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Die Autorin
Ingrid Ramm-Bonwitt studierte in Frankfurt am Main Germanistik und Anglistik und lebt seit 1978 in Paris, wo sie mehrere Jahre in der Erwachsenenbildung tätig war. Außerdem ist sie diplomierte Yoga-Lehrerin. Sie erhielt ihre
Ausbildung an der Fédération Française de Hatha Yoga (F. F. H. Y.), einer der
bekanntesten anerkannten Ausbildungsstätten in Frankreich. Seit 1981 erteilt
sie in Paris Yoga-Kurse. Zu ihren Veröffentlichungen gehören zahlreiche Bücher
über Yoga und das Figurentheater in Europa und Asien.
Besuchen Sie die Autorin unter www.welt-des-yoga.de
und www.puppentradition.de
Über das Buch
In den alten Schriften aus der tantrischen Tradition finden wir wunderbare Anleitungen zu intensiven Visualisierungen, die es uns erlauben, durch bildhafte
Vorstellungen ganz bestimmte Geisteszustände hervorzurufen. Sie beeinflussen
unsere physische und psychische Verfassung. So können wir durch Imagination bestimmter Symbole oder Bilder unseren Atem beruhigen, den Rhythmus
unserer Gehirnwellen verändern oder unser Nervensystem entspannen. Auf
der geistigen Ebene können uns Imaginationen helfen, bestimmte Einsichten
zu erlangen und Zusammenhänge zu erkennen, die zuvor im Nebel lagen. Die
geführten Meditationen und Visualisierungsübungen vermögen, unsere Intuition zu entfalten, und werden im Tantrismus gezielt eingesetzt, um Gesehenes
gedanklich-bildlich in Erinnerung zu rufen oder Nichtgesehenes vor das innere
Auge zu führen.
Während die Yogis sich schon immer der Macht der Gefühle und der Intuition bewusst waren, galt für die Naturwissenschaftler und die westlichen
Philosophen uneingeschränkt das Primat der Ratio. Inzwischen aber haben
weltweit Psychologen, Hirn- und Verhaltensforscher bestätigt, dass wir ein unbewusst arbeitendes Entscheidungswissen besitzen, das gemeinhin als Bauchgefühl, Unbewusstes oder auch als Intuition bezeichnet wird.
Ingrid Ramm-Bonwitt
Tantrische
Yoga-Meditationen
Wege zu innerer Freiheit
und geistiger Kraft
ISBN 978-3-8434-1010-6
Ingrid Ramm-Bonwitt:
Umschlag: Murat Karaçay, Schirner
Tantrische Yoga-Meditationen
Satz: Michael Zuch, Frankfurt a. M.
Wege zu innerer Freiheit
Redaktion: Michael Zuch, Frankfurt a. M.
und geistiger Kraft
& Bastian Rittinghaus, Schirner
Copyright © 2011
Printed by: FINIDR, Czech Republic
Schirner Verlag, Darmstadt
www.schirner.com
1. Auflage 2011
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige
Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie
des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten
Inhalt
Einführung
9
Tantrische Yoga-Meditationen
Lebensbejahende Philosophie 17
Die zwei Säulen des Tantrismus 31
Mystische Vereinigung 39
Verehrung der Frau 47
Warum meditieren wir? 55
Achtsamkeit 69
Visualisierung 77
Gefühle und Intuition als Orientierungshilfe 87
Der wilde Elefant 109
Praxis
129
Meditationshaltungen 131
Atem ist Leben 145
Antar Mauna (innere Stille) 171
Lebensenergie 183
Zurückziehen der Sinne 193
Flow-Meditation 199
Mantra-Visualisierung 209
Yantra-Meditation 215
Chakra-Visualisierung 223
Meditationen zur Überwindung der drei Geistesgifte 231
15
Die Farbregenschauer-Meditation 245
Sonne- und Mondmeditation 257
Glückliche Momente 265
Meditation der liebenden Güte 271
Amitabha-Meditation 281
Fantasiereisen 289
Die Wüste 293
Bergbesteigung 303
Die Insel 309
Im Tal von Kathmandu 315
327
Literaturverzeichnis
Glossar
330
Suche die Stille auf, und nimm dir die Zeit
und den Raum, um in deine eigenen Träume
und Ziele hineinzuwachsen.
