillard when it comes to resemble itself, when the difference ~tween the
sign and its referent is obliterated and the subtle charrn of the trompe-l'oeil gives
way to the endless repeatable perfection of the digital code. The hyperreal is the
condition in which art, as Andy Warhol recognized, is everywhere, and everything, from Campbell's Soup cans to reproductions of photos of Marilyn Monroe,
is art. The real, Baudrillard claims, ,has been confused with the image. Reality
no langer has the time to take on the appearance of reality' (Simulations, 152)."
(Keep 1993: 3)
3. MEDIALES SCHWELLENBEWUSSTSEIN IM
MENSCHLICHEN HANDLUNGSKONTEXT
Dagegen wäre zu halten, dass mit Zeug (Heidegger) oder Gerät (Bühler)
umgehende Menschen nonnale1weise ein technisches Bewusstsein behalten, dass sie das pragmatisch Notwendige und das medial Gegebene auch
in technisch hochgerüsteten Umgebungen nicht gleichsetzen oder gar
verwechseln. Normalerweise bleibt es bei der technischen Medienschwelle, jener Schwelle, die wir beim Eintritt in Baudrillards mediales
Schreckensreich der Differenzlosigkeit eigens handelnd übertreten müssen. Jeder Eintritt ins technische Medium aber schaffi Distanz, und die
jüngeren Mediennutzer lernen schnell, die Fiktionsanfälligkeit technischer Simulationen zu erkennen bzw. in Rechnung zu stellen. Virtuelle
Realitäten, wie sie technisch etwa durch das Morphing perfekt geschaffen werden können, werden von jungen Leuten in ihrem Realitätsstatus
keineswegs missverstanden. Ich teile nicht Baudrillards Pessimismus,
nach dem der Zugang zu einer wie auch immer gearteten, konkret erfahrbaren Wirklichkeit im Zeitalter elektronischer Massenmedien verloren zu
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JOACHIM KNAPE
gehen droht. Die vom Menschen für sich selbst geschaffenen technischen
Extensionen seines Körpers und seiner Sinne (McLuhan) beschwören
immer die Gefahr der illusionären Verschmelzung mit dem Zeug durch
Gewöhnung herauf.
Im Übrigen denke ich, dass für uns Menschen keine prinzipiell neue
Lage ·~ingetreten ist bei der Korrelierung von Wahrnehmungseinheiten
mit diversem Realitätsstatus. Wir haben im Prinzip keine anderen
Schwierigkeiten als Menschen in magischen Denksystemen, die auch
schon immer den Übergang von Traumerfahrungen, von Hypnose-,
Trance- und Rauscherfahrungen zu jener Erfahrungswelt, die wir neuzeitlic~.1 die „eigentliche" Realität zu nennen pflegen, als problematisch
erlebt haben.
Die Wahrnehmung von dokumentarischen Repräsentationen und fiktiven Simulationen in Echtzeitmedien gleichen sich heute in der Tat perfekt. Aber wir entwickeln doch zugleich auch unsere nötige Fähigkeit zur
Realismuskritik weiter, schon in jungen Jahren. Kein Jugendlicher wäre
heute noch so naiv zu glauben, dass der Schauspieler Tom Hanks in dem
1994 produzierten Film „Forrest Gump" tatsächlich auf wunderbare
Weise dem digitalisierten verstorbenen Präsidenten John F. Kennedy die
Hand geschüttelt habe. Der medienkritisch gemeinte Satz Paul Virilios
„Man darf seinen Augen nicht mehr trauen!" galt schon immer. Im Übrigen haben die Medien längst eigene Regularitäten entwickelt, die dem
Nutzer helfen wollen, den Realitätsstatus des jeweiligen Informationskomplexes einzuordnen (vgl. Grimm 2002).
Der Vorgang des Einschaltens und Ausschaltens, das Übertreten der
Medienschwelle, der Übergang von der Perzeption zur Apperzeption, all
dies sind für mich als selbstorganisiertes Individuum Schnittstellen, an
denen meine Handlungsmächtigkeit ins Spiel kommen kann. Meine Söhne und ich haben an jenem Abend auf Ibiza den Sender VIVA eingeschaltet. Ich habe das Fernsehen an diesem Abend für mein Leben als ein
reales Ereignis eingestuft. Doch wie steht es mit der Innenwelt der damals gezeigten Videoclips? Welchen Seinsstatus schreibe ich den damals
gesendeten Inhalten der Videoclips zu, welchen schreiben ihnen meine
Söhne zu?
