Yehudi Menuhin

Transcrição

Yehudi Menuhin
Sonntag, 5. Juni 2016
15.04 – 17.00 Uhr
Yehudi Menuhin
Eine Sendereihe zum 100. Geburtstag
Von Michael Struck-Schloen
23. Folge: Was ist Friede?
O-TON Yehudi Menuhin (0’06)
Nur die größten Staatsmänner können Friede beibringen, und davon gibt es heute, ich
glaube, keine.
[Yehudi Menuhin im Gespräch mit Jochanan Schelliem, 1996]
AUTOR
So äußerte Yehudi Menuhin an seinem 80. Geburtstag im Jahr 1996. Die Welt war nicht
besser geworden im vergangenen halben Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs. In jüngster Zeit hatten die Kriege auf dem Balkan Zehntausende von
Menschenleben gekostet, Afrika wurde von Bürgerkriegen und Völkermord heimgesucht,
der Nahost-Konflikt schwelte weiter, die Sowjetunion war knapp einem blutigen
Staatsstreich entkommen und zerfallen. Menuhin hat all diese Entwicklungen genau
beobachtet, oft hat er sich als Vertreter internationaler Organisationen oder einfach als
engagierter Musiker eingemischt. Ein Politiker ist er darüber nicht geworden; lieber
beklagte er den Mangel an großen Staatsmännern wie Pandit Nehru oder Chaim Weizmann,
die er noch persönlich kennen und schätzen lernte. Menuhins Einsatz galt den
Menschenrechten, der Rettung der Umwelt und der Sicherung des Weltfriedens. Nur; was
konnte er als Musiker für den Frieden tun ‒ und überhaupt: „Was ist Friede?“ Der Titel der
23. Folge unserer Menuhin-Reihe, zu der ich Sie willkommen heiße.
MUSIK 1
Warner
LC 02822
0825646777068
Track 3
Robert Schumann
Violinsonate Nr. 2 d-Moll op. 121
3) Leise, einfach
Yehudi Menuhin, Violine
Hephzibah Menuhin, Klavier
(Aufn. 1959)
7‘02
AUTOR
Eine Musik, welche die selige Ruhe und den Frieden will, aber auch gegen Irritationen
durchsetzen muss: Der langsame Satz aus Robert Schumanns Violinsonate d-Moll op. 121
ist damit fast ein Symbol für die steten Bemühungen von Yehudi Menuhin um eine Welt
ohne Kriege und Unterdrückung. Zusammen mit seiner Schwester Hephzibah spielte er den
Satz in einer lange unveröffentlichten EMI-Aufnahme aus dem Jahr 1959.
O-TON Yehudi Menuhin (0’22)
Friede ist nicht ein état von einfach Nichtstun und einfach eine Art Paradies, wo nur schöne
Gerüche und ruhige Wässer fließen und schöne Bäume wachsen. Das ist nicht die
Menschheit. Die Menschheit muss kämpfen. Aber die größere Gefahr heute, sind die der
Vernichtung, nicht nur durch die Atombombe. […] Es sind unendlich viele Möglichkeiten, die
uns vernichten können heute. Und zum ersten Mal ist der Mensch selbst verantwortlich.
[Yehudi Menuhin im Gespräch mit Klaus Lang, SFB 1985]
Yehudi Menuhin – 23. Folge
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AUTOR
Sagte der 69-jährige Yehudi Menuhin 1985 im SFB. Der Kampf um den Erhalt der
Menschheit, um die Menschenwürde und eine lebenswerte Umwelt hatte damals, in der
Spätzeit des Kalten Krieges, zumal die westliche Gesellschaften aufgerüttelt. Die
Friedensbewegung, der Aufstand gegen Atomwaffen und Kernenergie und die Warnungen
des Club of Rome vor einer Zerstörung der Umwelt hatten Menschen quer durch die
sozialen Schichten mobilisiert ‒ darunter auch einige Musiker wie Yehudi Menuhin.
1979 wurde ihm für seinen jahrelangen Friedenseinsatz in aller Welt der
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen ‒ womit erstmals ein ausübender
Musiker die Auszeichnung erhielt. Bei der Verleihung in der Frankfurter Paulskirche hielt
der französische Germanist Pierre Bertaux, ein alter Freund der Menuhins, die Laudatio ‒
und verglich den modernen Orpheus mit seinem mythologischen Urbild.