Zen
W
Vishnu im kosmischen Schlaf
Vishnu, angelehnt an die Weltenschlange Ananta,
visualisiert die neue Weltordnung. Zu seinen Füßen
sitzt seine Frau Lakshmi. (Basohli, 18. Jh.)
Einführung
Obwohl man Augen hat, die anderen zu sehen, braucht
man doch einen Spiegel, um sich selbst zu sehen.
Tibetisches Sprichwort
rkenne dich selbst!“ stand über dem Eingang zum Apollotempel in Delphi – und letztlich geht es auch bei der Meditation um nichts anderes.
Der Lohn für die Mühe, sich kennenzulernen, ist tiefer innerer Frieden,
die Versöhnung von Liebe und Hass, Hoffnung und Enttäuschung, Souveränität und Ängstlichkeit, Furcht und Neugierde. Und irgendwann verschmelzen die Polaritäten ganz und gar. Uns wird bewusst, dass es sie eigentlich
nie gab – sie waren nur eine verzerrte Spiegelung des verwirrten Geistes.
Die Harmonisierung der Gegensätze bewirkt, dass ein Prozess sich ständig
erneuernder Bewusstwerdung und Bewusstseinserweiterung in Gang gesetzt wird, der zur Wandlung des ganzen Menschen führt. Nach Ansicht des
Tantrismus, der als direkter Pfad zur Erleuchtung verstanden wird, ist es die
Aufgabe jedes Einzelnen, die Gegensätze in sich zur Ruhe zu bringen und
eine Synthese zu finden. So können selbst negative Lebenskräfte und Eigenschaften in positive umgewandelt werden. Durch das Verschmelzen der
gegensätzlichen Kräfte ist man in der Lage, einen höheren Bewusstseinszustand zu erreichen, Spannungen zu lösen und Leidenschaften und Wünsche
in die richtige Bahn zu lenken.
E
Der Tantrismus, eine Philosophie, die die Aufmerksamkeit eher auf das Fühlen legt als auf das Denken, ist in abgewandelter Form auch für den westlichen Menschen von großem Gewinn. Seine Stärke liegt in der Anpassungsfähigkeit an andere Kulturen. Die in diesem Buch beschriebenen Übungen
öffnen uns Erfahrungen, die weit über unsere kulturellen und ethnischen
Konditionierungen hinausreichen.
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Tantra als Philosophie umfasst das ganze Leben. Nach Ansicht des Tantrismus liegt in jedem Gefühl, in jedem Gedanken und in jeder Handlung eine
tiefe und machtvolle Wahrheit, die, wenn sie mit klaren Augen betrachtet
wird, zu persönlicher Freiheit führen kann. Durch die tantrischen Übungen
können wir einen Zugang zu unseren verborgenen Seinsschichten finden.
All die Schatten, die in uns lebendig sind und danach drängen, in unser
Leben integriert zu werden, lassen sich so ausleuchten.
In den alten Schriften aus der tantrischen Tradition finden wir wunderbare
Anleitungen zu intensiver Visualisierung, die es uns erlaubt, die kleinen und
großen Illusionen, in denen wir gefangen sind, nach und nach aufzulösen.
Der Weg zur psychischen Wandlung und Vollendung, der im Tantra zu einer
höheren Identität führen soll, beginnt bei den archetypischen Funktionen
auf dem Grund des Unbewussten. Der tantrische Symbolismus offenbart
eine ganze Reihe solcher Urbilder (Archetypen), die auch in vielen anderen Kulturen zu finden sind (Sonne, Mond, Weltenberg, Schlange usw.). Der
Übende steigt in das kollektive Unbewusste hinab, um mit den archetypischen Bildern Kontakt aufzunehmen, und kehrt mit neuen, für das Alltagsleben hilfreichen Einsichten zurück. Die tantrische Meditationstechnik
bemüht sich um eine schöpferische Betrachtung der Urbilder, die zur Klärung des Bewusstseins und zur Dynamisierung der psychischen Energien
dienen kann. Dazu verwendet der Tantriker die Übungen der Visualisierung,
die es uns ermöglichen, mit bildhaften Vorstellungen ganz bestimmte Geisteszustände hervorzurufen. Die bildhaften und farbenprächtigen Symbole
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stellen ein Gegengewicht zum rationalen Denken dar. Beim Erwecken der
Einbildungskräfte soll das rationale Denken durchbrochen, die gegenständlichen Vorstellungen sollen aufgehoben und die intuitiven Kräfte angesprochen werden. Die tantrischen Meditationen, die mithilfe von Symbolen das
Unbewusste ansprechen und völlig subjektive Erfahrungen auslösen wollen,
können den westlichen Menschen vielleicht ein wenig von der Kopflastigkeit
der modernen Zeit befreien, in der versucht wird, alles mit dem Verstand zu
erklären. Mit der fortschreitenden Entpersönlichung des Lebens durch die
Überbewertung des Kopfes, des Bewussten gegenüber dem Unbewussten,
haben wir den Kontakt zu unserer körperlichen, und das heißt auch unserer
gefühlsmäßigen Seite verloren.