Wir sind alle hoch vernetzt, aber wir haben mit zunehmender Medienkomplexität auch gelernt, was Einschalten und Ausschalten bedeutet.
Insofern teile ich nicht die Ängste Baudrillards, der in den l 980er Jahren
die Ohnmächtigkeitsworte von der „Promiskuität der Bilder" und von der
„taktilen Pornographie der Bilder" geprägt hat und erklärend dazu
schreibt: „Wir nähern uns immer mehr der Oberfläche des Bildschirms,
unsere Augen sind im Bild gleichsam verstreut. Wir halten nicht mehr
die Distanz des Zuschauers zur Bühne, die Konventionen der Szene sind
vergangen." Solche Aussagen gelten nur für lebensweltliche Grenzzustände, in denen jemand der Mediomanie verfallen ist.
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Mir scheint Baudrillards Analyse nicht die Handlungskomplexität
des menschlichen Alltags zu treffen. Menschen aller Kulturen lernen im
Lebensablauf mit Schwellenphänomenen fertig zu werden, den Übertritt
von einem Zusammenhang in einen anderen als Iebensweltliches Prinzip
der Transition zu handhaben. Walter Benjamin widmet den Schwellensituationen eigene Überlegungen (Saeverin 2002: 99-102). Das Übertreten
der Medienschwelle ist ein wichtiger Akt der Trennung vom natürlichen
Perzeptionszusammenhang. Wie bekomme ich Zugang zu den VideoClips? Durch eine Einschalthandlung, die mich technisch über die Medienschwelle hebt, mich mental positioniert und in Apperzeptionshaltung
versetzt. Meine folgenden mentalen Handlungen beginnen demnach mit
erhöhter und gerichteter Aufmerksamkeit und münden in mehr oder weniger konzentrierter Informationsverarbeitung. Wie bei jeder Art Wahrnehmung kann ich hier aber natürlich auch in eine Art Trance versinken.
Baudrillard spricht vom „imaginären Koma des Bildschirms" (Baudrillard 1989: 121 ). Das ist jedoch nicht femsehspezifisch. Jede Textur
kann mich mental in den Zustand der Realitätsirritationen versetzen.
Wenn ich mich nicht ablenken lasse, bewege ich mich auch beim Videoclip für die Dauer der mentalen Einlassung in einer imaginierten Welt,
die die Reize des Fernsehbildes evozieren.
4.
POSSIBLE WORLDS ALS TEXTUELLE KONSTRUKTE
Ich denke über die Videoclips der VIVA-world nach und über ihren Status in der keineswegs in wünschenswerter Klarheit sortierten Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Handlungswelt, insbesondere junger Leute. Sind
es fragwürdige platonische Phantasmata? Wie fügen sie sich in unsere
Realitätskonstruktionen?
Ich vertiefe mich einen Moment in die Possible world-Theorie, die
Theorie der möglichen Welten. Sie geht auf Leibniz' frühneuzeitliche
Vorstellung von unserer Welt als bester aller möglichen Welten zurück,
der schon Voltaire mit seinem Candide den skeptischen Entwurf einer literarischen Altemativwelt entgegenstellte. Im Jahr 1927 veröffentliche
der englische Biologe J.B.S. Haldane seinen Beitrag Possible worlds, in
dem er die Frage der möglichen Welten als Problem unserer physikalischen Welt diskutie1t. Er nimmt hier Überlegungen vorweg, die später
die evolutionäre Erkenntnistheorie etwa eines Rupert Riedl fortgeführt
hat. Danach wäre unsere Phänomenologie und Weltinterpretation das Ergebnis evolutionär entstandener, anthropologisch-kognitiver Detenninanten, die uns im Zustand eines hoch praktikablen Interpretationsmodells
leben lassen, die jedoch nicht den Blick auf andere Sichtweisen derselben
physikalischen, eben unserer eigentlichen Welt freigeben (vgl. Riedl
1980 und 2003).