O-TON Pierre Bertaux (1’20)
Im uralten orphischen Mythos der Griechen bändigte die Musik die rohe Gewalt. Du, Yehudi,
wusstest schon immer, daß die Musik eine unter allen Umständen friedenstiftende Macht
ist, hattest an sie geglaubt und glaubst weiterhin an sie, übst sie in diesem Geiste
unentwegt aus. Du sagtest einmal, Furtwänglers Fehler sei gewesen, die Macht der Musik
überschätzt zu haben, und ‒ so fügtest Du hinzu ‒ es sei wohl auch Dein eigener Fehler
gewesen. Ist das nicht etwas zu viel der Bescheidenheit? Ist denn Optimismus ein Fehler?
Wäre es richtiger, wäre es weiser, Pessimist zu werden? Nein, es sei von Fehler nicht die
Rede, sondern höchstens von einer ehrbaren und edelmütigen Fehleinschätzung: in der Tat,
die Musik allein vermag nicht alles.
[Pierre Bertaux: Laudatio auf Yehudi Menuhin, Verleihung des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels 1979 ‒ Quelle: DLF]
AUTOR
Hinzu kommen muss ‒ so suggeriert es Bertaux, der renommierte Hölderlin-Experte und
kurzzeitige Polizeichef Frankreichs in der Nachkriegszeit ‒: hinzu kommen muss eben auch
die unbeirrbare persönliche Haltung und Überzeugungstat im richtigen Moment. Yehudi
Menuhin hat sich nicht gescheut, seine Haltung auch gegen den Rat der Diplomaten und
gegen die öffentliche Stimmung durchzusetzen ‒ am spektakulärsten, als er sich nach dem
Krieg zum Dirigenten Wilhelm Furtwängler bekannte, der sich im NS-Staat vielfach
kompromittiert hatte.
O-TON Pierre Bertaux (1’15)
Im Sommer ´45 spieltest Du zweimal im eben befreiten KZ Bergen-Belsen, dessen Insassen
noch der erlösenden Heimkehr harrten. Dann aber, nach Amerika zurückgekehrt, setztest
Du Dich für Furtwängler ein, dem in New York die jüdische Gemeinde seine künstlerische
Tätigkeit während des Dritten Reiches zum Vorwurf machte. Du selbst aber gingst als Jude,
ja gerade darum, schon ´46 und ´47 mehrmals nach Berlin. Die Fanatiker unter den Juden
warfen Dir Verrat vor. Pfiffe und Buhrufe begleiteten Deinen Auftritt. Du jedoch bliebst
unbeirrbar und spieltest. Orpheus gewann: man bat Dich um ein zweites Konzert. Du
schilderst den Vorfall in Deinen Erinnerungen wörtlich so, ich zitiere: „Die Zuhörer waren
wie Schatten des Jenseits, die Orpheus erst nicht erkannten. Dann aber ...“
[Pierre Bertaux: Laudatio auf Yehudi Menuhin, Verleihung des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels 1979 ‒ Quelle: DLF]
MUSIK 2
Warner
LC 02822
0825646777051
Ludwig van Beethoven
Romanze Nr. 1 G-Dur op. 40
Yehudi Menuhin, Violine
Philharmonia Orchestra
Leitung: Wilhelm Furtwängler
(Aufn. 1953)
© kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)
7‘37
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Yehudi Menuhin – 23. Folge
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AUTOR
Yehudi Menuhin spielte zusammen mit dem Philharmonia Orchestra die Violin-Romanze GDur op. 40 von Ludwig van Beethoven. Am Pult stand bei dieser Londoner Aufnahme von
1953 Wilhelm Furtwängler ‒ der Mann, der das Ansehen von Yehudi Menuhin in den Augen
vieler jüdischer Menschen und Organisationen schwer beschädigt hatte. Musste der Geiger,
so argumentierte man, so schnell nach dem Krieg und dem Massenmord an den Juden in
das Land der Täter eilen, um dem gerade entnazifizierten Furtwängler die Hand zu reichen
und zu vergeben, als wäre nichts geschehen?
