Neue Bluthochdruck-Leitlinien ± Handlungsbedarf für

Transcrição

Neue Bluthochdruck-Leitlinien ± Handlungsbedarf für
H. C. Vollmar1
M. A. Rieger2
U. Popert3
M. Butzlaff1
Neue Bluthochdruck-Leitlinien ±
Handlungsbedarf für Hausärzte?
Zusammenfassung
Abstract
Neue US-amerikanische und europäische Leitlinien zur Hypertonie weisen neben einem erwartungsgemäû hohen Grad an Übereinstimmung etliche Differenzen auf, die sich im Wesentlichen
beziehen auf:
± Blutdruckdefinitionen
± unterschiedliche Therapieempfehlungen zur ¹First-Lineª-Therapie und
± Therapie mit Kombinationspräparaten.
Bei einer Hypertonie-Prävalenz von wenigstens knapp 30 % bei
deutschen Erwachsenen sind verschiedene Therapiemaûnahmen zu bündeln, um so einen der Hauptrisikofaktoren für die erhöhte kardio- und zerebrovaskuläre Mortalität positiv zu beeinflussen. Von allen Leitlinien wird die Bedeutung von Lebensstiländerungen (Nikotinkarenz, Gewichtsreduktion, etc.) betont;
neu ist die Empfehlung von Kombinationspräparaten zur Verbesserung der Compliance bereits zu Beginn einer medikamentösen Bluthochdruck-Therapie.
Apart from an expected high degree of agreement, recently published European and American hypertension guidelines show
some relevant differences in:
± blood pressure definitions
± different therapeutic recommendations regarding the firstline therapy and
± combination therapy.
With a prevalence of hypertension of at least 30 % among German adults, public health and medical initiatives need to be focused on this major risk factor for cardio- and cerebrovascular
mortality. Apart from evidence-based pharmacotherapy and
combination preparations for better compliance, strategies
should concentrate on life-style changes with proven effectiveness (smoking cessation, weight reduction, etc).
Key words
Guidelines ´ hypertension ´ thresholds ´ first-line therapy ´ combination therapy
Schlüsselwörter
Leitlinien ´ Hypertonie ´ Schwellenwerte ´ ¹First-lineª-Therapie ´
Kombinationstherapie
Einleitung
Die Hypertonie gilt als einer der wichtigsten kardiovaskulären
Risikofaktoren. Innerhalb kurzer Zeit wurden aktuelle Leitlinien
1
zur kardiovaskulären Prävention respektive zur Hypertonie in
Europa (European Society of Cardiology ± ESC und European Society of Hypertension ± ESH) und den USA (¹Seventh Report of
the Joint National Committee on Prevention, Detection, Evalua-
Institutsangaben
Medizinisches Wissensnetzwerk evidence.de der Universität Witten/Herdecke
2
Bereich Allgemeinmedizin der Universität Witten/Herdecke
3
Abteilung Allgemeinmedizin der Universität Göttingen
Korrespondenzadresse
Dr. med. Horst Christian Vollmar ´ Medizinisches Wissensnetzwerk evidence.de der Universität
Witten/Herdecke ´ Alfred-Herrhausen-Str. 50 ´ 58448 Witten ´ Tel.: 0 23 02-9 26-9 21 ´ Fax: 0 23 02-9 26-7 01 ´
E-mail: [email protected]
Bibliografie
Z Allg Med 2004; 80: 237±242 Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ´ New York
DOI 10.1055/s-2004-822624
ISSN 0014-336251
Kardiovaskuläre Prävention
New Hypertension Guidelines ± Need for Action for General Practitioners?
237
Kardiovaskuläre Prävention
238
tion, and Treatment of High Blood Pressureª ± JNC VII) publiziert,
die sich in einigen zentralen Punkten unterscheiden [5 ± 7]. Die
unterschiedliche Schwerpunktsetzung findet sich teilweise in
deutschen und britischen Leitlinien wieder [2, 14, 25, 28]. Eine
Betrachtung der Unterschiede in den Empfehlungen wird durch
die zum Teil fehlenden Erläuterungen der Evidenz erschwert.
