Auf eigenen Beinen
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Auf eigenen Beinen
14 14 MAGAZIN Frankfurter Rundschau Montag, 9. Dezember 2013 69. Jahrgang Nr. 286 Montag, 9. Dezember 2013 69. Jahrgang Nr. 286 MAGAZIN Frankfurter Rundschau 15 Auf eigenen Beinen Milan Martelli ist seit einem Badeunfall querschnittsgelähmt. Weil er sich nie aufgegeben hat, lebt er seinen Traum. Er schreibt Songs für Musiker wie Xavier Naidoo. Und ist sogar wieder gelaufen A ls Milan Martelli regungslos im Wohnzimmer auf der Couch lag, abgemagert bis auf die Knochen, zu schwach, um sich zu bewegen, war es sein eigener Song im Fernsehen, der ihn an seine Ziele erinnerte. Sein Song, mit dem ein Sender einen Spendenaufruf unterlegt hatte, um Gelder zu sammeln für Menschen wie ihn. Gelder, auf die er nicht angewiesen ist, weil er geschafft hat, was alle für unmöglich gehalten haben. „Es ist ein Wunder“, sagt der Frankfurter. Ein Wunder, das aus einem querschnittsgelähmten Teenager mit Genickbruch einen der erfolgreichsten Komponisten und Musikproduzenten Deutschlands gemacht hat. Zwischen all den goldenen Schallplatten an der Wand, zwischen Keyboard und Mischpult steht in Martellis Arbeitszimmer im Frankfurter Stadtteil Höchst eine Spiegelreflexkamera. Der 34-Jährige hat sie unlängst angeschafft, um zu dokumentieren, was eigentlich unmöglich ist. Damit man ihm glaubt. 43 Schritte sind es, die es eigentlich nie hätte geben dürfen. 43 Schritte, die er vor Monaten selbständig, ohne fremde Hilfe, gelaufen ist. Martelli erzählt davon mit Genugtuung in der Stimme und mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. Nicht schlecht für einen Querschnittsgelähmten, was? Vor allem für einen, dem vor 16 Jahren von Ärzten prophezeit worden war, niemals wieder auch nur einen Finger krümmen zu können. Martelli hat sich von den verheerenden Prognosen der Mediziner nie entmutigen lassen. „Ich bin ein Kämpfer“, sagt er. Das Lied „Bitte hör nicht auf zu träumen“, vom Sender RTL zur Melodie seines „Spendenmarathons“ auserkoren, hat er für Xavier Naidoo komponiert und sich damit selbst ein Ziel erfüllt: von seiner Musik leben zu können. Er wird sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein, aber Sozialhilfe, die wollte er nie. „Ich habe jahrelang kein Sozialgeld in Anspruch genommen, erst als es einfach nicht mehr ohne ging. Aber ich habe allen beim Amt gesagt, ich brauche nur kurz Geld, dann mache ich Musik. Keiner hat mich ernst genommen“, sagt Martelli heute. ZUR PERSON Milan Martelli wird am 30. November 1979 in Frankfurt geboren. Der Spross einer Musikerfamilie beginnt im Alter von 10 Jahren mit dem Klavierunterricht, mit 15 Jahren legt er als DJ auf Partys auf und wird Teil der Frankfurter Hip-Hop-Szene. Mit 17 Jahren bricht sich Martelli bei einem Badeunfall im Urlaub in Montenegro das Genick. Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Entgegen aller Prognosen erkämpft er sich seine Bewegungsfreiheit zum Teil zurück und beginnt als Komponist und Musikproduzent zu arbeiten. 2004 landet er mit dem Song „Phoenix“ des Frankfurter Rappers Azad auf Anhieb einen Hit. 2008 wird er in das bundesweit renommierte Produzententeam um den Mannheimer Sänger Xavier Naidoo aufgenommen, für den er unter anderen die Songs „Alles kann besser werden“ und „Bitte hör nicht auf zu träumen“ komponiert und produziert. 2011 schreibt er für Naidoo und Kool Savas alias Xavas den Hit „Schau nicht mehr zurück“. Auch mit Culcha Candela, Bushido und Cassandra Steen arbeitete Martelli zusammen. Für seine Musik erhielt er etliche Goldund Platinauszeichnungen. ley Das dürfte sich mittlerweile geändert haben. Für Naidoo schrieb Martelli zudem den Hit „Alles kann besser werden“, sein Lied „Schau nicht mehr zurück“ für Naidoo und Rapper Kool Savas alias Xavas kletterte bis auf Platz zwei der deutschen Single-Charts und siegte beim Bundesvision Song Contest von Stefan Raab. Auch Culcha Candela, Bushido und der Frankfurter Rapper Azad arbeiteten bereits mit Musik von Martelli. „Mit Milan zu arbeiten, ist immer eine sehr entspannte Angelegenheit“, sagt Naidoo. „Ich kann mich in seine gefühlvollen, deepen Playbacks ohne weiteres hineinversetzen. Seine Stücke berühren mich auf eine ganz besondere Weise. Auch fasziniert mich, dass er trotz seiner Behinderung solche ausgeklügelten Beats bauen kann.