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JOACHIM KNAPE
Bereits Haldane unterschied die geruchsdominierte, eigenkonstruierte
Wahrnehmungswelt eines Hundes von der ebenfalls eigendynamisch organisierten literarischen Welt eines Dichters wie Wordsworth (vgl.
Haldane 1932: 266-267). Er setzt dieses Gedankenspiel fort und diskutiert Lebewesen mit ganz anders gearteten Wahmehmungsmöglichkeiten
und entsprechenden Weltkonzeptionen als wir Normalmenschen sie haben. Er kommt zu dem Schluss, dass der moderne theoretische Physiker
als reuer „world builder" aufzufassen ist. Als Beispiel nennt er
Schrödinger, einen der Väter moderner Auflösungsvorstellungen von
Kausalität und stabilen physikalischen Raumverhältnissen, auch wenn er
konze:diert, dass „even Schrödinger's world, fantastic as it is, contains
many relicts of ordinary thought" (ebd.: 284). Mit Bezug auf diese Überlegungen finde ich im Internet unter der Rubrik „Haldane's Law" die
Sentenz: „Now my own suspicion is that the Universe is not queerer than
we suppose, but queerer than we CAN suppose."
In den I 960er Jahren entwickelte dann der amerikanische Logiker
Saul Kripke „aus fiiiheren Arbeiten in der Modallogik" heraus eine von
der physikalischen Welt abstrahierende Theorie, die auf logischem Feld
„das Leibnizsche Prinzip der Ununterscheidbarkeit von Identischem aus
sich selbst heraus evident" machen wollte. Unter dem Titel „Naming and
Necessity" veröffentlichte er 1972 eine Studie zur „Semantik möglicher
Welten" (Kripke 1981: 9). Er möchte „gegen diejenigen falschen Verwendungen des Begriffs" argumentieren, die „mögliche Welten als etwas
von der Art ferner Planeten betrachten, als etwas, das unserer eigenen
Umwdt ähnlich ist, aber irgendwie in einer anderen Dimension existiert"
(ebd.: 23). Für Kripke sind Possible worlds insofern „kontrafaktisch", als
es ihm um die Erläuterung der Logik von kontrafaktischen Bedingungssätzer.. („contrafactual conditionals") geht, mit denen Aussagen darüber
aufgestellt werden, was passiert wäre, wenn sich ein Ereignis anders als
in der Realität zugetragen hätte. Mögliche Welten sind dabei „vollständige ,;Weisen, wie die Welt hätte sein können" oder Zustände oder Geschichten der gesamten Welt. Dabei braucht der entwerfende Autor keineswegs „einen vollständigen kontrafaktischen Verlauf von Ereignissen"
zu beschreiben. „Es genügt eine praktische Beschreibung dessen, in welchem Maß sich die „kontrafaktische Situation" in der relevanten Weise
von d,!n wirklichen Tatsachen unterscheidet; man könnte sich die „kontrafaktische Situation" als eine Miniwelt oder einen Minizustand denken,
der auf Aspekte der Welt beschränkt ist, die für das vorliegende Problem
relevant sind" (ebd.: 26).
Die Existenz solch einer möglichen Welt setzt für uns voraus, dass
eine bestimmte Zugangsrelation („accessibility relation") zur tatsächlichen Welt besteht (vgl. Ryan 1991: 557). Zugänglichkeit besteht, wenn
auf beiden Seiten die selben logischen Gesetze bestehen, d.h., dass eine
mögli,~he Welt in sich selbst - wenn auch vielleicht mit eigenen Spielregeln -- widerspruchsfrei funktioniert. Kripke vertritt dabei die Auffas-
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VIRTUALITÄT UND VIVA-VIDEO WORLD
sung, dass die eigentliche, die „actual world", sich in ihrem ontologischen Status von den bloß möglichen Welten dadurch unterscheidet, dass
nur die „actual world" eine autonome Existenz mit uns Menschen als Akteuren aufWeist. „Alle anderen Welten sind das Produkt mentaler Aktivitäten (also Träume, Wünsche, Hypothesen, Fiktionen usw.) und somit
hypothetische, mögliche Konstrukte. Mögliche Welten existieren folglich
in Abhängigkeit von der actual world, die als objektiv existente Referenzwelt fungiert." (Surkamp 2002: 156) Demgegenüber postuliert die so
genannte „modalrealistische" Auffassung, dass es eine ontologische
Gleichordnung aller Welten gibt, dass die „actual world" nicht privilegiert ist und letztlich alle Welten ihren Seinsstatus nur dem Betrachter
verdanken (vgl. Lewis 1978: 37-46 sowie Surkamp 2002: 156).