Daher soll dies hier anhand der zugrunde liegenden Literatur geschehen.
tion zur Behandlung ableiten. Aus entsprechenden Studien liegen jedoch uneinheitliche Ergebnisse zu dieser Fragestellung vor.
Wann ist ein Blutdruck pathologisch?
¾hnliche Ergebnisse lieferte eine Kohortenstudie (Pastor-Barriuso et al.) sowie eine Metaanalyse der ¹Prospective Studies Collaborationª [16, 18]. In Letzterer konnte eine kontinuierliche Senkung des Sterberisikos für Schlaganfälle bzw. Herzinfarkte pro
20 mmHg systolischer bzw. 10 mmHg diastolischer Blutdrucksenkung gezeigt werden [18]. Diese Senkung lieû sich bis zu einem Blutdruck von 115/75 mmHg nachverfolgen, ohne dass ein
Schwellenwert identifiziert werden konnte.
Wird die derzeitige Bluthochdruck-Definition der Weltgesundheitsorganisation (dreimalig über 140/90 mmHg gemessen) zu
Grunde gelegt, liegt die Prävalenz der Hypertonie in Deutschland
± je nach Stichprobe ± zwischen 27 % und 55 %. Dies ist ein Spitzenplatz im internationalen Vergleich [20, 22, 24]. Zusätzlich liegen Daten vor, dass bei mehr als der Hälfte der deutschen Patienten mit manifester koronarer Herzkrankheit (KHK) der Blutdruck
den WHO-Zielwert überschreitet [4].
Würden die neuen amerikanischen Empfehlungen des JNC VII
berücksichtigt (Tab. 1), käme ein weiterer groûer Teil der Bevölkerung hinzu, den man als ¹prähypertonª einzustufen hätte [5].
Diese Gruppe wäre laut JNC VII bereits behandlungsbedürftig
(bisher allerdings nur ohne Medikamente). Kritiker sehen darin
die ¹Umwandlungª von Gesunden in Kranke respektive die ¹Erfindung von Krankheitenª [3]. Europäische und deutsche Leitlinien (LL) sind bei den älteren Empfehlungen für die Grenzwerte
geblieben (Tab. 1) [2, 6, 7, 14, 25, 28].
Wie kommen solche Unterschiede in den Leitlinien zustande? In
Anbetracht der nicht unerheblichen Konsequenzen stellt sich die
Frage, ob es Studienergebnisse gibt, die die eine oder die andere
Empfehlung rechtfertigen. In den letzen Jahren sind etliche Untersuchungen veröffentlicht worden, die sich insbesondere mit
der Frage beschäftigt haben, ob ein linearer Zusammenhang zwischen der Höhe des Blutdrucks und dem kardiovaskulären Risiko
besteht oder ob so genannte Schwellenwerte existieren, unterhalb derer es zu keiner weiteren Beeinflussung des Risikos
kommt. Mit Hilfe solcher Schwellenwerte lieûe sich die Indika-
Tab. 1 Blutdruckklassifikationen in unterschiedlichen Leitlinien
Blutdruck
(mmHg)
JNC VII 2003 [5]
BHS 2004 [27]
JNC VI 1997 [11]
ESH/ESC 2003 [6, 7]
Deutsche LL 2001/2003
[2, 14, 25]
< 120/< 80
normal
optimal
< 130/85
prähypertensiv/
prähyperton
normal
< 140/< 90
prähypertensiv/
prähyperton
hochnormal (Synonyme: ¹noch normalª,
Borderline-Hypertonie,
Grenzwerthypertonie)
< 160/< 100
Hypertonie Stadium 1
Stadium 1
³ 160/³ 100
Hypertonie Stadium 2
Stadium 2
(160±179/
100±109 mmHg)
Stadium 3
(> 210/> 120 mmHg)
Mit dem Ziel, systolische Schwellenwerte zu identifizieren, werteten Port und Kollegen bereits vorliegende Daten der Framingham-Studie aus [17]. Hierbei ergaben sich keine Schwellenwerte,
sondern geschlechtsabhängige Grenzwerte für einzelne Altersgruppen. Oberhalb dieser Werte nahm die (kardiovaskuläre und
Gesamt-) Mortalität kontinuierlich zu.
