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Nastyboy „Ich schwöre hiermit, nie wieder zu Lieben das sagt doch jeder mal.“ Amor Nicks Augenlider schnellten nach oben, als wäre irgendwo hinter den Augäpfeln eine Feder gerissen. Seine braune Iris dehnte sich aus und seine Pupille zog sich zurück wie eine beleidigte Blume. Eine Spinne hatte den Tag mit einer Expedition über die Schlafzimmerdecke begonnen, befand sich in diesem Moment direkt über Nicks Nase und plante die weitere Route. Alles gut. Es war alles gut. So gut es eben sein konnte. Nicks dichte, dunkle Wimpern umarmten sich wie nach langer Trennung, als er seine Augen noch einmal für einen kurzen Moment schloss. Das Laken hatte durch seinen unruhigen Schlaf und der Tatsache, noch nie richtig gespannt worden zu sein, einen dicken Wulst gebildet der Nick in den Rücken drückte. Der Polster lehnte sich lässig gegen den Scheitel, und stützte sich auf Nicks Stirn ab. Davon, den Kopf zu betten hielt er wenig – nur einen Zipfel, flach und lasch, ließ er unter Nicks Schädel geschoben. Einen Moment. Nick brauchte nur einen Moment. Von draußen drang das emotionslose Kichern vergeblicher Startversuche an sein Ohr. Der alte Citroen AX des Nachbarn verweigerte wieder einmal seinen Dienst. Nick versank im Teer morgendlicher Ermattung. Er musste die letzten Sequenzen eines Traumes verdrängen, der ihn nicht zum ersten Mal heimgesucht hatte und – streng genommen - kein echter Traum war. Es war mehr ein Trauma, eine Erinnerung 1 die sich über Träume immer wider in sein Bewusstsein drängte. Nick kratze gähnend über das Chaos, das der Schlaf mit seinem schwarzen Haar angestellt hatte und erzeugte mit der anderen Hand ein kleines Keramikkonzert im Küchenschrank. In einer Garfield-Müslischale, die daraus hervorging, ertränkte er Haferflocken mit Sojamilch und verlor anschließend das Interesse daran. Auf dem Weg ins Bad knirschte es unter seinen nackten Fußsohlen und das erste Stück Stoff das er fühlte – eine Socke – nutzte er, um zumindest auf diesem Bein voran zu schlittern. Damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe. Er musste das widerliche Gefühl von Krümel auf nackter Haut nicht ertragen, und die Socke konnte in die Nähe der Waschmaschine bugsiert werden. Svens blonder Haarschopf ergoss sich über den graublauen Teppich, in einer ungelenken Embryonalstellung lag er da, einen Arm unnatürlich geknickt unter sich begraben. Auf der verdrehten Schulter saß eine Krähe und Blickte Nick mit schräg geneigtem Kopf an. Wie Ohrfeigen brachen sie in sein Bewusstsein. Traumsequenzen. Erinnerungsfetzen. Aus dem silbrig – von Kalkflecken matten - Hahn schoß Wasser in unterschiedlich dicken Strahlen in mannigfaltige Richtungen und trafen gelegentlich in das klebrig mit Zahnpasta verkrustete Waschbecken. Nick bildete mit seinen Händen Schaufeln und warf sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, um sich zu befreien von unliebsamen Bildern. Er hob seinen Kopf und betrachtete sein Spiegelbild. Dabei sah er nicht wirklich sich selber oder die unzähligen vertrockneten Spritzer, sondern nur Fragmente, wie etwa seine Bartstoppeln, über die er mit seinen Fingern rieb, um abzuschätzen ob er mit dem Rasieren noch einen Tag warten könne. Oder seine dichten Augenbrauen die wie schwarze Balken die Stirn von seinem restlichen Gesicht trennten. Von 2 jenem Haken den sie noch gemeinsam für den Boxsack an der Decke verschraubt hatten, hing ein Seil – fasrig gerissen. In Nicks Magen spannte sich eine Saite und riss dabei. Er beugte sich über die Badewanne, mit einer Hand stützte er sich an der gekachelten Wand gegenüber ab – mit der anderen betätigte er den Knauf mit dem blauen Punkt. Wasser stürzte aus der Brause und trümmerte eiskalte Nadelstiche auf Nicks Schädel. Das weiße T-shirt sog sich voll und legte sich wie ein Schild kalt und schwer über seinen Rücken. Nick konzentrierte sich auf den nassen Vorhang der rings um sein Gesicht in den kleinen Stausee mündete, der sich wegen des chronisch verstopften Abfluss bildete. Gerade als er fest stellte, das er das erstaunlich lange aushalten konnte, reichte es ihm auch schon. Wie aus einer zweiten Haut wand er sich aus dem nassen klebrigen Shirt und schleuderte es in die Wanne, wo es in die nur langsam schwindende Pfütze platschte. „Die Hände nach dir ausgestreckt, greifen sie in Glaspaläste um sich blutig zu schneiden. Du – Elfenkönig – regierst, ohne mein Blut zu sehen. -Sven“ Dies stand in ungeschickten Buchstaben mit einem schwarzen Faserstift an die Wand im Treppenhaus geschrieben. Nick rannte, mit seinem Fahrrad auf seinen Schultern, daran vorbei, als ginge ihn dieser Satz nichts an. Er brauchte ihn nicht lesen, er brauchte nicht hinsehen, der Satz saß in seiner Seele, die Handschrift war seine eigene. Über sein Gesicht hinweg zu seinen Ohren sauste die kühle Morgenluft und flüsterte dort von einem April, an dem die Welt sich ändern möchte. Es war das erste Mal heuer, das er sein Fahrrad benutzte, und die Muskeln in seinen Beinen erwachten geradezu mit einem sehnsüchtigen Seufzen aus den Monaten der Pause. Das Licht und die Stadt waren sich einig, heute alles grau in grau zu halten – und Nick kurvte behände durch den mäßigen Morgenverkehr und schnitt, wen er schneiden konnte. 3 An den Schultern drehte er Sven zu sich herum, dessen Kopf lose nach hinten kippte, er konnte bis in den Rachen sehen, als sein Kiefer herunter klappte. Das blonde Haar klebte am Speichel in den Mundwinkeln, war über das Gesicht gewirbelt. Nick ballte seine Fäuste und bremste mitten in einem Passanten auf dem Zebrastreifen. Oder besser gesagt in dessen Terriermischling, der aufjaulte und sich dann knurrend im Vorderreifen seines sonnengelben Fahrrads verbiss. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sich Nick und der junge Mann an der Leine entsetzt an – als wäre nicht klar, wer einen Fehler begangen hatte. „Buster! Aus!“ befahl der Besitzer des braunen Mischlings, der zu seiner eigenen Demütigung ein blaues Halstuch trug, im Reflex, rekapituliere für einen Moment den Tathergang, und sagte schließlich: „Faaaain Buster! Brav! Weiter so!“ Nick verkrampfte seinen Griff um die Lenkstange, da sich Buster mit vollem Körpereinsatz daran machte, den Vorderreifen wie eine Beute hin und her zu schleudern um ihr das Genick zu brechen. „Ich ... sorry ... ich habe die Ampel nicht gesehen ... Ich meine, ich habe die Ampel gesehen, nicht aber das sie rot war.“ Nach kurzer Überlegung, die dazu führte, das er fest stellte, das er noch nicht einmal diese Welt gesehen hatte, revidierte er: „Ich meine, ich habe noch nicht mal die Ampel gesehen. Die ganze Kreuzung nicht ... nicht einmal Sie oder ihren Hund.“ und weil ihm dämmerte wie das wirken könnte, meinte er entschuldigend: „Sie wissen schon.“ Busters Herrchen, dem blauen Rollkragenpulli und der schwarzen Jogginghose nach wohl beim Prä-TagewerkGassigehen, entfuhr ein gewisser prüfender Sozialarbeiterblick. Wortlos musterte er Nick – von den abgetragenen Turnschuhen über die verbeulte Jeans zur dunkelblauen Weste, deren Kapuze zwar über Nicks Schädel gezogen, der Reißverschluss aber offen stand. Der schwarze Schriftzug auf seinem weißen Shirt 4 war „Farbenblind“. Direkt von diesem Spruch segelte der Blick auf Nicks Gesicht und hielt dort auf eine Weise inne, mit der anderswo das Sterben ganzer Welten betrachtet wird. „Buster!“ er zog kurz an der Leine ohne Nick aus seinen Augen zu lassen und der Mischling ließ auf der Stelle los, würgte den Geschmack des Gummis hoch, und himmelte sein Herrchen sabbernd an. Eilig setzten die Beiden den Weg auf die andere Straßenseite fort, wobei sich einer noch zweimal verunsichert nach Nick umdrehte, und der andere hechelnd die Nase unablässig in die Knie seines Begleiters rammte. Nick schaute an sich herab, in düsterer Vorahnung, und zog den Reißverschluss seiner Weste bis zum Hals hoch. Der Vorderreifen hing am Rad wie eine abgestoßene Schlangenhaut und so hob Nick das Rad auf den Gehweg um die restlichen Schritte zur Arbeit zu Fuß zurück zu legen. Eineinhalb Meter über ihm, auf jener Ampel die er nicht wahr genommen hatte, saß ein kleiner dicker Mann ohne Scheitelhaar in einem weißen Nachthemd und hatte seine nackten behaarten Beine um die Stange geschlungen um nicht herab zu fallen. Er schraubte seinen schneeweißen Recurve–Sportbogen auseinander und pfiff dabei ein vergnügtes Lied. Er verstaute die drei Teile des Bogens in einem Futteral aus weißem Plüsch und seine globigen Finger zogen an den herzförmigen Schiebergriffen den Reißverschluss zu. So verhält sich ein Mann, der sich sicher war, seine Sache gut gemacht zu haben. Als Nick an jenem Schaufenster vorbei kam, in welchem mehrere Generationen von Fliegen verdorrt auf dem Rücken lagen wie Konfetti anderswo, und sich über Stempel, Tassen, Schilder, Polster und T-Shirts ein gräulicher Schleier gezogen hatte, war er angekommen. Dies war sein Reich. Zumindest von neun bis achtzehn Uhr - Montag bis Freitags. Direkt aus dem Hauseingang neben dem Geschäft zogen Schwaden säuerlich 5 würzigen Gestanks heraus, und Nick stülpte sein T-Shirt über die Nase und hielt die Luft an, um sich auf dem Weg da hinein nicht übergeben zu müssen. Rasch lehnte er sein lädiertes Fahrzeug an die braune, sich wie Blätterteig abschälende Wand, direkt neben dem überquellenden Mülleimer, und fischte hektisch den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Die Augen begannen zu tränen und ihm fiel der Schlüssel zweimal scheppernd auf die hohe Stufe eher er es schaffte, in das Geschäft zu flüchten und tief Luft zu holen. Dort vermengte sich das ruhige Schnurren der Kopiergeräte im Standby - Modus mit dem typisch satten Geruch elektronischer Geräte und trockener Wäsche. „Ng!“ unkte es aus dem Dschungel aus Bildschirmen, Bügelpresse und metallenen Papierregalen. „Da riechts als hätte jemand eine Leiche entsorgt.“ grüßte Nick in Richtung bläulichen Lichtschein, die einzige Lichtquelle außer den Schaufenstern, und prompt erschien ein ovales Gesicht mit langen schwarzen Haaren die wie Schuhbänder darum herum baumelten. „Leiche? Wo ist eine Leiche?“ „Ich sagte, das es da draußen riecht, als hätte jemand eine Leiche entsorgt.“ „Achso.“ zuckte Kevin seine mageren Schultern und sein Kopf verschwand so unvermittelt wie er erschienen war. Nick bohrte seinen Finger gerade in die Starttaste seines Rechners, als ihn ein vertrautes Surren aufhorchen ließ. „Kevin?“ fragte Nick, und machte eine Silhouette im vorderen Bereich des Ladens aus. Wie aus dem Nichts schnellte wieder der unheimlich ovale Kopf seines Mitarbeiters in sein Blickfeld – hinter dem Regal hervor. „Was gibt’s?“ Nicks Blick verfing sich in den baumelnden Strähnen. „Hast du schon aufgeschlossen?“ 6 „Nö? Warum?“ Nick deutete mit seinem Kopf in Richtung des Schattens, der sich geschäftig verhielt und offenbar gerade dabei war, Unterlagen zu sortieren. Kevin machte eine verschwörerische Mine und flüsterte: „Ein Einbrecher?“ „Bist du vom Kundeneingang herein gekommen?“ sah es Nick pragmatischer. Kevins Augen wurden kugelrund als habe er gerade den Heiligen Gral gefunden: „Nein!“ „Und gestern?“ „Ich komme immer vom Seiteneingang.“ zischelte er argwöhnisch und zog seine Augen zu einem Schlitz, während er den Schatten genauer betrachtete, bei dem für einen Moment ein Licht auf blitzte. „Ich meinte, ob du abgeschlossen hast als du gegangen bist.“ „Natürlich. ... Das heißt ... wart mal.“ er legte seinen Zeigefinger an sein glatt rasiertes Kinn und seine Augen flatterten nach links oben. „Ja oder Nein?“ Der Zeigefinger schoss Nick entgegen und Kevin nickte zuversichtlich: „Das ist die Frage!“ Nick ließ Kevin stehen und näherte sich dem Schatten, der konzentriert Papiere sortierte und gelegentlich mit einer Taschenlampe auf den Inhalt der Seiten leuchtete. Es waren die typisch krummen und zittrigen Finger eines älteren Stammkunden und als Nick ihn ansprach, leuchtete der sich selber von unten ins Gesicht, sodass Schatten eine entstellte Fratze ergaben. Aus dem hinteren Teil des Ladens tönte ein entsetztes: „Aaaaaahhh!“ „Guten Morgen, ich bins nur. Ich wollte Sie nicht erschrecken. 7 Ich hab hier nur ein paar wichtige Inhalte zu kopieren.“ erklärte die heisere aber sehr freundliche Stimme eines ehemaligen Professors der viele Stunden in der Woche damit verbrachte, Skripten seines Lebenswerks zu kopieren. „Seit wann sind Sie schon hier?“ fragte Nick freundlich. Der Professor beleuchtete mit seiner Taschenlampe seine Armbanduhr, die er zum Ablesen vor seine Nase hob. „Noch nicht so lange. Zwei Stunden. Ich hoffe ich störe nicht.“ „Zwei ... nein Sie stören nicht. Wie sind Sie hier herein gekommen?“ fragte Nick, und kannte die Antwort, die er nicht wissen wollte, bereits. „Die Tür war nicht abgeschlossen.“ und nachdem er beobachtete, wie Kevin schuldbewusst auf seinen Platz stolperte und dabei ein paar Dinge in Gang setzte, die sich geräuschvoll zu Boden begaben, sagte er mit eingezogenem Kopf: „Tut mir leid.“ Nick fühlte sich ein bisschen, als wäre er Pfleger in einer Psychiatrie – oder eher ein Patient der sich für einen solchen hielt. Er hob seine Hände beschwichtigend in die Richtung der beiden Anwesenden und machte ein paar Schritte rückwärts auf den Kundeneingang zu. „Okay, okay. Kein Grund zur Panik.“ während er die Hand für Kevin noch in Stellung hielt, kontrollierte er mit der anderen den Knauf der Eingangstüre. Sie machte keine Anstalten, geschlossen zu sein. „Es ist alles gut. Alles gut.“ „Ich weiß.“ Sagte der Professor, nahm einen orangefarbenen Umschlag der neben seinem Papierchaos gelegen hatte, hielt ihn verlegen zwischen beiden Händen und machte einen Schritt auf Nick zu. „Ich habe mir erlaubt, diesen Auftrag entgegen zu nehmen. Der Plan sollte bis Mittags zwei mal kopiert werden.“ 8 Nick hatte seinen Seufzer noch nicht beendet, da schlitterte Kevin bereits über den Laminatfußboden und zupfte den Umschlag aus den Händen des alten Professors. „Das mach ich.“ Und war ebenso schnell wieder verschwunden. Über dem Adamsapfel trennte ein dicker blauvioletter Striemen den Kopf vom Hals, darunter war lose ein Seil geschlungen, das nur dreißig Zentimeter nach dem Knoten gerissen war. „Es tut mir Leid.“ riss Kevin Nick aus seinen Erinnerungen. Nick hatte unbewusst mitgezählt, es war gerade mal halb zwölf und Kevins Beteuerung war gut ein Duzend mal aus seinen schmalen Lippen geschossen. Es kam so unverhofft und doch regelmäßig, dass Nick dem Drang widerstehen musste, mit „Gesundheit“ zu antworten. Das „Schon okay.“ verkniff er sich, obgleich er es bereits dachte. Es fiel ihm verdammt schwer, aber er musste Kevin ein Mindestmaß an Disziplin abverlangen. Nicht, das er ihm sonst etwas abverlangen würde. Nick beobachtete Kevin, der dabei war, ein weißes T-Shirt von Staub und Haaren zu befreien, das ihm soeben auf den Boden gefallen war. Das schwarze Shirt das Kevin trug hing an ihm wie eine Toga, nicht weil es so feierlich wirkte, sondern weil es irgendeinen Konflikt mit seiner Körperhaltung austrug. Er breitete das zu bedruckende Shirt auf der Bügelunterlage aus und strich es glatt, was sich bei seinen verschwitzten Händen wie eine Sisyphusarbeit ausnahm. Offenbar hatte jedes Shirt in seiner Nähe ein Problem mit ihm. Kevin kam zu der Überzeugung, das er das Shirt noch einmal ausbeuteln müsse, ehe er den erneuten Versuch wagen könne, es glatt auf die Bügelfläche zu bekommen. Dabei entkam es und Kevin war erneut damit beschäftigt, Staub und Haare mit Daumen und Zeigefinger heraus zu pulen. Als er das Shirt endlich halbwegs glatt in die Bügelpresse gelegt hatte, und sogar die Textilfolie zu seiner Zufriedenheit situiert hatte, betätigte er den Hebel, 9 und mit einem beherzten Röhren tat die Presse ihren Dienst. Das Monster an Maschine öffnete sich und gab das Ergebnis und einen knusprigen Geruch frei. Kevin zog das Trägermaterial ab und hielt einen Moment verdutzt inne um sein Werk zu bestaunen. Eine Quetschfalte zog sich vom rechten Auge bis zur linken Schulter des Motivs – dem Portrait eines Kleinkindes. Kurzerhand zog er das Shirt von der Unterlage und legte es überraschend gekonnt zusammen. Die Methode hatte er in einem Internetvideo gesehen und einen Tag damit zugebracht, den Arbeitsschritt auswendig zu lernen um – nun – um jemanden einmal zu beeindrucken, der sich von so etwas beeindrucken ließ. „Kevin?“ sagte Nick, und der zukünftige Rockstar zuckte so deftig zusammen, das er das Shirt, auf den Boden fallen ließ. Er hob es auf, und blickte schuldbewusst. „Ja? Ich meine ... Ja?“ Kevins linkes Auge zuckte. „Das ist doch nicht echt.“ Kevin biss auf seine Lippen. „Es ist gefärbt, oder?“ Kevin starrte auf das Shirt in seinen Händen und überlegte angestrengt was er sagen sollte. „Dein Haar. Es ist nicht von Natur aus schwarz, oder?“ So oder so ähnlich musste Kevin bei Stundenwiederholungen in der Schulzeit drein geschaut haben, wenn er nichts gelernt hatte. „Ich komm drauf, weil du faktisch keine Augenbrauen oder Wimpern hast.“ erklärte Nick und machte einen Schritt auf Kevin zu um ihm das Shirt abzunehmen. „Ich ... ähm ... blond.“ sagte Kevin unsicher, während Nick das Shirt wesentlich ungeschickter zusammenlegte – eher rollte – und auf die Ablage für fertige Aufträge schmiß. Kevin seufzte erleichtert. Einen halben Meter über ihnen, auf dem obersten Fach des 10 Metallregals, hatte sich ein kleiner fülliger Mann in einem Nachthemd positioniert. Mit geübten Handgriffen hatte er die Teile eines Recuve-Sportbogens zusammen geschraubt, die er aus einem weißen Plüschfuteral genommen hatte. Er summte nicht mehr. Er sah nicht mehr aus wie ein Mann der einen guten Start in den Tag gehabt hatte. „Entschuldigung.“ sagte eine schwach vertraute Stimme hinter Nicks Rücken. Kevins blauschwarze Schuhbandhaare vollführten eine synchrone Tanzbewegung zu beiden Seiten unter seinem Kinn, als er seinen unfassbar ovalen Kopf zur Seite neigte um an Nick vorbei zu sehen. Seine nicht vorhandenen Augenbrauen wippten fröhlich. „Bitte schön?“ Noch ehe sich Nick herumdrehen konnte, stieß etwas oder jemand gegen sein Knie und zeitgleich als er die Ursache dafür erspähte hörte er: „Buster! Aus!“ Der blaue Pulli war einem weißen Hemd gewichen, das zum Großteil von einem Sakko überdeckt wurde das exakt dieselbe sandbraune Farbe hatte wie das kurze Haar – aber es war eindeutig der Passant von heute Morgen, dessen Hund er versucht hatte, mit dem Fahrrad umzubringen. Seine großen sanftmütigen Augen ruhten einen irritierenden Moment auf Nicks relativ schmalen geraden Lippen, deren Mundwinkel selbst dann nach oben zeigten, wenn er wirklich mies drauf war. Und Nick war gerade alles andere als wirklich gut drauf – dennoch – sein Gesicht war zum grinsen verdammt. Immer. Abhilfe konnten da nur seine intensiven Augen bieten, die dem sonnigen Ausdruck dann und wann den nötigen Wahnsinn verliehen. „Ich habe heute morgen einen Plan abgegeben.“ erklärte der Passant der eben zum Kunden geworden war, Kevin. Dieser hob seinen Zeigefinger und fuchtelte damit ein bisschen vor 11 sich herum während er begann, ein Mantra zu summen: „Plan ... Plan ... Plan ...“ und sich dabei hektisch in Bewegung setzte. „Ein älterer Herr hat den Auftrag angenommen, er sagte, er wäre da quasi angestellt.“ versuchte das Herrchen von Buster eine Erinnerung zu wecken. „Ich brauche davon zwei Kopien.“ Buster schnüffelte konzentriert an einer Stelle an Nicks rechtem Hosenbein – drückte seine feuchte Schnauze darauf und blieb daran selbst kleben, als Nick das Bein zurücksetzte. Kevins liebenswürdig inkompetente Art bot ein Schauspiel, dem sich selten ein Kunde entziehen – der man aber auch nicht böse sein konnte. „Zwei Stück! Schach ... Matt.“ grinste er, hob den orangefarbenen Umschlag und zwei mit einem Gummiband daran befestigte, gefaltete Papierbögen hoch und warf dabei das T-Shirt mit der Quetschfalte im Kindergesicht zu Boden. Und während er dieses aufhob und darauf pustete, warf der Kunde einen prüfenden Blick auf Nick, der seinerseits wiederum auf Buster konzentriert war. „Schach Sascha.“ wiederholte Kevin, blickte auf den mit Kugelschreiber fixierten Namen auf dem Kuvert und hielt diesem die Pläne entgegen. Die drei konnten es nicht sehen, aber ein weißer Pfeil mit rosa Federn hielt direkt auf Nick zu, und glitzernder Feenstaub platze direkt aus dem inneren des Pfeiles, als er an Nicks Brustbein zerbarst. Der geknickte Pfeil fiel zwar, doch schlug er nie auf dem Boden auf. Über den Köpfen der drei, ertönte ein unartiger Fluch und Buster kläffte gegen die Decke. Nachdem sein Herrchen ihn ermahnt hatte, beruhigte er sich, indem er sein Bein hob und Nicks rechtes Knie markierte. „Scheiße!“ entfuhr es Nick, als er zur Seite sprang. Kevin – der gerade das Wechselgeld herausgegeben hatte – prustete los und Sascha zog den Terrier an der Leine zu sich heran und scholt 12 ihn. Buster zog schuldbewusst den Schwanz ein, setzte sich auf den Schuh seines Herrchens und versuchte möglichst debil drein zu schauen. „Ich denke, jetzt seid ihr Quitt.“ entkam Sascha ein schiefes Grinsen, und ohne sich für seinen Köter zu entschuldigen marschierte er aus dem Geschäft, wobei er sich noch zweimal verunsichert nach Nick umdrehte, und Buster hechelnd die Nase unablässig sein Knie rammte. Der missmutige kleine Mann mit Halbglatze trug gegen neunzehn Uhr noch immer sein Nachthemd – oder schon wieder – und zurrte die Schrauben seines Bogens so fest das es knarrte. Er beklagte sich bei seinem Sportgerät über seinen Job, die Menschen heutzutage und seine Arbeitskleidung. Vor allem seine Arbeitskleidung. Dann ließ er seine nackten behaarten Beine über den Marmeladegläsern baumeln und wartete. Über ihm hing ein großer gewölbter Spiegel – denn von hier aus hatte man den besten Ausblick über den kleinen Supermarkt. Allerdings hatte man hier auch einen kleinen Lautsprecher installiert, der Amor unablässig ins Ohr dröhnte und neben ausgesucht schlechter Musik auch beeindruckend Hirnlose Slogans mit dynamischem Schwung in den Raum plärrte. Als er einen jungen Mann mit tief in das Gesicht gezogener Kapuze erspähte, der wie eine wintermüde Biene in den Laden schwirrte, erhob sich Amor entschlossen. Er beobachtete, wie Nick durch die Gänge schlurfte, ziellos, und sich mal hier und mal da der Lektüre von Zutatenlisten hingab, ehe er die Produkte wieder zurück stellte. Adrenalin schoss in Amors unförmigen Leib, als ein sandfarbiges Sakko in den Laden wehte und zielstrebig hinter Nick vorbei an die Gebäcktheke eilte. Amor umfasste den Griff seines Bogens, klemmte die Nocke in die Sehne, legte den Pfeil auf die Pfeilauflage, umfasste die Sehne mit drei Fingern, und begab sich in die 13 Grundstellung. Als Nick sich mit einigen Haken, der Gebäcktheke näherte, an der Sascha soeben seine Bestellung abgab, spannte Amor die Sehne, setzte den Ankerpunkt zwischen Mundwinkel und Nasenwurzel, und verfolgte ihn mit der Pfeilspitze. Aus der Box neben ihm dröhnte ein abscheulicher Top Hit – und obgleich Amor nur zehn Zentimeter daneben Stand, verdrängte seine Konzentration den aufdringlichen Bass weit in einen dumpfen unwichtigen Hintergrund. Es war eins mit dem Bogen, eins mit dem Opfer. Er atmete in den Pfeil. Sascha nahm die Papiertüte entgegen, lächelte und schäkerte mit der Verkäuferin, während er schon mal einen Schritt zurück tat. Unter seiner Sohle erwartete ihn der abgetragene Turnschuh von Nicks vollgepissten Bein. Amor ließ die Sehne los, sein Arm schnellte nach hinten, der Pfeil nach vorn, direkt auf Nicks Brustkorb zu. Hinter den pinkfarbigen Federn zeichnete ein glitzerndes Flirren die Flugbahn nach. In jenem Moment da Sascha spürte, das er auf etwas weiches trat, und Nick spürte, das das Gewicht auf seinen Zehen schmerzhaft wurde; in jenem Moment, da sich daraus ein Handgemenge ergab; in jenem Moment da beide versuchten einander aufzufangen obwohl keiner ernsthaft drohte zu stürzen; zersplitterte der dritte Pfeil an Nicks Brustkorb, eine weitere Wolke Feenstaub explodierte aus dessen Inhalt, und verschwand auf halbem Weg zu Boden. Und während Saschas Herz heftig schlug, er an ein Zeichen glaubte, da er heute zum dritten Mal auf denselben Kerl traf der ihm von der ersten Sekunde an gefallen hatte, ihn jetzt sogar in seinen Armen hielt, zerbarst der Spiegel über den Marmeladegläsern neben dem Lautsprecher und Splitter schellten auf den gefliesten Boden und brachen das tote Licht der Neonröhren tausendfach. Atemlos versagte Sascha die Stimme als er sich bei Nick entschuldigte. Dieser wiederum zog seine Augenbrauen zusammen und sein durchdringend böser Blick über den ewig 14 grinsenden Lippen beschrieb eine intovertierten Ausdruck höchsten Missmuts. „Quitt, hm?