Es war typisch für Menuhin, dass er sich nicht von den nahe liegenden Argumenten
abhalten ließ, sondern seinem eigenen Gewissen folgte. In seiner Dankesrede für die
Verleihung des Friedenspreises in Frankfurt kam er sofort auf seine Berlin-Erlebnisse zu
sprechen und rechtfertigte sie mit zwei Argumenten: erstens braucht Deutschland den
Frieden und keine weitere Konfrontation, um als Nation wieder zu sich selbst zu kommen.
Und zweitens sollte es sich auf den Kern seiner Tugenden besinnen: auf die Kultur und die
humanistische Botschaft eines Ludwig van Beethoven.
O-TON Yehudi Menuhin (2’28)
Niemals konnte der Friede größere Bedeutung und Sinntiefe haben als in Berlin im Jahre
1946. Ich kam mit meiner Frau Diana in die Hauptstadt einer großen Nation, die vom Krieg
verwüstet war und zu tiefer, brennender Selbstprüfung und Gewissenserforschung
erwachte; ja ich kam unmittelbar aus der Mitte Ihrer jüngsten Gegner, von Völkern, die das
Opfer des Krieges waren, um Ihre Musik, unsere Musik, die universale Musik Beethovens zu
spielen. Friede bedeutete zu jener Zeit so viel wie neu entzündeter Glaube, dürstendes
Verlangen nach erneuertem Vertrauen, Suche nach geistiger Ermutigung und materieller
Hilfe bei der Wiederherstellung der Würde eines Volkes, beim Wiederaufbau der Wirtschaft
einer Nation und bei der Verwandlung des Todesevangeliums in das der ewigen Werte des
Lebens.
Sie werden deshalb verstehen, warum ich diesen Friedenspreis in tiefster Demut
annehme; denn in jenen Tagen schien es, dass die Musik, die ich brachte, ein Symbol für
alles das war, was die Welt, und Deutschland im Besonderen, brauchte. Aber es war
Beethovens Musik, die die Botschaft aussprach, ich war einfach der Überbringer. Mein
einziger Anspruch ist der, dass ich in tiefster Seele wusste, dass kein anderer Komponist
den Bann des jüngst erlebten Alptraums lösen, den Ausweg zeigen und jenen notwendigen
Glauben wiederherstellen konnte, ohne den nichts Festes oder Bleibendes gebaut werden
kann. Keines anderen Komponisten Botschaft hätte die Wucht und Wirkung der Beethovens
gehabt. Und dies war die Botschaft: Hier habt Ihr Eure eigensten Worte, hier ist Eure
eigenste Musik, dies ist Eure wahre Philosophie, innen liegen Eure wahren Emotionen, liegt
Euer wahrer Intellekt. Dies ist die Kultur, dies das wirkliche Antlitz deutschen Denkens in
seiner universalen Bedeutsamkeit.
[Yehudi Menuhin: Dankesrede zur Überreichung des Friedenspreises des Deutschen
Buchhandels, Frankfurt 1979 ‒ Quelle: DLF]
AUTOR
Und weil Menuhin Beethoven ‒ und nicht etwa Bach, Mendelssohn oder Schumann ‒ als
Inbegriff deutscher Musik ansah, hat er Beethovens Violinkonzert im Laufe seiner Karriere
so häufig gespielt wie wohl kein anderes Konzert. Neben mehreren Live-Aufnahmen finden
sich im Plattenkatalog sechs Studioproduktionen mit Größen wie Furtwängler, Kurt Masur
oder Otto Klemperer, der das Beethoven-Konzert im Jahr 1966 dirigierte. Der damals 80jährige Maestro, der sich gerade für den Erhalt des Philharmonia Orchestra eingesetzt
hatte und es als New Philharmonia unterstützte, war immer noch der unerbittliche
Detailarbeiter am Klang und in der Phrasierung ‒ wobei er bestens mit Menuhin
harmonierte. Jede Phrase im Solopart scheint durchdacht in ihrer beschwörenden Gestik;
der silbrig leuchtende Ton des knapp 50-jährigen Menuhin ist so blühend wie in alten
Zeiten; und natürlich spielte er im ersten Satz wieder die hoch virtuose Kadenz von Fritz
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Yehudi Menuhin – 23. Folge
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Kreisler. Hören Sie Menuhins Interpretation dieses Allegro ma non troppo, zusammen mit
Otto Klemperer und dem New Philharmonia Orchestra.