Eine weitere Metaanalyse konnte den Zusammenhang zwischen
systolischer Blutdrucksenkung und geringerer Inzidenz von
Schlaganfällen bis zu Blutdruckwerten von 115/75 mmHg verifizieren [26].
In ähnlicher Art und Weise stellten Law und Wald in einer systematischen Literaturübersicht Metaanalysen oder groûe Kohortenstudien zu kardiovaskulären Risikofaktoren zusammen [13].
Dabei fanden sie keine Schwellenwerte, sondern kontinuierliche
Dosis-Wirkungsbeziehungen: je niedriger der diastolische Blutdruck, desto geringer das kardiovaskuläre Risiko.
Die 1998 publizierte HOT-Studie untersuchte die Auswirkung
unterschiedlicher diastolischer Zielwerte auf verschiedene Endpunkte [9]. In dieser Studie zeigte die Reduktion des diastolischen Blutdrucks unter 80 mmHg keinen signifikanten Vorteil
gegenüber einer Senkung unter 90 mmHg, bezogen auf die Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse sowie Schlaganfälle und kardiovaskuläre Mortalität und Gesamtmortalität [9].
Als Trend wurde lediglich beobachtet, dass Myokardinfarkte bei
niedrigeren diastolischen Werten seltener auftraten. Dieses Ergebnis war jedoch nicht signifikant (p = 0,05; Relatives Risiko
(RR) 1,37 mit einem 95 % Konfidenzintervall von 0,99±1,91; die
Number needed to treat (NNT) läge bei 273 bezogen auf 3,8 Jahre).
Halten wir fest: Das Risiko für kardiovaskuläre Morbidität und
Mortalität erscheint ab systolischen Werten von 115 mmHg und
diastolischen Werten ab 75 mmHg linear anzusteigen.
In Bezug auf Schwellenwerte war ein weiteres Ziel von Studien
eine mögliche Progression der arteriellen Hypertonie in Abhängigkeit von Ausgangswerten zu finden.
Zu diesem Zweck werteten Vasan und Kollegen ebenfalls Daten
aus der Framingham-Studie aus [21]. Zum Beginn des vierjährigen Untersuchungszeitraums wiesen alle 9 845 Probanden einen Blutdruck auf, der unter 140/90 mmHg lag. Aus diesem
Kollektiv entwickelten Probanden mit einem Blutdruck von
130±139/85±89 mmHg signifikant häufiger eine Hypertonie als
Vollmar HC et al. Neue Bluthochdruck-Leitlinien ¼ Z Allg Med 2004; 80: 237 ± 242
Personen mit niedrigeren Ausgangsblutdruckwerten (Tab. 2).
Auûerdem traten bei Patienten mit entsprechend hochnormalen
Blutdruckwerten vermehrt kardiovaskuläre Ereignisse auf [26].
Auf diese epidemiologischen Daten bezieht sich das JNC VII, um
den ehemals ¹normalenª Wert nunmehr als ¹prähypertonª einzustufen (Tab. 1) [5].
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich aus der Mehrzahl
der Studien keine Schwellenwerte ableiten lassen. Ab Blutdruckwerten von 115±120 mmHg systolisch und 75±85 mmHg steigen
zerebro- und kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität an.