Der Tantriker strebt danach, durch einen intensiven Bewusstwerdungsprozess die Zusammengehörigkeit allen Lebens zu erfahren und die inneren
Widersprüche zu transzendieren. Der Einzelne soll sich nicht mehr als getrennt von anderen Menschen, von der Natur und vom Kosmos erfahren.
Der ewige Körper des Menschen ist schöpferische Imagination – ist göttlicher Körper.
In der Ewigkeit ist alles Intuition.
William Blake
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Diese Trennung von Individuum und Ganzem soll aufgehoben werden, damit der Mensch wieder zur Einheit mit allem, was lebt und existiert, gelangt.
Die verschiedenen tantrischen Meditationstechniken, von denen die Lehre
eine große Zahl anbietet, geben dem Meditierenden die Möglichkeit, sich
in seiner Sinnlichkeit angesprochen zu fühlen, psychische Zentrierung zu
erlangen und zugleich die Zusammengehörigkeit und Einheit allen Lebens
in sich zu erfahren.
Durch die Meditation wird eine „fokussierte Offenheit“ erreicht, wie sie
für kreative Menschen typisch ist. Der amerikanische Psychologe Mihaly
Csikszentmihalyi nannte diesen hochgradig konzentrierten Zustand „Flow“
(Fluss). Sind wir im Flow, arbeiten unsere beiden Hirnhälften harmonisch
zusammen, es scheint keine Zeit mehr zu geben, keine Absicht, kein Ich, wir
fließen beglückt in dem, was gerade ist. Ob aktive Tätigkeit oder pures Geschehenlassen, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Die moderne Psychologie beschreibt hier einen Zustand, den Meditierende schon seit Tausenden
von Jahren auskosten.
Die tantrische Meditation führt von der Selbstentfremdung zur Selbsterfahrung und zu einer inneren Geborgenheit, die sich in einer zuversichtlichen
und gelassenen Lebenseinstellung äußert. Der Meditierende entwickelt
eine große Sicherheit, die auf Vertrauen in die eigene Kraft gründet und die
Grundlage für ein Leben ohne Angst bildet. Es ist dies die Zuversicht, dass
einen letztlich nichts umwerfen kann.
Die Seele ist wie eine Lotosblume
mit zahllosen Blättern.
Kahlil Gibran
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Die zwei Säulen des Tantrismus
Das Tantra bildet eines der faszinierendsten
Kapitel in der langen Geschichte indischer
Spiritualität.
Georg Feuerstein
bwohl der Tantrismus als Philosophie an keine bestimmte Religionsform gebunden ist, fand er doch seinen klarsten Ausdruck
unter der Einwirkung von Hinduismus und Buddhismus, deren
philosophische Terminologien vom Streben nach Vollendung durch die
kosmische und psychische Einheit des Menschen bestimmt sind. Um die
Wende des 1. Jahrtausends n. Chr. hatten tantrische Lehren diese zwei „offiziellen Religionen“ gleichermaßen beeinflusst und verwandelt.
Es ist bis heute nicht geklärt, welche der beiden tantrischen Traditionen
die ältere ist, die des Hinduismus oder die des Buddhismus. Es ist wahrscheinlich, dass Methodik und Idee des Tantrismus auf viel ältere gemeinsame Wurzeln zurückgehen, die nicht direkt an diese beiden Hochreligionen gebunden
waren. Bereits im Yoga und in der vedischen Philosophie sind die Grundideen
des Tantrismus zu finden. So ist der Tantrismus nichts völlig Neues, sondern
zum Teil das Endprodukt einer langen Entwicklung. Das historisch Bedeutsame des Tantrismus besteht darin, dass Kulte, die bis dahin nur bei den
nichtarischen Völkern und in den unteren Bevölkerungsschichten ihre Anhänger hatten, allmählich auch Eingang in die sogenannten „höheren Religionen“ fanden, die ihnen eine tiefsinnige philosophische Grundlage gaben.