“ 100 Schritte sind sein Traum. „Ich will ein halber Fußgänger werden“, sagt Martelli. „Ich will mich im Bett alleine aufrichten und zum Rollstuhl laufen können.“ Im Moment aber sind es nicht einmal mehr 43 Schritte. Martellis lädierter Körper ist anfällig. Eine Nierenentzündung mit anschließender Blutvergiftung hat ihn zurückgeworfen. Nicht nur körperlich. Seit März hat er keine Lieder mehr geschrieben. Er muss trainieren, aufbauen, da bleibt keine Kraft mehr für die Musik. „Es ist für mich unheimlich schwer, die richtige Balance zu finden zwischen Reha, Musik und Privatleben“, sagt Martelli, der sich in seiner Wohnung ein kleines Studio eingerichtet hat. Direkt um die Ecke im Flur steht der Barren, in den er sich einhängt, um ein paar Schritte zu gehen. Sein Helfer muss ihn dabei stützen. Demnächst wird sein Leben noch unberechenbarer. Milans Verlobte ist im fünften Monat schwanger. Und wenn das Kind nur annähernd so wird, wie er selbst war, PRIVAT Von Arne Leyenberg ehe ihn das Schicksal ruhigstellte, dann braucht er starke Nerven. „Ich war wild und habe das Risiko gesucht“, erinnert sich Martelli. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein erster ganzer Satz ‚Ich will alleine‘ war.“ Von seinen riskanten Klippensprüngen hätte ihn damals, in seinem ersten Leben, wohl niemand abhalten können. Im Urlaub in Montenegro, woher die Familie stammt, wollte der 17 Jahre alte Milan immer höher hinaus. Ein Kopfsprung ins viel zu flache Wasser zerschmetterte ihm die Wirbelsäule „Ich habe die Gefahr gesucht. Ich war jung und leichtsinnig.“ Sein Vater musste mitansehen, wie sich der Sohn kopfüber ins Wasser stürzte. Es war an dieser Stelle viel zu flach, höchstens knietief. Wäre der Vater nicht gewesen, Milan wäre ertrunken. Mit dem Aufprall war das Leben aus seinem Körper gewichen. „Von einer Sekunde auf die andere war mein Körper taub. Ich war wie enthauptet“, sagt Martelli. Aber der Kopf, der funktionierte noch, seine Gedanken waren klar. „Ich habe sofort gewusst: jetzt bist du querschnittsgelähmt.“ Zwischen dem dritten und vierten Halswirbel hatte er sich die Wirbelsäule zerschmettert. Weil die Fraktur so weit oben saß, konnte er nicht mehr richtig atmen, er drohte zu ersticken. Im Krankenhaus in Podgorica waren sie mit der Schwere der Verletzung überfordert. Wenn sie wollen, dass ihr Sohn überlebt, dann fliegen sie ihn nach Deutschland, sagten die Ärzte seiner Mutter. In Frankfurt ist die BG-Unfallklinik überfüllt, Milan wird im Rettungswagen nach Heidelberg gefahren. Erst zehn Tage nach seinem Unfall wird er operiert. Ein Stück Beckenknochen wird ihm als künstliche Bandscheibe zwischen die Halswirbel gesetzt. „Normalerweise ist es bei so einer Verletzung wichtig, in den ersten 24 Stunden operiert zu werden. Bei mir hat es ein bisschen länger gedauert. Aber ich habe es überlebt“, sagt Martelli. Die Ärzte machen dem vom Hals abwärts Gelähmten keine Hoff- nung. Im Gegenteil. Er könne von einem Wunder sprechen, überhaupt noch zu leben, sagt ihm der Chefarzt. Aber er werde niemals wieder etwas an seinem Körper bewegen können. „So raubt man jedem Patienten den Mut und den Willen zum Trainieren“, sagt Martelli. „Aber mir nicht.“ Er sei nie verzweifelt. „Mich hat nie jemand heulen gesehen.“ Weil er nie geweint hat. Freunde, die ihn trösten wollen, tröstet schließlich er, weil sie am Krankenbett zusammenbrechen. Macht euch keine Sorgen, sagt er ihnen, so bleibe ich nicht. „Aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich auch nicht, wie steinig der Weg wird.“ Martelli befolgt den Rat eines alternativen Therapeuten, in Gedanken seinen Körper zu bewegen. Nein, er befolgt ihn nicht, er ist davon besessen. „Tag und Nacht habe ich in Gedanken meinen Zeh bewegt. Ich habe pausenlos Signale gesendet. Ich wollte so nicht bleiben.“ Eines Morgens, als er unter der Dusche steht und von einer Krankenschwester gewaschen wird, be- wegt sich der Zeh. Die Schwester glaubt ihm nicht, hält das Zucken für eine Spastik. Martelli bewegt den Zeh schließlich auf ihr Kommando hin. Er trainiert weiter, Stunde um Stunde, Tag um Tag, die Monate vergehen. Sein Antrieb: die Hände bewegen, um Musik zu machen. Im Hause Martelli war Musik allgegenwärtig. Der Vater spielte Gitarre, die Mutter sang Volkslieder. Milan lernte als Kind Klavierspielen, später legte er als DJ auf Partys auf. Mit 15 Jahren beginnt er, eigene Lieder zu schreiben. „Es hat mir nicht gereicht, die Platten von anderen aufzulegen. Ich habe mir gedacht: Was die können, kann ich auch.