“ raunte er mehr zu sich selber und kümmerte sich nicht um das Knirschen der tausend Splitter unter seinen Schuhen, als er direkt zur Kassa marschierte und unterwegs hastig in das Getränkeregal griff und sich ein Coke heraus fischte. Ein Tag voll Erinnerungen an den schlimmsten Tag seines Lebens, ein kaputtes Fahrrad, ein vollgepisstes Bein und ein beherzter Tritt auf seine Zehen, die nun schmerzten. Das war kein guter Tag gewesen. Ganz und gar nicht. Dieser Ansicht war auch: Amor. Nicht dieser Ansicht waren: Kevin und Buster, die den Tag ziemlich okay fanden, und überhaupt der Meinung waren, man sollte sich nicht allzu viele Gedanken über Tage machen. Sascha würde sich hingegen noch viele Gedanken über den Tag und künftige Tage machen, über dichte Augenbrauen, dunkelblaue Kapuzenwesten und diverse Situationen die so nie geschehen waren und vermutlich auch nie geschehen würden. Er wird damit die halbe Nacht verbringen und am nächsten Morgen zur gegebenen Zeit perfekt gestylt an einer Ampel stehen und hoffen, ein ganz bestimmter Jemand würde über seinen Hund fahren wollen. Emo-Puppe: Man nehme einen Teddybär, knüpfe ein Seil um seinen Hals, wickle Verbandmull um seine Handgelenke, schieße ihm in die Schläfe (alternativ könnte man es mit einem Faserstift auch nur so aus sehen lassen) und reiße ihm das Herz heraus (oder jenen Teil, wo es liegen würde, hätte er eines). Alternativ könnte man eine Puppe nehmen – vorzugsweise mit Augen die wie ein X aus sehen oder aber schwarz umrandet sind. Mana trug eine solche Emo-Puppe so fest an ihre Brust gepresst, das man von dem herausgerissenen Herz nichts sehen konnte, und führte Nastyboy seit zwanzig Minuten immer und 15 immer wieder an einer Leine im Kreis herum. „Das passt nicht.“ erklärte Amor dem etwa zehnjährigen Mädchen mit kupferroten Locken die ihm bis über die Leibesmitte reichten. Nastyboy fauchte bösartig, fasste mit seinen dürren Fingern nach der Leine und hielt dabei mit seinem langen, spitz zulaufenden Schwanz sein Gleichgewicht. „Drei mal! Die Pfeile brachen wie Stroh! Das es mitunter eine echte Sauerei werden kann hab ich weiß Gott schon oft erlebt ... aber das hier war etwas völlig anderes.“ Amor kratzte mit der Zehe des einen am Knöchel des anderen Beines, und warf seinen Kopf in eine jener Versagerposen, wie man sie an manchen Bartresen anfindet, wo sich gescheiterte Seelen ihr eigenes Leben nicht erklären konnten. Mana zog an der Leine, Nasytboy stolperte mit seinen plumpen Füßen einen Schritt nach vorne und musste die Leine los lassen um sich an den Händen aufzufangen. Überall an seinem kleinen, hässlichen, nackten Körper rollte sich die graue Haut in Falten – und man konnte die abstoßenden Rippen zählen. „Wenn ich da an den einen Fall denke damals ... “ Amor machte eine theatralische Geste um seinen Worten Gewicht zu verleihen „Das Brustbein sprang auf und es spritzte nur so heraus wie schwarzes, zähflüssiges, stinkendes Öl – alles war voll von diesem Zeug – und darinnen nichts ... das heißt, es war so klein wie eine Erdnuss.“ Er schüttelte seinen Kopf als könne er seine eigene Erinnerung nicht glauben. „Ich meine, was führen die da auf? Wie kann man sich so gehen lassen?“ Nastyboy war zwar damit beschäftigt gewesen, der Leine nach zu schleichen, doch seine runden großen - nach oben hin spitz zulaufenden - Ohren hatten jedes Wort mitgehört, er neigte seinen runden Kopf, bleckte die zwei dünnen gelben Schneidezähne, leckte mit seiner schwarzen Zunge gierig darüber und meinte mir schnarrender Stimme: „Das hätte was für mich sein können, du Auswurf eines 16 Schleimdrachen.“ Mana zog sanft aber respektlos – wie Kinder es nun einmal tun - an der Leine und Nastyboy lief nur widerwillig weiter. „Und das ein Pfeil gar nicht erst reingeht – das hattest du noch nicht?“ fragte eine Stimme von so unfassbar tiefem Bass, das Amors Nachthemd zu vibrieren begann. Aus dem Schatten trat ein Schatten. Ein umwerfend großer Schatten für ein menschlich geformtes Wesen. Und so gut bestückt. Amor fühlte sich in seinem Nachthemd mit einem Schlag overdressed. „Nun ... meistens kratzt der erste Pfeil ein wenig an der Oberfläche. Bis zum zweiten Versuch ist das Herz meistens weich genug das zumindest die Pfeilspitze reingeht – der Rest entwickelt sich. Aber das ein Pfeil selbst beim dritten Mal nicht einmal die Oberfläche verletzt. Nein, so einen hartnäckigen Fall hatte ich noch nicht – ich bin aber auch erst seit siebzig Jahren im Dienst.“ Der nackte Schatten packte seinen muskulösen Körper auf einen der herumstehenden Sessel, und wirkte als hätte er sich in einen Kindergarten verirrt. Und keinerlei Schamgefühl. Amor versuchte nicht da hin zu sehen wo er hinsehen musste. „Mana, willst du Varis nicht mal etwas ... naja, du weißt schon ... Anstand beibringen?“ wandte sich Amor mit beschlagener Stimme an das kleine Mädchen das den kleinen nackten Waschbär-Vampir-Eidechsenmann, oder was auch immer, quälte, und verlor sofort die Hoffnung, das dieses Anliegen Bedeutung haben könnte. Nastyboy witterte das Unbehagen, hob seine Nase in die Luft und blickte Amor lüstern an. „Du hast da was.“ fauchte er und seine Zunge fraß mulmiges Gefühl. Amor verzog sein Gesicht als hätte er in eine bittere Frucht gebissen und wandte sich ab – dort aber wiesen lange Beine seine Blickrichtung. „Gott ... ihr seid so ... so ...“ 17 „Genau!“ schnarrte Nastyboy begeistert und rollte mit seinen großen Augen. Dann würgte er, weil Mana die Leine zu straff gezogen hatte – oder er sich zu vehement gewehrt hatte. Amor warf ihm einen angewiderten Blick zu und suchte oberhalb der gewaltigen Bauch- und Brustmuskeln – im Schatten – Varis Gesicht. „Wäre es zu viel verlangt, dich zu bedecken?“ Der gewaltige Schatten setzte sich in Bewegung, seine Ellenbogen stützten sich auf die Knie und das Gesicht schob sich ins Licht. Was für ein Gesicht. Eher eine Naturgewalt. Ein Fels. Amors Knie wurden weich. „Ich verstehe nicht.“ grollte es aus dem Brustkorb. „Ich meine ja nur.“ sagte Amor kleinlaut und schaute auf seine Zehen. „Und wir sollen die Karre jetzt aus dem Dreck ziehen?“ sagte die glockenhelle reine Stimme des Mädchens und hielt mit dem Rücken zu Amor inne. Die kupferroten Haare brannten über dem schwarzen Kommunionskleidchen und Nastyboy spuckte auf die schwarz polierten Lackschuhe der Kleinen, um seinen eigenen Rotz wieder abzulecken. „Nunja.“ stammelte Amor und spielte mit seinen Fingern „Wenns euch nichts ausmacht?“ Varis, Nastyboy und Amor blickten erwartungsvoll zu Mana. „Wie heißt der Junge?“ fragte Mana und drehte nur ein wenig ihren Kopf, sodaß man ihr linkes Ohr sehen konnte. „Nick. Nikolaus um genauer zu sein.“ Amor räusperte sich „Und er ist kein Junge ... zumindest wenn man aufs Alter ...“ „Halt die Klappe.“ tönte es zierlich aus Manas Richtung. Amor warf Varis einen verunsicherten Blick zu, dessen blauschwarzes Haar wie Seide über sein Muskelgebirge floss. Das Ungeheuer von Männlichkeit zwinkerte Amor zu. Und Amor wurde ganz anders zumute. Nastyboy kicherte und seine schwarze Zunge leckte Unbehagen, und spuckte es angewidert aus. Es war keine 18 hässliche Delikatesse von Unbehagen gewesen, sondern so ein Ding mit Lust und Liebe und so. Nastyboy wünschte er könne sich den Mund mit Eiter ausspülen. „Meinst du den Schwulen den du mit dieser Scheißkröte von gefallener Seele verkuppeln willst?“ klang es niedlich wie Kindergesänge aus Manas Mund. Amor verschluckte sich am eigenen Speichel, Nastyboy fuhr rasch seine Zunge aus und grunzte wohlig. „Ja, ich meine,... Sch... gefallene Seele stimmt nicht ganz, und ich will niemanden verkuppeln, ihr wisst genau das ich Anweisungen bekomme.“ „Vielleicht will dieser Nick ja nicht schwul sein, schon mal daran gedacht?“ brummte es aus den untiefen des Muskelgebirges. Nastyboy kicherte labil. „Das hat er doch nicht zu entscheiden, was er sein will.“ sagte Amor so entrüstet als hätte Varis soeben die Schwerkraft in Frage gestellt. „Haltet das Maul! Alle zwei!“ sagte Mana, immer noch mit dem Rücken zugewandt. „Ich hab da was. Einen Schwur. Dreizehn Jahre alt.“ Mana drehte sich um und Amor machte anstalten, in Deckung zu gehen. Ein Reflex aus alten Zeiten. Ihre grünen Augen fixierten Amor, der immer wieder davon überwältigt war, wie unerhört niedlich ihr Gesicht war, für den Job den sie hatte. Auf ihrer Alabasterhaut tanzten Sommersprossen und sie sah aus wie die personifizierte Unschuld. Satan, du elender Zyniker, dachte Amor, und Nastyboy schmatzte schon wieder. „Du wirst dir noch den Magen verrenken.“ spuckte ihm Amor vor seine schwarze Seele. „Was für ein Schwur?“ fragte Varis, und neigte sich so weit vor, das Amor seinen Atem über seiner Glatze hinweg spüren konnte. Gänsehaut zog ihm über den Rücken. Mana presste ihre Augen ganz fest zu, wie Kinder es tun wenn sie sich unsichtbar 19 machen wollen, und schrie mit der Stimme eines verzweifelten jungen Mannes: „ICH SCHWÖRE HIERMIT, NIE WIEDER ZU LIEBEN!!!“ schwarze Tränen bildeten sich in ihren Augenwinkeln, und als sie ihre wundervoll blattgrünen Augen öffnete, sah sie aus als hätte sie ein Cocktail aus Kajal, Mascara und Depression verunstaltet. Nastyboy zuckte zusammen, Varis blickte ernsthaft bestürzt drein – nur Amor begann herzhaft zu lachen. Erst als er bemerkte, das die Anderen ihn seltsam betreten musterten, nahm er sich beim Riemen und sagte wunderbar gelöst: „Kommt schon Leute. Ich schwöre hiermit, nie wieder zu lieben – das sagt doch jeder mal in seinem Leben.“ und um zu beweisen wie albern dieser Satz für ihn klang, lachte er noch eine Runde. Sein Publikum verstand jedoch nicht. „Also wenn der Satz ziehen würde – wäre die Menschheit längst ausgestorben.“ machte er sich lustig. „Also das ...“ sagte Nastyboy mit gerümpfter Nase über Amor „Das ist wirklich abstoßend.“ Um es vorwegzunehmen: Sascha wurde enttäuscht. Aber er wusste auch nicht, das Nicks Fahrrad neben einer Restmülltonne im Koma lag. Oder besser gesagt: lehnte. Und das dies bedeutete, das Nick sich zu Fuß auf den Weg in die Arbeit machen durfte. Die Schmerzgrenze, bis sich hoffnungslos Verliebte wirklich albern vor kommen, liegt verdammt hoch, und Buster neigte zu ersten Verhaltensstörungen, während Sascha – eingehüllt in Chanel No5 – an der Ampel stand und versuchte, beiläufig auszusehen. Nach nur dreißig Minuten erspähte er in der Ferne ein Fahrrad mit einem jungen Mann in legerer Kleidung. In seinem Magen brach ein Schwarm Heuschrecken auf und bekam berechtigte Panik. Sascha befeuchtete seinen linken Mittelfinger an seiner 20 Zunge, fuhr sich über die Augenbrauen und betete zu allen Dämonen die ihm bekannt waren, das er nicht plötzlich irgendwie entstellt aus sähe. Als der arglose Jüngling sich der Kreuzung näherte, bugsierte er Buster auf den Zebrastreifen, der sich aus gutem Grund dagegen sträubte. Es war rot. Oder besser gesagt – der arglose Jüngling hatte grün. Und er machte einen Salto über sein Mountainbike, als er sich in der Leine verhedderte, die sich zwischen einen offensichtlich Wahnsinnigen und seinem offensichtlich intelligenten Hund spannte. Saschas bodenlos entsetzter Blick galt weniger dem Malheur das er angerichtet hatte, sondern dem Umstand, das es nicht Nick war, der sich aus dem Beton schälte, ihn einen kranken Irren schimpfte und darauf bestand, nicht, gar nicht, und unter keinen Umständen angefasst zu werden. Nein. Auch nicht seinen Rucksack. Schon gar nicht seinen Rucksack. Buster hatte das vom Straßenrand aus beobachtet und überlegt, das er sich das einprägen müsse. Für irgendetwas müsse das einmal gut sein. Die Fußgängerampel sprang auf Grün und Buster setzte sich Schwanz wedelnd in Bewegung. Ab diesem Vorfall ging er mit seinem Herrschen gassi. Aber die Liebe wäre nicht die Liebe, wenn Sascha nicht bis zur Schwelle seiner Wohnung schon ein duzend Ausreden für seinen Angebeteten erfunden hätte. Buster trabte mit klackernden Krallen über den Parkettboden zu seinem Körbchen und warf sich dort schnaufend auf die Decke, während seine Stirn mehrere tiefe Runzeln zeigte, als er beobachtete, wie sein Herrchen zu seinem gläsernen Schreibtisch lief und der Maus einen kleinen Schubs gab. Der Rechner erwachte aus seinem Ruhezustand und das ästhetische Foto eines noch ästhetischeren Sixpacks zierte als Hintergrundlandschaft. Auf Socken – er trug sie auf seinen Füßen und nicht darunter – trabte er in die Küche, und Busters Falten über den Augen – die wie ein Radar den Fersen folgten – schoben sich entsprechend über die flache Stirn. Und wieder 21 zurück, als sich Sascha mit einer Tasse Kaffe - deren Aroma es in einem zähen Kampf mit Chanel No5 aufnahm und dabei nur mühsam den Sieg errang – auf den behaglich großen Stuhl vor seinem Rechner platz nahm. Das war der Platz, an dem Sascha für gewöhnlich den Vormittag über saß, und Websites programmierte. Heute beschloss er, sich einmal bestehende Websites anzusehen. Man musste Up-to-date sein. Mal sehen. Die Tastatur klackerte sanft unter seinen Fingerkuppen und mit einem beherzten Schlag auf die Enter Taste schickte er das Wort „Copyshop“ wie ein Stöckchen ins Weltweite Netz und erhoffte sich, das Google ihm das richtige bringen würde. Natürlich hätte er es sich denken können, dass das, was ihm der Generator an den Bildschirm klatschte, nur einen Heuhaufen nicht aber die berühmte Nadel brachte. Dennoch, manchmal kam man zu überraschend guten Ergebnissen wenn man es banal versuchte. Sascha überlegte nicht lange, fügte die Postleitzahl und den Namen der Gasse hinzu, und spürte, wie hundert Maikäfer von seinen Leisten bis zu seinem Herz hoch und wieder Retour wanderten, als die ersehnte Antwort an erster Stelle kam. Dabei entfuhr ihm ein vergnügtes Jauchzen und Buster kommentierte es mit einem müden „Wuff“. Saschas Ohren glühten und er schaffte es kaum, Luft zu holen, als er auf den Link klickte. Ich benehme mich wie ein pubertierendes Mädchen, schoss es ihm durch den Kopf. Diese Feststellung hatte er als eine Ermahnung in sein Bewusstsein geholt – doch erzeugte sie das Gegenteil. Offensichtlich hatte sein Herz weniger Schaden durch sein doch recht bewegtes achtundzwanzig jähriges Leben genommen, als er befürchtet hatte. Er war also wieder da. Er hatte doch echt gedacht, er würde nie wieder lieben können. Und nach dem Ende seiner letzten Beziehung vor zwei Jahren, aus der ihm Buster geblieben war, hatte er sich geschworen gehabt, nie wieder zu lieben. Nun, das hatte wohl nicht funktioniert, dachte er, als 22 sich die Site vor ihm aufbaute. „Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, ich hoffe das hast nicht DU verbrochen.“ entfuhr es seinen Lippen, als er das bunte Massaker aus hüpfenden, springenden und tanzenden Cliparts sehen musste. Diese Site war so etwas wie die Müllverwertungsanlage des World Wide Web. Wer auch immer sie verbrochen hatte, hatte zumindest ein Händchen für alles was für jegliche Form von Geschmack ohne Bedeutung war – oder zumindest einen gehörigen Patzen wirklich schlimmen, wirklich schrägen Humor. Sascha brach fast das Herz. Sollte sich dafür wirklich sein Augensternchen verantwortlich zeichnen, würde er sich einen ernsthaften Rückzieher überlegen. Zunächst aber galt es, so etwas wie ein Impressum und im besten Fall ein Verzeichnis über die Mitarbeiter zu finden. Auf gewöhnlichen Homepages war das kein wirkliches Thema – hier aber war es sogar gelungen, Text unlesbar unterzubringen. Für gewöhnlich tat sich Sascha solche Seiten keine drei Sekunden an, sie widerstrebten seinem Geschmack so dermaßen, das sie ihn beleidigten. „Komm schon, wer so etwas ins Netz stellt, beabsichtigt nicht, anonym zu bleiben.“ murmelte er zu sich selber, und Buster horchte auf. Als er entdeckte, das die animierten Gifs Links zu weiteren Seiten darstellten, war seine Geduld am Ende. Einzig die Hoffnung, den Namen seines Schwarms zu erfahren hielt ihn noch. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihm die Erinnerung an das T-Shirt mit der Aufschrift „Farbenblind“ in den Kopf, und sein Magen krampfte sich zusammen. Es war sogar sehr gut möglich, das er sich hier in eine gestalterische Amöbe verliebt hatte. Als er ein Gif entdeckte, bei dem sich zwei Clowns unablässig gegenseitig mit Holzhammern auf den Kopf schlugen, klickte er mit einer gruseligen Vorahnung darauf – und – wurde fündig. „Von Bildgröße hast du also auch noch nichts gehört“ murmelte 23 Sascha, als er lediglich den Ausschnitt eines Fotos sah, und die Scrollbalken unten und an der Seite ahnen ließen, wie groß es sein musste. Statt sich aber mit diesen Balken abzumühen speicherte er das Foto auf seinem Desktop ab und öffnete es in der Vorschau, während er einen Schluck von seinem Kaffee machte... an dem er sich Verschluckte, als das Bild sich fertig aufgebaut hatte. Kevin in seiner Vision als Rockstar. Komplettiert in Paint. Sascha beschloss, dies für sich nicht weiter zu kommentieren, es aber als skurriles Kleinod auf seinem Rechner zu belassen. Er öffnete erneut den Browser und scrollte herunter, in Hoffnung oder Angst, das konnte er nach den Impressionen der letzten Minuten nicht so genau sagen. Unter dem riesigen Bild erklärte eine Zeile, das man hier Kevin sah, den stolzen Designer dieser Seite – und manche ihn wohl auch als Killerkev wiedererkennen würden – und das er alle seine Fans recht herzlich grüße. Das Bild dürfe man übrigens gerne verwenden – auch für unanständige Dinge `zwinker´. Und noch ehe Sascha darüber in ein müdes grinsen verfallen konnte, zeichnete sich ein weiteres, deutlich kleineres Bild darunter ab. Sein Herz machte einen kleinen Sprung, als er das Scrollrad seiner Maus langsam bewegte – und – ihm das zeigte, wonach er gesucht hatte. So wie es aus sah, hatte Nick nicht gewusst, das er Motiv war – und der Bildqualität nach zu urteilen hatte ihn eine Handykamera erwischt. Sascha hätte einen Mord in Auftrag gegeben, wenn man ein Foto dieser Qualität von ihm in Umlauf gebracht hätte. Dennoch war er froh über dieses Bild, speicherte es ab und er musste unweigerlich bis über beide Ohren grinsen, als er ihn aus sprach, den Namen seines Angebeteten. „Nick.“ Dieser stand einsam und alleine und ohne Aufforderung zu unanständiger Verwendung unter dem Bild. Sascha malte sich aus, wie zäh der Kampf mit Killerkev gewesen sein musste, 24 unkommentiert auf der Seite verewigt zu bleiben. Und das sollte es auch gewesen sein mit seiner Produktivität an diesem Vormittag. In guter Absicht öffnete er beständig neue Ordner und Dateien, aber letztlich beschäftigte er sich damit, das Foto qualitativ aufzubessern. Dann und wann nervte er sich dabei selber, das er sich wie ein Kind benahm und wollte das Programm schließen ohne zu speichern... letztlich aber machte er sogar einen Ausdruck davon. „Ich bin kindisch, dumm und verrückt, ich könnte verstehen das du nichts von mir willst.“ sagte er zum ausgedruckten Nick, und weil er sich vor sich selber albern vor kam, versteckte er es unter einem Stapel Papier. „Wetten, du traust dich nie mit – Wenn ich du wäre, wär ich lieber ich – rumlaufen?“ sagte Kevin provozierend, als er dabei war, Stempelplatten in die dafür vorgesehenen Stempel zu kleben. Dabei hatte er es geschafft, bis zu seinen Handgelenken blau und schwarz verschmiert zu sein. „Das ist albern.“ erklärte Nick und legte einen Polsterbezug in die Bügelpresse. „Darum geht es doch.“ sagte Kevin begeistert, wackelte lustig mit den unsichtbaren Augenbrauen und fand sich sehr innovativ. „Außerdem hab ich den Spruch schon mal gelesen.“ wehrte Nick ab. Er war heute deutlich besser gelaunt und Kevin hatte einen Riecher dafür. Nick für dämliche Spielchen zu gewinnen war auch eine Art für Kevin, Frieden zu schließen. Schaffte er es, Nick zu irgendeinem Unsinn zu überreden, war die Welt wieder im Gleichgewicht. Man konnte ihm die offene Türe dann auch nicht mehr nachtragen. „Fünfzig Euro!“ bot Kevin. Nick klappte die Bügelpresse herunter und setzte sie in Gang. „Hör auf, gegen Geld mach ichs sowieso nicht.“ erklärte Nick, 25 wartete das Röhren der Maschine ab und öffnete sie. „Okay, okay ...“ schoss eine göttliche Eingebung in Kevin unerschütterliche Seele „Wenn du ich wärst, wär ich lieber du.“ dabei zeichnete er den imaginären Schriftzug plakativ in die Luft. „Wenn du ich wärst, wär ich lieber du?“ wiederholte Nick ungläubig „Was soll das heißen?“ „Mist“ sagte Kevin, als er den Stempel auf seinem Handrücken ausprobiert und fest gestellt hatte, das er ihn verkehrt herum eingeklebt hatte. „Konzentriere dich lieber auf deine Arbeit.“ mahnte Nick. „Würdest du?“ fragte Kevin unbeirrt, zog mit einer Pinzette die Stempelplatte ab und presste sie hundertachtzig Grad verdreht wieder drauf. „Würd ich was?“ sagte Nick, nachdem er die Füllung in den Polster gestopft hatte und den Reißverschluss zu zog. „Na das T-Shirt mit dem Spruch tragen ... in der Mittagspause.“ verhandelte Kevin. „Meinetwegen.“ seufzte Nick. Drumherum würde er doch nicht kommen, und er hatte schon wesentlich doofere Texte ausgetragen. Zudem verbrachte er seine Mittagspause ohnehin nur im Cafe ums Eck. In Kevins Gesicht entzündete sich irre Begeisterung, er rieb sich die Hände und hockte sich inspiriert vor seinen Rechner. „Ich hab was viel besseres.“ erklärte er kichernd, seine Schuhbandhaare schlenkerten in die Tastatur und krochen vereinzelt über seinen enormen Rundrücken. Nick bereute es bereits, und während er die Stellung hielt, konnte er hinter seinem Rücken vernehmen, wie Kevin sich der Erfüllung seines teuflischen Planes hingab und dabei in unregelmäßigen Abständen etwas zu Boden schubste oder kicherte. Nick half einer älteren Dame, Fotos ihrer Enkelkinder vergrößert zu fotokopieren, und beobachtete aus dem Augenwinkel wie Kevin 26 gerade begeistert nickend die Bügelpresse bediente. Ob er auf die Kunden auch so wirkte? So ... schlicht? Als Kevin merkte, das er beobachtet wurde, schob er geheimniskrämerisch seinen Rücken vor seine Kreation. Kind, dachte Nick als er sich zu seinem Rechner setzte und sich in seine Arbeit vertiefte – Preisänderungen an einer Speisekarte. Auch wenn es unmöglich schien – Kevin prustete gelegentlich, peinlicher weise auch wenn er einen Kunden bediente, unerwartet los – hatte er zumindest verdrängt, das eine Überraschung auf ihn wartete. Nick erhob sich, grub in seinen Hosentaschen nach Geld, zählte nach ob es für ein Coke und einen Toast reichte, und raunte Kevin, ein: „Mahlzeit.“ zu. Vielleicht, ja, vielleicht – die Chancen standen furchtbar schlecht – kam er heute ja davon. „Warte!“ rief Kevin, und das ganze Universum schien an einem Netz zu hängen in das Kevin sich verheddert hatte, und nun in sich zusammenstürzte. Das ganze Universum ließ sich durch einen nicht nummerierten, tausendvierhundertseitigen Bericht vertreten, der mitsamt einem Ordner, zwei Stempel, einer Tasse und etwa fünfhundert Büroklammern geräuschvoll zu Boden krachte und speziell für den Kleinram fast drei Minuten benötigte. Drei Minuten, in denen jeder in diesem Lokal einschließlich der beiden Mitarbeiter fünf Leute - inne hielt. „Ups.“ ertönte es als Schlusssynfonie von Kevin, der die ganze Zeit über seine Finger in das Shirt vor seiner Brust verkrampft hatte. Einen angemessenen Abstand zu diesem Geschehen abwartend entrollte er es und kommentierte es mit einem jauchzenden: „Tadaaaaa.“ „Wenn du dich wärst, bleib lieber mal, du!?“ las Nick. „Was soll das heissen?“ Kevin fühlte sich nicht im mindesten gekränkt, das Nick seinen genialen Witz nicht verstand. Immerhin verstand ja Nick nicht 27 worum es geht, und nicht er selber. Das bot einen hübschen Kontrast zum Rest seines Daseins. Aber er wollte mal nicht so sein, zeigte mit dem Finger die Worte die Nick noch einmal lesen sollte. „Wenn du dich wärst ... wärst ... w... was meinst du verdammt nochmal?“ Kevin schmunzelte. „Naaa? Wer wird denn da gleich ungeduldig werden?“ „Ich geh jetzt essen.“ wandte sich Nick dem stinkenden Angestelltenausgang zu. „Na probiers nochmal... wer... wehr... wehren. Und?“ „Du meinst wehrst?“ über dem Shirt wackelten nicht vorhandene Augenbrauen. „Das schreibt man doch völlig anders.“ seufzte Nick genervt. „Das ist ja der Wiiiihitz.“ erklärte Kevin und streckte Nick das Shirt entgegen. Nick hielt auf den Ausgang zu ohne es anzunehmen. „Ach komm schon, du hast es versprochen.“ Nick fuhr herum: „Kevin, das geht so nicht.“ er blickte in zwei sehr große sehr wimpernlose Augen in einem sehr ovalen Gesicht, „Okay, gib schon her.