Dies erscheint schwierig, da das Risiko für kardiovaskuläre Mortalität bis in einen Bereich reicht, den wir bisher als eher niedrig
normal bezeichnet haben. Zur Beantwortung der Frage ist der
Begriff des ¹absoluten Risikosª hilfreich. In dem unteren Blutdruckbereich ± also z. B. bei systolischen Blutdruckwerten um
130 mmHg bzw. diastolischen Werten um 90 mmHg ± ist das damit verbundene kardiovaskuläre Risiko absolut gesehen deutlich
niedriger als bei Blutdruckwerten von z. B. systolisch 190 mmHg
oder diastolisch 110 mmHg.
Dem Patienten, dem man eine Blutdruckbehandlung empfiehlt,
muss man im ersten Fall sagen, dass die Mehrzahl derjenigen
mit seinem Blutdruck ± im gewählten Beispiel 130 zu 90 mmHg
wahrscheinlich nicht von einer Behandlung profitieren werden,
die ¹Number needed to treat (NNT)ª wird also sehr hoch sein.
Hingegen wird man einem Patienten mit Werten um
190/110 mmHg sagen können, dass die Mehrzahl derjenigen mit
seinem Wert von einer Behandlung profitieren wird; die NNT ist
gering.
Diese Zusammenhänge werden an einer Studie von Ogden und
Kollegen deutlich, in der die Effekte einer systolischen Blutdrucksenkung auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität bei Gesunden und Risikopatienten untersucht wurden. Innerhalb der
Gruppe ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen wurde bei Personen mit Blutdruck-Ausgangswerten von 130±139/85±89 mmHg
bei einer systolischen Blutdrucksenkung von 12 mmHg über einen
Zeitraum von 10 Jahren eine NNT von 25 ermittelt, während diese
bei den Personen mit Werten von 140±159/90±99 bzw.
³ 160/³ 100 bei 20 bzw. 10 lag. In der Hochrisikogruppe (KHK und/
oder Diabetes) lagen die NNT-Werte bei 10 (130±139/85±
89 mmHg), 9 (140±159/90±99) bzw. 8 (³160/³100). Bei insgesamt
Insgesamt können also verschiedene Leitlinien-Empfehlungen
an einer unterschiedlichen Grenzziehung in Bezug auf die NNT
festgemacht werden. Für einen individual-medizinischen und
hausärztlichen Ansatz, der immer den einzelnen Patienten im
Auge hat, dürften eher niedrige NNT's handlungsbestimmend
sein. Geht man aber von einem bevölkerungsbezogenen, also einem Public-Health Ansatz aus, ist der Blickwinkel ein anderer:
Die Krankheitslast für eine Bevölkerung wird einerseits durch
die Höhe des Risikos und andererseits durch die Häufigkeit des
Vorkommens, also der Prävalenz bestimmt. Bezogen auf die Hypertonie bedeutet dies, dass die Mehrzahl der von kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität betroffenen Menschen nicht aus
der so genannten Hoch-Risiko-Gruppe (wie z. B. 190/110 mmHg)
stammen, sondern aus den so genannten Niedrig-Risiko-Gruppen (wie z. B. 130/90 mmHg). Personen aus den Niedrig-RisikoGruppen kommen zwar häufig vor (hohe Prävalenz), weisen
aber nur ein niedriges Risiko auf. Aus der hohen Prävalenz und
niedrigem Risiko ergibt sich eine höhere Krankheitslast in der
Bevölkerung als bei der Betrachtung der relativ wenigen Patienten mit hohem Risiko.
Ist also eine Leitlinie stark am bevölkerungsmedizinischen Nutzen orientiert, dann wird sie eher eine niedrige Risikoausprägung als Indikation zur Behandlung fordern. Gleiches gilt umgekehrt, wenn es um die Bestimmung von Therapiezielen, also die
Höhe des zu erreichenden Blutdruckes geht.
Dieser Hintergrund könnte die Unterschiede zwischen den amerikanischen/britischen und den europäischen/deutschen Leitlinien teilweise erklären.
