In Köln macht selbst hermetische Lyrik Spaß

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In Köln macht selbst hermetische Lyrik Spaß
WELT am SONNTAG | 67
9. M Ä R Z 2 0 0 8 N R . 10
Kultur
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Neu im Kino
Der bezaubernde Trickfilm
„Horton hört ein Hu“
Seite 69
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DPA (5), PICTURE-ALLIANCE, DAVID KLAMMER
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7
Wer verkaufen
will, muss
vorlesen.
Auf der
diesjährigen
lit.cologne
waren neben
prominenten
Schriftstellern
auch
zahlreiche
schreibende
Fernsehgrößen zu
bestaunen:
1 Roger
Willemsen,
2 Helge
Schneider,
3 Charlotte
Roche,
4 Maarten
’t Hart,
5 Marjaleena
Lembcke,
6 Anke
Engelke und
Cordula
Stratmann
sowie
7 Beppe Grillo
In Köln macht selbst hermetische Lyrik Spaß
Die lit.cologne ist nach wenigen Jahren zu
einem einmaligen Lesefestival geworden.
Die Menschen strömen in die Lesungen,
trinken Kölsch und lauschen andächtig.
Joachim Lottmann war mitten im Trubel
U
m es gleich vorwegzunehmen: Die Sensation dieser achten
lit.cologne war Feridun Zaimoglu. Die Lesung seines
ersten Liebesromans „Liebesbrand“ im Gloria Theater im hippen Friesenviertel erlebte er wie einen Durchbruch – wenn er den
nicht schon mit „Leyla“ gehabt hätte. Seitdem dreht sich die ganze
Szene hier um seine Person. Er ist
nicht abgefahren, zurück nach Kiel,
sondern macht zehn Tage Party in
Köln, wie alle anderen Literaten
auch. Er steht nachts vor einer
Glaswand im zum VIP-Raum umfunktionierten
Schokoladenmuseum und starrt seltsam ergriffen
auf den schwarz glitzernden Rhein,
den weithin angestrahlten eisgrauen Dom, die römisch-katholischen
Kirchen, die vielen bunten Lichter.
Istanbul ist nichts dagegen. Seine
dicken Goldringe, Goldklunker,
goldenen Ketten und die fette Golduhr klimpern. Er hat die Menschen
berührt, die Frauen vor allem, aber
auch sensible Männer, hat sie vielleicht ein bisschen verändert.
Was für ein Kontrast dagegen die
talentfreie Julia Franck und ihr
Machwerk „Die Mittagsfrau“. Sie
liest im altehrwürdigen WDR-Gebäude der 50er-Jahre, holzvertäfelt,
denkmalgeschützt, geprägt von unvergesslichen Hörfunk-Veranstaltungen des frühen Heinrich Böll.
Wie alle Veranstaltungen der lit.cologne ist der große Saal seit Monaten bis zum letzten Platz ausverkauft. Es gibt keine Schlange vor
dem Gebäude, weil bereits eine
Stunde vor Beginn der Lesung alle
Zuhörer ihre Plätze eingenommen
haben. Dann liest die beispiellos gefeierte Autorin ihr schlechtes Buch.
Anderswo würde die Enttäuschung schnell zu Reaktionen führen, die Leute würden aufstehen
und gehen. Aber die Kölner sind
anders. Sie wollen nicht nach Hause. Manche packen Kaffee und Kuchen aus, unterhalten sich nett in ihrem rheinischen Singsang. Sie sind
wie Kinder, nur niemals bösartig.
Als Franck endlich stoppt, klatschen sie sogar. Auch in der Pause
geht niemand. Die Pausen sind immer lang, die Lesungen immer
kurz, und die Zeit davor und danach
gehört ganz dem geselligen Beisammensein. Auch während der Lesung selbst geht oft ein rustikales
Muskelmädchen mit einem nach
oben gestemmten Holzkranz durch
die Reihen, in dem zwölf gefüllte
Kölschgläser stecken. So macht
hermetische Lyrik wieder Spaß.
Auch das Große Schauspielhaus
war bis auf den letzten Platz gefüllt,
als jemand irgendwelche Briefe von
Joseph Roth vorlas. Alle hörten höflich zu, keiner ging. Kölner scheinen
keine Fernsehapparate zu besitzen.
Sie gehen abends raus. Zu Hause
warten Brettspiele und vielleicht
einmal ein Hörspiel im Radio. Und
Helge Schneider live ist dann natürlich viel schöner. Im „Tanzbrunnen“
liest er seinen neuen „abgeschlossenen Schicksalsroman“. Nie war ein
Publikum vorfreudiger. Schneider
beginnt langsam, minimalistisch,
wie ein Führer vor einer großen Rede. Minutenlang liest er stumm nur
für sich. Schon kleinste Regungen
lösen Beifallsstürme aus. Dann
bricht erst mal eine halbe Stunde
Klamauk über die Leute herein, bis,
völlig überraschend, der Roman
ernst und ernster wird. Helge
Schneider hat das Schicksal eines
Alkoholkranken
aufgeschrieben,
und dieses Schicksal ist nur am Anfang lustig. Allmählich wird es der
wahre Schrecken, den viele wiedererkennen. Was für eine Achterbahn!
Dagegen sind nicht nur die dämlichen Balzereien zwischen Roger
Willemsen und Charlotte Roche,
die
neckisch-provokativ
über
„Feuchtgebiete“ geschrieben hat,
ein intellektuelles Desaster, sondern auch jene Lesungen, die „ernste“ Literatur verabreichen wollten.
Helge Schneider schlägt sie alle.