“ riß sich seine Weste und sein Shirt mit dem Aufdruck: Ich hab Kenny getötet, aus einer früheren Wette, vom Leib und stülpte sich jenes mit dem blödesten Spruch aller Zeiten über. Darüber zog er seine Weste, und sobald er aus dem Geschäft und dem stinkenden Vorort der Hölle - wie sie den Hauseingang liebevoll nannten - getreten war, zog er den Reißverschluss bis oben hin zu. „Ich fühle mich irgendwie verkleidet.“ sagte Varis unglücklich. Vor ihm stand ein Tisch, der durch ihn lächerlich wirkte. Er konnte die Tischplatte beinahe auf seinen Knien balancieren. An seinem Tisch saßen noch Mana und Nastyboy. Varis streckte seine Hand aus, der Ärmel des grauen Sweaters reichte 28 ihm bis zum halben Unterarm. Er spannte zu den Achseln hin und über den Rücken, und zwischen ihm und der eng sitzenden Jogginghose blitzte ein fünf Zentimeter breiter Streifen Haut hervor. Unablässig zupfte der Hüne an der Kleidung wie eine nervöse Discoqueen. Amor hatte sich von der peinlichen Truppe abgesetzt und beobachtete sie geringschätzig. Das Cafe war quasi leer und die Kellnerin – eine dünne, große Frau die man am höflichsten mit mittleren Alters – beschrieb, lehnte gelangweilt hinter der Bar, blätterte in einer Zeitschrift und rauchte. Amor stand, einen Arm auf die Kaffeemaschine gestützt, neben ihr und versuchte lässig zu wirken. Sie konnte ihn nicht sehen, wie sie auch die drei anderen nicht wahrnehmen konnte, aber Amor hatte das Bedürfnis, sich mit zu teilen. Es war nicht so das er sich den anderen nicht gewachsen fühlte – er hatte nur eine gewisse Affinität zu großen, schlanken und dunkelhaarigen Frauen mit leicht verlebtem Gesicht – wie schon zu seinen Lebzeiten. Und wie zu Lebzeiten plauderte er über Gott und die Welt, nur das es es jetzt etwas mehr Gott war und etwas weniger Welt war. „Stellen Sie sich Gott als den Firmenchef eines Imperiums vor. Alles läuft von selber. Menschen verlieben sich, Menschen töten sich, sie provozieren Naturkatastrophen und Nobelpreisträger. Seine Mitarbeiter vergnügen sich mit Mutproben oder privaten Hobbys und Gott vergnügt sich beim Golf und interessiert sich für teure Autos und Frauen. Aber in regelmäßigen Abständen bekommt er das Chef-Syndrom. Die Idee, er wäre nicht wichtig genug, der Laden könnte ohne ihn besser laufen, oder so etwas, überfällt ihn und er beschließt, wichtig zu sein. Also trabt er eines Tages wie von der Tarantel gestochen durch die Büros und befielt Mana: ,Hol einen kleinen, dicken, Mann mit Halbglatze und schaff ihn in mein Büro, ich hab da eine Idee.' Und keine Stunde später, ich bin gerade beim pinkeln, tippt mir 29 jemand auf die Schulter. Ich dreh mich um und sehe in das schönste Puppengesicht und die wunderbar grünsten Augen die ich je gesehen habe.“ Amor nickte kurz Richtung Mana, die versuchte auf Nastyboys Kopf ein Häuschen aus Untersetzern zu errichten. „Sie sagt nichts, sondern geht einfach wieder. Auf einmal spüre ich, wie der Lebensmut aus mir heraus fließt als hätte man irgendwo am Rücken einen Pfropfen entfernt und keine vierundzwanzig Stunden später ertränke ich mich in einer Regentonne. Nein, das ist nicht witzig. Ich – völlig verdattert – aber mit einer tiefen Ahnung wo ich bin, Macher von diversen so-schaut-es-im-Himmel-aus Filmen müssen schon mal da gewesen sein, werde in SEIN Büro gebeten. ER hält sich nicht lange mit Höflichkeiten auf, sondern erzählt mir sofort, das er einen Job für mich habe. Ich solle bewirken das Menschen sich verlieben. Ich sag, mit Verlaub, aber das tun sie doch sowieso, und denke an die große, dünne Mathilda die mich vermutlich gerade heulend aus der Tonne fischt. ER aber hört kaum richtig zu, ist ganz versessen von seiner Idee, irgendwelche spannenden Situationen zu erschaffen. Sag ich, bei allem Respekt, aber er solle sich doch mal umschauen, wir haben gute sechs Milliarden Menschen, da gäbe es mehr Unglück als er verkraften kann, falls er es darauf anlegen würde. Und dann winkt er ab. Nein, nein. Sagt er. Ich würde das nicht verstehen. Das wäre wie fernsehen. Es wäre bunt und laut und unheimlich nervtötend, wenn er sich den ganzen Mist da unten ansehe. Er hasse fernsehen. Manchmal, zur Entspannung, da wäre es schon okay, aber er sehne sich mehr nach etwas eigenem. Sag ich, nun Herr, Ihr seid Gott, sag ich, ich dachte immer, Ihr habt das Programm erschaffen. Und dann bekommt er plötzlich so einen Schleier über seine Augen und meint, das es genau darum ja ginge. Bei der Schöpfung damals, da habe er sich richtig kreativ gefühlt. Nützlich. Aber dann habe er die Menschen sich selber überlassen, immerhin habe er ja auch noch seine Schwäche für 30 Golf, schöne Autos und Frauen, wenn ich verstehe was er meine. Mir liegt schon auf der Zunge – das, was er mir vorhin genommen habe? - aber ich komm nicht mal dazu, das fertig zu denken, da beginnt er mit einem Monolog, wie kreativ er doch manchmal sei. Er fängt an mir eine Geschichte nach der anderen zu erzählen die er selber initiiert hätte und fragt mich nach ein paar Duzend Namen, ob ich die kennen würde – von denen mir über zwei drittel überhaupt nichts sagen. Sicher, Jesus, Hitler, Curt Cobain, aber der Rest – nullachtfünfzehn Leute – für die Menschheit unbedeutende Randfiguren – aber er entflammt gerade für die besonders. Und dann, ich will gerade weg pennen, weil es billiger Trivialschrott ist den er mir da auftischt, erklärt er, das es kein Zufall wäre, das ich hier sitze. Wäre ja noch schöner, was? Er meint, er habe letztens auf dem Golfplatz eine Idee gehabt, eine Eingebung quasi, und er habe Lust, sich wieder ein wenig einzumischen. ER wolle nicht fernsehen, er wolle Ressigeur sein. Er wolle kreativ sein, etwas erschaffen. Oder zumindest wolle er etwas mitrühren in der Suppe seines Unterhaltungsprogrammes und dafür habe er mich kommen lassen. Ich fühle mich geehrt, ich wollte schon immer Gottes Pausenclown sein, murmle ich, aber er überhört es und meint, ich solle Liebesbote werden. Sie können sich vorstellen – ich guck an mich runter – ein kleiner, dicker Mann mit Halbglatze, unter Liebesbote hatte ich mir was einigermaßen ... anderes ... vorgestellt. Und da erzählt er schon von Spiderman, Superman, Batman, und ich denke mir, was hat der Typ? er beginnt zu schwärmen wie schlicht das Konzept sei – und doch, keiner müsse erklären wer Batman sei, man würde ihn auf den ersten Blick erkennen. Er bewunderte die Marketingstrategie, das dieser Kerle quasi wandelnde Logos seien, und ich frag mich, ob ihm bewußt ist, das es erfundenen Superhelden seien, sie nicht wirklich existieren. Aber er fährt fort, das er das Konzept so genial fände, das er sich für mich das selbe überlegt 31 habe. Wow, denke ich, und sehe mich schon als Adonis wie eine Rakete durch die Lüfte schwirren, da drückt er eine Fernbedienung und ein Bild projeziert sich – quasi in die Luft. Darauf ist eine Witzfigur zu sehen, tadaaa.“ und Amor zeigte auf seinen kleinen unförmigen Körper in Nachthemd und verzog sein Gesicht. „Ich hasse den Scheißkerl. Aber ich hasse auch Mana. Ich meine, sie hatte die Aufgabe irgendeinen kleinen fetten Kerl ohne Haare zu holen, musste das ausgerechnet ich sein? Und dann Varis. Oh ja. Ich meine, sehen Sie sich ihn an, und dann sehen sie mich an. Ich muss ihn hassen. Er ist alles was ich nicht bin. Und Nick? Hörn Sie auf. Den hasse ich ganz besonders. Ich meine, dieser dumme Schwur, das ist doch eine reine Kriegserklärung gegen mich. Mich würde nicht wundern, wenn ER das so inszeniert hätte, das sadistische Miststück. Ich sag Ihnen was. Der einzige von dem ganzen verdammten Haufen, dem ich etwas abgewinnen kann – das ist Satan. Jawohl. Der rekrutiert keine Mitarbeiter, der spielt keine Spiele weil er sich kreativ inspiriert fühlt. Er weiß was er will und setzt es durch. Direkt. Er vertraut da keinem. Das finde ich ehrlich und direkt. Er fackelt nicht lange herum. Er will eine Seele? Dann geht er hin, macht ein Angebot. Er selber. Persönlich. Keine Mätzchen – wer es mit ihm zu tun hat weiß worauf er sich einlässt. Ich meine, bei Gott ist sich doch eh jeder unsicher und überlegt und weiß nicht recht oder verbeißt sich fanatisch, sowas hat Satan nicht nötig. Seine Existenz ist einfach nichts das jemand in Frage stellt, keiner wankt ob er an ihn glauben soll.“ Amor blickte hinüber und bemerkte, das Varis sichtbar einen Entschluss gefasst hatte und seinen massigen Körper bis unter die vergilbte Decke hob. „Das geht so nicht!“ tönte es aus seinem Brustkorb, packte mit seinen Händen den Kragen und riss den Sweater einfach 32 entzwei und entblößte das Muskelgebirge, das beinahe wie nach einer Regenzeit dampfte. Das Haar floss in sein Gesicht, als er seine Hände an den Hosenbund setzte, und mit seiner Hose dasselbe machen wollte. „Nicht!“ rief Amor flatterte mit seinen lächerlichen Flügeln zu seinen Mitarbeitern und hob seine Hand. „Bitte nicht.“ „Ich fühle mich lächerlich in dem Fummel.“ erklärte Varis verzweifelt. „Erstens: Das ist kein Fummel.“ Amor fasste sein Nachthemd, zog lieblos daran und sagte: „Das ist ein Fummel. Und Zweitens: Ohne Hose wärst du lächerlich.“ Amor und Varis Blicke kreuzten sich. „Okay, lächerlich ist das falsche Wort.“ revidierte Amor „Aber du kannst hier nicht nackt herum laufen.“ „Ich laufe nicht herum.“ brachte Varis hervor, gab sich aber vorerst besänftigt. Amor versuchte, das Thema von vorhin wieder auf den winzigen, runden Tisch zu bringen. Es war beinahe unmöglich, eine simple Abmachung zu treffen. Jeder der vier Anwesenden - außer Amor selbst natürlich - schien völlig fasziniert von einer Welt zu sein, die nur von innen bis zur eigenen Haut reichte. Egozentriker und Narzisten, dachte Amor abschätzig, lächelte aber freundlich wie eine asiatische Stewardess – und genauso ehrlich. Gerade als er das Thema aufgreifen wollte, öffnete sich die Türe des kleinen Cafes und Nick schlurfte herein. Sein Platz war frei. Nun, es war nicht wirklich sein Platz, aber es war der einzige im ganzen Lokal, an dem Nick sich willkommen fühlte. Er lag in der hintersten Ecke und man konnte von ihm aus das gesamte Cafe überblicken. Das machte den Platz theoretisch attraktiv für andere Gäste und so marschierte er zügig darauf zu, obgleich niemand ihm den Platz streitig hätte machen können. Er war der einzige Gast. Der 33 einzige für Menschen wahrnehmbare Gast. Und obgleich er alleine war – mit Ausnahme der chronisch demotivierten Kellnerin, fühlte er sich beobachtet. Nick war ein scheuer junger Mann, und er beherrschte die Kunst, unsichtbar zu sein. Und obgleich er jeden Mittag unter der Woche dieses Cafe besuchte, und jedes Mal das selbe bestellte, behandelte die Kellnerin ihn wie einen Fremden und kritzelte jedes Mal seine Bestellung auf ihren kleinen Block. Ein Coke und ein Toast. Selbst wenn es wirklich eine unerwartete Bestellung eines unbekannten Gastes gewesen wäre, angesichts der vollständigen Abwesenheit anderer Gäste, hätte sie sich das auch so merken können. Nick fischte sein zerfleddertes Notizbuch aus seiner hinteren Hosentasche und legte es auf den Tisch. Sein Blick huschte rasch durch den Raum. Es war keiner da. Dennoch, er fühlte bohrende Blicke. Die Kellnerin stand mit dem Rücken zu ihm und klatschte seinen Toast in den Toaster. Nick öffnete sein Notizbuch und blätterte es auf einer x-beliebigen leere Seite auf. Er ging nie nach Reihenfolge vor, und am liebsten mochte er rechts liegende Seiten die frisch und unverbraucht wirkten, wo sich nichts von vorangegangener Arbeit durch drückte. Am Deckel des Notizbuchs klemmte in einer Schlaufe ein Bleistift mit einem Radiergummi an seiner Rückseite, der allerdings im Metallring verschwunden und daher unbrauchbar geworden war. Nick hatte nichts, das ihm wirklich etwas bedeutete. Die Wohnung war nur dazu da, nicht im Park schlafen zu müssen. Sein Job im Copyshop diente im Grunde genommen demselben Ziel. Sie war nicht übel, die Arbeit, vermutlich besser, als für Fremde Toasts zuzubereiten, aber sie diente, wie wohl bei den meisten, bloß dazu, seine Existenz, nicht aber seine Fähigkeiten zu etablieren. „Ein Toast, ein Coke.“ sagte die rauhe Stimme der Kellnerin 34 lahm, als sie Glas und Teller klirrend auf den Marmortisch stellte. „Ich zahl gleich.“ sagte Nick und obwohl es jeden Tag dieselbe Bestellung war, variierte der Preis ständig. Hätte Nick ein bisschen mehr Interesse an seiner Umwelt, wäre ihm auf gefallen, das er anhand der Preise den Zyklus der Frau berechnen hätte können. Aber vermutlich, sicher, interessierte ihn das überhaupt nicht. Und während sie hinter den Tresen zurück wackelte, neigte sich Nick wieder über sein Notizbuch, ohne den lauwarmen Toast zu beachten. Nick hatte keine Freunde - außer man wollte Kevin zu einem solchen zählen - und zu seiner Familie hatte er so gut wie keinen Kontakt mehr. Vater hatte er ohnehin nie gehabt, und seine Mutter war ihr Leben lang sehr beschäftigt mir ihrer Wirkung auf andere Leute und ihre Probleme damit gewesen. Und seit einem tragischen Vorfall, den Nick so beharrlich aus seinem Bewusstsein Strich, das er ihn in seinen Träumen verfolgte, war er aus seinem Heimatkaff weg gezogen in die nächstgrößere Stadt. Dort nun wartete er. Nun, er wartete auf nichts bestimmtes. Er wusste noch nicht einmal, das er wartete. Er vermied es nur einfach, zu leben. Das einzig lebendige an ihm war seine Hingabe für Zeichnungen. Hunderte, vermutlich tausende von Zeichnungen, die er ständig und überall anfertigte, aber niemandem zeigte. Wem hätte er sie auch zeigen sollen? Kevin! Aber jemand der etwas davon verstanden hätte, hätte das Talent erkannt und Nick vielleicht sogar motiviert, etwas aus seinen Fähigkeiten zu machen. Doch war es genau das, was Nick auch vermied. Oder vermieden hätte, hätte sich diese Chance geboten. Heraus zu treten aus seinem unsichtbaren Dasein hätte vielleicht bedeutet, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, sich auf andere Menschen einzulassen. Nicht das Nick nicht in der Lage wäre, verantwortlich zu sein. Das er seine Wohnung und seinen Job halten konnte bewies, das er 35 zumindest etwas richtig machte, was Kevin zum Beispiel nicht schaffte. Kevin aber war grundsätzlich verschieden. Nick suchte wieder das Cafe nach einem Beobachter ab. Dann ergriff er seinen Toast der kalt geworden war und verschlang ihn mit nur drei Bissen. Das war trocken und eklig und er stürzte sein Coke hinterher. Nun hatte er nicht nur einen ekligen, sondern einen eklig süßen Geschmack im Mund. Nick seufzte. Er war nicht glücklich, aber das wusste er nicht. Vielleicht ahnte er es, aber er versuchte, darüber nicht nach zu denken. Sein Blick senkte sich auf das Motiv das er heute gezeichnet hatte. Und er war schwer überrascht. Offenbar hatte ihn das leere Cafe inspiriert. Auf seiner Zeichnung fanden sich ein nackter muskelbepackter Mann mit langem seidigen Haar, ein kleines Mädchen mit langen Locken in einem dunklen Kleidchen, ein ebenso kleiner wie dicker Mann ohne Scheitelhaar im Nachthemd wieder, – und – nun, eine Kreatur die ihn irgendwie an Kinskys Nosferatu in einem Rattenkörper erinnerte. Sie alle starrten zu ihm her. Ein kalter Schauer kroch ihm über den Rücken und er ließ seinen Blick von dem leeren Kaffeehaustisch vor ihm, und der Zeichnung in seinem Notizbuch hin und her schweifen. Es passierte ihm gelegentlich, das er nicht merkte was er zeichnete, aber selten entstanden so seltsame Figuren dabei. Rasch packte er den Stift in die Schlaufe, das zerfledderte Buch in seine Hosentasche und verließ das Lokal. Nicht, ohne noch einmal auf den Tisch zu blicken, den er, um schaurigen Figuren komplettiert, gezeichnet hatte. Die Wohnung war hell gehalten, und durch die weißen Wände und das vollkommene Fehlen von Wandverbau oder ähnlichen Schränken, dafür aber akkurat aufeinander abgestimmten Acrylbildern wirkte sie regelrecht steril. Der Schreibtisch aus Glas, das Designerkörbchen von Buster oder der harmonisch in 36 den Raum gewachsene Bereich der Küche, verstärkten den Eindruck. Und selbst diese Küche, die mehr einer Bar in einem Szenelokal glich – nur ohne Alkoholbestände – vermittelte ein Wohnungskatalogflair – oder zumindest das visuelle Aroma einer Arztpraxis. Sascha fügte sich harmonisch in das Bild, selbst beiläufig gewählte Freizeitkleidung schien zuvor exakt aufeinander eingestimmt worden zu sein. Selbstredend, das das Handy das er an sein Ohr hielt nach Design und nicht nach Funktion ausgesucht worden war. Was brauchte es auch mehr können als telefonieren – für alles andere hatte er entsprechend ausgewähltes technischen Schnickschnack. „Hallo meine Süße. Wie geht es dir?“ trällerte er vergnügt ins Telefon. „Nein, ich wollte nur nett sein, es ist ein schöner Tag.“ „Nein, wieso denkst du das ich etwas brauche?“ „Das stimmt nicht, ich rufe auch sonst an.“ „Jetzt zum Beispiel.“ „Apropos ...“ „Nein, nicht du hast es ja gewusst. Ich wollte nur fragen, ob die Pläne in Ordnung waren.“ „Nur so.“ „Es hätte ja sein können, das etwas nicht stimmt.“ „Dann ist es ja perfekt. Brauchst du noch was von dort?“ „Noch eine Kopie vom Plan, zum Beispiel.“ „Was weiß ich, vielleicht braucht man ja mehr als zwei Kopien, ich meine, es ändert sich doch gelegentlich etwas.“ „Ja?“ „Oh, ja, die Änderungen auf deiner Homepage. Ja, ähm, klar, ich bin quasi schon dabei. Aber ich hatte mehr an etwas gedacht, wie Dinge vervielfältigen lassen.“ „Weil ich auf der Tour mit Buster dieses Geschäft entdeckt habe, und wenn ich ohnedies vorbei gehe, könnte ich doch gleich ...“ Sascha hob einen Stapel Papier auf schaute sich Nick 37 an. „Wie kommst du denn darauf?“ er ließ den Stapel rasch auf das Foto klatschen, als wäre er ertappt worden. „Das stimmt nicht. Ich hab mir nur gedacht ich könnte, wenn ich doch sowieso schon, aber muss ja nicht. Passt schon.“ „Nein, ich bin nicht beleidigt.“ „Nein, bin ich nicht.“ „Nein, sonst ist nix. Das war alles.“ „Tschüs, Schwesterherz.“ Sascha seufzte, als er das Handy von seinem Ohr nahm. Das war ja mal gehörig daneben gegangen. Sascha hob nochmal den Stapel auf und blickte seufzend auf den abwesend drein schauenden Nick. „Da müssen wir uns wohl was eigenes einfallen lassen, Buster.“ sagte er und der Terrier kläffte zustimmend. Nick wurde durch das hysterische Keifen einer Dame aus seiner Notizbuchmedidation gerissen. Die seltsamen Gestalten fesselten ihn. Sie waren untypisch für ihn. Wer das Notizbuch durchblätterte könnte fast denken, da hätte sich ein fremder Zeichner versucht. Der Stil war wohl seiner, aber das Motiv war fremd. Ihm ging es nicht ein, wie er darauf gekommen war, obgleich er fast begeistert war von diesem Kreativitätsschub. Er fragte sich, was ihn so inspiriert hatte. Es wäre praktisch, sich das zu Eigen zu machen. „Da kann ich doch nichts dafür, dass Ihre Tochter nicht schön ist.“ hörte Nick einen recht besorgniserregenden Satz aus Kevins erregten Kehlkopf schnellen. Kevins Gesicht hatte eine gesunde Farbe angenommen, im Vergleich zu der hageren Frau – Typ Chefsekretärin – wirkte er aber immer noch anämisch. Nick fühlte den Deeskalationsbeauftragten in sich an die Oberfläche kriechen während er langsam in die sich verdichtende Situation glitt wie durch ein Sternentor. 38 „Kann ich helfen.“ sank sein Angebot ruhig in den angespannten Kokon unüberwindlicher Differenzen, in denen sich Kevin und die Kundin befanden. „Das kann unmöglich Ihr Ernst sein!“ kreischte es aus dem rotgefleckten faltigen Hals und Nick dachte an eine Schildkröte. Er fühlte sich wie ein Alien der sich zwischen Bush und einem anderen Atombombenbesitzer wiederfand und den der Konflikt irgendwie nichts anging, außer, das er mit in die Luft gehen würde, wenn jetzt jemand die Nerven verlor. Er fühlte sich ein bisschen belustigt aber auch etwas beunruhigt. „Sie sind nicht zufrieden mit der Arbeit dieses Mannes?“ fragte Nick, und spürte, dass Kevins Körpertemperatur stieg und den Kokon der unüberwindlichen Differenzen erhitzte. Die Frau rang kaum um Fassung als sie Nick das T-Shirt entgegenhielt, das neben einer beachtlichen Menge Staub und Haaren auch eine hübsche Quetschfalte vom rechten Auge zur linken Schulter des Motivs – dem Portrait eines Kleinkindes – zierte. „In Afrika sterben Kinder!“ gab Kevin von sich – für ihn war die Sache sonnenklar. Die Schildkrötenfrau japste erregt: „Was hat das denn damit zu tun?“ Kevin klappte erst das Kiefer herunter, ein rascher Farbwechsel überzog sein Gesicht. „Ist Ihnen eigentlich klar, wie viele Kinder in Afrika erfrieren müssen – und Sie pudeln sich auf weil Ihre Tochter nicht schön ist?“ „Das ist eine bodenlose Frechheit. So einen Unsinn muss ich mir nicht anhören!“ klang es aus der Kundin beinahe wie eine Arie in einer besonders emotionalen Oper. Eigentlich schade, das ich das hier beenden muss, da versprechen sich noch einige interessante Wendungen, dachte Nick, als er beide Arme hob wie Jesus als er Wein und Brot segnete. „Beruhigen Sie sich doch, es ist nichts Schlimmes geschehen.“ 39 sagte er sanft zu der Kundin, die inne hielt als wolle sie erneute Kraft für eine weitere Arie ansammeln. „In Afrika verhungern die Kinder nur, sie erfrieren nicht.“ erklärte Nick Kevin, und erreichte damit, das die Frau tatsächlich Abstand von ihrer zweiten Arie nahm und ihn fast ebenso empört anschaute wie Kevin. Nick legte das Shirt langsam und behutsam zusammen, reichte es Kevin und sagte: „Du hast doch noch Kontakte in Namibia?“ „Ja?“ sagte Kevin langsam und nahm das Shirt entgegen. „Gut.“ und an die Kundin gewandt „Wie heißt ihre Tochter?“ „Jaqueline.“ sagte diese, als wäre sie ein Schlauchboot dem man die Luft ausgelassen hatte. „Sie bekommen selbstverständlich ein neues T-Shirt.“ „Sie schicken ein T-Shirt mit dem Motiv meiner Tochter nach Afrika?“ fragte die Kundin verstört. „Selbstverständlich mit schönen Grüßen von Jaqueline.“ sagte Nick freundlich „Wenn Sie sich ein bisschen gedulden, ich mache ihnen ihr Shirt sofort neu.“ meinte Nick und marschierte mit dem Foto von dem keinen Mädchen an den Farbkopierer, legte die Textilfolie in das Seitenfach und drückte am Touchscreen herum. Die Frau folgte zögerlich, und drehte sich dabei nach Kevin um, der versuchte, das Shirt in einen Umschlag zu quetschen. „Afrika.“ sagte sie nochmal. „Namibia. Außer natürlich, Sie möchten es kaufen.“ erklärte Nick und drückte auf die Start Taste. „Aber es hat eine Falte mitten durch.“ „Das ist den Kindern in Namibia egal. Keine Sorge, die werden sich sehr freuen.“ beruhigte Nick sie, nahm die Kopie und machte sich daran, ein T-Shirt auf zu spannen. „Und wenn ich es kaufe? Ich meine, zu günstigeren Konditionen natürlich.“ fragte sie, während die Bügelpresse röhrte. 40 „Sie wollen den Kindern das T-Shirt weg nehmen?“ entfuhr es Kevin enttäuscht. Nick entfernte das Trägermaterial und zeigte der Kundin das einwandfreie Ergebnis. Sie schien kaum Augen dafür zu haben, rang sich zu einer Entscheidung durch. „Okay. Ich zahle den vollen Preis – wenn er den Kindern gespendet wird.“ „Das würden Sie tun?“ schoss es so begeistert aus Kevin, das die Schildkrötenfrau fast verlegen wurde, und er packte das fehlerhafte T-Shirt zum Neuen. Aus Kevin sprudelte es daraufhin nur so heraus, er versicherte zweihundert mal, das das die tollste Geste wäre die er je miterlebt habe und er überlege, einen Award für besonders herzensgute Kunden zu entrichten. Als die Kundin endlich das Lokal verließ, war es ihr egal, ob es namibische Kinder gab. Kevin steckte das Geld, das er wie ein rohes Ei anfasste, in ein Kuvert für die Spende. „Bist du Jesus oder sowas?“ fragte Kevin Nick. „Kann sein.“ murmelte Nick und schlug nachdenklich sein Notizbuch zu um es wieder in seiner Jeans zu verstauen. Gedanken an seinen unbekannten Vater schnellten hoch. „Vielleicht bin ich ja sein Bruder.“ Auf einer beliebigen Straße zu einer beliebigen Zeit: Die Scheinwerfer beleuchteten das Heck des weißen Hondas vor ihm, als der Autofahrer sich aus den Gedanken über die Arbeit in die Verpflichtung seines Privatlebens schälte. Im Radio plärrte ein Oldie von dem er nichts mit bekam, und seine Hände verkrampften sich um sein Lenkrad, während er über die Landstraße Richtung Heimat bretterte. „Schreib zumindest einen Abschiedsbrief.“ sagte eine Mädchenstimme hinter ihm. Der Autofahrer zuckte zusammen, schaute in den Rückspiegel und schraubte am Lautstärkeregler des Autoradios herum. Er fühlte sich mit einem Mal sehr aufmerksam, fast schmerzlich im Jetzt verhaftet, als er es 41 wieder hörte. „Wenn du dich umbringen willst, dann schreibe wenigstens einen Abschiedsbrief.“ sagte die Mädchenstimme wieder. Über den Rücken des Mannes lief der kalte Schauer. Er konnte das Mädchen nicht sehen, aber es war da, er konnte es definitiv spüren. Du wirst verrückt, dachte er bei sich, und sagte laut: „Ich habe nicht vor, Selbstmord zu begehen.