5.
EIN KONKRETER FALL:
DER VIDEOCLIP VON ÄLCAZAR
(2001)
Die Artefakte der modernen audiovisuellen Medien ennöglicJ1en synästhetisch besonders raffinierte Konstruktionen möglicher Welten im genannten Sinn. Jeder von den Musik-Video-Spa11ensendem gezeigte Videoclip scheint mir solch ein Possible world-Angebot zu machen. Und ist
nicht auch das ganze Tagesprogramm der Video-Clip-Sender in toto
solch eine mögliche Welt?
Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich kurz einen Videoclip
aus dem Jahre 2001 diskutieren. Es handelt sich um einen Clip der
schwedischen Gruppe Alcazar zu ihrem Song „Crying at the Discotheque". Regie führte der bekannte schwedische Clip-Regisseur Jesper
Ganslandt. Im Internet fand sich 200 l bei Erscheinen der CD als Kommentar:
.Dance, das ist Schnelllebigkeit, Innovation und selten ein vertrautes Gesicht
hinter dem Mikro. Viele Projekte featuren DJs, Gastsänger oder einfach nur ein
hübsches Gesicht und bleiben, was sie sind; eben Projekte. Auch die Musikindustrie arbeitet gerne nach diesem Schema und baut lieber Girlgroups und
Teeny-Pop-Acts langfristig auf. Dance, das ist die schnelle Nummer. Entweder
ganz fix das große Geld, oder ein kleiner nicht so arg schmerzender Verlust.
A/cazar haben jedoch ihr eigenes Konzept und vereinen das Bewährte im Dance-Sektor - nämlich innovative elektronische Musik mit ihrer Präsenz als Musiker.'.2
Auf der Homepage der Gruppe Alcazar schrieb Dave Jörg am
13.07.2001 unter dem Titel „Glitter, Trash und Disco-Astronauten" zum
Videoclip:
2
BMG backpage- Alcazar. In: www.bmg.ch/ch/artists/stars/100052/bio/; vom
9.10.2001.
216
JOACHIM KNAI
„Der dazu gehörige Videoclip, den man dieser Tage vielleicht schon bei Vl'v
und' MTV sehen kann, setzt noch einen drauf. Im Glitter-Outfit (irgendwo zv
sehen Silver-Convention und Barbarella) präsentieren sich Alcazar als Disc
Astronauten. Wer auf trashigen Fummel abfährt, wird seinen Spaß daran habe
Alcazar, bestehend aus Sänger Andreas Lundstedt sowie den beiden Säng
rinnen Annikafiore und Tess, betonen in Sachen Bühnenpräsentation und tex1
chen Wortspielereien den Spaß an der Sache. Das kommt nicht von ungefät
denn hinter der Gruppe steht Freund und Mentor Alexander Bard, der als M
glied der schwulen Kultband Army Of Lovers Anfang der Neunziger mit ähn
ehern ~Conzept selbst Erfolge verzeichnen konnte, Wer erinnert sich nicht no1
an ,Crucified', ,Ride The Bullet' oder ,Obsession'."