MUSIK 3
Testament
LC 03573
SBT21479
Track 1
Ludwig van Beethoven
Violinkonzert D-Dur op. 61
1) Allegro, ma non troppo
Yehudi Menuhin, Violine
New Philharmonia Orchestra
Leitung: Otto Klemperer
(Aufn. 1966)
24‘23
AUTOR
Der erste Satz von Ludwig van Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61 ‒ mit dem New
Philharmonia Orchestra unter Leitung von Otto Klemperer und dem Geiger Yehudi
Menuhin, dem diese Sendung gewidmet ist.
Die Frage „Was ist Friede?“, der Titel von Menuhins Dankesrede für die Verleihung
des Friedenpreises des Deutschen Buchhandels, steht heute im Zentrum. Und Menuhins
Einsatz für Deutschland, Furtwängler und die deutsche Kultur war nur der Auftakt zu einer
Mission, die Menuhin populärer und berühmter machte als alle seine Kollegen.
Dabei konzentrierte er sich keineswegs auf Europa. Als Menuhin im Februar 1950
erstmals nach fünfzehn Jahren wieder nach Südafrika kam, hatte sich das Land verändert
und schrittweise auf eine konsequente Rassentrennung zubewegt. Die schwarze
Bevölkerung war aus den Großstädten in so genannte „Townships“ umgesiedelt worden,
schwarze Arbeitskräfte bekamen weniger Geld. 1948 wurde die Apartheid gesetzlich
festgeschrieben, 1951 ein Zweiklassen-Staatsrecht eingeführt. Gerade hatte der
südafrikanische Schriftsteller und Apartheid-Gegner Alan Paton sein Buch Cry, the Beloved
Country veröffentlicht, das auf Deutsch erschien unter dem Titel Denn sie sollen getröstet
werden.
Yehudi Menuhin hatte das Buch gelesen und besuchte sofort Patons DiepkloofErziehungsanstalt für junge Schwarze bei Johannesburg, ließ 500 Jungen auf dem Hof
zusammentrommeln und spielte zusammen mit seinem Klavierbegleiter Marcel Gazelle
populäre Stückchen. Die Zeitungen berichteten darüber, der lokale Tourneemanager tobte
und drohte dem Geiger mit einer Geldstrafe für nicht vereinbarte Konzerte. Menuhin blieb
unbeeindruckt und ließ täglich den Konzerten für die Weißen in den Städten einen Auftritt
in den Townships vorangehen. Gut möglich, dass er dabei auch Arcangelo Corellis Sonate
über die berühmte „Follia“-Melodie spielte. Hier eine Aufnahme von 1953, zusammen mit
dem Pianisten Gerald Moore.
MUSIK 4
Warner
LC 02822
0825646777815
Track 5
Arcangelo Corelli
Violinsonate op. 5 Nr. 12 „La follia“
Yehudi Menuhin, Violine
Gerald Moore, Klavier
(Aufn. 1953)
7‘41
AUTOR
Das war Arcangelo Corellis Violinsonate op. 5 Nr. 12 ‒ allgemein bekannt unter dem Titel
„La follia“, denn Corelli variiert hier mehrfach ein berühmtes Thema und demonstriert
damit die Fortschritte der Geigenkünste um 1700. Yehudi Menuhin spielte zusammen mit
dem Pianisten Gerald Moore in einer Aufnahme von 1953.
Drei Jahre später reist Menuhin zum vorerst letzten Mal nach Südafrika und schwor
sich, erst wieder zurückzukehren, wenn die Apartheid ein Ende hätte. Er hielt Wort: Erst
1994, als Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt wurde,
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Yehudi Menuhin – 23. Folge
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kam auch Menuhin wieder ins Land ‒ diesmal als Dirigent des Litauischen
Kammerorchesters, mit dem er natürlich auch wieder in den Townships auftrat.
Nicht nur Menuhins Verhältnis zu Südafrika und anderen autoritär regierten
Ländern wurde nach dem Zweiten Weltkrieg angespannter. Als Aktivist für den Frieden
verstrickte er sich nicht selten in heikle Missionen, die trotz seiner guten Beziehungen zu
Politikern und einflussreichen Geldgebern lebensgefährlich waren. Dazu gehörte sein erster
Besuch in Israel im Jahr 1950, der überschattet war von Menuhins Konzerten in
Deutschland und seinen Stellungnahmen zu einem friedlichen Miteinander mit den
Palästinensern ‒ in einer früheren Folge über Menuhins Haltung zum Judentum war davon
schon die Rede.