Welche Therapieziele sind Konsens?
Sowohl von der amerikanischen als auch von den europäischen
und deutschen Leitlinien werden Blutdruck-Zielwerte definiert.
Analog den bestehenden WHO-Empfehlungen wird eine Absenkung der Blutdruckwerte unter 140/90 mmHg für alle Patienten
gefordert [22].
Für Diabetiker und Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen wird ein Zielbereich von unter 130/80 mmHg empfohlen [2,
5 ± 7, 11, 14].
Dies beruht auf Interpretationen insbesondere der ABCD- und
der HOT-Studie, in denen eine zusätzliche Senkung der Mortali-
Tab. 2 Zusammenhang zwischen Blutdruckwerten zu Beginn und Ende des vierjährigen Beobachtungszeitraums [21]
Blutdruck
Einteilung
Anteil Patienten mit Progression zur arteriellen Hypertonie nach Altersgruppe
35±64 Jahre
65±94 Jahre
49,5 % [42,6±56,4]*
130±139/85±89 mmHg
¹hoch normalª
37,3 % [33,3±41,5]*
120±129/80±84 mmHg
¹normalª
17,6 % [15,2±20,3]*
kleiner 120/80 mmHg
¹optimalª
5,3 % [4,4±6,3]*
25,5 % [20,4±31,4]*
16,0 % [12,0±20,9]*
* 95 % Konfidenzintervall
Vollmar HC et al. Neue Bluthochdruck-Leitlinien ¼ Z Allg Med 2004; 80: 237 ± 242
Kardiovaskuläre Prävention
Wie aber kann man entscheiden, ab welchem Blutdruck
eine Therapie erfolgen soll?
höherem kardiovaskulären Gesamtrisiko werden die Effekte einer
Blutdrucksenkung also leichter nachweisbar.
239
Kardiovaskuläre Prävention
tät bei Diabetikern für Blutdruckwerte unter 140/90 mmHg gefunden wurde [9, 29]. Allerdings wird in diesem Zusammenhang
vor einer möglichen Erschwerung der Blutdruckeinstellung
durch unrealistische Zielwerte gewarnt [31]. Auûerdem konnte
in einer systematischen Übersicht von 5 randomisierten Studien
ein protektiver Effekt auf die Progression einer Niereninsuffizienz bei Diabetikern nicht identifiziert werden [12].
eingeschlossenen Studien wurde länger als ein Jahr antihypertensiv therapiert; eingeschlossen waren auch sehr groûe Studien,
wie ALLHAT- oder ANBP2 [1, 23].
Welche medikamentöse Therapie ist die erste Wahl?
Neben der nachgewiesenen Wirksamkeit zeichnen sich die Thiaziddiuretika durch ihre Kosteneffektivität aus. Dies hat die Autoren der Metaanalyse ± von denen etliche auch am JNC VII beteiligt sind ± veranlasst, diese als einzige Substanzgruppe für die
Initialbehandlung einer Hypertonie zu empfehlen [19]. Kritik an
dieser Empfehlung stützt sich vor allem auf die zum Teil kurze
Nachbeobachtungszeit der Patienten in den durchgeführten Studien (durchschnittlich 1,5±8,4 Jahre).
Im Gegensatz zur älteren Version des JNC und anderen Leitlinien
werden von der JNC VII für die Erstbehandlung primär Thiaziddiuretika empfohlen, sofern keine medizinischen Gründe dagegen sprechen (Tab. 3) [2, 5 ± 7, 11, 14, 25].