l!I
Beim ersten Anschauen erschließt sich die fiktive Bild-Welt des Cli1
nicht ohne weiteres, zumal sie inhaltlich im Kontrast zum Songtext stet
der um eine Downtown-Disco-Hysterie, heulende Disco-Tänzer und R
chard Geres Krawatte verheißt. Nichts davon ist zu sehen. Tatsächlic
versetzt uns der Clip ironisch gebrochen auf eine Art Marslandschaft u
merkwiirdigen Tierlebewesen, die aber ausdrücklich noch als hüpfen<
Menschen mit Masken zu erkennen sind. Allerdings wird auch hier g
tanzt. Es ist ein Astralheld, der Spacer, der den von zwei Frauen un
schwirrten Mittelpunkt bildet. Doch wo kommt dieser Weltraun
Supennann, der Spacer, eigentlich her? Wir erfahren es nicht. Mal seht
wir die menschlichen Stars in Tanzaction, mal die Tiere. Dann plötzlic
Kulissenarbeiter wanken mit Pappmaschee-Kulissen durchs Bild, vo
Regieassistenten vertrieben. Ein deutliches lroniesignal. Die Illusion d1
fremden Marswelt wird gebrochen. Nun sehen wir tatsächlich als Gi
samtsituation ein Film-Set. Wieder geht die Kamera in die Tanzszene h
nein, dann Schnitt und wieder Blick auf das Film-Set. Ab jetzt wechse
die Einstellungen zwischen diesen beiden Schauplätzen und vennischf
sich bisweilen ironisch. Dann wird der Regisseur selbst in der Pose de
Kameramanns eingeschnitten, der einen Sprecherkommentar abgibt. I
er der Star oder der männliche Sänger? Dann weiter mit dem bekanntf
Szene-Set-Wechsel. Am Schluss tauchen auch wieder die merkwürdige
Tiere auf und alles endet in einer Art Szenen-Chaos.
Von der im Internetauftritt erwähnten „Innovation" kann b1
Alacazar nicht wirklich die Rede sein. Die Musik ist „alt", auch die Sä1
ger sind zusammengewürfelt, nur die Lyrics sind neu. Der Song „Cryir
at the Discotheque" basiert auf Samples des Dance-Klassikers „Space1
von Sheila B. Devotion aus dem Jahre 1980. Dessen Text erklärt di
Drehbuch des Videoclips, das ansonsten keinerlei Zusammenhang m
den Alcazar-Lyrics hat. Beim Song von 1980 dagegen ging es tatsächlic
um einen Astralmann aus dem Weltraum, eben den Spacer.
VIRTUALITÄT UND VIVA-VIDEO WORLD
6.
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ZUR STRUKTUR DES ALCAZAR-VIDEOCLIPS
Betrachten wir die Konstruktion des Clips im Sendefom1at-Kontext noch
etwas genauer. Da ist zunächst das Gesamtformat VIVA. Wer permanent
VIVA sieht und hört, ist pro Tag mit einem gigantischen VideoclipMosaik von ca. 200-300 Clips konfrontiert, unterbrochen von Werbeclips, von Moderationen und redaktionellen Beiträgen rund um die UMusikszene. Die in VIV A gesendeten Clips müssen unter musikästhetischem Gesichtspunkt als populärmusikalischer Bodensatz oder, freundlicher ausgedrückt, als konsequent auf den Mainstream der Zielgruppe
eingestellte Produkte der Popmusikindustrie bewertet werden. Sie sind in
ihrer Thematik und Ästhetik gattungsspezifisch konstruiert. Das Korpus
einer einwöchigen Videoclip-Stichprobe aus dem VIV A-Sendeprogramm von 2002, das ich mit einer Studierendengruppe zusammengestellt habe, ließ sich in folgende musikalische Hauptgattungen aufgliedern: l. Pop, 2. Rock, 3. Rap, 4. Hiphop, 5. Soul/R'n'B und 6. Techno.
Die diese Gattungen bedienenden Clips bestehen aus einer eigenartigen Verbindung von akustischen Elementen (Musik und Lfrics) sowie
optischen Elementen (zumeist bildlich-filmisch). Die Musik hat als dominant, zumindest aber als vorgängig zu gelten. Sprachtexte und Filmszenen werden nicht selten nachträglich produziert und im Videoclip zu
einer synästhetisch konstruierten Textureinheit verschmolzen. Dabei
kommt es zu diversen Scherenbildungen, d.h. zum Auseinanderdriften
der Musik-, Sprach- und Bildebenen in semantischer Hinsicht (Kohärenzauflösung, thematische Spannung und Divergenz des Erregungspotenzials).