Tatsächlich hat sich Menuhin, wie in Südafrika, auch in Israel geweigert, den Konflikt
im Lande nur von einer Seite aus zu betrachten ‒ und es war diese Gratwanderung
zwischen dem Verständnis für verschiedene Positionen einerseits und einer klaren
persönlichen Stellungnahme andererseits, die Menuhin angreifbar, aber auch glaubhaft
machte. Wenn er in den Nahen Osten reiste ‒ was er in regelmäßigen Abständen tat ‒, trat
er eben nicht nur im Konzertsaal in Tel Aviv oder an der Klagemauer in Jerusalem auf,
sondern besuchte auch die Palästinensergebiete im Westjordanland. Was er dort sah, gab
ihm zu denken.
O-TON Yehudi Menuhin (1’00)
Wenn ich in Israel war, vor zwei Jahren ‒ ich habe einen Preis gewonnen ‒, und dann von
Jerusalem wollte ich mit meiner Frau nach Jordan gehen. Ich habe einen palästinischen
Wagen genommen, weil ich nicht mit einem israelischen Militärwagen durch die Gebiete
fahren wollte. Und wir halten in einem kleinen Ort neben Nazareth und haben eine
mohammedanische Schule besucht, palästinische Schule, die nur für Märtyrer ist. Das heißt,
Söhne von Vätern, die ihr Leben entweder gaben, oder Leben wurden genommen von den
Israelischen. […] Ganz kleine Schule, Schüler in weißem Kleid, gute Jungen, schöne,
wunderbare Jungen, absolut ehrlich. Aber: das waren Söhne von Märtyrern. Womit
wachsen die? Nur mit einer Idee von Rache. Eines Tages werden sie ausüben die Rache, die
ihr Vater erlitten hat.
[Yehudi Menuhin im Gespräch mit Walter Ausweger, MDR 1995 ‒ MDR-Archiv: M510403]
AUTOR
So äußerte sich Menuhin 1995, nach den Abkommen von Camp David und Oslo über eine
palästinensische Autonomieverwaltung und ein Jahr nach der Verleihung des
Friedensnobelpreises an Jassir Arafat, Schimon Peres und Yitzhak Rabin. Menuhin ahnte,
dass der fatale Kreislauf des Hasses und der Gewalt auch jetzt nicht gebrochen war, dass
stets weiter für den Frieden gekämpft werden müsse ‒ und für das Leben.
O-TON Yehudi Menuhin (0’16)
Die Hoffnung ist immer da, aber die wird nicht benutzt. Die Hoffnung ist einfach, offen zu
kommen und sagen: Gut, wir haben schon bewiesen, dass wir beide, Palästinier und Juden,
bereit sind, für unser Land zu sterben ‒ warum nicht für das Land zu leben?
[Yehudi Menuhin im Gespräch mit Walter Ausweger, MDR 1995 ‒ MDR-Archiv: M510403]
AUTOR
Da sprach weniger der politische Pragmatiker Yehudi Menuhin als der Künstler und
Visionär. Zu seinen Erfolgsrezepten gehörte, dass er nicht die Augen verschloss, sondern
Missstände öffentlich anprangerte, dass er ‒ soweit das möglich war ‒ die Krisengebiete
selbst besuchte und seine Berühmtheit einsetzte, um präsent zu sein: ob im Moskau der
Breschnjew-Zeit, in Israel, den palästinensischen Autonomiegebieten oder auf den
Wirtschaftsforen in Davos.
Natürlich prägte das politisch-moralisches Engagement mehr und mehr auch das
Bild vom Musiker Menuhin. Wenn er auftrat ‒ als Geiger oder als Dirigent ‒, dann stand auf
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Yehudi Menuhin – 23. Folge
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der Bühne nicht nur ein Musikdarsteller, den man mit fachlichen Kriterien maß. Dann stand
da oben eine lebende Legende, die Geschichte verkörperte, aber auch den hohen Anspruch
an die Kunst, nicht nur zu unterhalten, sondern segensreich zu wirken und etwas zu
bewegen.