“ Mana, für ihn unsichtbar, saß auf dem Rücksitz und bürstete mit einer weichen Bürste für Babyflaum über Nastyboys nackten Schädel. „Du fährst mit 90 Kmh und hältst nur zweieinhalb Meter Abstand zum vorderen Wagen. Wie würdest du es nennen?“ sagte Mana. Über die Nase des Fahrers sammelte sich Schweiß - vorsichtig bremste er runter. Wurde er verrückt? Kaum hatte er den Abstand zum Wagen vor ihm auf fast fünfzig Meter vergrößert, machte der weiße Honda eine Vollbremsung wegen eines Damhirschs der unvermittelt die Straße querte. Der Fahrer vor ihm hatte es geschafft, rechtzeitig zu bremsen, er nicht, hätte er die Stimme des Mädchens nicht vernommen. Sie mussten nicht unsichtbar sein, es bestand keine göttliche Pflicht dazu, oder so etwas. Es war in den allermeisten Fällen bloß einfacher. Speziell für Varis, der eine ausgeprägte Liebe für das Nacktsein entwickelt hatte. Amor argwöhnte, das Varis einem Tier ähnlicher als einem Menschen wäre, doch wie sollte er seine eigene scheinbare Affinität zu seinem Nachthemd erklären? Vermutlich war Varis ein ebenso von Gott erschaffenes Markenprodukt wie er selber und die Vorliebe der Blöße, mit diesem Körper, eine Art running Gag. Ja, SEIN Humor war manchmal etwas seicht, wer konnte das besser fest stellen, als jemand der mit weißen Plüschfutteralen und Pinkfarbenen Pfeilen herumlaufen musste und bei jeder 42 Bewegung Glitzerstaub verlor? Mana musste in einem Zustand tiefer Verzweiflung erfunden worden sein, speziell diese Puppe. Eine Schutzheilige für Freitodsuchende, spöttelte Amor bitter, damit wäre die Frage geklärt ob ER trinkt. Wenn die Christen das wüssten, dachte Amor und ihm entkam ein zynischer Lacher. Varis, Amor und Nastyboy sahen ihn an. „Ich mag was trinken.“ quengelte Mana, die manchmal, bei all ihrer Düsternis, doch ziemlich Kind sein konnte. „Jemand sollte mit ihr sichtbar werden, Menschen werden argwöhnisch, wenn Kinder alleine in Cafes herum sitzen.“ erklärte Amor schulmeisterlich. „Ich machs.“ schnarrte Nastyboy, der sich versprach, aus dem Ekel und dem Entsetzen der Kellnerin ein delikates Mahl zu gewinnen. Aber er wurde vollkommen ignoriert, wie meistens. Er wurde nur als dummes Spielzeug von Mana betrachtet und in ihm wuchs seit geraumer Zeit Lust auf Rache. „Eines Tages werdet ihr sehen, was ihr davon habt, mich zu diskriminieren.“ murrte er, aber keiner hörte zu. Stattdessen fochten Amor und Varis einen Kampf der stillen Zuweisung aus. „Unmöglich!“ raunte Amor und zupfte an seinem Nachhemd „So lasse ich mich nie und nimmer blicken.“ Vor allem nicht bei einer solch heißen Braut, dachte er und schaute sehnsüchtig zur Kellnerin. „Okay.“ sagte Varis und noch ehe Amor reagieren konnte hatte er sich mit Mana sichtbar gemacht. Amor schlug sich mit der Faust auf die Stirn. „Doch nicht nackt, doch nicht nackt.“ „Ich bin nicht nackt.“ erklärte Varis tiefe Stimme und zeigte auf seine sehr knapp sitzende Jogginghose. Wer so aus sieht, sieht selbst in einem Pullover nackt aus, dachte Amor zermürbt, also ist es eigentlich egal. Nicht egal jedoch war ihm der Blick der Kellnerin, als sie Varis entdeckte. Amor konnte förmlich 43 riechen, wie ihre Drüsen den Motor anwarfen und sie mit Hormonen überschwämmten. „Ich habe euch gar nicht reinkommen sehen.“ war es die privateste und höflichste Rede die ihr seit Wochen aus dem Mund gefallen war. Rasch betastete sie ihr Haar und kämpfte gegen ihre Gesichtsröte – vergebens. Das ist doch peinlich, dachte Amor eifersüchtig. „Was kann ich für Sie tun?“ hauchte sie und ließ ihren Blick über das dampfende Muskelgebirge gleiten. „Drei große Gläser Himbeersaft und einen Napf frisches Wasser.“ brummte es aus dem gewaltigen Brustkorb. Nur widerwillig lösten sich die Augen der Kellnerin von Varis, um fest zu stellen das nur zwei Personen am Tisch sitzen. Sie neigte ihren Kopf und trällerte: „Wo ist es denn?“ „Was denn?“ beim Klang seiner Stimme sackten ihr fast die Beine weg. „Das Hündchen.“ „Es ist unsichtbar.“ sagte Mana monoton. Die Kellnerin bekam einen Blick als sähe sie ein sterbenes Welpen, als sie das kleine Mädchen mit den langen roten Locken sah, in ihrem schwarzen Kleidchen und der Puppe. Der seltsamen Puppe. Ihr Gesicht des entzückten Bedauerns formte sich zu einer Geste entsetzter Abscheu. Nastyboy schlürfte. „Dein Papa sollte deine Puppe reparieren.“ gab sie von sich, warf Varis einen vorwurfsvollen aber verliebten Blick zu und trabte mit weichen Knien davon. Amor widerstrebte es das zu sagen, aber er tat es dennoch: „Du schaust doch auf sie, Varis, das tust du doch?“ Dieser blickte zu Mana welche schuldbewusst gegen das Tischbein trat. Amor schaute abwechselnd Mana und Varis an, dann schüttelte er den Kopf: „Nein.“ sagte er „Nein, das könnt ihr nicht tun! Sie hat euch 44 doch nichts getan! Varis, du musst Mana hindern daran.“ „ER will es so.“ sagte Varis mit tiefem Brummton. „Wir haben ebensowenig Einfluß darauf wie du, Amor.“ erklang es aus Manas niedlichem Wesen. In Amors Augen blitzte Hass, und Nastyboy schlug sich den Wanst voll. Sie hatten recht. Amor wusste das sie recht hatten. Wenn Gott Mana einen Auftrag erteilte, konnte sie ebensowenig daran ändern, wie Amor. Natürlich verliebten sich die Menschen von selber, und manche brachten sich selbständig um. Aber wenn Gott kreativ sein wollte, erteilte er einfach den Auftrag zu Mord, Liebe Suizid, Krieg, Frieden.... Was er wirklich bezweckte, wussten nicht einmal die Angestellten selber. Manche steigerten sich in so etwas wie religiösen Wahn und bildeten sich allerlei sinnvolle Fügungen ein, andere, wie Amor, argwöhnten, das Gott nur langweilig sei und einen äußerst miesen Geschmack hatte. Jetzt sollte also die Kellnerin daran glauben. Wie würde es passieren? „Schlaftabletten.“ sagte Mana, die Amors Gedanken erraten hatte. Mana war ja nicht nur schlecht. Wer den Titel Schutzpatron trägt, ist ja nicht immer gleich ein Abgesandter der Hölle. Wenn sie nicht gerade dabei war, Menschen ihren Lebensmut heraus zu saugen – wozu ein einziger Blick in ihre wunderschönen blattgrünen Augen reichte – war sie sogar ganz nützlich unterwegs. Sie sammelte beispielsweise Abschiedsbriefe und sorgte bei Bedarf, das sie an den richtigen Adressaten gelangten. Nicht immer wird der wahre Grund eines Suizids auch klar – die Menschen trugen Scheu und Scham oft bis ins Jenseits mit und die offenen Fragen konnten den Hinterbliebenen das Leben zur Hölle machen. In solchen Fällen war Mana ganz nützlich. Entweder hielt sie potentielle Freitodsuchende dazu an, ihr Ableben fairerweise zu begründen – oder sie sorgte dafür, das verschollene Antworten in Besitz der Hinterbliebenen gerieten und sie besänftigten. Abhalten 45 aber konnte sie niemanden. Niemanden der es beabsichtigte. Dazu hatte Gott das etwas eigensinnige Projekt Varis ins Leben gerufen. Varis war aber kein ausgreiftes Projekt und Amor vermutete, das er mit einer so konkreten Geste wie: Irgendjemand der Hoffnung und neuen Lebensmut sähen kann und dabei ganz adrett aus sieht, entworfen worden war. Ein Beweis, das Gott einen faible für Tragödien hatte und das Happy End nur eine mittelfristige Lösung in der Dramaturguie des Lebens (aus Leid und Qual) dar stellte. Und so war Varis ohne konkrete Aufgabe eine Art Assistent von Mana geworden. „Bitte schön.“ hauchte die Kellnerin nervös, als sie das Tablett mit den Säften brachte. Sorgfältig teilte sie Untersetzer aus und stellte die Gläser darauf. Als sie sich bücken wollte um den Napf auf den Fußboden zu stellen, zupfte Mana sie an der Schulter zurück. „Nastyboy sitzt bei Tisch.“ erklärte sie monoton. „Aber ein Hündchen, auch ein unsichtbares, sollte nicht bei Tisch sitzen.“ erklärte die Kellnerin in mütterlichem Ton und schaute Varis an, das sollten eigentlich Sie der Kleinen beibringen. Doch seine Anwesenheit gereichte zur Entschuldigung und sie lächelte verlegen. Was sie nicht wahr nehmen konnte waren Nastyboys Geschwader an Flüchen. „Außerdem, was ist Nastyboy für ein Name. Fluffy oder Puppy oder Buster sind nette Namen für – unsichtbate – Hunde.“ Was sie weiters nicht sehen konnte war, das Nastyboy sein Maul aufsperrte und den dünnen Ellenbogen der Frau ins Visier nahm. Und von Amor eine über seine Nase geschlagen bekam worauf er wirklich bösartig knurrte. Solcherart vorläufig von Schmerz verschont, himmelte sie Varis mit leuchtenden Augen an. Und Varis bekam wider einmal nichts davon mit. Offenbar wusste er um seine Wirkung nicht. Ein unsauberer Entwurf eben. „Haben jetzt alle zu trinken? Sind wir nun alle bereit?“ fragte 46 Amor schließlich und fuhr ohne Antwort weiter: „Ihr also könnt mir helfen, Nick von seinem Schwur zu befreien, und ich soll als Gegenleistung den Vogel der Zeit befreien. Sehe ich das korrekt?“ Alle Anwesenden blickten stumm in ihren Himbeersaft oder Wassernapf. „Es geht eigentlich nicht anders.“ erklärte Varis. „Es gibt keinen erhellenden Abschiedsbrief. Man wird vor Ort sehen müssen.“ fügte Mana hinzu. „Darf ich mit? Klingt lecker.“ sagte Nastyboy unpassender weise. „Und ihr denkt, ich schaffe das?“ war Amor verunsichert. „Ich glaub sogar, du bist der Einzige, der das schaffen kann.“ meine Varis. „Aber ohne IHM? Ich wisst das die Pfeile mit der Order von IHM kommen müssen. Sonst sind sie wirkungslos und ich machtlos.“ klagte Amor. „Du weißt immerhin wie das Geschäft läuft.“ gab Mana zu bedenken, und Amor prustete belustigt: „Geschäft.“ „Wenn du es nicht schaffst, dann können wir dir auch bei Nick nicht helfen, so einfach ist das.“ sagte Mana knapp aber wirkungsvoll. „Schon gut, ich tu mein Bestes. Vielleicht rückt er ja einen Pfeil raus.“ obwohl ich eher denke, das das alles sogar Absicht ist und zu einem seiner sadistischen Seifenopernspiele gehört, dachte Amor, und hielt seine Hand in die Mitte des Tisches. Sekunden später schmiegte sich Manas zarte Kinderhand darauf, darüber legte sich die heiße Pranke Varis. Als Nastyboy einschlagen wollte, gingen die Hände wieder auseinander, fast ein bisschen rasch, als wollte sie vermeiden, den kleinen Dämon zu berühren. „Ich werde dafür sorgen das ihr zur Hölle fährt.“ fluchte 47 Nastyboy daraufhin, und machte sich noch nicht einmal mehr sorgen, ob er gehört würde. „Zechpreller!“ schnauzte die Kellnerin, die nicht mit bekommen hatte, das der atemberaubende Vater mit seiner gespenstischen Tochter und dem unsichtbaren Hund das Lokal verlassen hatte, während sie das Gefühl hatte, ihr Lebensmut sprudele aus ihr heraus, als hätte man endlich einen verstopften Abfluss gereinigt. Buster fühlte große Not. Soeben hatte er seine Hauptmahlzeit inhaliert, schon musste er unbedingt raus um ein paar Geschäfte zu erledigen. Doch sein Herrchen trödelte wieder einmal herum, zu den Schuhen passte die Jacke nicht, zu der anderen Jacke passte die Hose nicht und wie kam es überhaupt, das er einen ganzen Schrank voll Kleidung hatte, aber nichts dabei, das dem hohen Anspruchs des im finstern Gassi gehen entsprach? Buster lief japsend im Kreis, immer wieder zu Sascha hin und rammte ihm die Nase ins Knie. Und dann läutete es auch noch an der Türe. „Erwartest du jemanden?“ fragte Sascha seinen Terrier, welcher vor der Türe stand und mit seinem Blick sagte: schau einfach nach, dann weißt dus. Daraufhin begab sich Sascha zur Türe, öffnete sie und dann wusste ers. „Stefan.“ sagte Sascha beinahe Fassungslos. Der rotblonde Mann, der diesen Namen trug, grinste schief. Buster sprang ihn an und machte sich beinahe an vor Freude, während Stefan ihn abklopfte und über den Kopf streichelte und dabei so Sachen sagte wie: „Na wo ist er denn? Fain Buster. Ja. Braver Buster.“ Sascha stand da und wartete die überschwängliche Begrüßung ab wie ein unvermeidliches Unwetter, ohne einen Schritt vor oder zurück zu machen oder Stefan herein zu bitten. „Kann ich rein kommen?“ fragte Stefan. 48 „Wir wollten gerade gehen.“ sagte Sascha abweisend. „Oh.“ machte Stefan nur, nichts weiter, und schaute aus als hätte er gerade seinen Goldhamster begraben. Dann aber schien die Sonne in seiner Welt wieder auf zugehen. „Kann ich vielleicht mit kommen?“ Sascha blickte gequält. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er ja gesagt. Diese Zeiten aber waren seit gestern Früh vorbei. „Nein.“ „So feindselig?“ fragte der Rotblonde. Sascha biss auf seine Unterlippe. Verdammt, dachte er, verdammt. Das Licht auf dem Flur schaltete sich aus – und gleich darauf wieder an. Das trippeln von Stöckelschuhen nahte. Stefan wurde nervös. So ein Arsch, dachte Sascha, und entdeckte, zu wem das klackern der Absätze gehörte. Nun zog auch Sonne in Saschas Gesicht. „Hallo Hellen.“ sagte Stefan und musterte die Frau, die aus sah, als wäre sie frisch aus einem Sarg entstiegen. War sie im übertragenen Sinne auch, aber was wusste er schon. „Hallo Stefan.“ flötete sie und er spürte das sie ihn verarschte, das hatte sie schon immer getan. Er fühlte sich klein, neben ihr, obwohl sie kaum eins sechzig war und er sie um fast zwei Köpfe überragte. „Mein Verlobter hier?“ Als sie Sascha sah sprang sie ihn an als wäre eine Horde Ratten hinter ihr her und kreischte auch ganz ähnlich. Stefan fühlte sich überflüssig. Als sie sich wieder davon erholt hatte, Sascha zu begrüßen, schaute sie ihn von oben herunter an – auch ein Kunststück für ihre Größe - und sagte: „Du bist wegen Buster hier?“ und noch eher er etwas antworten konnte, drückte sie ihm ein paar Münzen in die Hand und meinte „Gut, zwei Stunden. Nicht eher. Und kauft euch was schönes.“ Sascha reichte ihm ferngesteuert wie ein Zombie die Leine und zwei Sekunden später knallte die Türe zu. Buster blickte Stefan auffordernd an. Zwei Stunden, du hast die Lady gehört. 49 „Du bist ein gemeines Biest.“ grinste Sascha „Wieviel hast du ihm gegeben? Ein paar Cent?“ Hellen ignorierte die Frage und warf ihre Stöckelschuhe quer über das Parkett. Buster war nicht da, um sie einzusammeln und liebevoll zu zerkauen – und sie war nicht dazu da, Ordnung zu halten. Sascha musste dem Drang widerstehen, die Schuhe einzusammeln und schön neben die Türe zu stellen. Er marschierte in die Küche und kramte im Kühlschrank nach einem Bier. „Hübsches Kerlchen.“ sagte Helen, während sie neugierig durch das Zimmer tigerte und die Maus am Schreibtisch anschubste wodurch der Bildschirm auf flackerte. Ihr Haar sah aus als wäre es das Nest eines Raubvogels. Sascha hielt ihr die Bierflasche entgegen, für sich hatte er ein Glas Wasser mit gebracht. Sie ergriff die Flasche und ein Funkeln huschte über ihr herzförmiges blasses Gesicht. „Extra für mich?“ sie sprach aus was sie wusste, Sascha trank keinen Tropfen Alkohol. Er kniff die Augen zusammen, als sie die Flasche an ihren Zähnen öffnete. Er hasste das, aber sie nahm keine geöffnete Flasche an. „Kann ich dir schicken, wenns dir gefällt.“ sagte Sascha und deutete auf das Hintergrundbild. „Nö, nicht mein Geschmack.“ wandte sie sich gelangweilt ab. Seine Schwester. Änderte ihre Meinung schneller als ein Cursor blinkte. „Ich dachte nur, weil du hübsches Kerlchen gesagt hast.“ „Ich meinte nicht den hier.“ grinste sie, blickte Sascha aus dem Augenwinkel an und sagte „Ich meinte den Typ aus dem Copyshop.“ Das saß. Saschas Mund öffnete und schloss sich und eine ganze Palette unerwünschter Farben zog über sein Gesicht hinweg, bis es sich für lila entschieden hatte. „Was? Ich ... nein! Du hast ... Wie kommst du darauf?“ „Leugnen ist zwecklos, Sie sind überführt mein Lieber.“ 50 „Du irrst dich vollkommen.“ leugnete Sascha, worauf Hellen begann, auf dem Glastisch zu zusteuern. Sascha stürzte ebenfalls darauf zu und knallte seine Hand auf den bewussten Stapel. „Ich verwette meine Möpse, wenn da nicht irgendwo ein Bild von ihm liegt.“ „Dann verabschiedet euch schon mal.“ sagte Sascha zu den Brüsten seiner Schwester, und presste seine Hand beharrlich auf den Papierstapel. „Was ist da?“ fragte sie. „Nichts.“ „Wenn da nichts ist, dann kannst du mich ja schauen lassen.“ forderte Hellen ihren Bruder heraus. Wenn sie zusammentrafen wurden sie wieder die zankenden Kinder von einst. Ob sie sich im Altenheim mal gegenseitig die Gehstöcke an sägen und das Gebiss verstecken werden? „Vielleicht geht es dich auch überhaupt nichts an was da liegt?“ konterte Sascha. Hellen gab sich überzeugt, sie schien das Interesse an dem blöden Spiel verloren zu haben. „Hast recht.“ „Ja ja, ich bin doch nicht blöd.“ gab Sascha von sich, er traute ihr nicht. Hellen gab sich alle Mühe, seriös zu wirken, so seriös wie ein Vampir eben wirken kann. „Selbst wenn du hundert Fotos von ihm hättest. Es ist deine Wohnung, dein Schreibtisch und dein gutes Recht.“ erklärte sie „Und außerdem stehst du ja nicht auf den Kerl, was mich einigermaßen beruhigt.“ „Wie meinst du das: beruhigt?“ „Ach nichts, es ist ja eh hinfällig.“ „Hellen.“ mahnte Sascha. „Nichts. Es ist nicht wichtig.“ gab sie von sich und kratzte sich auffällig mit dem Daumen an ihrem Ringfinger und dann an ihrem Kopf, wozu fast die ganze Hand in der Frisur 51 verschwand. Sascha war die Geste nicht entgangen, und auch wenn er davon ausgehen musste, das sie ihn nur herausforderte, war ihm der Gedanke noch nicht gekommen. Er hatte noch nicht mal überlegt ob Nick überhaupt ähnliche Neigungen hatte. Und noch ehe der kleine Schock so richtig Fuß fassen und sich ausbreiten konnte, hatte Hellen sich herumgedreht und den Stapel Papier mit einer Bewegung an sich gebracht, wie man sie aus Ninjafilmen kannte. Sascha war zwar gar nicht erfreut über diese Aktion, aber er hatte gerade schlimmere Probleme. Die alleinige Vermutung, das Nick durch irgend etwas unerreichbar wäre, legte sich auf sein Gemüt wie ein schwerer, nasser Lappen. „Ha!“ entfuhr es Hellen „Wußt ichs doch.“ als sie den Ausdruck mit Nick darauf heraus fischte. „Ja toll, du hast Recht gehabt. Gratuliere.“ gab Sascha zynisch von sich und ließ sich auf das weiße Designersofa fallen. „Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt.“ sagte Hellen gar nicht mehr so triumphierend „Dich hats richtig erwischt, hm?“ „Spielt das eine Rolle?“ Sascha stürzte das Glas Wasser hinunter als wäre es was hochprozentiges das ihm bald Erleichterung verschaffen könnte. „Vielleicht ...“ er musste sich regelrecht zwingen es auszusprechen. „Vielleicht ist er ja ...“ es wollte nicht raus. „Hetero?“ fragte Hellen fürsorglich nach. „Ja.“ sagte Sascha lauter als er wollte. „Oder Verheiratet, oder sogar beides. Bei meinem Glück.“ „Sagst du das jetzt nur wegen ...?“ Hellen vollführte wieder diese Geste mit dem Daumen und dem Ringfinger. Sascha reagierte nicht, beinahe theatralisch stützte er seine Ellenbogen auf seine Knie und die Stirn in seine Fäuste. „Das war doch nur ein blöder Scherz um an das Foto zu kommen.“ erklärte Hellen, der es beinahe schon Leid tat, aber nur beinahe, und hielt Sascha das Foto vor die Nase. „Wo hast 52 du das überhaupt her?“ sie drehte es um als könne die Rückseite Aufschluss geben. Sascha konnte die geradezu sture Geste nicht bei behalten als er das Bild sah, etwas in ihm schmolz, er setzte sich aufrecht hin und erklärte: „Von der Homepage von dem Laden. Ein Scheusal von Internetauftritt.“ und er musste fast lächeln als er das sagte. „Hacker!“ rempelte Hellen ihrem Bruder in die Seite. Und dann sprudelte es aus Sascha nur so heraus und er erzählte ihr jede Einzelheit vom gemeinsamen Leben mit Nick. Nach zwei Minuten – eine kleine rethorische Pause inbegriffen – zog Hellen Resümee über eben Gehörtes: „Du weißt nichts von ihm, außer das er Nick heißt und in dem Copyshop arbeitet.“ „Vermutlich weiß er noch nicht mal, das ich lebe.“ fügte Sascha voll Selbstmitleid hinzu. „Naja, ich tippe darauf das die Pisse von Buster schon einen gewissen Eindruck hinterlassen hat.“ gab Hellen zu bedenken. „Oh nein!“ entfuhr es Sascha. Das dieser Umstand einer schmutzigen Hose für einen anderen Menschen ohne dramatische Wirkung sein könnte, konnte er sich kaum vor stellen. „Er hasst mich. Er muss mich hassen.“ „Schön der Reihe nach, Bruderherz. Du brauchst einen Plan.“ meinte Hellen nachdenklich. „Hast du noch ein Bier?“ Amors nackte, kurze und ziemlich behaarten Beine baumelten vom weißen Schalensessel im Wartezimmer, als er eine hochgewachsene, schlanke Frau in mittleren Jahren und einem schwarzen Haarhelm verunsichert den Gang entlang kommen sah. Zögerlich hielt sie bei der ein oder anderen Bürotüre, ehe sie Amor entdeckte und direkt auf ihn zu trippelte. „Ist da wo das Büro von ... ähm ... Gott?“ fragte die ehemalige Kellnerin. Sie hatte – wie alle – ein gewisses Problem, das so zu formulieren. Selbst eingefleischte Atheisten schafften es nicht, 53 gelassen zu sein, wenn sie erfuhren, das es IHN gibt und er sie zu sich berufen hatte. „Guten Abend. So sieht man sich wieder.“ lächelte Amor und zwinkerte ihr zu, um dann mit einer Kopfbewegung zur Schalldicht beschlagenen Türe zu nicken. „Da drin.“ „Oh.“ sagte sie ehrfürchtig als sie die Türe sah, auf welcher in silbrig verschnörkelten Buchstaben: Gott stand. „Kennen wir uns?“ fragte sie Amor beinahe im flüsterton, und setzte sich auf den Platz neben ihn. „Nein. Das heißt, ich kenne Sie, Sie aber mich nicht.“ „Amor?“ fragte sie geradeheraus. Amors Gesichtszüge entglitten ein wenig. „Ich habe nur geraten. Ich habe mal diesen Film gesehen ...“ erklärte sie. „Es gibt da eine undichte Stelle. Ich sollte dem einmal nach gehen.“ sagte Amor grinsend, nachdem er sich gefangen hatte. „Ihnen habe ich also Albert zu verdanken, ja?“ fragte sie, und obgleich dahinter eine gewisse Anklage stand, lächelte sie nett. „Oh ... nein. Daran sind Sie schon selber schuld.“ „Sind Sie denn nicht der mit den Pfeilen?“ fragte sie, und hatte wohl im letzten halben Jahr nicht so viel gelächelt wie in den letzten paar Minuten. „Doch, doch, der bin ich. Ich hab es Ihnen schon mal erklärt. Verlieben und all das, dazu braucht Ihr ... also die Menschen den da nicht.“ „Sie meinen Gott?“ SEINEN Namen flüsterte sie wieder. „Ja, den meine ich.“ „Und wozu gibt es dann Sie? Tut mir Leid, ich wollte nicht unhöflich sein.“ dabei hob sie ihre Hand an ihre Lippen, als könne sie die Schallwellen von eben gesagten auf halten. „Schon okay. Ich bin für seine Psychospielchen zuständig.“ erklärte Amor mit bitterem Unterton. Die ehemalige Kellnerin – Gudrun - riss entsetzt ihre Augen auf. „Psychospielchen?“ wiederholte sie ganz langsam. 54 „Manche sagen auch SEIN WILLE dazu.“ „Ach so.“ sagte sie erleichtert. „Ich möchte Ihnen nicht zu Nahe treten, aber Sie wirken etwas, nun, gekränkt wegen IHM.“ „Oh nein.“ schüttelte Amor den Kopf. „Ich bin nicht gekränkt. Ich bin stinksauer!“ das letzte Wort sagte er so laut, schrie es fast, sodass Gudrun zusammen zuckte. „Es ist ja nicht so.“ begann er unaufgefordert „Es ist ja nicht so, das ich ihn ständig um etwas bitten würde. Um genau zu sein, seit ich tot bin habe ich ihn noch nie um etwas gebeten. Aber würde er mir einen Gefallen tun? Nur einen?“ „Worum haben Sie ihn den gebeten?“ fragte Gudrun aus bloßer Höflichkeit. „Einen Pfeil.“ sagte Amor als würde er einen Fluch aus stoßen. Und während die ehemalige Kellnerin dies wiederholte, fuhr Amor geladen fort: „Einen einzigen, blöden Pfeil. Wie soll ich den Vogel der Zeit befreien ohne den beschissenen Pfeil? Aber ER, Monsieur, findet das die Geschichte jetzt erst so richtig prickelnd wird.“ Amor verfiel in den typischen Ton, mit dem Man Menschen nach äfft, die man nicht leiden kann: „Sehen Sie es als Herausforderung, Amor. Sehen sie die Chance auf ein Abenteuer.“ „Vogel der Zeit?“ war das einzige worauf Gudrun eingehen wollte. „Ja.“ knurrte Amor. „Es ist eine etwas längere Geschichte. Nur soviel: Jemand hat ihn quasi gekidnappt und verfügt nun über seine Fähigkeiten. Und das auf eine wenig schickliche Art.“ „Welche Fähigkeiten?“ wollte Gudrun wissen. „Durch die Zeit zu fliegen. Wie der Name schon sagt.“ „Oh, selbstverständlich.“ sagte die Kellnerin und blickte auf ihre Schuhspitzen. Dieser Amor war ein ziemlich zynischer Mann, wie sie fand. „Und Sie?“ fragte Amor schließlich, als er bemerkte, das er vielleicht etwas zu viel über sich selber gesprochen hatte. 55 „Ich?“ „Ja, wie, ähm, wie war ihr Selbstmord so?“ Gudrun bekam hektische Flecken auf ihrer gealterten Haut und Amor mochte es, wenn Damen im mittleren Alter erröteten. „Ich möchte vielleicht bitte nicht darüber reden.“ „Okay. Ähm, was machen Sie hier?“ fragte Amor und zeigte auf ihre Anwesenheit im Wartezimmer vor dem Büro Gottes. „Man hat mir gesagt ich soll mich bei IHM melden.