Ich bin hochsensibel.
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Ich bin hochsensibel.
"Ich bin hochsensibel." Die Frau, die das sagt, ist noch jung, hat das Gymnasium besucht, zehn Sprachen gelernt und spielt mehrere Musikinstrumente. Sagt sie. In allem was sie gemacht habe, sei sie ziemlich gut. Sagt sie auch. Aber dann sei es zu stressig geworden und da habe ihre Hochsensibilität sie zum Aufhören gezwungen. So lesen wir in einem umfangreichen Guckloch-Interview Sätze wie: Ich bin wie ein Staubsauger, der alles aufsaugt. Das Positive ist, dass ich dadurch über eine reiche Innenwelt wie auch über eine scharfe Beobachtungsgabe verfüge. Das gönnen wir ihr. Da ist sie aber nicht die Einzige. Dessen ungeachtet hat sie jetzt ein Buch geschrieben. Sie habe mit Wortwitz und einer stark bildlichen Sprache versucht, einen Einblick in die unbekannte Welt der Hochsensiblen zu gewähren. Zu "gewähren"? So lasst uns denn knien im Staub und Dankeshymnen singen für die hoheitsvoll erlassene Huld. Literaturkritiker und Psychiater, die das Buch bereits gelesen haben, bezeichnen sie als neue Autoren-Entdeckung. Schon wieder eine mehr! Auch das ist hilfreich und zwingend, kein Zweifel. Und wie schön für sie! Aber dennoch: Man wird eine Beklemmung und einen alles andere als empathischen Reflex nicht los. Denn wie soll man es dem kritisch Gesinnten verargen, wenn er bis jetzt, durchaus sensibel genug, angenommen hat, dass empfindsame Menschen alles daran geben würden, sich nicht dieser weiss der Teufel rohen Welt aussetzen zu müssen? Keinesfalls würden sie Interviews geben, sagt sie, ihre wunde Seele entblössen und gleich noch ein Buch vermarkten. Nur eins weiss man sicher: Selber würde man sich hüten, als Hochsensibelchen in einer Seifenkistenoper mitzusingen.