O
Die buddhistischen und hinduistischen tantrischen Texte sind oft in einer undurchsichtigen, doppelsinnigen Sprache abgefasst. Der Geheimhaltung esoterischer Lehren wird im Tantrismus ein enormer Stellenwert beigemessen. Spirituelles Wissen leichtfertig zu kommunizieren und weiterzugeben, entspricht
W
Sowohl im buddhistischen als auch im hinduistischen Tantrismus spielen Körperlichkeit, sinnliche Lust und Sexualität eine wichtige Rolle, um Erleuchtung zu erlangen.
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einem Energieverlust. Einige indische Gelehrte vertreten die Ansicht, dass der
Zweck dieser Sprache darin besteht, nur dem Eingeweihten Zugang zu gewähren und den Nichteingeweihten davon abzuhalten, mit den Praktiken in Berührung zu kommen, die für sie unheilsam sein könnten. Doch nicht nur, um
das Wissen vor der Außenwelt zu bewahren, sondern auch, um die höchsten
spirituellen Erfahrungen überhaupt ausdrücken zu können, bedarf es einer
Sprache, die der Alltagsprache überlegen ist. Bewusstseinszustände werden
durch erotische Termini ausgedrückt und der mythologische oder kosmologische Wortschatz ist mit hathayogischen, sexuellen Bedeutungen versehen.
So werden beispielsweise die Vulva als Lotos (Padma), der Phallus als Lingam
(Shivaismus) oder Vajra (Buddhismus), die Monatsblutung als Sonne (Surya)
und der Koitus als Erleuchtungsgeist (Bodhichitta) bezeichnet.
Der tantrische Buddhismus, häufig als Diamantfahrzeug (Vajrayana) bezeichnet, entwickelte sich insbesondere in Tibet sowie in den nördlichen
und südlichen Grenzgebieten Indiens, in Kaschmir, in Assam und im drawidischen Süden. Vajra ist eigentlich ein Donnerkeil, den der indische Gott
Indra mit großem Erfolg als Waffe benutzte. In der mystischen Philosophie
ist der Vajra das, was so unzerstörbar wie ein Diamant, so unwiderstehlich
und machtvoll wie ein Donnerkeil ist. Der Diamant ist die göttliche Urkraft,
die allem zugrunde liegt und sich deshalb in jedem Lebewesen manifestiert. Das Symbol der Diamanten weist auf die Strahlkraft des Individuums
hin. Die Doktrin des Vajrayana besagt, dass sich jeder durch eine Anzahl
von Riten in seine wahre Diamantennatur zurückversetzen kann. Für die
tantrische Richtung des Buddhismus wurde der Begriff „esoterischer Buddhismus“ geprägt, da alle mit den Tantras und ihrem Geheimwissen verbundenen Lehren in esoterische Sprache, Symbolik und Ikonografie gekleidet
wurden. Nachdem der Buddhismus in Indien besonders durch den Einfall
des Islams weitgehend aufgelöst worden war, entwickelte er sich in Tibet,
Nepal und Bhutan zu einer neuen tantrischen Kultur, die teilweise auch
Einflüsse zentralasiatischer Glaubensformen integrierte. Durch die Vorliebe
für die persönlichen Gottheiten, durch den Popanz des magischen Rituals
und durch alle möglichen abergläubischen Vorstellungen wurde die verfeinerte abstrakte Metaphysik des Buddhismus allmählich zerstört. Aus der
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Vajra, der Diamant
einfachen Lehre Gautama Buddhas entwickelte sich ein Geheimwissen, das
in jedem Punkt dem von Gautama Buddha verkündeten Weg zuwiderläuft.
Bestimmte magische heilige Silben und Gesten wurden notwendig, um die
eigene Psyche auf den Heilsweg einzustimmen und um zum Absoluten vorzudringen. Die Mudras sollten wie ein Zauberstab beliebige Wirkungen hervorrufen, und die Mönche, die solche Mudras beherrschten, wurden damit
zu Wundertätern, die man um alles Mögliche bitten konnte.