Zur lit.cologne kommt inzwischen jeder. Es ist eine Art Berlinale für Bücher geworden, ein LeseFestival ohne Beispiel. Es gibt zwar
auch in anderen Städten alle möglichen Lese-Events, aber nur die lit.cologne ist binnen kürzester Zeit
zur Legende geworden. An die 100
Veranstaltungen in zehn Tagen!
Stets lesen gleichzeitig in verschiedenen Hallen veritable StarAutoren. Wen soll man wählen, Bodo Kirchhoff oder Karen Duve?
Helge Schneider oder den BeppeGrillo? Alice Sebold oder Ken Follett? Alice Schwartzer, Charlotte
Roche , John von Düffel, Claus Peymann, Roger Willemsen, Michael
Kumpfmüller – oder Clemens Meyer aus Leipzig?
Schließlich wird Andrea M.
Schenkel gewählt, „Kalteis“. Die
Lesung findet im Innern eines großen Rheinschiffes statt, das munter
Richtung Koblenz lostuckert. Butterfahrt-Atmosphäre, nur viel netter. Allen ist alles so vertraut, und
alle sind so vertraulich miteinander, als befänden sie sich in ihrem
Wohnzimmer. Wieder wird Gebäck
und Bierchen gereicht, während die
Autorin eine Vergewaltigung nach
der anderen beschreibt, mit ruhiger, gruseliger Stimme. „Kalteis“
handelt von einem Mann, der in
den 30er-Jahren 70 Frauen vergewaltigte, wobei vier während des
brutalen Akts starben.
Das alte Schiff schwimmt an den
Rheinauen entlang, an der Fabrik
Aurora mit dem Sonnenstern vorbei,
am alten Deutschlandfunk, an Vogelschwärmen, die sich auf dem glucksenden Wasser niedergelassen haben, passiert eine Brücke nach der
anderen, gewinnt die freie Natur,
verlässt die Stadt. Während zur Linken ein herrlicher Sonnenuntergang
geboten wird und Vater Rhein so beruhigend auf das Gemüt einwirkt,
und alles so urig ist, stirbt ein junges
Mädchen nach dem anderen in den
grässlichen Fleischerhänden des Nazimannes. That’s Germany, folks!
Andrea M. Schenkel ist die Einzige, die später nicht zur täglichen
VIP-Party ins Schokoladenmuseum kommt. Sie braucht keinen
neuen Liebhaber, ist glücklich mit
Mann und drei Kindern in Regensburg. In wo? Ja, Regensburg. Das
soll eine Kleinstadt unten in Südostdeutschland in der Nähe der
tschechischen Grenze sein. Dort
fallen einem bestimmt gute Gruselgeschichten ein. Frau Schenkel ist
mächtig sympathisch, und die Moderatorin, ganz Kölnerin, trägt ihre
Gefühle gleich auf der Zunge: „Ich
habe Andrea Schenkel eingeladen,
weil ich sie wirklich total mag!“
So ist das überall auf der lit.cologne, es ist das Prinzip, wahrscheinlich auch das Erfolgsgeheimnis:
„Wir von der Veranstaltungsleitung
laden genau die Autoren ein, die
wir besonders mögen und natürlich
ausführlich gelesen haben.“ Sagt
Traudl Bünger, rechte Hand von
lit.cologne-Erfinderin
Regina
Schilling. Nicht die Berühmtheit
zählt, sondern die Präferenz. Fragt
sich nur, wer „Die Mittagsfrau“ gemocht hat. „Es gibt natürlich Ausnahmen“, räumt die blitzgescheite
Frau Bünger ein, die aussieht wie
Halle Berry und allen den Kopf verdrehen würde... wenn das nicht
schon Alina Bronski getan hätte.
Die nämlich, die 30-jährige Russlanddeutsche, kann schon jetzt fest
als der Star der nächsten Jahre gebucht werden. Noch bevor sie einen
Raum erreichte, spürte schon jeder,
dass sie gleich kommen würde.
Man sah es an den glühenden Gesichtern von Begleitern, von Voraustrupps. Auch Alina Bronskis zukünftiger Verleger, Helge Malchow
von Kiepenheuer & Witsch, flüsterte: „Das größte Talent der kommenden Dekade“. Er besitzt ein
Manuskript von ihr, das jeder im
Hause als sensationell einstuft.
Cheflektor Olav Petersenn arbeitet
mit ihr an den letzten Feinheiten, an
der Widmung, dem Umschlag, dem
Klappentext. Petersenn darf nicht
in sie verliebt sein, er muss mit ihr
arbeiten. Alina blickt ihn völlig offen an, ausdruckslos ernst, ganz
und gar interessiert, und wechselt
eine Nanosekunde später die
Miene ins Lustige, lacht höflich und
ausgelassen zugleich über einen
Witz am Tisch, um sofort wieder
todernst zu werden wie eine junge
Katze, die eine Maus entdeckt hat.
Auch Alina Bronski hat einen
Mann und drei Kinder. Ja, die alten
Schlampen-Parameter der Madonna-Ära sind Geschichte. Eine neue
Generation hockt in den Startlöchern. Das und vieles andere Neue
in Sachen Zeitgeist konnte man di-
rekt aufnehmen und mitnehmen bei
der heute zu Ende gehenden achten
lit.cologne. Fehlt eigentlich nur
noch die Erklärung, warum Feridun Zaimoglu die Veranstaltung
dominierte: Er ist der letzte Mann,
der für eine schöne Frau aus der
fahrenden Straßenbahn springt,
der Dame folgt, sie atemlos anspricht. In seinem Roman „Liebesbrand“, aber auch im wirklichen
Leben, wie man in Köln immer wieder sehen konnte. Ein großer
Mann, ein noch größerer Roman.
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