Als Grundlage für die neuen US-amerikanischen Empfehlungen
diente eine so genannte Netzwerk-Metaanalyse, die die Daten
aus 42 randomisiert kontrollierten Studien zusammenfasste
[19]. Psaty und Kollegen verglichen bei diesem neuen statistischen Verfahren nicht eine Therapieform mit einer anderen, sondern gleich sieben verschiedene Behandlungsstrategien untereinander, inklusive Plazebomedikation [19]. Outcome-Parameter
waren KHK, Herzinsuffizienz, Schlaganfall, kardiovaskuläre Ereignisse, kardiovaskuläre Mortalität und Gesamtmortalität. Insgesamt wurden Daten von mehr als 190 000 Patienten gepoolt ±
also die Studiengruppen rechnerisch zusammengefasst. Bei allen
Tab. 3 ¹First-Lineª-Therapie in verschiedenen Leitlinien
240
JNC VI [11]
Evidence.de [14]
JNC VII [5]
ESC/ESH [6, 7]
AWMF/
Hochdruckliga [2, 25]
BHS (altersabhängig) [27]
± Thiaziddiuretika
± b-Blocker
± ACE-Hemmer
± AT1-Antagonisten
± Kalziumantagonisten
± Thiaziddiuretika
± b-Blocker
± ACE-Hemmer
± AT1-Antagonisten
± Kalziumantagonisten
± Thiaziddiuretika
± b-Blocker
± ACE-Hemmer
± AT1-Antagonisten
± Kalziumantagonisten
Tab. 4 Darstellung der signifikanten Ergebnisse der NetzwerkMetaanalyse [19]
Outcomeparameter
Vergleich:
Thiaziddiuretika
vs. ¼
Effekt
(relatives
Risiko)
Konfidenzintervall
p-Wert
KHK
±
±
±
±
Herzinsuffizienz
ACE-Hemmer
Kalziumantagonisten
Alpha-Blocker
RR 0,88
RR 0,74
[0,80±0,96]
[0,67±0,81]
< 0,01
< 0,001
RR 0,51
[0,43±0,60]
< 0,001
Schlaganfall
ACE-Hemmer
RR 0,86
[0,77±0,97]
< 0,01
kardiovaskuläre
Ereignisse, z. B.
Myokardinfarkte
Betablocker
ACE-Hemmer
Kalziumantagonisten
Alpha-Blocker
RR 0,89
RR 0,94
RR 0,94
RR 0,84
[0,80±0,98]
[0,89±1,00]
[0,89±1,00]
[0,75±0,93]
< 0,02
< 0,04
< 0,045
< 0,001
kardiovaskuläre
Mortalität
±
±
±
±
Gesamtmortalität
±
±
±
±
Im Ergebnis der Netzwerk-Metaanalyse schnitt keines der getesteten Antihypertensiva besser als niedrigdosierte Thiaziddiuretika ab [19]. Die signifikanten Ergebnisse dieser Analyse sind in
Tab. 4 zusammengefasst.
Insgesamt sind folgende Aspekte zusätzlich bei der ¹FirstLineª-Therapieª zu berücksichtigen:
± Bei älteren Patienten mit einer arteriellen Hypertonie ohne
relevante Begleiterkrankungen stellten Thiaziddiuretika
schon bisher die Therapie der ersten Wahl dar, was durch die
aktuellen Studien erneut bestätigt wurde [14].
± Annähernd 60±70 % aller Bluthochdruck-Patienten benötigen
eine Kombinationstherapie aus zwei oder mehr antihypertensiven Pharmaka, um die angestrebten Zielwerte zu erreichen
[14]. Dies belegen groûe Studien (z. B. HOT, ALLHAT), in denen
nur weniger als ein Drittel der Patienten mit einer Monotherapie ausreichend eingestellt war [1, 9]. Niedrig dosierte Thiaziddiuretika bieten sich dabei als Partner in einer Kombinationstherapie an.
± Alle Leitlinien empfehlen für bestimmte Indikationen oder
Komorbiditäten (z. B. Niereninsuffizienz, Z. n. Herzinfarkt)
verschiedene Substanzklassen (z. B. ACE-Hemmer) anstelle
der Thiaziddiuretika [2, 5, 7, 11, 14, 25].
