1984-Goethes Leben von Tag zu Tag
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1984-Goethes Leben von Tag zu Tag
Arbitrium 1984 Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literatunoissenschaft Herausgegeben von WolfgangFIÜhwald und WolfgangHarms VerlagC.H.Beck München Sonderdruck K. Mommsen: R. Steiger, Goethe-Chronik Bd. I (I749-I775) Robert Steiger, Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik, Bd. Artemis, Zürich - München I982. 768 S., DM 128,-. I: I749-1775. Der Artemis-Verlag hält in verdienstvoller Weise das Interesse an Goethe wach durch Veröffentlichung wichtiger Sammelwerke. Goethes Gespräche hg. von Wolfgang Herwig, das Lexikon der Goethe-Zitate von Richard Dobel wurden zu unentbehrlichen Nachschlagewerken für Kenner und Liebhaber. Ähnliches läßt sich voraussagen für die auf 7 Bände angelegte Dokumentensammlung von Robert Steiger. Tagebücher, autobiographische Schriften, Brief- und Gesprächsmitteilungen bilden ein anscheinend ideales Urkundenmaterial für die Kenntnis des Goetheschen Lebens. Dennoch blieb dieses bis heute etwas Inkommensurables. Während man sonst über große Dichter oft zu wenig Nachrichten hat - weiß man, wer Shakespeare war? Ob es Homer gegeben hat? - verwirrt im Falle Goethes die Fülle der Urkunden und die Schwierigkeit, sie zu verstehen. Kein Beurteiler ist allen Wissens- und Berufsgebieten gewachsen, darin Goethe sich betätigt hat und die er alle sehr ernst nahm. Hieraus resultiert die Unzulänglichkeit aller Biographien, auf die Steiger mit Recht hinweist und die er zum Anlaß nimmt, sein Sammelwerk zu schaffen. Die Idee ist, in Form' einer "dokumentarischen Biographie", wie es im Vorwort heißt, "dem ganzen Menschen gerecht zu werden", nachdem die üblichen Biographien immer nur bestimmte Aspekte in subjektiver Auswahl zeigen konnten . Einfach ist der Weg nicht, der so eröffnet wird. Der Benutzer muß sich nun aus den vielen Zeugnissen der siebenbändigen Sammlung selbst einen Begriff von Goethes Leben schaffen. Das kostet Anstrengung, und die Steigersche Chronik bildet keine leichte Lektüre. Alle Bemühung rechtfertigt sich jedoch durch den reichen Ertrag. Ohne Schwierigkeiten geht es nun einmal bei einem solchen Projekt nicht, auf den Himalaja führen keine Promenadenwege. Der hier zu besprechende erste Band behandelt den jungen Goethe bis zum Übergang nach Weimar (1775). Es ist dies jene Epoche, für die Werke und Lebenszeugnisse von der Forschung sorgfältiger kommentiert wurden als für jede andere. Die beiden Sammlungen Der junge Goethe von Max Morris und Hanna FischerLamberg sind von Steiger in wünschenswerter Weise berücksichtigt. Wichtigste Sacherklärungen werden kurz referiert. Man vermerkt das gern, weil damit an eine gute Editorensitte angeknüpft wird, die heute nicht mehr selbstverständlich ist: "Sammelbecken" zu schaffen für frühere Forschungsergebnisse. Ein besonderes Gepräge erhält der erste Band dadurch, daß Goethes eigene Lebensdarstellung bis 1775 eingearbeitet ist. Ausgewählte Segmente von Dichtung und Wahrheit werden zwischen Briefe, Gespräche etc., an den jeweils passend erscheinenden Platz gestellt. Sie zu datieren, war keine leichte Aufgabe, weil Goethe als Autobiograph nicht immer die genaue zeitliche Folge von Geschehnissen Katharina Mommsen berücksichtigt. Da auch das Goethesche Schaffen möglichst "von Tag zu Tag" verzeichnet werden soll, erscheinen die hierauf bezüglichen Partien von Dichtung und Wahrheit vielfach aufgelöst und nach chronologischen Gesichtspunkten verteilt. Wer die berühmten Abschnitte sucht, wo Goethe über die Entstehung von Götz, Werther, vom Brief des Pastors etc. berichtet, findet sie nicht im gewohnten Zusammenhang. Man muß sie sich zusammensuchen und dabei viele Auslassungen in Kauf nehmen. Eine der Schwierigkeiten bei der Lektüre der Chronik besteht überhaupt darin, daß Hauptarbeitsepochen nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Nur wer