“ sagte sie, und flüsterte das IHM wieder. Amor nickte. Er erinnerte sich an sein Eintreffen im Jenseits, wie er durch den Flur marschiert und Gottes Büro gesucht hatte. Immerhin, Gottes Büro, wie wollte man es sich vor stellen? Man hatte erstmal zu verdauen, das man tot war, und dann, das es hier aus sah wie man es aus Hollywood kannte. Was kann ER wollen? Wie wird ER sein? Amor bemerkte, das Gudrun keine Anstalten machte, das Büro Gottes auch aufzusuchen. „Und?“ fragte er daher. „Und was?“ wandte sie sich aufmerksam an Amor. „Möchten Sie nicht rein gehen?“ „Aber ...“ Gudrun blickte zur Türe, dann auf Amor, dann in die Luft als suche sie etwas. „Wird man nicht aufgerufen?“ „Sie wurden schon gerufen als Sie das rothaarige Mädchen sahen.“ erklärte Amor zur Gudruns Überraschung. „Aber Sie warten doch schon auf eine Audienz.“ Amors Beine baumelten angeregt als er sagte: „Nein. Nein, ich war schon drin.“ „Aber, weil das doch hier ein Wartezimmer ist. Ich dachte Sie warten.“ „Ich befinde mich im Post-Audienz-Trauma durch Gott.“ erklärte Amor. „Oder, wie Gott sagen würde: Laut Zyklus der dramaturgischen Heldenreise in der Phase der Weigerung.“ „Oh.“ kommentierte Gudrun knapp „Das heißt, ich kann einfach rein?“ und sie erhob sich unsicher. 56 „Sie können immer rein, Liebes.“ und damit genoss Amor den Anblick ihres Gesäßes, das sich durch ihren schwarzen Rock drückte, während sie die Schalldicht beschlagene Türe zu Gottes Büro durchschritt. Es gibt Menschen, die sammeln Briefmarken. Es gibt andere Menschen, die sammeln antike Bücher. Manche Menschen verschreiben sich Sand von diversen Stränden der Welt oder Steinen von allen vierzehn Achttausendern. Manchen haben es Splatterfilme, Musik Cds, Comics, Überraschungseifiguren oder Münzen angetan. Etwas seltsamere Menschen verfallen toten Insekten, Gebeinen von Rotwild oder in Formalin eingelegten Körperteilen. Hellen sammelte tote Rockstars. Nicht ihre Tonträger, Autogrammkarten oder Poster. Sie sammelte verstorbene Rockstars wie ein, nunja, Groupie. Und sie sammelte sie in deren Bett – oder auch nicht mal in dessen Nähe. Es war ein stilles Hobby. Das hieß – genau genommen war es eine schrecklich schrille, laute und manchmal recht anstrengende Leidenschaft. Still war es eher, wenn sie versuchte, jemandem davon zu erzählen. Manche, Sascha zum Beispiel, hielten ihre Erlebnisse für einen Beweis ihres abartigen Humors und fragten sie gelegentlich, welchen toten Rockstar sie zuletzt flach gelegt hätte, ohne auch nur im mindesten die Wahrheit zu ahnen. Andere hingegen musterten ihre leichenblasse Erscheinung und bekamen Visionen von Friedhöfen, Särgen und verfallenden Gebeinen – und wurden still. Sehr still. Auch sie aber hatten keine Ahnung von der Wahrheit. Im Augenblick hielt sie einem jungen Musiker das fettige, blond gefärbte Haar aus dem Gesicht, während er sich übergab. Manchmal war es anstrengend. Der Inhalt des Magens ergoss sich mit ein wenig Blut auf dem Teppich des Hotels und 57 verbreitete einen beißenden Gestank. Sie hätte ihn gleich fragen sollen, welches Jahr sie hatten, aber in dem Fall war das vielleicht sogar egal. Irgendwie hatte sie sich das anders vor gestellt, leichter. Dies war nun der dritte Versuch, ihn auf die Liste gesammelter toter Rockstars zu setzen. Und gesammelt bedeutete: vollzogen. Bis jetzt aber hatte sie sich eher gefühlt wie eine Krankenschwester die jedes mal zum richtigen Zeitpunkt kam, um beim fixen, kotzen oder mentalen Einbrüchen – meistens irgendwie alles zusammen – Gesellschaft zu leisten. Als Groupie toter Rockstars konnte sie sich zwar kein besonders ausgeprägtes Bedürfnis nach Hygiene, Angst vor Psychosen oder eine niedrige Ekelschwelle erlauben, aber bei dem Geruch und der Grundstimmung in diesem düsteren Raum - wozu gab es immerhin Jalousien – wurde ihr schlecht. „Und dafür brauchst du mich?“ sagte Hellens innere Stimme, die nicht wirklich Hellens Stimme war. „Halt die Klappe.“ fluchte Hellen, nicht jetzt auch noch das. „Hä?“ gurgelte es aus dem fertigen Blondschopf. „Ich hab nicht dich gemeint. Ich hab ... ich hör nur manchmal so eine Stimme.“ das war wiederum der positive Aspekt im Umgang mit toten Rockstars. Man konnte sich selbst sein. Oder zumindest jeder der man war. „Ah!“ röchelte der noch nicht tote Rockstar von der Bettkante hoch „Das kenn ich.“ „Ich wäre dafür, das du wieder diesen Dichter nimmst.“ sagte die innere Stimme. „Welchen Dichter?“ entkam es Hellen. „Olryrschtmm .“ brach es im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Kopf zwischen ihren Händen heraus und bedeutete so viel wie: Oh, eine lyrisch interessierte Stimme. „Den hübschen dunkelhaarigen aus der Stadt der Engel.“ erklärte die innere Stimme verträumt. Hellen ignorierte sie und 58 versuchte den laschen Rockstar mit aller Kraft an die Bettkante zu bugsieren. Das würde heute nichts mehr werden. Er fehlte zwar noch in der Sammlung und er zählte zu jenen Exemplaren die man auf jeden Fall in der Sammlung haben sollte, aber vielleicht überarbeitete sie die Liste. Sie hatte es geschafft, in so zu betten das er nicht aus dem Bett in seine eigene Kotze fallen konnte, und doch bei bedarf über die Bettkante reichte, da blinzelte er. „Ich muss dann mal.“ lächelte sie das Lächeln von Menschen die versuchen, damit eine Ausrede zu kaschieren. „Ichndsch.“ nuschelte er und hob kaum merklich seinen Zeigefinger. Hellen klopfte zuversichtlich auf seine zerschlissene Jeans über seinem Bein und sagte im Ton einer Krankenschwester: „Jaja, das wird schon.“ ehe sie sich – aus seiner Perspektive – in Luft auflöste, was er mit einem weiteren unverständlichen Kauderwelsch kommentierte. Es bedeutete: Ich kenn dich doch. Du bist doch die die sich immer in Luft auflöst. Ja, genau so. Und bei sich dachte der Rockstar, als er einschlief: Wow. Meine innere Stimme hat sogar einen äußeren Körper. Einen geilen Körper. Ich sollte mich mehr mögen. Eine gewisse Zeitspanne am Nachmittag war die Straße üblicherweise menschenleer, und so auch das Geschäft in dem Nick und Kevin arbeiteten. Und meist kündigte das eine ganze Horde Kunden an die Kevin und Nick für eine gute Stunde gehörig ins Schwitzen brachte. Kevins hatte mal im Scherz die Theorie aufgestellt, die Kunden würden in einer nahen Seitengasse zusammen warten um dann vorsätzlich etwas Schwung in die Bude zu bringen. An diesem Tag, als Kevin beim Zeitvertreib im Internet auf den Begriff „Flashmob“ traf, hatte er eine gespenstisch anmutende Erleuchtung. „Die organisieren das im Internet!“ rief er außer sich „Hör dir 59 das an, Nick! Wiki sagt: Flashmob bezeichnet einen kurzen, scheinbar spontanen Menschenauflauf auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen, bei denen sich die Teilnehmer üblicherweise persönlich nicht kennen.“ aus seinem ovalen Gesicht heraus blickte er Nick aufgeregt an. „Ich habe es gewusst. Ich habe das schon immer geahnt.“ Seine Schuhbandhaare tänzelten, als er fassungslos den Kopf schüttelte und dann – beinahe gegenständlich, so nah kam er dem Bildschirm – im Internet nach weiteren Informationen suchte. „Ich glaub nicht, das unsere Kunden sich über das Internet verabreden.“ meinte Nick, und dachte an den Professor und all die anderen, die Stunden damit verbrachten, irgendwelche Unterlagen zu kopieren. Der typische Kunde, der T-Shirts, Polster und so weiter bedrucken ließ, Schnittmuster und Ausschnitte aus Familienfotos vergrößern ließ oder versuchte, mittels Tipp Ex fehlgestaltete Aquarellbilder für Farbkopien zu kaschieren, war kein Internet User der auf die Idee käme, einen Flashmob ins Leben zu rufen oder sich ihm anzuschließen. Kevin hatte beschlossen, der Sache dennoch sicherheitshalber auf den Grund zu gehen, und als sich Nicks verdacht bestätigte, braute sich ein Ersatzgewitter unter Kevins dünnem schwarzen Haar zusammen. „Ich hab da eine Idee.“ sagte er in jener Sekunde, da eine Vampirfrau mit einem Raubvogelnest auf ihrem Kopf auf den jungen Mann traf, der an der gegenüberliegenden Straßenseite mit seinem Hund gewartet hatte. Er neigte sich zu ihr hinunter, damit sie ihm zur Begrüßung den schwarzen Lippenstift auf die Wange drücken und hernach wieder abwischen konnte. „Tut mir Leid. Ich hatte noch eben ein Vorstellungsgespräch.“ trällerte Hellen und Sascha rümpfte die Nase. „Du riechst als hättest du eine toten Rockstar gevögelt.“ 60 „Er hat recht.“ sagte Hellens fremde innere Stimme. „Da war nichts mehr zu machen, das kannst du mir glauben.“ sagte sie, diese ignorierend und wühlte ein bisschen im Nest auf ihrem Kopf herum, ehe sie über die Straße durch das Schaufenster suchte. „Und? Ist er da? Hast du ihn schon gesehen?“ „Ja.“ sagte Sascha und es war nicht fest zu stellen ob er das toll oder furchtbar fand. „Na dann nichts wie ran.“ motivierte Hellen ihren Bruder, und übernahm Busters Leine. Ein älterer Herr näherte sich dem Geschwisterpaar. „Du bist ja ein ganz ein Lieber.“ sagte der Professor mit schwarzer Aktentasche unterm Arm geklemmt an den Hund gewandt. Drinnen stand Kevin und fühlte sich ein bisschen aufgeregt. „Sie sind schon zu dritt.“ Nick ignorierte die neueste Paranoia und notierte, welches Papier er nach bestellen würde müssen. Eine ältere Dame gesellte sich hinzu. Ebenfalls Stammkundin, sie sammelte Todesanzeigen von Leuten aus der Stadt die es zu Lebzeiten in die Lokalpresse geschafft hatten, und fertigte in Komposition mit diesen eine Collage, die sie Die Akte Schmidt/Maier werauchimmer nannte. Wenn sie mal wieder etwas liegen lassen hatte – sie war etwas schusselig – erklärte sie immer ungeduldig: Als ich die Akte Maier bearbeitete, Sie wissen schon. Für sie war nicht nachvollziehbar, das andere Menschen ihre Zeit mit anderen Maßstäben maßen, als toter Lokalprominenz. Sie war eine alte Bekannte des Professors und hielt mit ihm oft Schwätzchen vor dem Geschäft. „Vier.“ zählte Kevin unheilvoll. Nick fühlte sich bemüßigt, einen Blick hinaus zu werfen, wo gerade zwei artige Studentinnen dem Professor die Hand gaben. „Sechs.“ formulierte Kevin und fühlte sich ein bisschen wie bei 61 Hitchcocks Die Vögel. Und gerade als sich die Gruppe in Bewegung setzte um die Straße zu queren, traten sich der TippEx Künstler und der Laufbursche eines Architekturbüros beim Betreten des Ladens beinahe auf die Zehen. „Das ist doch kein Zufall.“ raunte Kevin und war hin und her gerissen zwischen der gestörten Faszination für Naturkatastrophen und paranoider Hysterie. Ganz ähnlich fühlte sich Sascha, als er den Laden betrat und fühlte, das der Zeitpunkt irgendwie schlecht gewählt war. Der Plan sah vor, das er Nick anbot, die Website des Ladens neu zu gestalten. Das war Hellens Idee gewesen und er war versucht zu sagen: Meine Schwester hat gesagt ich soll. Es hatte logisch und einfach geklungen. Nun, sie hatte es logisch und einfach formuliert. Du triffst dich mit ihm um die Homepage zu besprechen, rückst immer näher und immer näher – und wenn er nicht weg rückt dann knutscht du ihn einfach. Der Teil mit dem näher rücken und dem Knutschen hatte ihm sehr gefallen – doch nun fühlte er sich davon weiter entfernt als er sich ausmalen mochte. Nick hatte Stress und die ganze Atmosphäre lud nicht gerade dazu ein, sich an einen Angestellten ran zu machen. Er konnte es sich geradezu bildlich vor stellen, wie er ihn, der gerade in einem Kopierer versank um einen Papierstau zu beheben, fragte, ob er die Website neu gestalten dürfe, und Nick dann ein Maschinengewehr aus dem Gerät zog, auf ihn richtete und brüllte: Was stimmt nicht mit der die wir haben? „Was stimmt nicht mit der die wir haben?“ fragte der Mitarbeiter der auch unter Killerkev bekannt ist und gerne anzüglich verwendet werden würde seine Schwester. „Mein Bruder ist ein angesagter Programmierer, und meinte, die Seite ist Schrott.“ Sascha zuckte zusammen und wünschte sich, sich ebenfalls in einem Kopiergerät verkriechen zu können. Für ein Maschinengewehr hätte er auch Verwendung gefunden. Stattdessen aber packte ihn Hellen am Ellenbogen 62 und schob ihn vor sich. „Nicht wahr, Sascha? Sag ihnen das die Seite ein Schrott ist.“ Nun stand er auf der Bühne und sein Publikum, Nick und Killerkev, hatte er bereits an den traurigen Clown zu seiner Linken verloren. Er lächelte gequält. „Nun, sie ist kein Schrott. Sie ist ... eigenwillig.“ Als erstes wenn er heim käme, würde er die Kronen an den Bierflaschen mit Superkleber fixieren sodass sich die Kröte die Zähne aus biss. Alle nach der Reihe. „Das ist gut.“ erklärte Killerkev mit stolzgeschwellter Brust, er hatte da vielleicht einen weiblichen Fan an der Angel. „Eigenwillig ist gut. Das soll sie sein. Wie ich.“ Sascha bemühte sich ebenso, Nick nicht anzusehen, wie er sich dazu zwang. Und Nick stand da wie ein unbeteiligter Kunde und hatte dieses Lächeln auf den Lippen, das ihre Ergonometrie vor gab, während seine braunen Augen amüsiert zwischen Hellen und Kevin hin und her sprangen. „Die Seite ist ein Scheusal!“ erklärte Hellen kampflustig. „Sie sticht hervor!“ entgegnete Kevin. „Sie verursacht Augenkrebs!“ stemmte Hellen die Hände in die Hüften. „Sie ist euch in Erinnerung geblieben!“ konterte Kevin. „Ja, wie eine Krankheit!“ „Das ist Konzept!“ „Das man kotzen möchte wenn man die Seite sieht?!“ „Ja! Und wenn schon.“ Sascha wünschte sich, Buster würde seinem Herrschen ins Bein beißen, sodass er einen Grund hatte, tot um zufallen. Buster wünschte sich, Nick zu markieren, und Nick wünschte sich Feierabend. „Nick!“ rief Kevin, als er merkte das die schwarz gekleidete Frau mit dem Nest auf den Kopf zwar klein (und sexy) aber stärker als er war. 63 „Was würde es kosten?“ fragte Nick Hellen und Kevin riss entsetzt seine Augen auf. „Nick, du kannst doch nicht!“ Hellen schubste Sascha an, etwas zu sagen. „Das müsste man genauer durch kalkulieren.“ stammelte er. „Ha!“ rief Kevin „Meine ist umsonst.“ „Das merkt man!“ gab Hellen zurück. „Ungefähr? Gibt’s sowas wie eine Pauschale?“ fragte Nick Sascha, welcher seine Beine nicht mehr spürte unter dem Schock, direkt angesprochen worden zu sein. Er hatte keine Zahlen im Kopf sondern nur die Feststellung, das Nick eine sehr angenehme Stimme hatte, eigentlich. „Also ich hatte mir gedacht, so eine Art Gegengeschäft.“ und als er merkte, wie angenehm es war, wenn Nick ihm zuhörte rutschten die weiteren Worte von selbst heraus: „Ich könnte die Seite als Referenz verwenden, und eure Kunden kämen so wiederum auf mein Angebot.“ „Nick, du wirst doch nicht ...“ fuhr Kevin dazwischen. „Das klingt unheimlich nett.“ meinte Nick und Sascha blicke betreten auf Buster und konnte sich ein, ja ja, das bin ich, gerade noch verkneifen. „Und er wird doch.“ trat Hellen an Kevin so dich heran, das er den Kotzegeruch eines toten Rockstars einatmen konnte. Kevin wusste nicht wieso, aber das roch für ihn nach allem, was er wollte, was er anstrebte, wofür er lebte. So zu riechen. „Wieso?“ fragte Nick und Sascha fühlte sich an die Wand gedrängt. Weil ich versuche, dich auf die Tour rum zu kriegen? Schiebs auf den Hund. Der Hund ist immer Schuld. „Wegen Buster hier.“ erklärte Sascha, riss Hellen rasch die Leine aus der Hand. Nick blickte den Hund eine Weile an. Es war ein netter Hund. Aber es erklärte irgendwie gar nichts. „Der Hund?“ fragte Nick daher nochmal nach. „Wegen dem was er dir angetan hat.“ erklärte Sascha und fühlte 64 sich wieder auf sicherem Eis. Eine Homepage war das mindeste was man gegen eine vollgepisste Jeans erwarten konnte. Nick hingegen überlegte, ob er in letzter Zeit von einem Hund angefallen und irgendwie tödlich verletzt worden war. Nur langsam kam die Erinnerung hoch. Der Köter der das Fahrrad ruiniert hatte. „Ah, ich weiß schon.“ erinnerte er sich. „Das Fahrrad“ „Die Jeans. Genau!“ lächelte Sascha. Sie sahen sich einen Moment verwirrt an. „Die Jeans?“ „Das Fahrrad?“ Und dann blickten sie beide Buster an, der sehr, sehr, sehr schuldbewusst drein schaute und einen fahren ließ. Jetzt, wo er sowieso schon schuld war ... Die Zeiten, als die langbeinige Kellnerin in einer Wolke aus Rauch gestanden hatte und beim durchblättern von Zeitschriften ein Flair verbreitet hatte, wie man es sonst nur in Bahnhofcafes vergessener Orte vor fand, waren vorbei. Eine kleine bleiche Katastrophe aus wüstem Haar und zu hohen Absätzen wirbelte durch das Lokal und verbreitete Unruhe. Das Radio, das bis zu diesem Tag eine eher dezente Rolle gespielt hatte und indigniert Nachrichten, Werbung und totgespülte Hits verbreitet hatte, war in den Ruhestand geschickt worden. An seiner statt glänzte nun ein Ghettoblaster auf der Tortenvitrine, der beständig Werke toter Rockstars plärrte. Zumindest so lange der Chef nicht nach dem Rechten sah – und das passierte so gut wie nie. Hellen rauchte nicht weniger als Gudrun – sie nahm genau genommen die Zigarette noch nicht mal aus ihrem Mund, wenn sie die Bestellungen auf nahm, wobei die Knöchel ihrer Finger weiß wurden, wenn sie mit dem Kugelschreiber auf den kleinen Block kritzelte. Manchmal zwinkerte sie und hustete mit der Zigarette im Mund und dem Block in der Hand, wenn der 65 Rauchfaden der Glut sie direkt in die Augen oder Nase stach. Sie schien für den Job vollkommen ungeeignet, aber sie gab sich routiniert. Sie hatte Routine darin, ungeeignet für Jobs zu sein. Amor saß an einer Stelle im Cafe, von wo aus er den Arbeitsbereich der Kellnerin gut überblicken konnte, und beobachtete jede Bewegung. Komm schon, ich weiß das du da bist, sagte er zu sich selber wie ein abgebrühter Jäger. Es war nicht schwer gewesen, die Kidnapperin des Vogels ausfindig zu machen. Varis hatte auf der universellen Zeit- und Ereignistafel mit seinen Pranken auf einen Punkt gezeigt und gebrummt: „Da muss es passiert sein. Da war diese Kleine die bei dem Jungen saß.“ „Erinnere dich genau.“ hatte Amor gebeten. „Da war dieser Junge.“ hatte Varis zu erzählen begonnen „Wie lange ist das her? Ich glaub das war im Jahr, wo der Typ diesen Schwur begangen hat, der dir so Sorgen bereitet. Der Junge jedenfalls hatte versucht, zu gehen. Na du weißt schon.“ „Ein Auftrag.“ hatte Amor vermutet. „Nein, nein. Mana hatte damit nichts zu tun. Der hat das von alleine geschafft so drauf zu kommen. Jedenfalls sah es übel aus und die Kleine saß an seinem Bett, Tag und Nacht, kann man sagen. Na und dann hat ER mich hin geschickt. Ich sollte den Jungen überzeugen zu bleiben.“ „Junge.“ „Naja, siebzehn, fast achtzehn. Ich hatte den Vogel der Zeit bei mir. Nur für alle Fälle. Du weißt ja, manchmal reichen schöne Worte und ein bisschen Hokuspokus nicht. Wie bei dir und deinem Problemkind. Ich war bereit, ihn mit dem Vogel in seine Vergangenheit oder Zukunft zu schicken, damit er begreift das es sich lohnt zu leben.“ Varis hatte in seinen Erinnerungen inne gehalten und mit leicht glasigem Blick gesagt. „Ich sollte direkt wieder mal nach ihm sehen. War ein 66 außerordentlich Hübscher. Wäre eine Schande gewesen, wenn der erfolgreich gewesen wäre. Ob er mich erkennen würde?“ „Könnten wir zurück zum Thema?“ „Okay.“ hatte Varis gegrummelt „Jedenfalls war da die Kleine, die keine Minute von ihm gewichen ist. Und während ich mich mit dem Jungen auseinander setze, kidnappt die Kleine den Vogel einfach.“ „Sie hat ihn gesehen?“ hatte Amor argwöhnisch gesagt. „Vielleicht hat der blöde Vogel vergessen sich zu tarnen.“ „Aber wie hätte sie wissen sollen, wie man den Vogel der Zeit anwendet?“ hatte Amor entgegnet. „Woher soll ich das wissen?“ hatte Varis von sich gegeben. Und um das heraus zu finden, saß Amor nun in diesem Cafe und beäugte jede Bewegung der neuen Kellnerin, wie ein Stalker. Amor war sich sicher, das Hellen den Vogel der Zeit in ihrer Gewahrsam hatte. Was er nicht wusste war, ob sie ihn trotz seiner Tarnung sehen konnte und nur so tat als würde sie ihn nicht wahr nehmen – oder ob sie ihn wirklich nicht sah. Der Vogel der Zeit müsste in der Lage sein, ihn zu sehen. Aber es stimmte sowieso nichts zusammen. Wenn der Vogel der Zeit die Seele des Menschen in die Zukunft oder Vergangenheit führte, waren diese Leute im Körper des Vogels unterwegs. Was Amor aber heraus gefunden hatte, passte nicht. Dieses Teufelsmädchen reiste mit ihrem eigenen Körper durch die Zeit, wo sie unaussprechliche Dinge mit toten Rockstars anstellt, bemerkte Amor nebenbei. Das war nur möglich, nun, das ging eigentlich nur, wenn der Vogel der Zeit ... aber das war unsinnig. Das ergab keinen Sinn. Warum sollte sich der Vogel der Zeit absichtlich seit dreizehn Jahren an den Körper dieser Katastrophe von Frau binden? Hellen konnte Amor tatsächlich nicht sehen. Aber ihre innere Stimme die nicht von ihr war. Also auch das innere Auge, 67 quasi. Und das bemühte sich, unauffällig zu bleiben. Hellen hatte nicht nur einmal das Gefühl, sie hätte gerade eine kleine Witzfigur auf der Bank neben dem Fenster sitzen sehen. Es war immer nur so im Augenwinkel, aber wenn sie dann hin sah, war da keiner. Dafür aber telefonierte sie gerade hingebungsvoll mit jemandem, dem sie erzählte, das Nick da gewesen sei, das er beständig etwas notiert hätte. Ja das es sogar ausgesehen habe, als würde er Zeichnen, und ob das nicht großartig wäre, da hätten sie schon mal ein gemeinsames Thema. Amor beobachtete zwei Stammgäste, die sich gerade soweit angenähert hatten, das sie bald übereinander herfallen würden. Es war schön, zu sehen, das nicht immer Pfeile nötig waren, um so spontane Liebe entbrennen zu lassen. Als ein magerer junger Mann mit Haaren wie Schuhbänder das Cafe betrat, legte Hellen auf und blickte Kampflustig. „Na?“ sagte sie provokativ. „Na?“ gab Kevin zurück, auf seinem T-Shirt stand in deutlichen Buchstaben Rockstar sucht Groupie. Hellen las den Schriftzug und grunzte spöttisch. „Nicht tot genug?“ neckte eine innere Stimme unvorsichtig und sagte dann „Verdammt!“ als Amor auf horchte, und – für Menschen nicht hörbar - rief: „Ha! Hab ich dich!“ „Nein hast du nicht!“ sagte die innere Stimme, und dann noch einmal „Verdammt.“ Hellen schloß die Augen und schüttelte den Kopf. Die innere Stimme hatte sie seit dreizehn Jahren mit zynischen Kommentaren genervt, sie war es gewöhnt, aber jetzt war etwas anders. „Schach matt, hä?“ freute sich Kevin, der Hellens verwirrte Geste als Reaktion auf sein T-Shirt wertete. „Du spinnst doch.“ gab Hellen zurück und wusste nicht genau, ob sie das auch irgendwie zu ihrer inneren Stimme gesagt hatte. „Warum?“ fragte Amor. 68 „Darum!“ sagte die innere Stimme. Hellen hielt wieder inne. „Ob dus glaubst oder nicht, ich bin wirklich ein Rockstar.“ sagte Kevin stolz und setzte sich auf den Barhocker vor den Tresen. „Ja klar.“ sagte Hellen und die innere Stimme sagte mürrisch: „Darum ist sehr wohl ein Grund. Nein! Das geht dich nichts an.“ Hellen fasste sich ans Ohr. Was war los? Das ergab keinen Sinn. „Wenn du mir nicht glaubst, komm nächsten Samstag zu unserem Konzert.“ gab Kevin überheblich von sich und knallte einen selbst produzierten Flyer auf den Tresen. Hellen benutzte ihn als Untersetzer für das Bier das sie Kevin hin stellte. „He, mann!“ rief dieser gar nicht cool, hob die Flasche auf und zog den Flyer hervor wie einen zerquetschten Schmetterling. Ein nasser Ring hatte sich gebildet und drohte, den Flyer zu vernichten. Für Kevin waren diese Drucke sowas wie Babys. Schwer zu sagen was er sich vor stellte was die Leute machten, denen er diese Einladungen aufdrängte – vermutlich hinter Glas setzen und jeden Morgen davor beten. „Was kümmerts mich.“ sagte die innere Stimme und Hellen nickte nur: „Oh, jea!“ „Heißt das du kommst? Stark!“ freute sich Kevin. „Du brauchst mich?“ fragte die innere Stimme „Gut! Dann musst du auch was für mich tun!“ Hellen versuchte die innere Stimme schweigend zu schütteln. Sie sprach nicht mit ihr. Das war es. Die Stimme sprach nicht mit ihr. Da war jemand anderer der sie noch hören konnte. Hellen blickte Kevin an. Wenn er wirklich ein Rockstar war, standen die Chancen gut da er es war. Die meisten die sie kennen gelernt hatte waren sehr vertraut mit dem Thema lästiger innerer Stimmen. „Sprichst du mit ihr?“ fragte sie daher Kevin, der sich daraufhin umsah und arglos fragte: 69 „Mit wem?“ „Hörst du meine Stimme?“ fragte Hellen, zog ihre Augen zu Schlitzen und neigte sich vor. Kevin genoss den Ausblick der sich daraus ergab. „Varis, ich will Varis. Du sorgst dafür das ich eine Nacht mit ihm bekomme.“ stellte die innere Stimme die Bedingungen für ihren Rückzug aus Hellens Leben. „Sicher höre ich deine Stimme.“ meinte Kevin etwas verwirrt. Er sah sich noch einmal um, diesmal aber nicht nach irgendwelchen Stimmen, sondern nach jemanden der über ihn lachen würde. „Wer ist Varis?