14 Eins. Zwei. Drei. Versteckspiel im Hinterland. Im

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14 Eins. Zwei. Drei. Versteckspiel im Hinterland. Im
Eins
Eins. Zwei. Drei.
Versteckspiel im Hinterland. Im Dunkelland. Dort, wo sich Fuchs
und Hase „Gute Nacht!“ zurufen.
Ganz so es ist es nicht. Hasen werden in Ställen gehalten. Die
Füchse müssen am Tag in die Fabrik, damit der Bär fetter werden
kann. Der Bär sitzt derweil an seinem Honigtopf. Der Topf muss
voller werden, denkt der Bär und zieht mit einem Brummen an
seiner Bärenzigarre.
Vier. Fünf. Sechs.
Paul ist zum Jäger auserkoren worden. Er steht an einer Hauswand. Die rechte Hand deckt seine Augen ab. Diese rechte Hand,
die noch unschuldig ist, die noch nichts von ihren künftigen Taten weiß.
Pauls rechte Hand wird Schläge verteilen. Davon ahnt das Kind
Paul nichts.
In diesen Tagen im Sommer muss sie die Augen abschatten. Sie
muss den Blick verschließen, damit das Versteckspiel zu einer
Hürde für ihn wird.
Paul ist der Jäger.
Sieben. Acht. Neun.
Die Kinder stieben in alle Richtungen auseinander. Funkenflug.
Bald werden sie verglüht sein.
Jedes Kind sucht sich ein Versteck. Es will dem Jäger entkommen.
Und doch wird der Jäger es finden, denn wer will schon in seinem
Versteck versauern?
Zehn. Elf. Zwölf.
Susanne rennt.
Susanne. Von den anderen Kindern nur Susie gerufen. Was
braucht die so einen langen Vornamen, sagen die anderen Kinder.
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Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn.
Susie. Sie ist klein. Kleiner noch als ihre Spielkameraden. Sie ist so
klein, dass man lange suchen muss, bis man sie entdeckt.
Sechzehn. Siebzehn. Achtzehn.
Susie ist bei der Wahl ihres Verstecks nicht wählerisch. Sie will
sich einfach nur irgendwo niederlassen können.
Susie sitzt hinter einem Busch. Sie hockt dahinter. Ihr Hintern
schwebt nur wenige Zentimeter über der ausgetrockneten Erde.
Sie würde den Boden gern segnen.
Sie hockt in der Pinkelstellung.
Aber sie pinkelt nicht.
Dabei müsste sie tatsächlich einmal Wasser lassen. Einen langen
heftigen Strahl herauslassen, der sie befreit. Susie tut es nicht. Sie
hat sich im Griff.
Sie wartet, weil sie ein Spiel spielen.
Neunzehn. Zwanzig.
Paul lässt die Hand fallen.
Er schreit: Ich komme! (Das wird er später noch oft schreien. Immer und immer wieder, bis Susie denken wird: Geh doch!)
Paul rennt los. Er ist ein guter Jäger. Er spürt seine Beute auf.
Rasch und gnadenlos.
Hab dich!
Hab dich!
Hab dich!
Paul spürt alle Kinder auf.
Nur Susie wurde nicht gefunden.
Nur Susie harrt noch aus.
Paul kennt ihr Versteck. Er will sie nicht finden. Er hat das schon
öfter so mit ihr gemacht.
Die anderen Kinder sind in seinen Plan eingeweiht.
Was sie nicht weiß, macht Susie heiß. Ihre Freunde machen sich
einen Spaß daraus, sie in der Sonne verbrennen zu lassen.
Man hat sich vorher darauf geeinigt, Susie nicht finden zu wollen.
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Man wird sie großzügig übersehen.
Als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
Dabei wäre ihr Versteck einfach zu finden. Aber darum geht es
den Kindern nicht. Darum geht es Paul nicht. Paul wird Susie
dereinst heiraten. Früh übt sich, was ein Ehemann werden will.
Den Kindern geht es um die Erniedrigung. Die Qual. Susie ist für
sie wie ein Insekt, das man mit einer Lupe ärgern darf.
Susie hört die Stimmen der Mütter, die ihre Kinder einfangen.
Frank.
Jürgen.
Petra.
Angelika.
Annette.
Paul.
Die Kinder hören auf die Stimmen und das Knurren ihrer Bäuche. Sie sind wilde Tiere, die sich auf den Weg zum Futterplatz
machen.
Susie wartet.
Sie verbrennt sich den Nacken.
Ihre Mutter wird ihr noch am Abend eine Abreibung verpassen.
Sie wird sagen: Dummes Ding! Das machst du nicht noch einmal.
Susie wird sich in den Schlaf weinen, weil sie sich in die Unterhose gepinkelt hat. Sie hat über Stunden in ihrem eigenen Saft
gekocht, der von der Hitze des Sommertags allmählich verdampft
wurde.
Susie träumt in der Nacht, dass man sie findet.
Da kommt sie.
Sonja Katzenhof.
Sie stolziert über den Hof. Sie versucht es. Sie drückt das Rückgrat durch. Der Rücken schmerzt fürchterlich.
Sie hat sich zum dritten Mal die Brüste vergrößern lassen. Ihr
Manager wollte das so. Sie auch.