über deren Zeiten Bescheid weiß, kann sich einigermaßen rasch orientieren (ein Schlußregister wird vermutlich helfen.) Als Vorzug ergibt sich aus der chronologischen Zerteilung, daß wir ein realistisches Bild von Goethes Existenz erhalten, von den bunten Überschneidungen zwischen Arbeit und Leben, auch vom gleichzeitigen Arbeiten an verschiedenen Werken. Besonders profitieren werden von diesem Vorteil die späteren Bände, wo die Vielfalt simultaner Schaffensvorhaben zur Erscheinung kommt, wie auch die ungeheure Arbeitskraft, über die Goethe noch im Alter verfügte. Die Gewissenhaftigkeit, mit der die Chronik Zeitbestimmungen treffen möchte, führt allerdings manchmal auch zu einem chronologischen Rigorismus, der übers Ziel hinausschießt. Als Beispiel sei der Fall eines Zitats aus der Dichtung und Wahrheit angeführt, wo man glaubt, Goethe wegen einer falschen Zeitangabe diskret korrigieren zu müssen. Über die Entstehung des Werther berichtet Goethe, er habe den Roman ohne Schema und Konzept "in vier Wochen" geschrieben - ein unvergeßliches Wort. Den diese Zeitangabe enthaltenden Satz bringt die Chronik unter dem I. Februar 1774 (Beginn der Arbeit am Werther), und dort sogar zweimal. Die Worte "in vier Wochen" sind aber an beiden Stellen gestrichen und durch ,,[ ... ]" ersetzt. Eine Begründung für die Weglassung wird nicht gegeben. Kenner wissen sie sich auszurechnen. Von Goethe ist eine Gesprächsäußerung aus dem Entstehungsjahr des Werther überliefert, in der er die Dauer der Arbeit an dem Roman mit "zwei Monaten" angibt. Damit erscheinen die Worte "in vier Wochen" als Irrtum des alten Goethe, mit dem man den Leser der Chronik nicht irritieren möchte. Die chronologische Gewissenhaftigkeit erweist sich ihrerseits als Irrtum, wenn man Goethes Gesprächsäußerung von 1774 sorgfältiger liest. Der Gesprächspartner Knebel berichtet: "An den Leiden des jungen Werthers hat er zwei Monate gearbeitet, und er hat mir versichert, daß er keine ganze Zeile darin ausgestrichen habe. " (V gl. die Chronik zu Ende März/Anfang April 1774, wo die Worte "und er hat mir versichert" fehlen und sind durch ,,[ . . . ]" ersetzt.) Nun ist doch aber zu beachten: bei der Zeitangabe "zwei Monate" schloß Goethe die von ihm erwähnte Korrektur mit ein. Auch wenn, wie Goethe betont, an der ersten Niederschrift erstaunlich wenig zu verbessern war, so muß doch die Durcharbeitung eines Manuskript vom Umfang des Werther längere Zeit in Anspruch genommen haben. Wer Goethes Schaffensweise kennt, weiß, daß die gewissenhafte Vorbereitung für den Druck ihn oft sogar länger in Anspruch nahm als die eigentliche Erfindung. Bei einem so umfangreichen Manuskript wie dem des Jugendromans darf man durchaus mit mehreren Wochen für die letzte Feile rechnen, wobei sich für die eigentliche Abfassung des Romans die erstaunlich kurze Zeit von rund einem Monat ergibt - dieselbe Zeit also, die in Dichtung und Wahrheit genannt ist. Überschätzung eines äußeren chronologischen Indizes führte hier zu einem Trugschluß beim Bericht über Goethes Schaffen. Eine ähnliche Fehleinschätzung R. Steiger, Goethes Leben von Tag zu Tag. Bd. I: I749-I775 läßt sich gelegentlich auch im biographischen Bereich feststellen. Der Eingang der prägnanten Partie aus Dichtung und Wahrheit Buch 15, wo Goethe über seine seelische Depression spricht, die im Jahre 1773 zur Abfassung des Prometheus führte - über Isolierung in Frankfurt, Trostschöpfen aus eigener Produktivität usw. -, wird in der Chronik ans Ende des Jahres 1764 gestellt! ("Etwa ab Mitte der sechziger Jahre. ") Einen Anschein der Möglichkeit erhält solche Frühdatierung nur durch die Auswahl des aus Dichtung und Wahrheit Zitierten: "Ich hatte jung genug gar oft erfahren, daß in den hülfsbedürftigsten Momenten uns zugerufen wird: Arzt, hilf dir selber! und wie oft hatte ich nicht schmerzlich ausseufzen müssen: ich trete die Kelter allein. Indem ich mich also nach Bestätigung der