“ zischte Hellen und schnitt eine Grimasse als würde ein beständiger Störfunk ihre Konzentration trüben. „Ja und? Jeder hat so seine Vorlieben. Denkst du als Scheiß Vogel hab ich eine Chance? Aber den Körper hier fand er offensichtlich geil. Zumindest damals.“ Hellen spürte eine Beleidigung, wenn sie sie vernahm. „Varis?“ fragte Kevin fürsorglich. Er hatte eine Schwäche für verrückte Frauen. „Nein, eben nicht.“ sagte die innere Stimme zerknirscht „Aber bald, denn du wirst mir dabei helfen.“ „Spinnst du? Hör sofort auf damit, mich zu verschachern!“ wurde Hellen böse, und Kevin dachte, cool, sie hat Zugang zu Drogen, jetzt steht meiner Karriere nichts mehr im Weg. „Was nimmst denn du so?“ fragte er daher fachmännisch. „Ja, dann geb ich sie frei – aber sie muss auch einverstanden sein. Wir haben einen Pakt.“ erklärte der innere Vogel der Zeit Amor. Hellen hatte Stress. „Mit wem sprichst du, verdammt!“ rief sie in die Luft, als ihr dämmerte, das es nicht Kevin war. „Mit Amor, meine Liebe.“ sagte die innere Stimme, „Amor, wink mal, ich sorge dafür das sie dich sehen kann.“ Hellen drehte sich herum und sah einen kleinen dicken Mann mit 70 Nachthemd direkt am Fenster sitzen, aus seinem Köcher ragten pinkfarbene Pfeile und Glitzerstaub umschwirrte ihn. Sie packte Kevins Unterarm, zeigte zu Amor und sagte: „Kannst du das auch sehen?“ „Was denn?“ gab dieser sich Mühe. „Den Mann im Nachthemd, mit den kleinen Flügeln und dem Glitzerstaub.“ erklärte Hellen. Kevin war begeistert, obgleich er Amor nicht sehen konnte. Er wollte mindestens so schräg wie die Braut sein, also log er. „Ja, Mann. Wie abgefahren ist das denn?“ „Amor wird mir helfen, eine heiße Nacht mit Varis zu erleben, und dafür wirst du mich wieder los.“ erklärte der Vogel der Zeit „Es sei denn natürlich, du bist einverstanden.“ „Kein nerviges dazwischengequatsche mehr?“ fragte Helen. Kevin verliebte sich gerade. „Kein nerviges dazwischengequatsche!“ versprach der Vogel der Zeit. Das klang toll, hatte aber einen Haken. „Aber ich kann dann auch nicht mehr durch die Zeit reisen. Ich werde älter.“ begriff Hellen. „Älter bist du auch so geworden, du hast dich nur gut gehalten.“ beruhigte die innere Stimme „Aber das mit den toten Rockstars, das hätte ein Ende.“ „Keine toten Rockstars mehr?“ fragte Helen. Es fühlte sich nicht so schlimm an wie es sich anhörte. Es war zuletzt ohnehin mehr Mühe als Freude gewesen und sie wusste auch, das sie das nicht ewig machen konnte. Materieller Wohlstand und ärztliche Errungenschaften, sowie Psychologen und Bewährungsauflagen machten es künftigen Rockstars schwer, destruktiv und damit erfolgreich zu sein. Doch wie jeder Sammler hatte auch sie ein Kleinod das sie begehrte und ohne dem sie die Sammelleidenschaft nicht würde zum Abschluss bringen können. „Okay. Aber einen brauch ich noch.“ erklärte Helen. Kevin 71 wusste nicht worum es ging, ahnte es nur, und sein Blick schnellte zu Hellen. „Oh nein, doch nicht diesen ...“ raunte die innere Stimme genervt. „Das wird doch nie was.“ „Ich kriege ihn, oder ihr könnt eure Abmachung vergessen.“ stellte Hellen die Bedingung. Amor griff sich an den Kopf. „Okay.“ sagte er, verdrehte seine Augen, denn offenbar lauerten überall Verrückte: „Hellen kriegt ihren fehlenden toten Rockstar. Der Vogel der Zeit kriegt für eine Nacht Varis, wofür er den menschlichen Körper von Hellen braucht. Dann ist der Pakt erfüllt und du machst wieder deinen Job, Vogel. Seh ich das richtig?“ „Okay.“ sagte Hellen. „Okay.“ sagte die innere Stimme. „Du willst es mit Cobain machen?“ fragte Kevin begeistert. Er hatte zwar so gut wie nichts mit bekommen, immerhin hörte er nur Hellens unzusammenhängendes Gefasel, doch sein Verstand verlief in so geschwungenen Linien, das er das Wesentliche doch erfasst hatte. Und auch wenn er nichts verstand, in Frage stellen tat er sowieso nichts, erklärte er, das er Hellen helfen wolle. Der Vogel der Zeit freute sich auf ein amouröses Abenteuer und verfiel in ein verliebtes aber nerviges zwitschern. Hellen durfte zwar im Dienst nichts trinken, packte sich aber eine Bierflasche öffnete sie mit ihren Zähnen, spuckte die Krone so auf den Tresen das sie hinter der Kaffeemaschine verschwand, und stürzte den Inhalt in einem Zug runter. Hernach rülpste sie beherzt und Kevin schlug jauchzend auf den Tisch. Das Stammgästepärchen ergab sich wildem herumgeknutsche, als Amor beim verlassen des Cafes etwas entdeckte. Er ging mit einem Knie runter, fuhr mit einem Finger über den Fußboden wie ein Indianer der eine Fährte entdeckt hatte und Glitzerstaub blieb daran kleben. Fremder Glitzerstaub. Er roch daran, und drehte sich nach dem frisch 72 gebackenen Pärchen um. Etwas stimmte nicht. Schon wieder. Als Hellen Sascha gesagt hatte, das sie alles arrangiert hätte, hatte er Angst bekommen. Nick und Sascha hatten sich einen Termin nach Feierabend ausgemacht, um die Homepage zu besprechen, und weil es sich angeboten hatte, dies im Cafe ums Eck organisiert, wo Hellen nun versuchte, routiniert unbrauchbar zu sein. Wenn Sascha nicht ohnehin ein nervliches Wrack gewesen wäre, ab jenem Telefonat das diesen Termin fixierte, so wäre er es jetzt geworden. Alles arrangiert, wenn man Hellen kannte, und das tat Sascha (mit Ausnahme der toten Rockstars, aber was will man ihm das verübeln) bekam man Visionen von Stumpenkerzen und düsteren Metal-Klängen. So gesehen war Sascha erleichtert, als er das Cafe betrat und es noch immer die Grundzüge eines etwas heruntergekommenen Cafes aufwies und nur dezente Züge einer Gruft in der bald eine schwarze Messe stattfinden könnte. Einer dieser Züge bestand in Hellen selber, die es für angebracht hielt, eine weißes kleine Schürze über ihrer Vampirkluft zu tragen und die in Anwesenheit von Kerzen einfach immer ein wenig, nunja, düster wirkte. Reine Assoziation, sie hatte sich nicht extra zurechtgemacht. „Ich würde sagen, du nimmst den Platz da hinten.“ schlug sie vor. „Sein Platz“? Fragte Sascha, sie hatte ihm Bericht erstattet. Hellen nickte, Buster schlüpfte unter den Tisch und fiel in komatösen Schlaf. Sascha durchwühlte seine Unterlagen, die er betont knapp gehalten hatte, aber doch kompetent genug. Er wollte so viel Zeit wie möglich mit Nick verbringen und dabei dennoch so seriös wie machbar erscheinen. Seit dem Telefonat, es war nun genau sieben Stunden her, hatte er keinen Bissen mehr herunter bekommen und Saschas Kreislauf war im Keller. Er hatte die Nacht nicht geschlafen da er sich vor genommen 73 hatte, gleich am Morgen anzurufen um einen Termin zu fixieren. Dennoch war er erstmal ein paar Stunden im Kreis gelaufen, hatte allmögliche unnötige Arbeiten vor geschoben, nur um nicht telefonieren zu müssen. Und dann hatte er es einfach getan. Er hatte das Signal für den Verbindungsaufbau vernommen und es läutete zwei mal, eine Zeit die ihm ewig erschien und ihn fast dazu brachte, wieder aufzulegen. Und dann war er ran gegangen. Sascha war so überrascht gewesen, obwohl er ja davon ausgehen musste das am Anderen Ende jemand ran gehen würde, das er keinen Ton heraus brachte. Zweimal musste Nick den Begrüßungssatz des Geschäfts und seinen Namen sagen, und zwei weitere Hallos, ehe Sascha es schaffte, einen Ton von sich zu geben. Wie ein dummes pubertierendes Mädchen, scholt sich Sascha sicher zum zweihundertsten Mal, seit er sich in Nick verliebt hatte. Nun, es war lange her, das er sich richtig verliebt hatte – und ob er sich so verliebt hatte – das wagte er generell zu bezweifeln. Das Gespräch hatte keine halbe Minute gedauert, war sachlich und direkt abgelaufen. Treffen heute, hier, nach Feierabend, in Ordnung. Sascha wusste nicht was er sich von dem Telefonat erwartet hatte, das er solche Hemmung davor gehabt hatte. Seine Fantasie, seine Hormone, sie spielten ihm Streiche. Wie auch jetzt. Es ist eine geschäftliche Besprechung, sagte er sich immer wieder, mehr nicht. Und dennoch überlegte er, was wäre wenn. Und es fielen ihm viele wenns ein, eigentlich viele wenns die ihm entgegen kamen, aber auch genug die ihm Angst machten. Er war zu früh und in den Minuten des Wartens ging seine Fantasie, aber auch seine Angst gnadenlos mit ihm durch. Er sah sich wild mit Nick knutschen und Liebesschwüre austauschen ebenso, wie Faustschläge, weil er es gewagt hatte, irgendetwas zu sagen das Nick als schwul deutete. Er sah Situationen verhaltener Zuneigung und beginnender 74 Zärtlichkeiten ebenso vor sich, wie blanken Hass, weil Nick ihn ob seiner Neigungen für krank hielt. Sascha stand diesbezüglich aber auch ein gewisser Erfahrungsschatz bereit. Vielleicht hatten heterosexuelle Männer die sich Frauen näherten ebenso Erfahrungen mit groben Abfuhren, aber sie arteten vermutlich weniger oft so schmerzhaft aus, wie Sascha es schon erleben musste. Eine Ohrfeige vielleicht, aber das ein Date in der Notaufnahme endete stand wohl eher weniger auf der Wahrscheinlichkeitsskala heterosexueller Verabredungen. Nun, so schlimm war es nun auch wider nicht, aber Sascha war nervös und – wie gesagt – die Angst und seine Fantasie entglitten ihm. Zudem, es war kein Date. Und dann öffnete sich die Türe des Cafes, und Sascha fühlte sich so elend, das er sich am liebsten unter dem Tisch hinter Buster versteckt hätte. Nur um dann fest zu stellen, das Kevin herein kam. Jetzt fühlte sich Sascha wirklich elend. Aber auch irgendwie erleichtert. Enttäuscht aber leicht. Kevin tauschte mit Hellen ein paar Gemeinheiten aus und begab sich dann zu Sascha. „Jo.“ grunzte er plump und ließ sich ihm gegenüber auf den Sessel plumpsen. Hellen warf ihrem Bruder eine Geste des Bedauerns zu, während sie Kevin sein Bier servierte. „Also, schieß los, Zauberer.“ sagte Kevin kühl. Die Beleidigungen über seine kreative Arbeit hatte zwar Hellen verteilt, aber Sascha war für ihn der Böse. Immerhin konnte er Hellen nicht böse sein, sie hatte Möpse, eine Schraube locker und sollte sein Groupie werden. „Ich dachte ich würde das Gespräch mit Nick, äh, mit deinem Kollegen führen.“ sagte Sascha und versuchte, nicht zu enttäuscht zu klingen. „Ja, Mann, ich auch.“ gab Killerkev betont cool von sich. Er nervte Sascha bereits, doch Kevin sah sich in erster Linie anwesend, um Hellen zu beeindrucken. „Aber er hat noch zu 75 tun, und nachdem ich der kreative Kopf der Firma bin, bin ich der Mann mit dem du vorlieb nehmen musst.“ Sascha unterdrückte das herzliche Schade, und begann, das Konzept vor zu legen. Normalerweise hörte er sich vorher die Wünsche seiner Kunden an, und Nick hätte er da auch gerne stundenlang zugehört und ausgefragt, aber da der Fall nun anders lag, überrumpelte er Killerkev einfach mit den Ideen die er zwar aus Berechnung nicht zu Papier gebracht hatte, die aber klar und deutlich in seinem Kopf abgespeichert waren. Dabei ignorierte er jede dumme und auch provokante Frage von Kevin beinahe beleidigend konsequent und zog das ganze Gespräch in einem Durch. Je eher das alles vorbei war, je besser. Dabei war es noch nicht einmal so, das Sascha Kevin nicht leiden konnte, und unter anderen Umständen wäre ein netter Abend daraus geworden. Aber Sascha hatte das Bedürfnis, sich irgendwohin in einer Ecke zusammen zu rollen und seine Verletztheit aus leben zu wollen. Und zwar möglichst bald. Am Ende seines Plädoyers für seinen Vorschlag zur neuen Seite, sagte er: „Wie ich am Telefon gesagt habe: Kurz und Schmerzlos.“ Von wegen, dachte er jedoch. Kevin hingegen hatte ab der Hälfte, als er merkte das seine Vorschläge ohnehin ignoriert wurden, aufgehört, richtig hin zu hören und sich schon auf hinterher gefreut. Er hatte eine Biografie von Cobain durch geackert und würde Hellen bei ihrem Plan beistehen wollen, egal wie abartig er war. Hellen konnte sehen, das Sascha litt. Und sie wusste, das er nicht nach Nick fragen würde. Als sie bemerkte, das die beiden Jungs – sie konnte weder ihren Bruder noch Kevin als Mann sehen - am Ende ihrer Besprechung angelangt waren, stürmte sie hinzu. „Noch wünsche?“ fragte sie, als wären die Anwesenden irgendwelche Fremden. „Zahlen.“ sagte Sascha mutlos. 76 „Ging es da nicht grad um eure Homepage?“ und ohne eine Antwort abzuwarten fragte sie Kevin: „Was ist mit deinem Kollegen?“ „Überstunden, aber das hier interessiert ihn eh nicht.“ erklärte Kevin „Ich bin der kreative Kopf in der Firma und Nick vertraut mir da völlig.“ „Kommt er nach?“ fragte Hellen unbeirrt. Sascha, normalerweise nicht besonders begeistert wenn Hellen so direkt war, genoss es gerade, das er eine so unbefangene Schwester hatte. „Glaub nicht.“ zuckte Kevin die Schultern. „Glaubst du, oder weißt du?“ „Keine Ahnung. Ist doch egal, oder?“ „Was muss er denn noch machen?“ „Das kann dir doch egal sein.“ „Was größeres, wird es länger dauern?“ „Was kümmert dich das?“ „Ich will nur ein bisschen mehr von dir wissen.“ sagte sie und setzte sich neben Sascha. „Macht ihr öfter Überstunden?“ „Geht so.“ „Und Nick? Kommt es oft vor das er so lange bleiben muss?“ „Gelegentlich, ja. Kommst du nun aufs Konzert?“ „Und ist seine Freundin nicht sauer, wenn er immer so lange in der Arbeit ist?“ „Ha, ha. Nick eine Freundin? Nie im Leben.“ Sascha setzte verlegen sein Glas Wasser an die Lippen. Er musste grinsen, konnte nicht anders, und suchte das zu verbergen. „Einen Freund?“ bohrte Hellen nach, und Sascha prustete das Wasser wieder heraus. Hellen kannte keine Grenzen. „Nick? Schwul?“ Kevin begann zu lachen „Das erzähl ich ihm morgen. Du bist gut.“ 77 „Also nicht?“ beharrte Hellen und Sascha fühlte sich hin und her gerissen zwischen Neugier und Verzweiflung. „Nie im Leben!“ betonte Kevin amüsiert „Oder sieht er vielleicht schwul aus?“ „Sieht er schwul aus?“ konterte Hellen und zeigte auf Sascha. Was soll das? Sascha blickte gehetzt. Nicht, das er dazu nicht stehen würde, aber musste das so sein? Kevin musterte ihn kurz und schüttelte dann belustigt den Kopf. „Ein bissi verklemmt vielleicht, aber nicht schwul.“ und zu Sascha sagte er: „Das lässt du ihr durchgehen?“ Sascha, der für einen Moment jegliche Hoffnung verloren hatte, hielt sich an einem Strohhalm fest. Oder besser an der Bohnenstange von Kevins Fehleinschätzung, und sagte lieber nichts. „Warum willst du das wissen? Stehst du auf ihn?“ fragte Kevin Hellen provokativ. „Ich nicht.“ gab Hellen von sich und eilte zu einem Gast der soeben frisch gekommen war. Kevin hatte weder die Anspielung verstanden noch eine Verwandtschaft zwischen Hellen und Sascha vermutet. Zugegeben, das Geschwisterpärchen wies auf den ersten Blick, und auch auf mehrere weitere, keine Gemeinsamkeiten auf. „Du musst sie entschuldigen.“ fühlte sich Kevin also bemüßigt zu erklären und zeichnete einen Kreis neben seiner Schläfe in die Luft. „Ich weiß.“ seufzte Sascha und überlegte, das die zwei gut zusammen passen würden. Da Menschen sehr körperlich präsent sind, ist es für sie von enormer Bedeutung, wie sie aus sehen. Niemand weiß das so genau wie jene, die nicht so aus sehen, wie Menschen vorgeben das sie aus sehen würden. Kein Mensch sieht aus wie Menschen vorgeben das Menschen aus sehen. Manche kommen diesem 78 Ideal nur etwas näher, und manche weichen davon ab. Je näher man dem Ideal kommt, umso besser hat man es im Leben, und umso weniger menschliche Seele musste man kennen. Je mehr man aber von diesem Ideal abweicht, umso mehr muss man von dem mit bekommen, was die menschliche Seele ist. Und das ist der Grund, warum alle schön sein wollen. Die menschliche Seele nämlich, die ist es nicht. Es gab jedoch Veranstaltungen, die dienten der Huldigung vom Ideal abweichender. Ein Rahmen, der einem Menschen wie Kevin die Gelegenheit bot, auf die Bühne zu steigen und angebetet zu werden, war sicher keiner, an dem das Ideal hoch gehalten wurde. Und die Jünger krochen heraus aus ihren Kellern und Dachbodenbehausungen wo sie Männer waren, und keine pickligen Jungen, wie in der restlichen Welt der Ideale. Sie begaben sich unter ihresgleichen, wo Pubertätsschweiß ebenso wenig eine Rolle spielte wie seit Wochen nicht gewaschenes – dafür aber sehr langes Haar. Es war der Ort, an dem der Aufdruck des T-Shirts die Lebensphilosophie preis gab, und nicht das Gespräch. Gewiss nicht das Gespräch. Es war jener Ort, und jene Gruppe von Menschen, für die ein Killerkev ein Star war der etwas erreicht hatte, was sie alle sich kaum vorstellen konnten. Er war schon sechsundzwanzig. In solch illustrer Runde konnten sich auch jenseitige Kreaturen materialisieren ohne weiter aufzufallen. Das war der Grund, warum sich jenseitige Keraturen wie Mana oder Varis gelegentlich auf solchen Konzerten auf hielten. Sie konnten sich unters Volk mischen ohne auf zu fallen, und mochten die satirische Texte über Gott und Satan. Wie Kinder die über Sex reden – so klang es, wenn die Menschen hier über ewige Verdammnis, Hölle, Blut und Sakrilege sangen. Das das ganze noch dazu relativ ernst aufgezogen wurde, verlieh dem Ganzen jenen angenehmen humorvollen Touch, der übersetzt aus der Sprache der Jenseitigen: feiner englischer Humor bedeutete. 79 Amor wälzte sich über die schwitzenden Leiber. Ziemlich weit vorne, neben einem mannshohen Lautsprecher, stand Varis. Als wenn er es nötig hätte so weit vorne zu stehen, schimpfte Amor. Die Schallwellen aus den schwarzen Boxen fegten dem Zweimeter Mann dermaßen um die Ohren, das das glatte blauschwarze Haar im Takt mit hüpfte. Kaum hatte Amor die vorderen Reihen erreicht gehabt – eine beachtliche Leistung – und versucht, sich dort in Varis Richtung zu wälzen, hatte ihn irgendjemand aufgehoben. Seitdem wurde er von schwitzenden Händen an der Oberfläche des Meeres aus Menschen getragen und versuchte gegen die Tendenz anzukämpfen, nach hinten weitergereicht zu werden. Amor hatte ein schwarzes Tshirt mit dem Aufdruck Love Sucks über gezogen und trug eine lederne Motorradhose dazu. Er konnte sich nicht an Varis Nacktheit stören und dann im weißen Nachthemd auf ein Heavy Metal Konzert gehen. Den Glitzerstaub aber wurde er nicht los, er war Teil der Aura und rieselte beharrlich aus seiner Kleidung, den Kids unter ihm in die Augen oder blieb an deren Gesichtern und fetten Haaren kleben. Sie würden es am nächsten Nachmittag schwer haben, sich das zu erklären. Amor überlegte ob er nicht einfach abheben und zu Varis fliegen sollte. Wozu hatte er Schwingen? Okay, es waren keine Schwingen, es waren Flügel, winzige Flügel, Handflächengroß, und ließen ihn eher flirren denn fliegen. Wie eine Hummel hing er dann an diesen kleinen surrenden Dingern und baumelte durch den Raum. Es war erniedrigend. Wenn er richtige Schwingen gehabt hätte, wie einige Engel, das hätten die Kids hier sicher echt fett gefunden. Amor ließ sich treiben und rief der pickligen Masse immer wieder zu „Dort hinüber.“ als würde er lahme Ackergäuler antreiben. Und ebenso zielgerichtet funktionierte das alles auch. Varis war überraschend passend gekleidet. Er hatte es sich zwar erspart, ein Shirt oder so etwas beengendes zu tragen, aber eine Lederweste mit Fransen und Nieten tat es auch. Die Lederne 80 Jeans schien Teil des Sets zu sein, zu dem auch eine Lederkappe gehörte. Die sollte er abnehmen, dachte Amor, wenn er nicht alle anderen hier um einen halben Meter und achtzig Kilo Muskelmasse überragen würde, hätten sie ihm vermutlich schon die Fresse poliert. Vor allem, weil die Lederjeans hinten Aussparungen hatte. Amor krallte sich an der Lederweste Fest, und beschloss, gleich auf dieser Höhe an Varis hängen zu bleiben, um mit ihm zu reden. Instinktiv vergrößerte sich der Abstand des Publikums um die beiden. „Sag mal, hast du jemals ernsthaft nach dem Vogel der Zeit gesucht?“ brüllte Amor dem Riesen ins Ohr, während er versuchte, in den Gürtel zu steigen um besseren Halt zu bekommen. Varis hob den Arm um Amor fest zu halten. Wie das aus sieht wollte Amor lieber gar nicht wissen. Mehr kam nicht von Varis. „Oder anders – hast du je versucht heraus zu finden was er will?“ brüllte Amor weiter. Der Gitarrist, Killerkev, ergab sich einem ausgedehnten E-Gitarren Solo hin, das ebenso schlecht wie laut war aber dafür extra lang andauerte. „Hast du mir zugehört?“ „Ja.“ brummte es aus dem Brustkorb, Amor war Varis noch nie so dicht am Körper gewesen, um das einmal quasi direkt zu spüren. Es fühlte sich beunruhigend gut an. „Was ja? Ja du hast mich gehört? Oder ja du weißt was der Vogel der Zeit will?“ „Ja.“ brummte Varis ein weiteres mal. Amor überlegte, ob er überhaupt wollte, das sie in dieser Art Umarmung ein Gespräch führten, indem Varis längere Sätze sagen musste. „Du weiß also, was der Vogel der Zeit will?“ fragte Amor. „Ja.“ „Du weißt, das er dich will?“ Stelle ihm nur Ja und Nein Fragen, war Amor die Idee gekommen. 81 „Ja.“ Varis schien sehr konzentriert auf das Solo. „Und?“ Verdammt. „Nein.“ „Was nein? Du willst nicht ... also ... du magst nicht mit ihm ..?“ „Nein.“ „Du willst mir jetzt allen ernstes sagen, das du seit dreizehn Jahren weißt wie du den Vogel wieder bekommen könntest, aber du willst einfach nicht?“ „Ja.“ Wenigstens funktionierte das mit den kurzen Antworten. „Hast du den Wirten gesehen?“ „Ja.“ „Das ist eine scharfe Braut, und, wie ich mitbekommen habe, ohne besondere Ansprüche. Sie ist wie geschaffen für dich.“ „Nein, ist sie nicht.“ Amor schielte auf die Lautsprecher, er könnte doch auch von dort mit Varis reden. Dann gäbe es nicht diese peinliche Konstellation das er wie ein Baby gehalten werden musste. Dann fiel Amors Blick auf Varis zuckendes Haar, und er selber spürte auch, wie der Glitzerstaub fast rythmisch von ihm ab stäubte. Oh, nein, wie peinlich. „Sie ist nicht dein Typ?“ fragte Amor. Er wusste gerade nicht, wie er reagieren sollte. Varis hatte von Anfang an gewusst, wo der Vogel war und was er wollte, und hatte sich nur geziert weil die Frau nicht sein Typ war? Was um Himmels willen erwartete er von ihm? Hatte Varis Amor engagiert, das er in ihm Gefühle für den Vogel der Zeit in seinem Wirten – also Hellen entfachte? Das war absurd. „Was ist denn dein Typ?“ fragte Amor schließlich. Pfeile bekam er von Gott keine. Amor hatte mit dem Vogel etwas gemeinsam. Sie hatten beide den Geschmack von Varis anders eingeschätzt. Und im Augenblick war das für beide unangenehm. Amor sah sich um. Eine echte Vielfalt an Frauentypen gab es hier ja nicht – aber es ging um die Tendenz. 82 Er würde Hellen dazu bringen, sich um zu stylen. Das war Amors großer, einfacher Plan. Menschen hatten schon so viele Methoden, sollte er Blondinen im Kostüm bevorzugen, Amor würde Hellen dazu bringen, sich so zu verkleiden. Im Notfall mit einer kleinen Erpressung. Sie war gewiss am Liebesglück ihres Bruders interessiert. „Schau dich um, Varis, welche wäre es denn? Nur ungefähr.“ Varis setzte seinen massigen Körper in Bewegung und Amor krallte sich fest. Es schwankte unangenehm. Varis ließ seinen Blick durch das Publikum schweifen, langsam, konzentriert. Dann fixierte er eine Gruppe von drei Menschen die ganz hinten, fast an der Wand, standen. Amor wurde unruhig als er sah, wie Varis zu lächeln begann, sein Blick sich verklärte und die Körpertemperatur an stieg. Amor versuchte dem Blick zu folgen und trat dann gegen Varis Rippen. „Aber das ist sie doch!“ schrie er. Er hätte es wohl auch geschrien, wenn es die künstlerische Pause in einem klassischen Konzert gewesen wäre. Amor fühlte sich verarscht. „Nein.“ brummte er „Nicht sie.“ und zeigte mit seiner Hand in die Richtung wo Hellen mit Nick und Sascha stand. Nick mit dem Rücken zur Wand, die Kapuze ins Gesicht gezogen und scheu um sich blickend. Hellen rauchte, hüpfte und gröhlte mit und tat gelegentlich etwas, das man tanzen nennen konnte – sie lebte mit der Atmosphäre mit. Sascha wirkte, als hätte man ihn in einer Bank eingefangen, ihm einen Sack über den Schädel gestülpt, und ihn hier wieder ausgesetzt um ein sozialpsychologisches Experiment zu begehen. Er wirkte hier so deplaziert wie eine Komplettduschkabine mit Tellerkopfbrause und Massagedüsen. Amor kannte sie alle. Und das Nick und Sascha miteinander aus gingen, war ein gutes Zeichen. Hatte der Pfeil doch etwas bewirkt? Oder war Nick etwa gar nicht mit Sascha da? In Amor wucherten Befürchtungen. Er hatte Beobachtungen gemacht. 83 Beunruhigende Beobachtungen. Jemand versprühte Glitzerstaub, nicht in Pink, wie er, sonder in Lila. Er hatte Teile von Federn Gefunden wie nur er sie an seinen Pfeilen hatte, aber in Lila. Jemand wilderte in seinem Revier. Jemand hatte die Macht, Liebespfeile zu verschießen. Was, wenn es dieser Jemand auf Nick und Hellen abgesehen hatte? „Ihn.“ sagte Varis. Das kam gleich hinter der schlimmsten Befürchtung von Amor. „Nick?“ fragte er gehetzt. Konnte es schlimmer kommen? „Nein, der andere, ... Sascha.“ sagte Varis. In Amor begann einiges zu dämmern. „Der Junge? Er ist der Junge!