Natürlich ist Menuhin immer wieder nach Berlin zurückgekehrt, wo er ein treues
Publikum hatte, aber auch ein treues Orchester wie die Berliner Philharmoniker, die ihm
jährlich regelmäßige Konzerttermine als Dirigent anboten. Dabei zählte wenig, dass
Menuhin mit dem Taktstock weder auf die Musiker noch auf das Publikum die Ausstrahlung
hatte, wie der Magier auf vier Saiten. Wenn er ein Werk die die Sinfonie A-Dur von Mozart,
KV 201, dirigierte, inspirierte die Musiker nicht sein Schlag, sondern die Aura des
weitgereisten, weitherzigen Menschen Menuhin. Hören wir Mozarts Sinfonie in vier Sätzen
in einem Konzertmitschnitt aus der Berliner Philharmonie vom Dezember 1978. Es spielt
das Berliner Philharmonische Orchester.
MUSIK 5
Eigenprod. rbb
Archiv-Nr.:
0950087
Wolfgang Amadeus Mozart
Sinfonie A-Dur KV 201
Berliner Philharmonisches Orchester
Leitung: Yehudi Menuhin
(Aufn. 1978)
22‘25
AUTOR
Die Sinfonie A-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart, KV 201, in einem Livemitschnitt aus der
Philharmonie in Berlin vom 22. Dezember 1978. Das vorweihnachtliche Präsent
überreichten Yehudi Menuhin und das Berliner Philharmonische Orchester.
Sie hören das kulturradio vom rbb, heute mit Michael Struck-Schloen und einer
weiteren Folge zum Leben und Schaffen von Yehudi Menuhin. „Was ist Friede?“ ist Titel
und Thema der heutigen Sendung. Die Frage steht über Menuhins Rede, in der er sich ein
knappes Jahr nach dem eben gehörten Konzert in der Frankfurter Paulskirche für den
Friedenpreis des Deutschen Buchhandels bedankte.
Die Fähigkeit zum Frieden erfordert die Fähigkeit, sich auf den Nachbarn
einzulassen. Genau hier aber sah Menuhin die Probleme eines Deutschland, das sich zu sehr
auf Intellekt und Innerlichkeit konzentrierte und zu wenig auf die Öffnung nach außen. Wie
vor ihm Thomas Mann in seinem Essay Deutschland und die Deutschen interpretierte
Menuhin den Weg zum Nationalsozialismus aus dieser Idee vom romantischen Deutschland,
das im Labyrinth seiner in hermetischen Studierzimmern entworfenen Ideologien den Blick
für das Andere verliert.
O-TON Yehudi Menuhin (1’58)
Der mediterrane Mensch war mit seiner eigenen Wirklichkeit beschäftigt und schickte sich
an, Weltreiche zu erobern, während der Deutsche, nahezu landumschlossen, seine
Herrschaftsgebiete vor allem im geistigen Raum ausdehnte vermittels Visionen und
Abstraktionen; denn er entwarf Konzepte des Lebens und der Gesellschaft, wie er sich
vorstellte, dass sie sein müssten oder doch sein könnten, und in seinen großen
Universitäten entfaltete er eine Befähigung zur Tiefe des Denkens und einen hohen Ernst,
der ebenso profund wie nach innen gerichtet war. Wo die cartesianischen Franzosen
emporblickten, hinein in Pascals „Espaces infinis“, neigte der deutsche Geist dazu, in das
Dunkel der menschlichen Psyche hinabzuschauen; und vielleicht erzeugte er damit in seiner
Seele einen endemischen selbstquälerischen Zug, der ihn ständig mit sich selbst und der
menschlichen Natur, ja mit der Natur schlechthin ringen ließ.
Wie gefährlich ist aber doch die Doppelsinnigkeit der Vision des Kommenden; denn
wenn sie vom Wege abirrt und sich zu territorialen Eroberungen anschickt, verrät sie
unvermeidlich sich selbst. Indessen warnt uns andererseits die Bibel auch wieder: „Wo kein
Rat ist, da gehet das Volk unter“. Wäre es möglich, dass der Begriff „Lebensraum“ aus
einer Furcht vor geschlossenen Räumen, einer Art geistiger Klaustrophobie, eines mit
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Yehudi Menuhin – 23. Folge
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intellektueller und physischer Kraft gleichermaßen begabten Volkes entstand, dass es die
metaphysische Ausweitung, die es der ganzen Welt hätte bieten können, mit einer
unheilvollen physischen Expansion verwechselte?