Die Wort-Bild-Schere tritt besonders deutlich im Beispiel des Alcazar-Videoclips hervor, wo der Songtext von 200 l völlig unvem1ittelt dasteht, weil sich das Filmscript offenbar an der älteren Textstory von 1980
orientiert. Die Untersuchung der genannten VIVA-Stichprobe ergab, dass
die Wort-Bild-Schere für Clips inzwischen geradezu gattungskonstitutiv
ist. Das heißt: Die in den Lyrics thematisierte (virtuelle) Welt ist regelmäßig eine andere als die des Video-Filmdrehbuchs. Der Versuch einer
methodisch nicht ganz leicht durchführbaren Untersuchung der Kongruenz von musikalischen Erregungs- und Stimmungswe11en und Sprachtext-Inhalten ergab regelmäßige Übereinstimmung. Demgegenüber wichen die Video-Filminhalte (also die Bildebene) regelmäßig ab bzw.
folgten eigenständigen, oft nur locker mit den Inhalten der Lyrics verknüpften Konzepten. Das geht nicht nur auf die getrennten Produktionszusammenhänge von Musikern und Textern auf der einen Seite und
Videoproduzenten auf der anderen Seite zurück. Es ist offenbar auch ästhetisch erwünscht, weil sich nur so erregende synästhetische Ereignisse
besonderer Art beim Rezipienten einstellen können. Rein textillustrierende Filmstorys würden angesichts der hohen Wiederholungsfrequenz
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JOACHIMKI\
von Clips sehr schnell die gewünschte Aufmerksamkeit abflachen c
abbrechen lassen.
Durch das Zusammenspiel der drei Ebenen von Musik, Lyrictext
Bild ergeben sich also oft „äußerst komplexe, synchronisierte [... ] c
gege:nläufig differente und widersprüchliche Verweisungszusamment
ge" zwischen den genannten Ebenen (Neumann-Braun/Schmidt l ~
20). Beim ersten Sehen solcher Videos hat man nicht selten Kohän
probleme, weil sich der Sinnzusammenhang nicht ohne weiteres
schließt. Die üblicherweise hohe Schnittfrequenz und die Schnitta
tik erlauben dem Zuschauer bei der ersten Begegnung mit einem Clii:
nur die Perzeption von Wahmehmungsfetzen. Neumann-Braun/Sehr
sprechen 1999 in diesem Zusammenhang vom „flüchtigen Blick auf:
kro-Sinneinheiten", der bei ständiger Wiederholung, ohne Verfeinen
eine „vereinfachende und stereotype Interpretation fördern" (ebd.) kö1
7.
AUFMERKSAMKEITSAPPELL UND
LEBENSWEL TLICHE INTEGRATION DER VIDEOCLI
11
Wenn die von der Forschung verschiedentlich beklagte empirische 1
arbeitung des Fernseh-Erlebens jugendlicher Videoseher (vgl. ebd.:
Schmidbauer/Löhr 1999, Wenzel 1999) eines Tages weiter fortgesc!
ten sein wird, dann wird sich gewiss eine Reihe von Ergebnissen ein.
len, die wir bereits von der Lesepsychologie her kennen. Danach fi
der Apperzeptionsvorgang l. nach individuellen semantischen Vor
ständnissen, 2. selektiv nach bestimmten, für den je Einzelnen heram
chenden Catchwords oder Bildphänomenen und 3. im Wahrnehmu
Verarbeitungsvorgang schrittweise bedeutungskorrigierend statt. In
samt handelt es sich bei solchen Vorgängen um holistische Interpre
onsereignisse, die vorläufige Bedeutungen generieren und erst bei '
derholungen semantische Differenzierungen herbeiführen. Als Prod1
onsmaxime lässt sich daraus ableiten: Videoclips müssen bei der er
Wahrnehmung auf irgendeine Weise Aufmerksamkeit erzeugen. D:
werden sie ihrem Auftrag gerecht, der letztlich auf ökonomische Vef'
tungs-lnteraktionen zielt.