“ Varis nickte verklärt und Amor musste los lachen. „Der Vogel der Zeit hat deine ..., ähm, deinen Zustand als eine Reaktion auf das Mädchen gewertet!“ rief er und dann blieb ihm das Lachen im Halse stecken. „Das ist allerdings blöd.“ Denn das war es auch. Die Pläne von atemberaubenden Vorher – Nachher Stylingaktionen für Hellen fielen somit ins Wasser. Und jegliche Chancen, seinen Auftrag zu erfüllen. Wenn der Vogel es dreizehn Jahre nicht geschafft hatte, Varis zu bezirzen (haha), was sollte er, Amor, dann schon machen können? Varis war einfach und direkt. Wenn er etwas wollte, dann ließ er sich nicht mit etwas anderen abspeisen. Als Sascha am Morgen nach dem Rendezvous ohne Nick von Hellen erfahren hatte, das dieser doch noch nach gekommen war, und zwar nur eine halbe Stunde später, hatte Sascha versucht, sich mit einer Scheibe Vollkornbrot umzubringen. Die zumindest hatte er gerade im Mund gehabt und sich heftig daran verschluckt. Was hatte er die Nacht durch gegrübelt gehabt und dabei ständig das Foto von Nick befragt. Warum er nicht zur Besprechung gekommen sei, und was es bedeute, das er keine Freundin habe. Hellen hatte ihm auch erzählt, das 84 Kevin Nick mit der Schwul-Frage überfallen hätte. Laut Hellen habe Nick zumindest nicht sofort verneint. Er habe erst so komisch gelächelt. „Und dann?“ hatte Sascha nach gefragt. Immerhin hatte sie ja erst gesagt. „Nichts. Er hat nur gelächelt.“ „Du hast erst gesagt. Was hat er dann gesagt?“ „Nichts.“ Hellen hatte eine Pause gemacht und dann zögernd gemeint: „Aber er hat den Kopf geschüttelt. Tut mir leid.“ Und nachdem Sascha darauf sprachlos war, hatte sie davon geplappert das sie eine gute Menschenkenntnis habe und davon überzeugt sei, das Nick nur zu schüchtern wäre, das offen zuzugeben. Kevin wäre nicht der Typ dem man das anvertrauen wolle und sie sähe ja auch nicht vertrauenswürdig aus. Sascha solle mal überlegen, ob er ihnen beiden das einfach so anvertraut hätte – und – er müsse zugeben das er Kevins Fehleinschätzung ja auch nicht berichtigt habe. Und dann war sie in Fahrt gekommen. Hatte Szenen entworfen in denen Nick verzweifelt wäre, weil er nun, wegen der Aussage von Kevin, glauben würde er habe bei Sascha keine Chancen. Es wäre nur zu fair, dieses Missverständnis aus zu räumen. Und dann hatte sie ihn zu dem Konzert überredet. Sie wisse, das wäre nicht sein Fall und so, aber immerhin wäre da auch Nick. Und damit hatte sie ihn. Und nun stand er da und fühlte sich so deplaziert wie eine Komplettduschkabine mit Tellerkopfbrause und Massagedüsen. Nick stand mit dem Rücken zur Wand und wirkte auch nicht gerade entspannt. Die Kapuze ins Gesicht gezogen betrachtete er das Geschehen als würde er einen Kriegsschauplatz beobachten. Sascha fühlte sich daher verbunden mit ihm. Das war eine Gemeinsamkeit. Sie beide waren hier ohne es zu wollen. Sascha war hier, weil Hellen der Meinung war, er müsse sich vor den neuen Bekannten outen, um auch nur den 85 Funken einer Chance bei Nick zu haben. Hin und wieder schoss Sascha die Idee in den Kopf, Nick könnte nicht wegen seines Kollegen, sondern wegen ihm da sein. Dann aber wurden ihm jedes Mal die Knie weich und er musste zu allen Dämonen die ihm geläufig waren beten, nicht ohnmächtig zu werden. Irgendwann erspähte er vorne, direkt an der Bühne, neben den Lautsprechern, einen Mann mit langem blauschwarzen Haar, den er kannte. Er war gekleidet wie eine Sado-Maso-Tunte und das verwirrte Sascha zutiefst. Aus Zeiten an die er nicht dachte, kannte er ihn als Gott. Gott umarmte einen Gnom und sah ihn direkt an. Auch solche Erscheinungen erinnerten ihn an eine Zeit an die er nicht dachte. Alles, alles hier war eine einzige große Erinnerung an eine Zeit, an die er aus sehr gutem Grund nicht mehr dachte. Sascha wollte weg. Nicht das er je wirklich hier hätte sein wollen, aber jetzt wollte er ganz bestimmt nicht hier sein. „Ich muss hier raus.“ schrie er Hellen ins Ohr und rammte sie mit seiner Nase in die Raubvogelfrisur. Sie tanzte komisch und zog unablässig an ihrer Zigarette, während sie nickte und dann zu Nick zeigte. Sie bemühte sich erst gar nicht, ihre Stimme in den Krieg mit dem Lärm zu schicken. Sascha schüttelte den Kopf. Was auch immer Hellen dachte. Sie nickte, schüttelte den Kopf, deutete zu Nick, nickte, und warf den Kopf zurück. Sascha war etwas verunsichert was sie ihm sagen wollte. „Was?“ brüllte er daher wieder. „Nimm Nick mit.“ rief sie, wie eine Mutter deren Ältester auf den Spielplatz wollte und den sie dazu nötigte, den kleinen Bruder mit zu nehmen. Ja wie soll ich denn? Dachte Sascha. Dann erblickte er wieder Gott. Gott lächelte. Das war ein Zeichen. Gott gab sich als Schwuler und hatte einen Mann umarmt und lächelte ihm zu. Zugegeben, auch wenn Gott ein sehr seltsames und wenig subtiles Bild gewählt hatte – es war doch ein Zeichen. Sascha trat also an Nick heran: 86 „Ich muss frische Luft holen. Kommst du mit?“ das war einfach und hatte, an anderer Stelle, schon oft gezogen. Noch nie aber war Sascha so gespannt auf die Antwort gewesen. Nicks Augen musterten Sascha auf verwirrende Art, als müsse er sich das mal durch den Kopf gehen lassen. Schließlich beschloss er, Sascha zu begleiten. An jenem Tag, an dem Nick zur Besprechung wegen der Homepage zu spät gekommen war, hatte Kevin recht seltsames gesagt. Nick hatte nicht wirklich etwas zu tun gehabt, er hatte nur ein gewisses Problem, das andere Menschen betraf: Andere Menschen. Nick war es nie leicht gefallen, Kontakte zu knüpfen und die meiste Zeit seines Lebens war das auch nicht notwendig gewesen. Er hatte das Zaubermittel des totalen Rückzugs entdeckt und wandte es an. In der Firma konnte er seltsamerweise ganz gut mit Leuten umgehen. Aber das waren auch keine Menschen, das waren Kunden. Wenn er diese Kunden unterwegs traf, hoffte er zumeist, nicht gesehen zu werden. Sahen sie ihn doch, leider war er körperlich anwesend, nickte er zumeist nur rasch und gab vor, sehr in Eile zu sein. Vielleicht stellte er sich vor, das alle nur immer einen persönliche Bezug herstellen wollten. Für jemanden der den totalen Rückzug lebte war eine Runde Small-Talk schon fast so etwas wie eine nähere Bekanntschaft, und zog Fragen nach sich, ob man nun zu Geburtstagen eine Karte schicken müsse. Nun, es war nicht ganz so schlimm, aber doch ging es soweit, das Nick regelmäßig die Geschäfte wechselte in denen er einkaufte. Und zwar meistens an jenem Tag, an dem irgendeine gut gelaunte Verkäuferin nach der Tagesverfassung fragte oder eine Bemerkung zum Einkauf tätigte. Wie dem auch sei, sich mit einem Menschen den er nicht kannte in einem Cafe treffen um mit ihm zu sprechen, war für ihn eine unüberwindliche Hürde gewesen. Das hatte nichts mit Sascha zu tun, sondern 87 damit, das Sascha ein Mensch war. Aus Begegnungen ergaben sich so unangenehme Dinge wie die Befangenheit der ersten Sätze. Nick hatte daher Kevin unter dem Vorwand vor geschickt, das er noch etwas erledigen müsse. Er hoffte das, was auch eintraf. Das Gespräch war zu ende und der Homepagemann schon weg gewesen. Allerdings hatte Kevin ihn mit der Frage überrumpelt, ob Nick schwul sei. Das kam wirklich unerwartet. Wie reagiert man auf so etwas, wenn der simple Gruß auf der Straße schon fast zu persönlich war? Gut, Kevin war kein Mensch. Kevin war sein Kollege. Und es gab keinen Tag an dem er nicht durch seine besondere Art auf fiel. So ein seltsamer Typ war das beste was Nick passieren konnte, nichts brachte ihn mehr ins schwitzen wie ein normaler Mensch. Wie zum Beispiel Sascha einer war. Mit Hellen konnte Nick auch einigermaßen gut, weil sie kein normaler Mensch war. Etwas an ihr erinnerte ihn sogar an seine Mutter. Vermutlich die irgendwie fürsorgliche Art die sie Nick gegenüber an den Tag legte. Er wusste nicht warum, aber sie sorgte sich um ihn. Nick war nicht Homophob oder so. Er hatte nichts gegen das schwul sein. Er hatte eher etwas gegen das Mensch sein. Nunja, er war kein Menschenhasser, er konnte halt nur nicht so gut mit Menschen. Und das funktionierte auch prima. Absurde Frage, dieser Kevin. „Hellen meinte, es könnte dich interessieren.“ erklärte Sascha. Sie standen vor dem Areal wo das Konzert statt fand, drinnen tobte die Menge. Nick waren Menschenansammlungen lieber als einzelne Menschen. Aber wenn die alternative nicht einzelner Mensch hieß, mochte er auch Menschenansammlungen nicht. Doch Kevins Konzerte besuchte er. War so eine Art Freundschaftsdienst und meist musste er nicht viel tun als hinten zu stehen und am nächsten Arbeitstag seine Eindrücke vermitteln. Doch nun stand er mit 88 einem einzelnen Menschen draußen in der frischen Luft und wünschte sich, drinnen in der tobenden Masse zu sein. Nick war gerade sehr unbehaglich zumute. Sascha war voraus gegangen, er hinterher getrottet, dann war Sascha stehen geblieben und hatte ihm geradeheraus gesagt, das er schwul sei. Und nachdem Nick nicht wusste was er darauf sagen sollte, denn was ging ihn das an – erklärte Sascha eben, das Hellen ihm gesagt habe, es wäre für Nick von Bedeutung. Und damit konnte Nick noch weniger anfangen. Okay. Es war mutig. Es zeugte von vertrauen. Immerhin. „Danke.“ sagte er daher, weil er es als eine höfliche Geste empfand. Der Homepagemann schien sich etwas anderes erwartet zu haben, sagte aber nichts weiter. Ein nervöser Mensch. Nick war manchmal ein nervöser Mensch, daher konnte er das erkennen. Vermutlich fühlte sich Sascha in menschlicher Gesellschaft auch nicht so wohl. Etwas gemeinsames, immerhin. „Willst du wieder rein?“ fragte Sascha und Nick war verwundert. Gerade hatte er doch unbedingt raus gewollt, und nun wollte er doch wieder hineingehen? Es war ja schon verwunderlich gewesen, das Sascha überhaupt auf so ein Konzert wollte, er wirkte hier so deplaziert wie eine Komplettduschkabine mit Tellerkopfbrause und Massagedüsen. „Willst du denn rein?“ war daher Nicks Gegenfrage. „Nein, eigentlich nicht.“ gab Sascha zu und trat von einem Bein aufs andere. „Wollen wir was trinken gehen?“ Von wegen, dachte Nick. Menschen wollen nicht was trinken gehen, sie wollen reden gehen. Sie meinten definitiv miteinander kommunizieren, wenn sie davon sprachen, trinken oder essen zu gehen. Wenn man dann wirklich nur aß oder trank waren sie vor den Kopf gestoßen. „Okay.“ fand sich Nick einverstanden und auch zugleich über seine eigene Zustimmung überrascht. Offenbar hatte er Sascha 89 eine große Freude bereitet. Kein Wunder, Kevins Band spielte unerträglich. Nagut, sagte er zu sich, üben wir Mensch sein. Sascha versank in einem riesigen weichen Sessel. Vor ihnen, auf einem niedrigen Tisch, standen Kaffee und Kakao. Kaffee für Nick, der ebenfalls in so einem bequemen Polstersessel versank, sodass er beinahe auf die Decke sehen konnte ohne den Kopf anzuheben. Im Hintergrund lief irgendein grooviges Kontrastprogramm zu dem Konzert von Kevin und Konsorten. Ruhige Beats, irgendwie harmonisch, fast einschläfernd – und in Kombination mit den Stühlen beinahe fatal. Nick fühlte sich nie wohl, wenn er einem Menschen gegenüber saß. Aber so, wo man einander beinahe gegenüber lag. Sich so auch nicht ansehen musste, sondern an die Bilder an der Wand schauen konnte – damit konnte er sich anfreunden. Sascha erzählte ein bisschen von den Plänen mit der Homepage, das war etwas geschäftliches, das war gut. Nick konnte ihn fast als Kunden betrachten und daher einigermaßen gut mit ihm reden. Er fühlte sich sicher. Was solls, das Leben aus den Angeln heben, dachte er bei sich, und bestellte sogar einen Cocktail. Nick trank selten Alkohol. Manchmal ein Bier mit Kevin, aber er hatte noch nie einen Cocktail getrunken. Sascha hatte ihn angestiftet, selber aber auf ein alkoholfreies Getränk beharrt. Und irgendwann kam sie dann. Die unvermeidliche Frage. „Hast du jemanden?“ fragte Sascha beiläufig. Er hatte lange gebraucht, sich zu überwinden, aber schließlich war er zu dem Ergebnis gekommen: finde es jetzt heraus oder lass es sein. Der Abend und die Tatsache es bis hier her geschafft zu haben, machte ihn mutig. Sicher, er war nur mit einem Kunden etwas trinken. Aber es kam ihm vor, als hätte er eine der schwierigsten Missionen der letzten Jahre gemeistert. „Ob ich jemanden hasse?“ fragte Nick und wunderte sich ein bisschen, während er im Bild an der Wand versank. 90 „Das Gegenteil.“ erwiderte Sascha und beobachtete ihn von der Seite. Überhaupt konnte er ihn eigentlich die ganze Zeit ungeniert anstarren, denn Nick hatte seinen Blick fast permanent in das Bild versenkt. „Nein, sowas brauch ich nicht.“ erklärte er und schlüfte von seinem Cocktail. Nick merkte das ihm ein wenig schwummrig wurde, angenehm leicht und angenehm schwer zugleich. Sascha fühlte sich gerade alles andere als angenehm – egal ob schwer oder leicht. „Was brauchst du nicht?“ fragte er und setzte sich auf. „Na jemanden haben. Liebe und der ganze Mist.“ Aus seinen Augenwinkel konnte Nick sehen, das Sascha aufrecht saß und ihn ansah, während er angenehm in das Sofa gedrückt gegen ein Bild starrte. Er fühlte sich beinahe wie bei einer therapeutischen Sitzung. Das war als Kind ein paar mal notwendig gewesen. Seine Mutter hatte sich eingeredet, er brauche das weil er keinen Vater habe. Wer auch immer ihr den Floh ins Ohr gesetzt hatte, keinen Tag später lag er auf einem Sofa und eine Frau Doktor stellte fragen. Nick hatte es genossen. Jemand hörte ihm zu, und weil er das mitmachte bekam er nachher ein Eis und seine Mutter war stolz auf ihn. So als wäre es ein Zahnarztbesuch gewesen. Aber gegen einen Zahnarztbesuch war das der Himmel. Nick hatte davon gesprochen, das er wisse wer sein Vater wäre. Er könne nicht da sein, weil er in der Zukunft leben und im Krieg gegen Maschinen kämpfen müsse. Er wäre aber einmal in die Vergangenheit gereist um sie für die Zukunft zu verändern, was zwar schief gelaufen sei – aber nicht wirklich – denn hey, er war ja da. Man muss dazu sagen, das Nick sich die Videokasette von Terminator so oft angesehen hatte, bis sie am Schluss kaum noch zu erkennen war. Irgendwann musste er nicht mehr zur Therapie. Da hätte er sie aber gebraucht. Denn nun wusste er, das sein Vater kein Zeitreisender Krieger war, und in seiner Klasse wurde bekannt, 91 das Nick von Nikolaus kommt. Und als wäre das nicht alles gewesen, hatte er fest gestellt, das viele seiner Mitschüler Junior genannt wurden. Zumeist, wenn sie dieselben Namen wie ihre Väter hatten. Und als er eines Tages am Heimweg in der Weihnachtszeit in einer Seitengasse hinter dem Kaufhaus einen betrunkenen Weihnachtsmann kotzen sah, der sich von dem stierenden Kind genervt fühlte und mürrisch rief: Hau ab, Junior ... ja, also da hätte er dann diese Therapie wirklich gebraucht. „Wie meinst du das? Liebe brauchst du nicht?“ fragte Sascha in ruhigem aber besorgten Ton. Nick stierte auf das Bild, wie damals, und begann zu reden. „Ich habe das geschworen. Vor ewigen Zeiten. Mein bester Freund hat sich wegen einer Frau umgebracht. Er war lange heimlich in sie verknallt. Wochenlang, monatelang hat er mich damit genervt, wie toll sie sei und wie sehr er sie liebe. Er hat ihr Liebesbriefe geschrieben und Liebesgedichte – aber er hat sie nie abgeschickt. Irgendwann hat er sich dann wohl doch getraut – und sie ... Tja, da hat er einen Strick genommen und russisch Roulett gespielt.“ „Russisch Roulett mit einem Seil?“ „Er hat es angesägt. Reißt es, hat die Liebe Sinn. Reißt es nicht, hat die Liebe keinen Sinn. Es ist nicht gerissen. Das heißt, es ist zu spät gerissen. Ich hab ihn gefunden.“ Wow, das war ja einfach. Nick war überrascht wie gelöst er darüber sprechen konnte. Er hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Er hatte sich oft ausgemalt wie es sein würde, hatte Nervenzusammenbrüche voraus gesehen – aber das er die Sache so kühl herunter erzählen konnte. Er fühlte nichts dabei. Zumindest als er darüber gesprochen hatte. Er hatte das Bild angeschaut und sich erzählen hören. Aber er hatte es nicht vor sich gesehen, nicht gespürt. Nicht wie in den Träumen. 92 „Das ist schrecklich!“ sagte Sascha betroffen. „Aber ... was hat das mit deinem Schwur zu tun?“ Da erst löste Nick den Blick von dem Bild. Mit einer Sekunde brach alles über ihn herein, es traf ihn mit voller Wucht. Wie bei einer morbiden Diashow drängten sich Bilder in sein Bewusstsein, immer schneller. Davon wie er die Türe zu Svens Zimmer öffnete, wie er ihn am Boden liegen sah, erst nicht begreifend, dann das gerissene Seil am Haken, er sah den Toten in seinen Armen vor sich, wie der Kopf nach hinten sackte, der Mund weit offen. Nick sah es vor sich wie er ihm die blonden Haare aus dem Gesicht strich, das schon erste Flecken aufwies, den Striemen am Hals vom Seil, er sah sich selber schreien, ihn in den Armen wiegen, und letztlich den Schwur leisten und mit einem Kuss auf die kalten blauen Lippen seines besten Freundes besiegeln. Er hatte keine Tränen, aber er zitterte und war blind für das Hier und Jetzt. Als er Sascha anschaute sah er Sven an dessen Stelle. „Das Seil ist gerissen. Es hat keinen Sinn. Wenn ich nicht Liebe, dann hat dein Tod einen Sinn gehabt.“ erklärte er, als wäre es die logische Konsequenz und eine Frage dazu blanker Hohn. Nicks Magen verkrampfte und er hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Im wurde schlecht. Wie ihm immer schlecht wurde wenn ihm Szenen dieses Traumas durch den Kopf gingen. Er sprang auf, schien etwas sagen zu wollen, seine Fäuste hielt er geballt – und dann rannte er zum Ausgang als wäre der Teufel hinter ihm her. „Warte.“ sagte Sascha, warf einen Schein auf den Tisch der reichen sollte, und stürmte Nick hinterher. Als er die Tür des Lokals erreichte, sah er Nick in der Ferne um die Ecke biegen. „Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, der Typ hat einen Knall.“ seufzte Sascha und stellte fest, das er verliebter war als je zuvor. „Entschuldigung.“ sagte der Kellner und hielt Sascha etwas 93 entgegen. „Sie haben was vergessen.“ Es sah aus wie ein Notizbuch und Sascha wollte schon ablehnen und sagen, das es ihm nicht gehörte, als er doch danach griff. Vielleicht gehörte es Nick? „Danke.“ nickte er dem Kellner zu und nahm es an sich als wäre es ein geheimnisvoller Schatz. Es musste Nick gehören, er erinnerte sich an Hellens Erzählungen davon, das er in ein kleines Buch zeichnet. Sascha wollte nicht rein sehen. Nicht sofort zumindest. Etwa zur selben Zeit als Nick entgegen seine Gepflogenheiten aus seinem morbiden Köfferchen purer Lebenslust plauderte und dann damit klar kommen musste, hatte Hellen Streit. Ihr Gegner saß in ihrem Mittelohr oder wo auch immer. Jedenfalls dort wo es weh tat wenn er schreit, und so, das Hellen ihn nicht ignorieren konnte. Das war der Nachteil wenn man mit seiner inneren Stimme einen Disput hegte. Man konnte nicht die Türen knallen und einfach weg fahren. Das hieß, man konnte gerne mit Türen knallen, wenn es einem beliebte – und es machte auch sicher Spaß, durch die Gegend zu fahren – aber der Streit war damit nicht unterbrochen, geschweige denn beendet. Es ging immer weiter und weiter und irgendwann ging es nur noch darum, wer angefangen hatte und wer auf keinen Fall klein Beigeben würde. Die Sache an sich hatte sich verloren, oder war eine ganz Banale gewesen, wegen derer man normal nie streiten würde, wenn, ja, wenn man nicht ständig aufeinander kleben würde. Hellen wusste nicht mehr wer angefangen hatte, aber sie wusste, das sie auf keinen Fall klein beigeben wollte. Ihrer inneren Stimme ging es haargenau so. Gemessen daran hätten sie beste Freundinnen sein können, wenn sie nicht gerade ineinander verkeilt waren. „Es wird Zeit das wir uns trennen.“ sagte Hellen schließlich und 94 machte damit Kevin ganz nervös. Er war sich zwar nicht sicher gewesen, ob er mit ihr zusammen war (seinen Bandkollegen gegenüber waren sie es) aber das es aus sein sollte ehe er es mit ihr getan hatte, ging ihm ein bisschen zu schnell. „Oh.“ sagte er daher „Wolln wir noch geilen Abschiedssex?“ Besser jetzt als nie, oder? „Ich habe nicht dich gemeint.“ gab Hellen zurück. „Oh.“ sagte Kevin wieder „Aber wir könnten es trotzdem tun.“ „Halt die Klappe Kev.“ fuhr sie ihn an. Kevin war high von der Dosis Rockstar die er gerade gelebt hatte. Auf der Bühne, Fans und so. Das die nicht in erster Linie wegen ihm sondern einigen anderen Bands gekommen waren, verdrängte er erfolgreich. Auf jeden Fall war er ganz berauscht davon, ein begehrter junger Mann zu sein, und konnte nur an eines denken. „Hast du es echt mit allen gemacht?“ fragte er schließlich. „Fast.“ gab Hellen knapp von sich. Sie schmollte auf ihre innere Stimme und beschloss, sie zu ignorieren. So funktionierte das. Kevin rollte anerkennend mit den Augen und pfiff beeindruckt. „Das sind über dreihundert.“ erklärte er. „Nur die, die nicht älter als vierzig waren und nicht eines natürlichen Todes starben.“ erklärte Hellen. „Also quasi ... alle unter vierzig.“ Kevin war noch immer beeindruckt. „Sind immer noch, hm ...“ „Zweihundert, cirka.“ erklärte Hellen. Kevin wurde still. Nicht aus Schock, oder Ekel oder Eifersucht wie man glauben möchte. Er dachte, wenn ich es mit der Frau treibe, dann treibe ich es irgendwie auch mit allen toten Rockstars. Cool. Er musste es einfach mit ihr machen. „Lebende auch?“ fragte Kevin. „Hey, ich hab auch noch ein normales Leben, und Job und so.“ „Aha, verstehe.“ tat Kevin als würde es ihn interessieren das sie auch noch ein Leben jenseits von Sex hatte. Gerade mochte er sich nicht einmal vorstellen das er selbst ein solches führte. 95 „Das heißt, wenn ich jetzt sterbe würdest du sofort geil auf mich werden?“ „Was genau an Rockstar hast du nicht verstanden?“ gab Hellen zurück. Die innere Stimme kicherte. „Der war gut.“ Kevin fühlte sich, als hätte ihm jemand vor geworfen, als Rockstar keine Bedeutung zu haben. He, moment mal! Kevin schmollte. Hellen hörte ihm eine Weile beim Schweigen zu. „Tut mir Leid, so hab ich das nicht gemeint.“ erklärte sie, nachdem sie sicher gehen konnte, das seine Hormone wieder etwas abgeflaut waren. „Ich habe nur noch einen auf der Liste und dann ist Schluss damit.“ „Und wenn ein echt berühmter Rockstar stirbt? Heute oder so?“ „Kommt darauf an.“ sagte Hellen. „Wie alt er ist?“ fragte Kevin, Hellen nickte grinsend und stieß Kevin in die Seite. Die heilige Dreifaltigkeit der menschlichen Seele besteht aus dem Menschen, den man anderen zeigt, dem, der man glaubt zu sein, und den, der man wirklich ist. Nick saß inmitten von Schluchten aus Büchern über die Wäsche drapiert war, in deren Tälern DVD und CD Hüllen grasten. Aus den Boxen jaulten depressive Töne depressiver Liedermacher, vor seinen Knien breitete sich ein Meer aus Zeichnungen aus, die in den letzten Monaten entstanden waren. Er hatte immer gedacht zu wissen, wie er sich anderen zeigte, er war überzeugt, zu wissen wer er war. Er war der ruhige, unauffällige Mensch, der eine gewissen Begabung für das Zeichnen entwickelt hatte und einigermaßen verantwortungsvoll einem Job nach ging. Kein großer Redner, kein Gesellschaftstyp. Nick ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Jemand, der ein gewisses Problem hatte, Ordnung zu halten und zu schaffen – der sich in seinem Chaos aber gut zurecht fand. Jemand, der niemanden hatte, der niemanden 96 wollte. Auf den Zeichnungen die sich wie ein Teppich der Erkenntnis vor ihm ausbreiteten fanden sich ein paar duzend Portraits und eine beachtliche Anzahl Körperstudien wieder. Mit Kohle und Bleistift schraffierte Torsen in verschiedenen Bewegungen, verschiedenen Lichteinfällen. Schöne Körper, detailliert, jeder Muskel, jede Wölbung saß an der Richtigen Stelle – die Proportionen beherrschte Nick aus dem kleinen Finger. Und Sven, immer wieder Sven. Ein Freund war er gewesen, der beste Freund. Ein Bruder fast. Und in den Ohren war er Nick gelegen. Tag für Tag, Woche für Woche, Monatelang oder Jahrelang. Einseitige Liebe. Sie war hübsch. Zumindest hatte Sven das immer behauptet. Sie musste der reine Engel gewesen sein. Nick hatte sie nie persönlich kennen gelernt, aber durch die beständigen Schwärmereien Svens hatte er den Eindruck, sie zu kennen. Tausend verpasste Chancen, hundert Mal der Mut versagt. Sven hätte nicht so unsicher sein müssen, fand Nick. Sag es ihr, gestehe es ihr, wie könnte sie anders als geschmeichelt sein? Hatte Nick geraten. Er mochte es nicht mehr hören, nicht mehr ertragen. Wenn Sven den Schritt täte, dann wisse er zumindest woran er wäre. Mehr, mehr als ihn abweisen werde sie wohl nicht können. Und dann hatte Nick ihn gefunden. Nick hielt den blonden, leblosen Schopf in seinem Arm. Er strich immer wieder über Svens hohle Wange und ohrfeigte sie dann. Sven würde gleich aufwachen. Sicher würde er gleich aufwachen, er trieb nur einen dummen Scherz. Einen sehr dummen Scherz. Doch Sven wachte nicht auf. „Verschwinde, du scheiß Vogel.