Wie der Mahayana-Buddhismus erkennt der tantrische Buddhismus ein
Pantheon von Gottheiten, Bodhisattvas oder potenziellen Buddhas an. Die
buddhistischen Gottheiten sind Ausdrucksformen der Buddhanatur und
als Meditationshilfen gedacht, als Konstruktionen des eigenen Geistes. Das
Vajrayana stellt tantrische Praktiken wie Mantra-Rezitation, Mudras (Handstellungen), Visualisierung und farbenprächtige Rituale in den Mittelpunkt
und gilt als der direkteste Weg zur Erleuchtung. Es ist jedoch kein leichter Weg, da die tantrischen Übungen, zu denen viele Stunden meditativer
Sammlung und ausgedehnte Reisen in die Tiefen des Unbewussten gehören,
sehr anstrengend sind, ja sogar als gefahrvoll gelten. Die tantrischen Buddhisten bringen Hinayana, Mahayana und Vajrayana in eine hierarchische
Reihenfolge. Hinayana entspricht demnach der ersten Stufe, der Läuterung
des Geistes. Mahayana, die zweite Stufe, ermöglicht die Entwicklung von
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Ein Weg wird von undurchdringlichem Dickicht giftiger Pflanzen gesäumt, das ihn an einer Stelle vollständig verschlingt. Ein Mönch mit
rasiertem Kopf, im Mönchsgewand und mit einer Bettelschale, kommt
diesen Weg entlang. Er sieht die giftigen Pflanzen, dreht auf der Stelle
um und geht in die andere Richtung weiter.
Etwas später kommt ein Bodhisattva des Weges und erkennt, dass
es keinen Weg um die giftigen Pflanzen herum gibt. Da bahnt er sich
mutig einen Pfad durch das Dickicht und geht geschwind auf dem Weg
weiter.
Schließlich kommt ein tantrischer Yogi den Weg entlang. Er trägt äußerlich keine Zeichen des spirituellen Suchers, anders als der Mönch
und der Bodhisattva. Der Schüler des Tantras sieht die Pflanzen, erkennt, dass sie giftig sind, und stürzt sich mitten hinein.
Tibet
Mitgefühl und Weisheit und bereitet auf Vajrayana vor. Dieses konzentriert
sich auf die Ansammlung spiritueller Energie.
Die ersten literarischen Fundamente des hinduistischen Tantrismus finden sich in den Agamas und den Shiva-Tantras des Pashupata-Shivaismus,
der von der philosophischen Lehre der Samkhya-Philosophie geprägt wurde.
In diesen Tantras, die zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert verfasst wurden,
finden sich philosophische Erörterungen zu den verschiedensten Dingen,
beispielsweise zur Übertragung der heiligen Texte, der geheimen Mantras,
Riten zur Verehrung von Shiva und Yoga-Techniken zur Erlangung von Freiheit. Die tantrischen Meister verfassten eine große Anzahl von Schriften,
die Agamas oder Tantras genannt werden. Hinduistische Tantras beziehen
sich in der Regel auf ein kosmologisches System, in dem das Absolute mit
Shiva gleichgesetzt wird. Von daher rührt die enge Zusammengehörigkeit
zwischen Tantrismus und Shivaismus. Die Trika-Schule aus Kaschmir besitzt innerhalb des tantrischen Shivaismus das höchste Ansehen. Die drei
Prinzipien dieses Systems, denen es seinen Namen verdankt („trika“ heißt
„dreifach“) – Shiva, das reine Bewusstsein, Shakti, die Schöpfungsenergie
und Nara, der Mensch, der die Befreiung sucht –, sind letzthin eine Einheit. Nara wird auch als der Bewusstseinszustand des normalen Menschen
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Vajrasana (Diamanthaltung)
Der Körper wird im Tantrismus als Quelle tiefster Weisheit betrachtet, als eine Möglichkeit, sich selbst zu erforschen und zu erfahren. Indem man einen Dialog mit seinem
Körper beginnt, fängt man nicht nur an, sich selbst kennenzulernen, sondern auch, mit
dem gesamten Universum in Kontakt zu treten.
bezeichnet, der durch die Shakti transzendiert wird. Ohne sie ist es für den
Suchenden nicht möglich, Shiva, das Absolute, zu erkennen. Shakti wirkt
als Vermittlerin zwischen der suchenden Seele und Shiva. Nach dem Vijnana-Bhairava-Tantra ist sie „das Gesicht, die Öffnung, das Tor zu Shiva“. Sie
ist die Energie, die die Suchenden auf ihrem Weg zu Shiva vorantreibt. Das
Ziel des spirituellen Adepten ist, sich mit seinem ganzen Sein mit der Fülle
Shivas zu verbinden. Dann wird das gesamte Universum zur Verkörperung
Shivas. Die Trika-Schule aus Kaschmir sieht in jeder Handlung eine Gelegenheit, sich mit dem höchsten Selbst (Shiva) zu verschmelzen.