Tatsächlich neu ist die Empfehlung zur ¹First-Lineª-Therapie mit
niedrig dosierten Thiaziddiuretika folglich nur im Hinblick auf
eine Untergruppe von z. B. jungen Personen mit arterieller Hypertonie ohne Begleiterkrankungen. Bei diesen Patienten sollten
sie jedoch stets ± so die aktuellen Leitlinienempfehlungen ± in
die therapeutischen Überlegungen mit einbezogen werden.
Kombinationstherapie
Dem bereits beschriebenen hohen Stellenwert der antihypertensiven Kombinationstherapie wird sowohl in den europäischen
(ESC) als auch den amerikanischen (JNC VII) Empfehlungen Rechnung getragen (Tab. 5) [5, 7, 25]. So sehen die neuen Leitlinien
auch den Therapiebeginn mit einer niedrig dosierten Kombination vor, wobei insbesondere niedrig dosierten Thiaziddiuretika
als Kombinationspartner empfohlen werden. Auch die deutsche
Hochdruckliga hat ihre Empfehlungen entsprechend geändert
[25]. Dabei werden zwei Kombinationen bevorzugt: Thiaziddiuretika und b-Blocker sowie Thiaziddiuretika und ACE-Hemmer.
Die Vorteile einer Kombinationstherapie ± möglichst mit einer
täglichen Einmalgabe ± bezüglich der Compliance kennt jeder
Vollmar HC et al. Neue Bluthochdruck-Leitlinien ¼ Z Allg Med 2004; 80: 237 ± 242
Tab. 5 Zusammenfassung der neuen Leitlinien
JNC VII [5]
BHS [27]
ESC/ESH [6, 7]
AWMF/Hochdruckliga [2, 25]
evidence [14]
Vorstufe(n) der Hypertonie zu behandeln
ja, mit Allgemeinmaûnahmen
ja, mit Allgemeinmaûnahmen
sinnvoll, z. B. bei KHK und Diabetes
Zielwerte
< 140/90 mmHg
(< 130/80 mmHg bei Diabetes
oder Niereninsuffizienz)
< 140/85 mmHg
(< 130/80 mmHg bei Diabetes
oder Niereninsuffizienz)
< 140/90 mmHg
(< 130/80 mmHg bei Diabetes
oder Niereninsuffizienz)
Primärtherapie allein mit Thiaziddiuretika
empfohlen
empfohlen, wenn Patient älter
als 55 Jahre
möglich
Kombinationstherapie zu Beginn
wenn Blutdruck > 20/10 mmHg
über Zielwert
nicht vorgesehen
möglich
primäres Therapieziel: Senkung des
kardiovaskulären Risikos
ja
ja
ja
Konsequenzen für die hausärztliche Praxis
Tab. 6 Allgemeinmaûnahmen und Effekt auf die Blutdrucksenkung (adaptiert aus [14])
Maûnahme
durchschnittliche Blutdrucksenkung
in Studien (systolisch/diastolisch)
Gewichtsabnahme (bei Übergewicht)
2,5/1,5 mmHg
(pro abgenommenem Kilogramm)
Salzrestriktion von durchschnittlich
10 auf 5 g/Tag
5/3 mmHg
Obst- und Gemüsekonsum
7/3 mmHg
Obst und Gemüse kombiniert mit
Reduktion gesättigter Fettsäuren
und Gesamtfett
11/6 mmHg bei hypertensiven
Patienten
4/2 mmHg bei Patienten mit
hochnormalen Blutdruckwerten
regelmäûiges körperliches Training
5±8/3 mmHg (systolisch)
hausärztliche Tätige aus der Praxis. Eine aktuelle Metaanalyse
hat diesen Zusammenhang erneut bestätigt [10].