In der Lebenspraxis sind die Videoclip-Erlebnisse nämlich in
tagshandlungen junger Leute integriert, die libidinösen Konsum fa,
sieren. Dem widerspricht nicht, dass die Clips oft gar nicht mehr dü
wahrgenommen werden und den Charakter einer Hintergrundmusik
damit eines szenetypischen Rauschens bekommen. Ich hatte ja EntE
chendes von meinen Söhnen berichtet, die sich gar nicht auf die Vi
clips konzentrieren wollten. Stundenlang mit hoher Aufmerksamkei1
deoc:lips wie Kinofilme anzuschauen, dürfte eher selten vorkommen.
bestimmte Rundfunk-Musikprogramme werden die Videoprogramm
VIRTUALITÄT UND VIVA-VIDEO WORLO
219
Hintergrund-Unterhaltung. Daher gehen neuere Formate der Clip-Sender
auch dazu über, den Schirm mit SMS-Schriftbändem und anderen
Schriftinformationen vollzuladen, mit der Konsequenz, dass für die Videos nur noch kleine Fenster übrig bleiben. Interessanterweise soll dabei
ausgerechnet die Schrift die Klientel wieder stärker ans Bild binden.
Denn im Bild inszeniert sich der Star. Kurz zusammengefasst: Videoprogramme haben in der Lebenswelt regelmäßig den Charakter von Epiphänomenen. Dagegen arbeiten die Programme natürlich, wie in jedem anderen Format, an.
Aber lassen Sie mich einen Moment lang in die Rolle des „idealen"
Clip-Sehers schlüpfen, wie ihn sich die Sender wünschen, also in die
Rolle jenes Jugendlichen, der konzentriert und mit hoher Aufmerksamkeit regelmäßig Videoclips sieht. Ich führe als solcher die Apperzeption
mehr oder weniger willentlich herbei, nehme zumindest in irgendeiner
Weise das „Vertragsangebot" des Senders an, wie es der Kultur- und
Medienpsychologe Michael Charlton formuliert, und folge der „Aufforderung zum Eintreten" in den Video-Kommunikationszusammenhang
(vgl. Charlton 2001: 59-60), etwa durch Einschalten des derätes und
Wahl des Senders VIVA. Betrete ich nun aber tatsächlich mental eine der
oben genannten möglichen Welten?
8.
VIDEOCLIPKONSTRUKTION ALS SPIEL MIT
OSZILLIERENDEM REALITÄTSSTATUS
Ich habe eingangs eine Reihe von Handlungen beschrieben, die ich im
Urlaub auf Ibiza vollzogen habe. Dazu gehörte, dass ich bewusst ein
technisches Medium eingeschaltet und dessen Angebot angenommen habe, mir Videoclips zu zeigen. Dabei ist das Medium Femsehen als „Träger" der informationellen Textur Videoclip anzusehen (Knape 2005b:
20-23). Die einzelnen Videoclips als Wahrnehmungseinheiten kann ich
im Sinne Michael Charltons als ,,Zeigehandlungen" eines Aktanten, nämlich des Senders VIVA, verstehen und irgendetwas mit ihnen anfangen
(vgl. Charlton 200 l: 58-59). Im Sinne der Possible world-Theorie könnte
ich die gezeigten Clips vielleicht auch als Konstruktionen virtueller Realitäten auffassen.