Die beiden wichtigsten Texte aus dieser Tradition sind das VijnanaBhairava-Tantra und die Shiva-Sutren. Das Vijnana-Bhairava-Tantra, das
wahrscheinlich im 7. oder 8. Jahrhundert entstand, gilt als einer der ältesten
Texte. In allen Tantras wird auf diese Schrift, die in Form eines Lehrgesprächs
zwischen Shiva und Shakti verfasst ist, mit höchster Ehrfurcht hingewiesen,
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denn seine Unterweisung gilt als „höchster, transzendenter Nektar.“ Die
Shiva-Sutras gehen auf den Weisen Vasagupta, der im 8. oder 9. Jahrhundert
lebte, zurück. Nach einer Legende erschien ihm Shiva im Traum und sagte
ihm, dass er seine geheime Lehre in einer Höhle auf einen riesigen Felsen
geschrieben habe. Vasagupta fand diese Höhle und schrieb die 77 Verse ab.
Dies war der Ursprung der Shiva-Sutras, die nun der Menschheit zugänglich
gemacht wurden.
Sowohl die buddhistischen als auch die hinduistischen tantrischen Schulen
teilen die Überzeugung, dass die transzendente Wahrheit nur im menschlichen Körper und nirgendwo anders zu finden ist. Im Tantrismus, der sich
zwischen 500 und 1300 n. Chr. auf dem gesamten indischen Subkontinent
ausbreitete, erhielt der Körper eine Bedeutung, die er in der spirituellen
Entwicklung Indiens nie zuvor hatte. Diese Einstellung wird im KularnavaTantra, einem bedeutenden tantrischen Werk der Hindus, zum Ausdruck
gebracht:
Unter den 840.000 Arten verkörperter Wesen
ist’s nur der menschliche Körper,
in dem das Wissen von der wahren
Wirklichkeit erworben werden kann.
Der Körper und die ihm innewohnende Lebenskraft sind im tantrischen
Yoga, der auch als Hatha-Yoga bekannt ist, die Schlüssel, mit denen die Türen zu einem mystischen geistigen Zustand geöffnet werden können. Durch
die Körperstellungen (Asanas) soll der Leib verklärt werden, um „Unsterblichkeit“ zu erlangen. Die Yogins wollen sich einen Diamantkörper zulegen
(Vajra-Deha), da man Heiligkeit nur in einem „göttlichen Körper“ realisieren kann.
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Shiva und Parvati
Obwohl Shiva und Parvati zwei verschiedene Gottheiten
darstellen, symbolisieren sie den dynamischen und den statischen Aspekt des Göttlichen. Shiva ist das Selbst, das Absolute und Parvati die Urnatur, die Energie. (Basohli, 18. Jh.)
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Zurückziehen der Sinne
Der von allen Eindrücken unabhängig Gewordene kann, welche Regung er auch immer will, aufsteigen oder verschwinden lassen. Er hat die vollkommene Willensfreiheit
erreicht.
Gautama Buddha
as Verlangen nach sinnlichen Erfahrungen ist sehr tief in uns
verwurzelt. Die Sinnengier bewirkt, dass sich unser Geist zerstreut und wir nicht in der Lage sind, wahrzunehmen, was sich
im Moment abspielt. Alle möglichen Dinge – Tätigkeiten, Menschen, Fernsehsendungen, Erfolgsaussichten – stürmen auf uns ein. Wir versuchen, auf
sie alle zu reagieren und zerstreuen unsere Aufmerksamkeit in alle Himmelsrichtungen, springen mit dem Geist mal hierhin und mal dorthin in
der Hoffnung, etwas Erfüllendes zu erlangen. Alles, was wir über unsere
Sinne aufnehmen, wird dann später als Bild in unserem Gehirn zu einem
Muster, das unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmt. Ursache für die
Anziehungskraft der Sinneseindrücke ist eine angenehme Erfahrung, die
sich dem Gehirn eingeprägt hat. Unser Geist, der über ein die Sinne befriedigendes Gedächtnis verfügt, möchte jene sinnliche Erfahrung wieder erschaffen, die die Erinnerung daran zuerst entstehen ließ. Die meditativen
Praktiken der östlichen Traditionen zielen ganz direkt auf die Eindämmung
der Sinneswahrnehmungen, um „so empfänglicher für andere Botschaften
aus der psychischen Welt zu werden. Diese Empfänglichkeit führt zu einer
Ausweitung der vorbewussten Kommunikationskanäle und einer größeren
D
W
Bhasa-Asana, die Geierhaltung, symbolisiert im Hatha-Yoga die Kontrolle über die Sinne. Wie der Geier,
der nach der Yoga-Tradition als Herr der Wüste gilt,
soll der Yogi Durst, Hitze und Hunger ertragen und
durch die Beherrschung der Sinne die Fähigkeit erreichen, sich besser in sein Inneres zu versenken.