[Yehudi Menuhin: Dankesrede zur Überreichung des Friedenspreises des Deutschen
Buchhandels, Frankfurt 1979 ‒ Quelle: DLF]
AUTOR
Yehudi Menuhin in der Frankfurter Paulskirche im Jahr 1979. Bis zuletzt hat er darüber
sinniert, wie es dazu kommen konnte, dass ein Kulturvolk sich von einem Tyrannen in den
Untergang locken ließ und dabei die ganze Welt mit Terror und Tod überzog. Eine wirklich
überzeugende Antwort darauf konnte er auch in seiner Friedenspreis-Rede nicht geben;
sicher war er nur darin, dass man den Deutschen die Schuld an der Katastrophe nicht ewig
vorhalten könne, wenn man einen dauerhaften Frieden in Europa schaffen und sichern
wollte ‒ dem Kontinent, in dem sich Menuhin geistig verwurzelt und seit den fünfziger
Jahren auch zuhause fühlte.
O-TON Yehudi Menuhin (0’26)
Ich bin ein Europäer, ein besserer Europäer als die Europäer selbst, weil ich nicht in Europa
geboren bin und komme von beiden Seiten: von Russland und von Amerika. Und für mich ist
Europa … es bedeutet einen Reichtum von Kulturen, […] von Schönheiten, von Landschaft,
[…] auch so viele Dialekte, Sprachen. […] Die ganze Welt ist für mich in Europa.
[Yehudi Menuhin im Gespräch mit Jochanan Schelliem, MDR 1996]
MUSIK 6
EMI
LC 06646
2641622
CD 31 Track 9
Camille Saint-Saëns
Introduction et Rondo capriccioso op. 26
Yehudi Menuhin, Violine
Philharmonia Orchestra
Leitung: Eugene Goossens
(Aufn. 1957)
10‘04
AUTOR
Yehudi Menuhin spielte ‒ zusammen mit dem Philharmonia Orchestra unter Eugene
Goossens ‒ Introduktion und Rondo capriccioso von Camille Saint-Saëns ‒ einem
Komponisten, der selbst, zumindest musikalisch, als Europäer auftrat. Eine Aufnahme aus
dem Jahr 1957.
Damals war Menuhin schon aus den USA nach Europa gezogen. Und er hat sich in
der Folge öfter mit dem Verhältnis zum Kontinent und der Frage der Europäischen
Gemeinschaft beschäftigt. Im Grunde begrüßte er die Öffnung der Grenzen und den freien
Austausch unter den europäischen Ländern ‒ auch wenn er zuweilen befürchtete, dass im
Konzert der Staaten einige wenige das Sagen und andere zu gehorchen haben würden. Was
er in jedem Fall verhindern wollte, war, dass die kulturelle Vielfalt unter dem Diktat einer
grenzenlosen Wirtschaftspolitik litt. Dabei scheint er 1995 schon die Gefahren des
Freihandelsabkommens mit den USA geahnt zu haben.
O-TON Yehudi Menuhin (0’38)
Europa ist keine Vereinigten Staaten, wo man versucht, alles uniform zu gestalten ‒
glücklicherweise ist es nicht ganz gelungen, auch da. Aber man wird nicht Europa
verstehen, solange man nur an den einen Markt glaubt, wo alle Coca-Cola trinken werden,
das ist nicht Europa. Europa ist ein Land, wo die Mehrheit der Kulturen, jede hat etwas zu
geben, einen Reichtum zu geben, und die Communité ist da, um dieses Reichtum zu
schützen. Ich bin gegen Grenzen, aber für Kulturen.
[Yehudi Menuhin im Gespräch mit Walter Ausweger, MDR 1995 ‒ MDR-Archiv: M510403]
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Yehudi Menuhin – 23. Folge
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AUTOR
Das bewies Menuhin auch als Präsident des Internationalen Musikrates der UNESCO, als der
er sechs Jahre lang durch die Welt eilte und in allen Kontinenten seine Musikerkollegen und
ihre Nöte kennen lernte.