Allgemeinmaûnahmen
Allgemeinmaûnahmen und ¾nderungen des Lebensstils werden
von allen Hypertonie-Leitlinien empfohlen [2, 5, 7, 11, 14, 25]. Leider ist die Datenlage bei weitem nicht so gut wie für medikamentöse Therapien; in vielen Studien wird nur der Surrogatparameter ¹Blutdrucksenkungª untersucht, ohne das kardiovaskuläre
Gesamtrisiko zu beachten.
Für solche Maûnahmen spricht:
± der Blutdruck kann unter Umständen ebenso gut gesenkt
werden wie über eine pharmakologische Monotherapie
(Tab. 6)
± der Bedarf an Medikamenten kann reduziert werden
± die antihypertensive Wirkung einer Pharmakotherapie kann
verstärkt werden
± die Notwendigkeit für eine Kombinationstherapie kann reduziert und
± das kardiovaskuläre Risiko gesenkt werden
Umgekehrt kann der Verzicht auf diese Maûnahmen das Ansprechen auf antihypertensive Medikamente abschwächen [14].
Der Zusammenhang zwischen Blutdruckanstieg und erhöhter
zerebro- und kardiovaskulärer Mortalität ist eindeutig belegt.
Vor diesem Hintergrund sollte Folgendes berücksichtigt werden:
± Ein Grenzwert von 140/90 mmHg erscheint ¹vernünftigª und
wird auch so von fast allen Leitlinien propagiert.
± Eine frühzeitige Identifizierung von hypertensiven Personen
(¹immer daran denkenª) ist eine wesentliche Aufgabe des
Hausarztes.
± Der Begriff ¹prähypertonª sollte vermieden und durch den Begriff ¹noch normalª ersetzt werden, um nicht einer Medikalisierung Vorschub zu leisten. Einem Patienten, dessen Blutdruck im noch normalen Bereich liegt, sollten jedoch Allgemeinmaûnahmen empfohlen werden, insbesondere, wenn
weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren vorliegen.
± Mit welchem Antihypertensivum begonnen werden sollte,
hängt von der individuellen Situation des Patienten ab.
Thiaziddiuretika sollten immer in die Überlegungen mit
einbezogen werden, weil sie neueren Antihypertensiva bezüglich Blutdrucksenkung und Senkung der (kardiovaskulären) Mortalität zumindest ebenbürtig sind. Sie sind auch der
bevorzugte ¹Partnerª innerhalb von Kombinationspräparaten.
± Auf eine adäquate Medikation (¹häufig Kombinationstherapie nötigª) ist zu achten. Eine Hypertonietherapie kann bereits mit einer niedrigdosierten Kombination begonnen werden.
± Bei allen Diskussionen um Blutdruckzielwerte sollte es primär darum gehen, das kardiovaskuläre Gesamtrisiko des individuellen Patienten zu senken. Dementsprechend sollten bei
Patienten mit einer Hypertonie mindestens einmal pro Jahr
die weiteren kardiovaskulären Risikofaktoren ermittelt und
ggf. reduziert werden.
Danksagung
Die Autoren bedanken sich bei Frau Dr. Silke Brockmann und
Herrn Prof. Dr. Harald Abholz für die kritische Durchsicht des
Manuskripts.
Interessenkonflikte: keine angegeben.
Vollmar HC et al. Neue Bluthochdruck-Leitlinien ¼ Z Allg Med 2004; 80: 237 ± 242
Kardiovaskuläre Prävention
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241
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Zur Person
Dr. med. Horst Christian Vollmar
Facharzt für Allgemeinmedizin, Medizinische Informatik, Sportmedizin, Tauchmedizin (GTÜM).
Seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter im medizinischen Wissensnetzwerk evidence.de der Universität Witten/Herdecke
Themenschwerpunkte: Leitlinienentwicklung (Hypertonie, Demenz), E-Learning für ¾rzte (CME/CPDTools), Datenbankrecherche, Internet- & Netzwerktechnik (MCSE).
Vollmar HC et al. Neue Bluthochdruck-Leitlinien ¼ Z Allg Med 2004; 80: 237 ± 242

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