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Fähigkeit, aus den Tiefen der Psyche solche Botschaften zurückzuholen.”
Sudhir Kakar 2008, S. 123 Indem wir über die Tore unserer Sinne wachen, nehmen wir der Neigung, blind den Objekten des Verlangens hinterherzulaufen,
den Spielraum. Der kontrollierte, rhythmische Atem und die Konzentration
auf einen bestimmten Gegenstand helfen uns dabei. Wir lernen, die Sinne
nach innen zu wenden und zu uns selbst zu kommen. Die Kontrolle über die
Sinne braucht ein langes Training, das schließlich zum „transzendentalen
Alleinsein“ (Kaivalya) führt. In diesem Zustand, in dem wir beginnen, uns
selbst kennenzulernen, wird unser Geist durch keinerlei Eindrücke mehr
beeinflusst. Er ist klar, offen und völlig transparent.
Wenn die Seele nicht mehr an äußeren Objekten haftet, findet der Mensch jenes Glück, das im Selbst ist.
Bhagavad Gita
Die Übung
Stellen Sie eine brennende Kerze etwa einen bis zwei Meter entfernt vor sich
auf einen niedrigen Tisch oder einen Stuhl. Die Flamme sollte in Augenhöhe sein, wenn Sie sitzen. Begeben Sie sich in den Meditationssitz. Schließen
Sie die Augen. Geben Sie Ihr Gewicht bewusst an den Boden ab, und spüren
Sie tief in die Erde hinein – egal, in welchem Stockwerk Sie üben. Werden
Sie sich der Verbundenheit mit der Erde bewusst. Es sind überhaupt keine
Spannungen in den Oberschenkeln nötig, lassen Sie sie bleischwer in den
Boden sinken. Falls Sie in den Beinen noch Spannungen spüren, dann geben Sie sie mit dem Ausatmen an den Boden ab.
Konzentrieren Sie sich auf Ihre Atmung. Beobachten Sie, wie durch Ihre Atmung Ihre Gedanken und Gefühle beeinflusst werden. Umgekehrt können
Sie auch prüfen, wie Ihre Gefühle und Gedanken die Tiefe und den Rhythmus des Atems verändern. Achten Sie darauf, wie Ihr Geist vielleicht versu-
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chen wird, Gedanken und Gefühle, die mit der Vergangenheit verbunden
sind, festzuhalten, sie sogar wieder lebendig zu machen. Lassen Sie dann
Ihre Gedanken und Gefühle wie den Wind durch einen unendlich weiten
inneren Raum wehen.
Visualisieren Sie nun einen blauen See, der unendlich und grenzenlos wie
der offene Himmel ist. Blicken Sie in das Wasser und betrachten Sie Ihr
Spiegelbild. Erkennen Sie sich? Sind Sie so wie das Bild, das Sie da sehen?
Vergegenwärtigen Sie sich nun eine Situation, in der Sie von der Gier nach
einem Gegenstand oder einer Person überwältigt wurden. Reaktivieren Sie
diese Situation. Was spüren Sie jetzt in Ihrem Körper? Wie waren Ihre Gefühle damals und was fühlen Sie demgegenüber heute, in der Rückschau?
Verspürten Sie bei der Jagd nach dem Gewünschten eine Rastlosigkeit, eine
Leidenschaft, einen inneren Zwang? Oder vielleicht nur das Bedürfnis, etwas
zu haben, zu leisten, anzuhäufen? Werden Sie sich dieser Gefühle in ihrem
ganzen Spektrum bewusst. Schauen Sie dann auf Ihr Spiegelbild im See. Wie
sehen Sie aus, wenn die Gier Sie gepackt hat? Betrachten Sie Ihr Kinn, Ihren
Mund, Ihre Nase, Ihre Augen, Ihre Stirn. Sehen Sie jede Einzelheit vor sich.