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Nein, sie ist sich nicht mehr sicher, ob sie es wirklich wollte.
Der Ballast an ihrer Vorderseite zieht sie zu Boden. Sie schwitzt.
Sie möchte stehenbleiben. Im Erdboden versinken. Sterben.
Komm schon, schreit Martin, ihr Manager. Er winkt.
Sie stehen irgendwo auf einer Straße.
Mallorca.
Sonja macht hier keinen Urlaub.
Sonja ist zum Arbeiten hier.
Sie stolpert. Knallt auf die Knie. Sie kneift die Augen zusammen.
Tränen schießen hervor.
Martin ist bereits da. Der gute Martin. Ihr Stern. Sie schläft mit
ihm. Sie liebt ihn. Martin liebt das Geld, das er mit ihr verdient.
Martin flucht.
Wie konnte denn das passieren?
Dann hilft er ihr.
Er winkt dem Fotografen zu. Untersucht die Wunde.
Geht ja, sagt er. Das können wir überschminken.
Die Fotos müssen heute noch gemacht werden.
Müssen, müssen, müssen, flüstert Martin ihr ins Ohr.
Und dann sagt er noch leise: Ich liebe dich!
Sonja nickt.
Ja, ich liebe dich doch auch.
Er führt sie zum Fotografen und seinem Team. Sie scharen sich
um sie. Man versorgt die Wunde. Überschminkt sie.
Sonja zieht sich aus.
Alle jauchzen.
Ein herrliches Bild.
Die nackte Sonja im Staub dieser Straße. Dieses Bild wird viel
Geld bringen, dessen sind sich alle gewiss. Sonja lächelt. Posiert.
Arme hoch.
Lasziv.
Die Lippen gespitzt.
Ihre Haut brennt. Sie merkt es, wenn sie sich berührt.
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Beiß die Zähne zusammen, denkt sie. Auch dieser Tag geht rum.
Tu es für dich!
Für Martin!
Diese Fotos werden dich wieder ein Stück voranbringen.
Sie sieht zu Martin hinüber, der mit einer der Assistentinnen flirtet.
Nein, denkt Sonja, sie flirten nicht. Das ist ein normales Gespräch.
Nur ein Gespräch. Er liebt mich doch!
Er spielt nur.
Er liebt Spiele.
Sie möchte ihm ein Signal geben. Abfragen, wann das hier endlich vorbei ist. Aber er bemerkt sie nicht. Seine Hände wedeln
durch die Luft.
Sonja wird wütend.
Der Fotograf unterbricht. Weist sie auf ihre entgleisten Gesichtszüge hin. Martin steht natürlich sofort neben ihr.
Was soll das, fragt er.
Nichts, nichts, zischt Sonja. Flirte nicht, wenn ich dabei bin.
Martin lacht.
Martin beruhigt.
Er lässt sie stehen.
Sie nimmt Aufstellung.
Sie hebt ihre großen falschen Brüste an. Die Brüste sind ihr eine
Last.
Sie öffnet leicht den Mund.
Das wollen sie sehen.
Alle.
Nur Martin und die Assistentin nicht. Zumindest kann Sonja sie
nicht entdecken.
Susie bekommt von ihrer Mutter Schläge. Die Mutter bestraft sie
für alles.
Susie ist am schlechten Wetter schuld.
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An der zu scharfen Suppe.
An den Haaren, die der Mutter ausgehen.
Am Staub im Haus.
Die Mutter beweint täglich ihr Leben.
Sie fühlt sich überfordert.
Susie hätte nicht auf die Welt kommen dürfen. Jetzt ist sie da. Die
Mutter hasst Susie dafür. Sie würde sie gerne aus ihrem Leben
prügeln.
Der Fleck muss weg!
Damit Susie den Hass beständig spürt, behandelt die Mutter
Susies Geschwister besonders gut. Sie dürfen sich alle Freiheiten
nehmen. Auch die Freiheit, Susie zu schlagen.
Susie fängt an, sich zu verstecken.
Sie hält die Übergriffe nicht mehr aus.
Sie treibt sich stundenlang in den Wäldern herum. Für die Mutter
ist das nur ein weiterer Grund, sie mit dem Kochlöffel zu bearbeiten.
Sie wird dem Kind die Freiheitsgedanken schon noch austreiben.
Die Lust am Leben auch.
Alles.
Der Vater steht hilflos daneben. Er mag Susie. Er liebt sie nicht,
weil er zu nichts Kraft hat. Auch nicht zum Lieben. Er hat sich
seine menschlichen Regungen abgewöhnt. Die Fabrik, in der er
arbeitet, saugt ihn aus. Sie hat eine Hülle aus ihm gemacht, die
sich allmorgendlich wieder an ihren Arbeitsplatz schleift. Der Vater schläft schon seit Jahren nicht mehr mit der Mutter.
Die ist froh darüber, denn der Beischlaf hat nur Unglück über sie
und ihr Leben gebracht.
An manchen Abenden steht die Mutter allein auf dem Hof. Sie
raucht eine Zigarette und blickt zu den Sternen hinauf. Sie schließt
die Augen, träumt von einem anderen Leben. Sie hätte nicht in
diesem Dorf bleiben sollen. Sie hätte gehen sollen. Weit weg.
Irgendwohin. In den Süden.
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