Lassen Sie uns abschließend bei dieser Frage verweilen, denn hier tut
sich ein spezifisches Merkmal dieser Art Videokultur auf: das Spiel mit
Fiktionalität und Faktizität. Eigentliche und virtuelle Realität vermischen
sich in den Clips wie sie sich im ganzen VIVA-Format vermischen. Eine
künstliche Welt wird inszeniert, die es mit Kunst zu tun hat, mit populärer Musikkultur, die aber ständig zu erkennen gibt, dass sie mit „actual
world" zu tun hat, sie vielleicht ganz und gar repräsentiert. „Possible
worlds" sind per definitionem „kontrafaktisch", d.h. aufgrund eines Fikt-
JOACHJMK.~
ionalitätskontrakts unter den Kommunikationspartnern ist vorab gek
dass. es sich hier um eine Alternativwelt handelt. Genau dies aber will
VIVA-Video World nicht so ohne weiteres. Der gesamte tägliche Sei
zusammenhang und auch die meisten Einzelvideos sind raffinierte In
nierungen von Stars der Musikszene, deren lebensweltliche Realitäl
Perfonner immer in irgendeiner Form in die Inszenierungen eing
Madonna, Michael Jackson und die Sängerinnen von Alcazar sind n
kontrafaktisch, sondern „echte" Entertainer, die die alles entscheide
Rolle im Videoclip-Universum spielen. Und wenn sich einmal eine E
gegen die damit verbundenen Machenschaften der Musikindustrie
lehnt, wie etwa die Böhsen Onkelz im März 2002, dann produziert
Musikkanal kurzerhand selbst seinen Videoclip zum Song. Das ist dit
les entscheidende „Strukturdeterminante" (Knape 200Sc, 240) von j
sikvideo-Sendern: Musik lebt nur mit Bild und am besten mit Bildern
Stam. Die U-Musikindustrie hängt inzwischen davon ab (vgl. dazu
Beiträge von B6dy/Weibel 1987).
Beim Programmstart von Music Television (MTV) im August 1
war der performende Star in seiner Bildpräsenz noch völlig domin
Inzwischen sind die filmischen Mittel sehr viel raffinierter geworden
haben zu sehr einfallsreichen Star-Story-Kombinationen in Clips gefi
So schafft das Video nach Kobena Mercer „durch die Verwendung
Cod1!S und Strukturen des Kinofilms" immer häufiger „einen Rahm
in dem etwa ein Star wie Michael Jackson „sich wie ein Filmstar be
gen kann" (Mercer 1999: 210). In den meisten Fällen wird der Star
Musiktitels in den mehrheitlich durchaus fiktiven Video-Inszenierun
als Realgröße erkennbar gemacht, abgehoben und mit einer Art ~
Markierung versehen. Beliebte Mittel sind dabei „Live"-Einspielun
von Performances auf Bühnen oder in Studios, die gegen fiktive Fil
leme:nte in den Clip geschnitten werden. Allerdings gibt es hier genn
hängige Differenzen. Im Bereich der Gattung „Techno" ist die Vis1
sien.;.ng von Stars am weitesten zurückgenommen, was gewiss mit
Produktionsbedingungen dieser Art von Musik zusammenhängt. 1
verschwindet der Star als Performer, die Film-Story dominiert.
Die VIV A-Video World lebt also von Inszenierungen, in denen
die empirische Realität mit simulierenden Fiktionen verbindet. Die in
Vidi::o-Schleifen inserierten Moderationen und redaktionellen Beit1
der Sender bilden dabei wesentliche Realitätsanker, in denen die Stan
Realien verhandelt werden. In der Mehrheit der Clips tauchen die S
dann wieder in eine eigenartige Mischwelt ein, die den Realitätsge
mit teils hochartifiziellen Mitteln bewusst ins Phantastische oder Illu
näre verschiebt: Kein Jugendlicher, dem dies nicht bewusst wäre.
Clips inszenieren die Stars so realitätsenthoben, wie sie als Stars :
müssen, ohne dass sie nicht doch noch mit Realitätsbindung versi:
wären. Dazu trägt das gesamte Fernsehsystem bei. Die in der heuti
Fernsehlandschaft üblich gewordenen „demokratischen" Verfahren
VIRlUALITÄT UND VIVA-VIDEO WORLD
221
Aushebung immer neuer Stars aus der Fülle möglicher Kandidaten in den
„Superstar-"Formaten, die inzwischen alle größeren Sender haben, macht
die Starfiktion zum real einholbaren Faktum. Die Videoclips sind vor
diesem Hintergrund als bildästhetisches Umspielen der musikästhetischen Erfahrungen junger Leute zu sehen, die in ihrem Alltag eine so außerordentliche Rolle spielen. Die Realitätsverlustgefahren, die psychischen Kontrollverluste und das hilflose Ausgeliefertsein an diese Fernsehinszenierungen scheint mir nicht größer als in allen anderen Handlungszusammenhängen, in denen man mit rhetorischen Strategien der
Beeinflussung rechnen muss.
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