Stellen Sie sich nun vor, dass ein Wind aufkommt und sich Ihr Bild und
alle mit der Begierde verbundenen Gefühle auflösen. Lassen Sie die Wellen
dann wieder zur Ruhe kommen. Der See ist glatt und ruhig wie ein großer
Spiegel. Erinnern Sie sich nun einer Situation, in der Sie einem Menschen
ein Geschenk gemacht haben, ihm intensiv zugehört oder ihm Anerkennung und Verständnis entgegengebracht haben. Wie war das in der betreffenden Situation? Was strahlte der andere aus? Wie haben Sie sich gefühlt?
Beschenkt? Obwohl Sie doch der schenkende Teil waren? Betrachten Sie
jetzt Ihr Spiegelbild im See. Sie werden sehen: Es ist ruhig und entspannt,
dem Alltagsdurcheinander entrückt. Sie sind bewegungslos, wie eine Statue in ausgewogenen Proportionen. Auch Ihr Gesicht ist völlig ruhig und
entspannt. Erleben Sie sich in dieser aufrechten und entspannten Haltung.
Genießen Sie diesen Augenblick. Sie haben alle Spannungen abgegeben und
fühlen sich wohl.
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Ihr Atem ist ruhig und regelmäßig. Bei jedem Einatmen fühlen Sie, wie die
Brust sich hebt, und bei jeder Ausatmung fühlen Sie, wie Ihre Brust sich
senkt. Zählen Sie: 12 – Sie atmen ein, und Ihre Brust hebt sich. 12 – Sie atmen aus, und Ihre Brust senkt sich. 11 – Sie atmen ein. 11 – Sie atmen aus.
Zählen Sie so weiter rückwärts bis 0. Sie sind völlig ruhig und entspannt.
Führen Sie dann Yoni-Mudra, die Haltung der neun Pforten, aus: Atmen Sie
langsam und tief ein. Halten Sie dann den Atem an und schließen Sie mit
den Daumen die Ohren, mit den Zeigefingern die Augen, mit den Mittelfingern die Nasenlöcher und mit den Ringfingern und den kleinen Fingern
den Mund. Bleiben Sie einen Moment in dieser Stellung. Nehmen Sie dann
Ihre Finger vom Gesicht, und atmen Sie aus. Wiederholen Sie die Mudra einige Male.
Öffnen Sie nun die Augen, und schauen Sie auf das Licht der Kerze. Starren
Sie nicht in die Flamme, sondern lassen Sie Ihren Blick weich auf dem klaren Licht in der Mitte der tanzenden Flamme ruhen. Schauen Sie, ohne zu
blinzeln oder die Augen zu bewegen, in diese Flamme.
Schauen Sie so lange, bis sich der Reflex des Augenschließens nicht mehr
verhindern lässt. Schließen Sie dann die Augen und nehmen Sie das Nachbild der Kerze wahr. Ihr Blick ist auf den Punkt in der Mitte zwischen den
Augenbrauen gerichtet. Sie sehen das Kerzenlicht jetzt in Ihrem Innern. Zuerst ist das natürlich das Nachbild der Kerze, das sich auf Ihrer Netzhaut
zeigt. Es kann jedoch allmählich einer inneren Wahrnehmung von Licht
weichen. Diese innere Helligkeit ist dann kein Sinneseindruck mehr, sondern wirklich etwas, was in Ihnen stattfindet. Achten Sie auf nichts anderes
mehr als auf das Licht im Zentrum zwischen den Augenbrauen. Lassen Sie
eventuell auftauchende Gedanken einfach wieder verschwinden.
Wenn Sie Schwierigkeiten haben, das Licht zu visualisieren, können Sie Ihre
Augen wieder öffnen. Sehen Sie die Kerze an, und schließen Sie die Augen
erneut. Erhalten Sie zumindest eine Minute lang die Visualisierung der
Flamme in Ihrem Innern aufrecht.
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Lassen Sie nun auch das innere Bild verschwinden. Entspannen Sie Ihre Augen, die Augenlider und die Muskeln um die Augen herum. Öffnen Sie dann
die Augen. Genießen Sie noch ein paar Minuten bewusst die Entspannung.
Die Meditation ist beendet.
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