Selbstständigkeit umsah, fand ich als die sicherste Base derselben mein produktives Talent." Fortgelassen ist der folgende Satz: "Es verließ mich seit einigen Jahren keinen Augenblick." Er beweist, an welche Zeit Goethe denkt: an die der überströmenden Produktivität seit 1770 (Götz, Faust, satirische Dramen etc.) Ohne diesen Satz lassen sich die Worte "jung genug erfahren" zur Not bis ins Jünglingsalter zurückbeziehen, wie es die Chronik tut, mit ihm nicht. Vorschnell, ohne dem Kontext genügend Rechnung zu tragen, werden Erfahrungen des 24jährigen Goethe dem I 5jährigen zugesprochen. Ein bloß äußeres Indiz genügt als Signal für eine Datierung, die aus inneren Gründen unmöglich ist. Einwände wie die vorgebrachten ändern natürlich nichts an der Tatsache, daß mit der Chronik ein unentbehrliches Hilfsmittel entsteht, dem man größtmögliche Verbreitung wünscht. Autor und Verlag bemühten sich um eine formale Gestaltung des Werks, die es vielen Lesern zugänglich machen soll. Das Problem der Übersichtlichkeit, wichtig für jede chronologische Arbeit, ist aufs beste gelöst. Zeitangaben erscheinen im Druck plastisch hervorgehoben. Sie erleichtern das Nachschlagen ebenso wie das sorgfältig eingearbeitete Verweissystem mit seinen wertvollen Angaben. Vermieden ist ein Anmerkungsapparat, vor dem heutige Leser bekanntlich zurückscheuen. Allerdings wurde dadurch die vom Editor angestrebte Lesbarkeit in anderer Weise beeinträchtigt. Sacherklärungen aller Art unterbrechen nun den Text auf Schritt und Tritt. Eine Folge ist, daß das Auge irritiert wird durch ein Gewirr verschiedenartiger Klammern und Drucktypen. Die Geduld des Lesers würde weniger strapaziert wenn man in den künftigen Bänden zwei Änderungen vornähme: 1.: Man sollte sich damit begnügen, die unzähligen Striche im Text einfach durch drei Punkte zu bezeichnen, wie es früher üblich war. Klammern um die drei Punkte vermehren die Unruhe des Druckbildes beträchtlich. 2.: Rückgängig gemacht werden sollte der Beschluß des Editors, "alle Personennamen durch Kursivschrift hervorzuheben", um so "die personale Dimension von Goethes Leben sichtbar zu machen". Dies führt zu einem übermäßigen Gebrauch von Kursivdruck, der entscheidend beim Lesen stört. Denn kursiv gedruckt erscheinen nicht nur alle Namen, wichtige und unwichtige, sondern auch - entgegen der Vorschrift - viele unbenamte Statisten des Goetheschen Lebenstheaters, wie z. B. : die Frankfurter, die städtischen Tanten, die frommen Leute, die Bübgen, das hübsche derbe Kind, die Professoren, die gute Polizei, das väterliche Haus usw. Abgesehen von den Eingriffen in den Text, die jedesmal mit solcher Kursivverwendung verbunden sind, befremdet doch vor allem das Problematische solcher Hervorhebungen. Man fragt sich: cui bono? Auch verwirrt die Inkonsequenz, z. B. schon auf der ersten Seite, wo der später eingesetzte Accoucheur für die Armen, dem Goethe vermutlich nie begegnet ist, in Kursivdruck erscheint, während das Bengt Algot S0renSen Wort Amme für die wirklich bei seiner Geburt anwesende Person nicht durch Kursive hervorgehoben ist. Daß der mitten im Leben stehende Goethe vielen Menschen begegnet ist, versteht sich von selbst. Wird es als "personale Dimension" fortwährend "sichtbar" gemacht wie in der Chronik, so lenkt man die Aufmerksamkeit des Lesers auf überwiegend Belangloses und erschwert die unbefangene Lektüre. Interessant könnte bei Goethe die "personale Dimension" sein, wenn man z. B. den Wohltäter vieler Menschen zeigte, der als solcher sogar sein Gelebtes über sein Geschriebenes stellte. Die Chronik bietet gute Gelegenheit, solchen Zügen nachzugehn. Das Hervorheben jeder zufälligen Lebensbegegnung sollte man aufgeben. Bis zur Drucklegung fordert jedes einzelne Kursivwort Kraft und Zeit; der Editor aber wird beides brauchen, um sein schönes Unternehmen zu Ende zu führen. Stanford University Department of German Studies Stanford, CA 94305 USA Katharina Mommsen