“ Zweieinhalb Jahre kämpft er im Krankenhaus und in der Reha für ein bisschen Bewegungsfreiheit. Und er macht erstaunliche Fortschritte. Die Füße gehorchen ihm teilweise wieder, dann die Arme. „Irgendwann konnte ich mich an der Stirn kratzen.“ Vier Jahre nach seinem Unfall weiß er: „Jetzt bin ich soweit, Musik zu machen.“ Ohne Schulabschluss setzt er alles auf eine Karte. Seine Eltern glauben an ihn (Martelli: „Sie waren immer an meiner Seite, haben mir alles ermöglicht“) und kaufen ihm Studioequipment für mehr als 10.000 Mark. Und ihr Sohn zieht sich zurück. „Ich habe mich vier Jahre lang in meiner eigenen kleinen Welt eingeschlossen“, sagt Martelli. „Ich habe nur noch in einem Zimmer gelebt, mich ganz bewusst von allen sozialen Kontakten abgeschnitten.“ Er studiert Handbücher und Kompositionen, experimentiert mit Tönen und Klängen – zwölf Stunden am Tag. „Ich hatte eine Vorstellung davon im Kopf, wie meine Musik klingen sollte: melancholisch, aber voller Hoffnung.“ Nach vier Jahren ist der Autodidakt zufrieden. Ein Freund stellt den Kontakt zum Frankfurter Rapper Azad her. Der ist begeistert, als er den jungen Rollstuhlfahrer in einem Tonstudio trifft und sich dessen Musik anhört. „Phoenix“ wird der erste Hit der beiden. Martelli liefert den Beat, Azad schreibt dazu den Text. „Von unten nach oben, aus dem Dreck ans Licht. Wie Phoenix aus der Asche“ – das passt. Mar- telli ist zurück im Leben. Dass der Songtext seine Situation widerspiegelt, ist für Martelli nicht verwunderlich. Wenn die Künstler auf seine Musik ihre Texte schreiben, würden sie seine Emotionen, die er beim Komponieren gespürt habe, aufnehmen und verarbeiten, ist Martelli überzeugt. „Alles kann besser werden“, „Schau nicht mehr zurück“, „Bitte hör nicht auf zu träumen“: das kann kein Zufall sein. „Alles kann besser werden“ ist einer der Hits, die er für Xavier Naidoo schrieb Durch die Arbeit mit Azad erhält Martelli einen Verlagsdeal bei EMI. Die Plattenfirma sichert sich die Rechte an seiner Musik, im Gegenzug vermittelt sie ihm die Zusammenarbeit mit ihren Künstlern. So schreibt Martelli Lieder für Bushido, Culcha Candela und Cassandra Steen. Das große Geld verdient er aber immer noch nicht. Und plötzlich streikt sein Körper. „Durch die Arbeit, den ganzen Stress, habe ich meinen Körper vernachlässigt und mein Immunsystem geschwächt.“ Seine Nieren versagen ihre Arbeit, Martelli magert ab und landet mit einem schweren Virus im Krankenhaus, wo er unter Quarantäne gestellt wird. Ein Jahr lang muss er Antibiotika schlucken. „Das war der Tiefpunkt in meinem Leben“, sagt Martelli. Er hat keine Einnahmen mehr, lebt wieder von Sozialhilfe. „Ich wusste, wenn ich jetzt nicht mein Leben umstelle, dann werde ich keine 30 Jahre alt.“ Martelli zieht sich nach Montenegro zurück und kümmert sich nur noch um seinen lädierten Körper. Zurück in Deutschland steht er wieder vor dem Nichts. Dann lernt er Michael Herberger kennen, den Produzenten und Partner von Xavier Naidoo. Der ist begeistert von Martellis Musik und holt ihn ins Produzententeam. Er wird nach Mannheim ins Studio gerufen – Naidoo will Songs mit ihm aufnehmen. „Alles kann besser werden“ hält sich 2009 acht Monate lang in den deutschen Charts. Vier Jahre später holt Naidoo den Frankfurter auch als Produzenten für sein Projekt Xavas mit Kool Savas hinzu. Gemeinsam mit Naidoo will Martelli nun sein Projekt „Reich mir deine Hand“ verwirklichen – ein Musik-Album für vom Schicksal Getroffene wie ihn, die es nicht wieder zurück geschafft haben ins Leben. „Viele resignieren, aber es ist möglich. Ich möchte zeigen, welche Energie ein Mensch aufbringen kann, wenn er an sich glaubt.“ Der größte Druck ist mittlerweile von Martelli genommen. Durch seine Hits hat er laufende Einnahmen, 50 Lieder hat er mittlerweile geschrieben. „2014 will ich gerne mein Projekt umsetzen und wieder voll ins Berufsleben einsteigen“, sagt er. Sein Weg ist noch nicht zu Ende.