O-TON Yehudi Menuhin (0’18)
Ich kenne die Musiker von der ganzen Welt. Als ich für sechs Jahre Präsident vom
International Music Council von UNESCO war, bin ich allen Musikern von allen Ländern
begegnet, und gehört und so. Das sind alle meine Kollegen, ob die von Afrika kommen oder
Asien, woher sie kommen.
AUTOR
Sicher hat ihn diese Arbeit auch zur Idee eines Weltparlaments inspiriert, das den
Stimmlosen eine Stimme geben sollte.
Doch kehren wir noch einmal zu Menuhins Dankesrede für den Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels in Frankfurt zurück. Gegen Ende fasst er dort den Begriff Friede
noch einmal neu und weiter als die Aussöhnung unter Staaten. Auch der soziale Friede war
ihm ein hohes Gut, das er in seiner Zeit gefährdet sah – vor allem durch die Informationsund Medienflut in den großen Städten.
O-TON Yehudi Menuhin (1’08)
Aber wie können wir heute überhaupt vom Frieden reden in einer so zerrissenen und
zerteilten, blutenden und grausamen Welt? Die theoretische Diskussion darüber hat
Obertöne von Heuchelei – unsere Hilflosigkeit wird durch die Verbreitung von Wissensstoff
durch Presse, Radio und Fernsehen nur umso größer und qualvoller; und so vervielfacht
sich die neue Krankheit wie alle älteren Seuchen und lähmt fast noch den stärksten Willen;
und Hand in Hand mit dieser wahllosen und unzusammenhängenden Information entsteht
unter der wachsenden, orientierungslosen Masse die totale Entfremdung des wirklichen
menschlichen Einzelwesens, das unter Bedingungen der Isolation und Folter zu leben
gezwungen ist, entweder konkret oder in geistigem und psychologischem Sinn in unseren
Großstädten. Diese Menschen, die der Ideale und der Erfüllung verheißenden Ziele beraubt
sind, werden gezwungen, Ersatz-Ideale zu suchen, falsche Zielsetzungen und gefährliche
Gefährten.
[Yehudi Menuhin: Dankesrede zur Überreichung des Friedenspreises des Deutschen
Buchhandels, Frankfurt 1979 ‒ Quelle: DLF]
AUTOR
So sprach Yehudi Menuhin 1979, vielleicht ohne zu ahnen, dass sein eigner Sohn Gerard
bald seine „Ersatz-Ideale“ in den Gespenstern der Vergangenheit suchen sollte. Als
Holocaust-Leugner und Verharmloser des Hitler-Regimes wurde Gerard Menuhin das
schwarze Schaf der Familie, das die rechtsextreme Szene gern für ihre eigenen Zwecke
ausschlachtet.
Yehudi Menuhin hat sich über diese Schande in der eigenen Familie nicht mehr
geäußert. Vielleicht war er auch zu viel unterwegs, um sich um seine Kinder und ihre
Entwicklung kümmern zu können. 1952 zum Beispiel, als Gerard und seine Geschwister
meist unter der Obhut von Kindermädchen in Kalifornien aufwuchsen, spielte Menuhin in
Kopenhagen das Violinkonzert von Carl Nielsen ein. Hören wir den Schluss des höchst
anspruchsvollen, wenig bekannten Werks mit Menuhin und dem Staatlichen Dänischen
Radio-Sinfonieorchester unter Leitung von Mogens Wöldike.
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Yehudi Menuhin – 23. Folge
MUSIK 7
EMI
LC 06646
2641762
Track 10
Carl Nielsen
Violinkonzert op. 33
Rondo. Allegretto scherzando
Yehudi Menuhin, Violine
Dänisches Staatl. Rundfunk-Sinfonierochester
Leitung: Mogens Wöldike
(Aufn. 1952)
Seite 9 von 9
9‘30
AUTOR
Carl Nielsen: das Finale seines Violinkonzerts op. 33, gespielt von Yehudi Menuhin und dem
Staatlichen Dänischen Rundfunk-Sinfonierochester, der Dirigent dieser Aufnahme von
1952 war Mogens Wöldike.
Das war die 23. Folge unserer Menuhin-Serie im kulturradio vom rbb. Das
Manuskript finden Sie unter der Internet-Adresse kulturradio.de; einen schönen Vorabend
wünscht Ihnen Michael Struck-Schloen.
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