“ schrie Nick die Krähe an, die lästig auf die Brust des Toten sprang, sich immer nur kurz scheuchen ließ. Sie war lästiger als eine Fliege im Hochsommer, die von Schweiß kosten möchte. Sie wetzte den Schnabel an Svens Hemd, blickte Nick auffordernd an. Dieser hob sachte Svens 97 Kopf an und entfernte das Seil, indem er es vorsichtig über den Kopf schob. Als er den gefiederten Aasfresser wieder scheuchen musste, bemerkte er ein Stück Papier in der Brusttasche von Sven. Es war ein Abschiedsbrief. Sven hatte kein Wort zu viel geschrieben. „Liebe ist Aussichtslos“. Sie hatte ihn wohl nicht erhört. „Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.“ stand noch als reiner Zynismus dabei. Nick fühlte sich hin und her gerissen zwischen Schmerz und Hass. Mal wiegte er den Toten in seinen Armen – dann wieder hatte er den Wunsch, ihn zu schlagen. „Wenn du nicht tot wärst – dafür könnte ich dich umbringen.“ schrie er, flüsterte er. Und dann fasste Nick den Entschluss. Er wolle nie lieben. Nie wieder. Er schrie es hinaus, irgendeinem gelangweilten Gott entgegen: „Ich schwöre hiermit, nie wieder zu lieben.“ Und dann küsste er den Toten. Ein erstes Mal. Ein letztes Mal. Nick hatte alles verdrängt, doch seine Träume und seine Hände erinnerten ihn immer wieder. Und Nick hatte die Träume hinweg geschoben, die Zeichnungen vor sich versteckt. Er war so beschäftigt gewesen damit, sich nicht zu erinnern, das er fast vergessen hatte. Das er beinahe vergessen hatte, wie er für Sven gefühlt hatte. Nick stierte auf den Teppich der Erkenntnis, graue Zeichnungen auf weißem Papier. Doch ja, er hatte Sven nicht vergessen, nie. Aber er hatte die Liebe vergessen. Sie hatte nie existiert. Nicht für andere, nicht für Sven, nicht einmal für Nick. Und doch war sie da gewesen. „Du hast WAS?!“ brüllte Amor, der sich als einen verstandesorientierten – nun – zumindest verständnisvollen Liebesboten hielt. Nun, zumindest dachte er, er wäre verständnisvoll weil er Liebesbote war. Nun aber, da er Mana gegenüberstand, deren wundervolle blattgrüne Augen in einem Salzsee ertranken der in der Sekunde da er seiner Empörung 98 Luft gemacht hatte überlief und glänzend nass über die blassen Wangen floß, da musste er sich eingestehen, das er keine Geduld für Kinder hatte. Deswegen bin ich auch kein Storch, sagte er sich und seufzte genervt, deswegen, und weil ich kurze dicke Beine habe. „Sie kann nichts dafür.“ brummte es aus etwa zwei Metern höhe und Amor hatte keinen Nerv, aufzublicken. Zumal seine Augen sich in einer wirklich misslichen Höhe befanden, wenn er vor Varis stand – und Varis diese verflixte Freikörperkultur pflegte. „Tut mir Leid.“ schluchzte Mana und rieb sich mit ihren Kinderfäusten auf diese unbeholfene Art über die Wangen, wie kleine Kinder das nun einmal tun. „Tut mir leid, tut mir leid.“ äffte Amor sie in ihrem weinerlichen Singsang nach. Das Mädchen brachte Menschen dazu, sich Überdosen zu geben, sich an Stricke zu hängen, von Dächern zu springen – nie und nimmer wollte er ihr abnehmen, das sie gerade heulte wie ein echtes Kind und dabei echten Schmerz empfand. Natürlich ahnte Amor das er gerade ein klein wenig übertrieb, aber wer hatte das Melodram in Gang gesetzt? Ihm konnte wirklich keiner etwas vor werfen. „Bist du jetzt nicht ein wenig hart?“ spielte sich Varis als Gewissen auf. Ausgerechnet. Amor stemmte seine Hände in seine Hüften und brachte damit seinen kugelförmigen Bauch hervorragend zur Geltung. „Ah! Mister Sie-ist-nicht-mein-Typ weiß plötzlich, wie man sich beherrscht. Mister sie-ist-nichtmal-irgendein-Typ ist der Meinung man müsse sich ein bisschen zusammenreißen. Mister iii-sie-ist-eine-Frau-deswegen-zier-ich-mich-scheißverdammte-dreizehn-jahre-und-verzichte-auf-den-vogel-derzeit meint er könne mir beibringen wie man sich zurück nimmt um ein höheres Ziel zu verfolgen, ja?“ Amor war in Form. Ein Storch hat größere Flügel. Er hat Schwingen. Verdammt, 99 warum denk ich jetzt an den Storch, dachte Amor. Mana schluchzte nun geräuschvoll. Varis stierte betreten auf seine großen Zehen. „Also gut!“ seufze Amor schließlich, ließ dabei seine Schultern sinken wie ein Vater den man dazu überredet hatte, eine billige, höchstwahrscheinlich sogar giftige Actionfigur aus Plastik zu einem idiotisch überhöhten Preis zu kaufen „Seit wann ist er weg?“ Mana hörte augenblicklich auf zu schluchzen sondern schaute – nein, sie blickte wie ein zehnjähriges Mädchen dessen Vater sich dazu entschlossen hatte die billige, höchstwahrscheinlich sogar giftige Actionfigur aus Plastik zu einem idiotisch überhöhten Preis zu kaufen. „Seit gestern.“ sagte sie, und sniefte noch einmal, um zu demonstrieren, das ihr letzter Heulkrampf noch nicht weit genug weg war, um nicht doch noch rasch zurück zu kommen. „Als wir auf dem Konzert waren.“ brummte Varis schuldbewusst ohne eine Idee zu haben, worin hier nun seine Schuld lag. Amor würde dies gewiss wissen. „Hat er ... nun ... hat er vielleicht gesagt wo er hin geht?“ fragte Amor und sprach das offensichtlichste an. Im Kontakt mit Jenseitigen hatte er gelernt, das naheliegendes oft nicht ganz so nahe lag wie man meinen mochte. Speziell wenn er an die Sache mit dem Vogel der Zeit dachte. „Nein!“ gab Mana so selbstverständlich von sich, als habe Amor gefragt ob sie etwas mit Pontius Pilatus zu tun gehabt hätte. (Amor hatte da seine Theorie). „Hat er irgend etwas mit genommen?“ fragte Amor und rieb sich am Kinn. Das sah geistreich aus. „Nur das was fehlt.“ meinte Mana und hob zum besseren Verständnis Nastyboys Leine hoch, die durchgebissen war und so traurig am Handgelenk des rothaarigen Mädchens baumelte, wie der gerissene Strick eines Selbstmörders. 100 Es lag da wie die Versuchung höchstselbst. Klein, schwarz, schmuddelig und rechteckig - Sascha hätte nie gedacht das so etwas jemals in der Lage sein könnte, ihn herauszufordern. Und doch. Wie es da auf dem gläsernen Tisch neben seiner Maus lag - vielmehr lauerte - es wollte ihn. Sascha hatte es geschafft sich bis jetzt zu zieren. Es geht mich nichts an, hatte er sich gesagt und sich mit Warnungen über Vertrauensmißbrauch davor bewahrt, hineinzusehen. Oh - in der Hand hatte er es oft gehabt, und gelegentlich war es auch aus derselben gefallen um dabei etwas ungeschickt aufzufallen und vom Inhalt preis zu geben. Aber dabei war es köstlich schüchtern gewesen und er hatte nichts erfahren. Sascha musste mit der Maus eine weitläufige Bewegung machen und dabei berührte er das Notizbuch erneut. Okay, es hatte es so gewollt. Die kurze Pause, ehe er schamlos darin blätterte diente nicht mehr einer kleinen Gewissenskontrolle. Seine Entscheidung war gefallen. Es war eher ein innerer Reboot, um auch wirklich jede intime Information aus den Aufzeichnungen von Nick zu erfassen, derer er habhaft werden würde. Und am Ende machte es ihn unglücklich. Keine Frage, Nick hatte Talent und die Tatsache das er ebenso kreativ veranlagt war wie er selber erfreute Sascha durchaus. Verstörend jedoch empfand er das Motiv. Durchaus - die Neigung seines Augensternchens bildete sich deutlich heraus. Nicht das Sascha so eindimensional dachte und nur aus der Präferenz des Motivs auf die Präferenz im Leben oder dem Bett schloss, doch so detailiert, so hingebungsvoll und beharrlich für so ein unbedeutendes Notizbüchlein - das war Leidenschaft. Allerdings für einen bestimmten Mann der nicht Sascha war. Und der für jede einzelne Zeichnung Modell gestanden hatte. Ein hübscher junger Kerl, das erkannte Sascha neidvoll und spürte sein Herz brechen. Nicht nur das Nick offenbar einer 101 jener Menschen war, die sich verleugnen - denn warum sonst hatte er Hellen und Kevin angelogen - hatte er wohl doch jemanden. Und speiste Sascha auch noch mit einer so billigen Geschichte ab, anstatt die Wahrheit zu sagen. So ein Feigling. Verleugnet seine Neigung und seinen Partner gleich dazu. Das war Sascha nur zu vertraut und er hatte sich geschworen, so etwas nicht mehr mit zu machen. Und im Gegensatz zu dem Schwur, nie wieder zu lieben, war das einer, den er tatschlich umzusetzen gedachte. Das war er sich selbst schuldig. Er würde Nick das Buch zurückbringen und sich dann daran machen, sich zu entlieben. Sie war jung. Sie war blass. Sie war stoned. Und der Vogel der Zeit dachte nur Donnerwetter. Hellen konnte Mana nicht sehen, die ihre Emo-Puppe unter ihren zarten Arm geklemmt hielt und sich mit einem jungen künftigen und künftig toten Rockstar und ihr einen Joint teilte. Sie saßen nebeneinander, den Rücken an den aus Stein gemauerten Rundbogen einer Brücke gelehnt. Die Beleuchtung der Straße über ihnen spiegelte sich im Flussbett wieder, wo das Wasser eher tümpelte denn floss. Mana auf der einen Seite, Hellen auf der anderen Seite, der blonde Junge in der Mitte. Sie waren alle nicht alleine. Hellen hatte ihre innere Stimme, der künftige Star hatte ein äußeres kleines Mädchen. Und sie tauschten ihre Erfahrungen mit ihren Parasiten aus. „Sie kommentiert nahezu alles.“ schilderte Hellen und blies Rauch aus ihrer Nase. „Sie hat diese gruselige Puppe.“ erklärte der junge Mann. „Darfst du das denn überhaupt?“ fragte die innere Stimme. „Kann dir egal sein, Scheißvieh.“ klirrte es aus Mana. „Sie kann deine sehen.“ stellte Hellen fest. „Sie kann deine nicht leiden.“ erklärte der künftige Star. „Er kann dich sehen und hören?“ fragte die innere Stimme. „Sie dich doch auch.“ gab Mana zurück. 102 „Sie wissen das wir es wissen.“ meinte der Blonde. „Wär ja noch schöner.“ gab Hellen zurück, verfolgte die jugendliche Hand mit dem Joint der alsbald in der Luft schwebte und sich mit einem Zug verkleinerte ehe er in die Finger des künftigen Stars zurück manövrierte. „Du, äh, deine kifft?“ „Deine nicht?“ „Gute Frage.“ „Solltest du nicht erst in zehn Jahren oder so kommen?“ fragte der Vogel. „Kiffst du?“ fragte Hellen. „Siehst du doch.“ erklärte der künftig berühmte Leichnam erst verwirrt – und gab dann ein verständnisvolles „ah“ von sich. „Solltest du gar nicht kommen?“ gab Mana zurück. „Touché.“ ächzte die innere Stimme. „Aber du kannst ihn nicht jetzt holen – es ist zu früh. Der soll sich doch erst in zehn Jahren erschießen, nicht heute Nacht.“ Hellen nahm einen Zug, hustete, ließ Schall und Rauch auf sich wirken und wandte sich mit dem Ergebnis ihrer Erkenntnis an den jungen vielleicht schneller toten Mann als gedacht. „Sag mal, hat deine eine schwarze Kutte oder eine Sense oder sowas dabei?“ „Nö, aber ein schwarzes Kommunionskleid und eine Puppe, Wieso?“ „Nur so... warte.“ sagte Hellen, hob ihren Zeigefinger, aufmerksam darauf bedacht, dem Gespräch der inneren Stimme zu folgen. „Er entscheidet wie und wann.“ gab Mana zurück. „Es geht irgendwie um mich, oder?“ fragte der Blonde. „Aber keine zehn Jahre! Der kann nicht zehn Jahre aushalten.“ meinte der Vogel. „Ich hoffe doch, er muss doch noch ein Star werden.“ mischte sich Hellen ein. 103 „Star?“ fragte der blonde junge Mann. „Ja.“ erklärte Hellen, schaute in die blauen, rot unterlaufenen Augen des Blonden, packte ihn an den Schultern und sagte: „Dein Leben wird beschissen sein. Du wirst dich fühlen wie dreimal aufgefressen, verdaut und wieder ausgekotzt. Jede Minute deines Lebens wird eine Qual sein und du wirst es beenden wollen. Es wird einen Haufen beschissener Leute geben die dir einen beschissenen Scheiß einreden wollen.“ „Ermutigend“ stellte der Junge fest. „Du wirst dich selber hassen und du wirst diesen Hass zelebrieren. Und du wirst keinem glauben der dir versucht, einzureden das du dich irrst.“ „Ist das ein Befehl, oder die logische Konsequenz?“ „Hör zu. Das alles wirst Du durchhalten und ertragen denn Du wirst einer der berühmtesten Rockstars des Jahrtausends werden. Vor allem nachdem du dich ... Ich meine, lebe was du leben kannst – aber mach aus der Scheiße Gold.“ „Aha.“ hob er ungläubig seine Augenbrauen. „Du musst mir glauben. Ich komme aus der Zukunft und reise durch die Zeit um to... um die berühmtesten Rockstars zu vögeln. Nur deswegen bin ich heute und jetzt hier. Ums mit dir zu treiben, weil du der Held einer ganzen Generation wirst.“ „Cool.“ sagte der siebzehnjährige mit glasigen Augen, der nur die Sache mit dem Sex hier und jetzt wirklich begriffen hatte und beschloss, sie nicht warten zu lassen bis sie es sich vielleicht überlegte. Sie hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da klimperte sein Gürtel bereits auf Kniehöhe. Er war bereit und gab sich einer sehr kurzen - für Hellens Verhältnisse – und aufregenden – für seine Verhältnisse - Zeit hin. Das Wasser plätscherte, das Licht der Laternen tanzte darauf und unter der Brücke war sich ein zukünftig toter Rockstar sicher, das er öfter mit Drogen Experimentieren sollte, wenn die Visionen dadurch so – real - wurden. Und das auf 104 diese ansprechende Art und Weise. Die Sache mit der Qual und dem Leid und all dem Zeug war weiter von ihm entfernt als jemals in seinem Leben und würde noch früh genug akut werden. „Der hält zehn Jahre durch, nachdem er dich gesehen hat?“ fragte der Vogel Mana ungläubig. Mana nickte. „Danke auch.“ gab Hellen, den süffisanten Stil ihrer inneren Stimme gewöhnt, zurück. „Gern geschehen.“ grinste der junge Casanova – oder zumindest jener der Anwesenden, der glaubte, das zu sein. Das er erst in Zukunft das darstellen würde was Hellen eigentlich erlegen hätte wollen, konnte er nicht ahnen. Und Hellen bekam eine Art – nun – unliebsame Auffrischung von Erlebnissen ihrer Jugend mit Jungen ihres damaligen Alters - nur das sie heute wusste dass das – nun – nicht ganz das war, wovon alle immer sprachen wenn sie von Sex redeten. „Dich meinte ich nicht.“ sagte Hellen abwertender als sie beabsichtigt hatte, und zupfte ihr Raubvogelnest zurecht. „Ach ja, die Stimme.“ erinnerte sich der Blonde verständnisvoll, knöpfte seine Hosen zu und fragte sich, ob es als Dreier galt wenn man mit Frau Sex hatte, die Stimmen hört. „Ist es eine weibliche Stimme?“ es schien ihm jetzt irgendwie wichtig zu erfahren. „Nein.“ erklärte Hellen und der blonde Jüngling bekam die erste Vorstellung des Schmerzes den er noch ausgiebig würde fühlen müssen. „Eher ein Tier, soviel ich weiß.“ „Oh.“ klang er etwas verstört und fragte sich, ob er eventuell Rockballaden über Unzucht mit sprechenden Tieren schreiben würde. Zumindest aber schien die Vorstellung, sich selber zu hassen gar nicht mehr so absurd. „Ich werde dann mal wieder.“ erklärte Hellen in der typischen postkoitalen Stimmung eines Ereignisses, das nicht ganz das versprochen hatte, das sie erwartet hatte. Zwar hatte sie sich 105 diesmal auch mehr wie eine Krankenschwester denn ein Groupie gefühlt – aber gemessen an den anderen besuchen bei ihm war sie immerhin so etwas wie erfolgreich gewesen. Sozusagen. Daher wollte sie ihm noch etwas auf den Weg geben, ehe sie ihr Abenteuer „Rockstar sammeln“ glücklicherweise für immer beendete. „Zuck aus.“ flüsterte sie also „Es sind doch nur Musikinstrumente.“ und verschwand im Nirwana. Kevin verströmte das Aroma verhaltener Aufregung. Dabei funktionierte die Sache mit dem verhalten nicht so ganz. Sein ovaler Schädel war irgendwie überall gleichzeitig und die Schuhbandhaare zitterten beinahe vor Nervosität und vergaßen ihre taoistische Angewohnheit des gelassenen Baumelns. Nick wusste, dass es keiner großen Erkenntnis bedurfte, diese Feststellung zu machen: Kevin war unbrauchbar. Kevin würde Muskelzerrungen im Rücken bekommen, so oft wie er eine Korrektur des Bestimmungsortes diverser Gegenstände vornehmen musste und sein Hinterteil war öfter am obersten Punkt seines Körpers als sein Kopf. Auf Nachfragen reagierte Kevin höflich bedeckt, dabei äußerst frenetisch, und je näher der Nachmittag rückte, je näher der Zeiger der Uhr auf zwei nach Mittag zu zuckelte, umso gefährlicher wurde ein Aufenthalt in Kevins Reichweite. Abgesehen davon war es ein ruhiger Arbeitstag. Fast etwas zu ruhig. Und diese Kombination von verdächtiger Stille und angespannten Kevin verursachte Nick ein flaues Gefühl. Etwas stimmte nicht. Schließlich - fünf Minuten vor zwei – betrat eine dunkle Elfe das Lokal. Ein Raubvogelnest auf ihrem Kopf, ein Strahlen in ihrem bleichen herzförmigen Gesicht und gekleidet wie eine Vampirfrau. Kevin sprang fast einen halben Meter senkrecht in die Höhe, ähnlich wie Krieger dieses afrikanischen Stammes, und schwebte dann auf Hellen zu, als hätte er Raketenstiefel an. 106 Nick grinste in sich hinein. Ach, das hätte er sich doch denken können. Die zwei steckten ihre Köpfe zusammen wie kleine Jungen die aufgeregt ihre neuen Might and Magic Karten austauschten und kicherten dabei verschwörerisch. Nick kam sich so erwachsen vor, neben den Beiden, dass er geradezu väterliche Gefühle entwickelte als er sagte: „Kevin, du kannst für heute Schluß machen.“ Um ihn nach hause zu schicken. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn Kevin vor Freude explodiert wäre wie ein überstrapazierter Luftballon, oder wenn er aus dem Nichts eine Gitarre gezogen und darauf (und ohne Strom) ein Solo herunter gebrettert hätte. Ja, es hätte ihn noch nicht einmal überrascht, wenn Kevin sich spontan in Terminator verwandelt hätte und mit einer ordentlichen Salve Schutt und Asche aus dem Laden gemacht hätte. Es überraschte ihn jedoch zutiefst dieser verzweifelte, geradezu flehentliche Gesichtsausdruck – fast so als wäre Nick über einen flauschigen Babyhasen gefahren. „Das kannst du nicht machen Nick. Nein. Sowas kannst du mit mir einfach nicht machen.“ Raunte er. „Aber was ist denn? Ich hab doch nicht... ich dachte...“ „Wann ist es denn soweit?“ fragte Hellen neugierig als stünde sie vor einem Babybauch. „Was meinst du mit soweit?“ wollte Nick wissen. „Nichts.“ Sagte Kevin und warf Hellen einen Blick zu der alles bedeuten konnte – und nichts. „Was hast du vor, Kevin?“ „Es war nur so eine Idee.“ Meinte er und unter seinen fehlenden Augenbrauen stach ein beunruhigendes Funkeln hervor. „Kevin.“ Mahnte Nick. Kevin blickte begeistert zur Uhr und regelrecht hysterisch begann er durch das Lokal zu springen und Kopierer aufzuwecken. „Es geht gleich los! Mach die Kopierer bereit, Mann!“ Hellen 107 gab sich amüsiert. „Was geht los?“ wollte Nick wissen und ließ sich von einer leichten Panik anstecken. Kevin wirkte wie ein fanatischer Professor vor der Entdeckung eines Heilmittels gegen die Zeit, rieb sich die Hände, blickte zur Uhr, kontrollierte noch mal ob alle Kopierer bereit wären und stellte sich – mit Blick auf den Eingang - auf. Wie ein eingefrorener Dirigent blieb er dann stehen und zählte leise die Sekunden. Hellen grinste. Nick befürchtete. Der Zeiger ratterte respektlos über die Stundenanzeige hinweg in die nächste Runde. Kevin blieb stehen wie eine Statue. Er zählte nicht mehr hörbar mit. Nick versuchte Ruhe zu bewahren. Der Zeiger beendete die erste Umrundung und zappelte hastig in die zweite Minute nach zwei. Ein bisschen der besessenen Aura fiel von Kevin ab, seine Dirigentenarme sanken etwas. Er kämpfte verbissen gegen eine Enttäuschung an. Hellen – oder besser – die im Umgang mit Rockstars geübte Krankenschwester in ihr – machte einen Schritt auf Kevin zu. „Kevin?“ „Psssst!“ Nick und Hellen wechselten einen intensiven Blick. Da öffnete sich die Eingangstüre und ein Terriermischling schleifte röchelnd Sascha herein. Aufstieg und Fall in zwei Sekunden – dies war es, was sich in Kevins Gesicht abzeichnete. Buster rammte seine Nase in der Reihenfolge gegen Hellens, Kevins uns Nicks Knie um sich dann wieder um Hellen zu kümmern, die ihn ausgiebig hinter seinem Ohr kraulte. „Ja was machst du denn hier?“ fragte Hellen den Hund, welcher aber nur mit Schwanzwedeln antwortete. Nick hingegen musterte Kevin relativ verwirrt. Das wars? Die ganze Aufregung wegen dem Homepagemann? Sascha hingegen war etwas überrascht, Hellen anzutreffen. Diese wiederum konnte sich ein derbes Grinsen nicht verkneifen. 108 „Ja klar, zumindest einer musste es ja gesehen haben.“ Meinte sie und rammte Kevin in die Seite. „Einer ... ja toll.“ Sagte dieser bloß traurig, streckte Sascha die flache Hand entgegen. „Gib schon her.“ Nick fühlte sich wie bei einem Theaterstück dem er inhaltlich nicht folgen konnte. Sascha blinzelte ihn an und rückte dann zögerlich das Notizbuch heraus und legte es auf Kevins flache Hand. Jetzt wussten sie alle, dass etwas nicht stimmte. „Das ist meins.“ War Nick am schnellsten und nahm Kevin das Notizbuch aus der Hand. Er bedachte Sascha mit einem kurzen aber intensiven Blick, hielt kurz inne als wolle er in das Buch schauen aber entschied sich anders und stopfte es in seine hintere Hosentasche. Hellen grinste breit. „Die Seite drei einer Tageszeitung!“ pöbelte Kevin Sascha an. „Aber es ist auch schon egal.“ „Ich wollte nur das Notizbuch zurückbringen.“ Erklärte Sascha Kevin, und Nick in sehr abweisendem Tonfall: „Du hast es im Lokal verloren.“ „Du bist nicht wegen dem Flashmob hier?“ fragte Hellen. „Flashmob?“ fragten Sascha und Nick zeitgleich und sahen einander an. „Flashmob.“ Erklärte Kevin. Nick biss sich auf die Lippe, er wollte etwas sagen, aber er wusste, dass Kevin das schon für sich selbst erledigen würde. „Heute um vierzehn Uhr sollten hunderte Kunden das Lokal stürmen und je eine Kopie der Seite drei ihrer Tageszeitung kopieren.“ „Hunderte Kunden.“ Wiederholte Sascha. „Stürmen.“ Sagte Nick. „Ja genau!“ jauchzte Kevin begeistert, und in Anlehnung daran das gerade kein Kunde da war, ließ er die Schultern hängen, und seinen Kopf auch gleich. Hellen beobachtete Sascha und Nick. 109 „Alles klar mit euch?“ fragte sie schließlich provokativ. „Ja klar ... wieso nicht?“ „Sicher.“ Dann blickten sie sich rasch gegenseitig irgendwohin auf den Oberkörper und wieder zu Hellen. „Eigentlich nicht.“ Sagte Kevin depressiv. „Wo hast du ihn denn angekündigt?“ fragte ihn Sascha. „Auf der Homepage.“ Erklärte Kevin „Eigentlich müsstest es zumindest du gesehen haben. Immerhin bearbeitest du die Seite doch, oder?“ und dann riss er die Augen auf, stürmte zum Rechner und rief dabei „Oder hast du etwa stillschweigend die Seiten ausgetauscht?“ „Hab ich nicht.“ wies Sascha von sich und folgte Kevin um sich den entsetzlichen Anblick der Einladung zu einem Flashmob anzutun. Sascha war nicht überrascht das es nicht funktioniert hatte und während er Kevin ein klein wenig über die Herangehensweise und Prinzipien von Flashmobs aufklärte, trat Hellen an Nick heran. „Und?“ fragte sie. „Und was?“ „Wie findest du ihn?“ „Etwas unbeholfen vielleicht, aber er ist ein ganz netter Kerl, wenn man ihn erstmal näher kennt.“ „Findest du?“ grinste Hellen. „Ja.“ Nick schielte zu Hellen. „Ihr mögt euch, hm?“ „Obwohl wir Geschwister sind.“ Nickte sie. „Geschwister??? Kevin hat eine Schwester?“ „Oh ... ich ... nein ich sprach von Sascha.“ „Oh.“ „Was meinst du?“ fragte Hellen nach einer kurzen Pause „Ihr wart doch gemeinsam aus, oder nicht?“ „Nein. Das heißt: ja. Was trinken.“ „Und?“ sie ließ nicht locker und stieß Nick sogar mit ihrem Ellenbogen. 110 „Und was?“ „Wie findest du ihn?“ Nick wusste nicht was Hellen wollte. Sie tat doch geradezu als hätte sie Sascha aus Ton geformt und wolle wissen ob er gelungen war. Zudem – was hatte es für eine Bedeutung was er von ihm hielt? Er machte die Homepage – und die war Nick eigentlich relativ egal. Wenn Sascha Hellens Bruder war, musste sich doch allenfalls Kevin mit ihm herumschlagen, nicht er. „Okay.“ meinte Nick daher, und weil das so abwertend klang fügte er ein „Ganz nett.“ hinzu. „Ganz nett also. So so.“ neckte Hellen. „Das solltest du dir ansehen, Nick.“ rief Kevin und deutete auf den Bildschirm. „Die Vorab Ansicht der Homepage. Der Mann hier hat was auf dem Kasten.“ „Das ist wirklich nur mal die grobe Struktur und ein erster Design Vorschlag.“ erklärte Sascha und machte Nick Platz. Auch wenn Sascha beschlossen hatte, das ihm Nick künftig egal wäre, so brachte ihn die körperliche Nähe doch aus dem Konzept. Er machte noch einen Schritt auf die Seite und beinahe im maximal möglichen Bogen um ihn herum flüchtete er regelrecht zu seiner Schwester. „Was ist los?“ flüsterte sie verwundert und sah Nick und Kevin zu wie sie durch die Seiten klickten die Sascha vorgeschlagen hatte. „Wieso?“ „Du schmeißt dich ja nicht gerade ran.“ Hellen schaute Sascha in die Augen. „Du hast doch was!“ „Lass mich in Ruhe.“ zischte Sascha und nickte freundlich zu seinen Auftraggebern. Hellen riss ihre Augen und ihren Mund zugleich auf als fiele ihr ein das ihre Küche daheim in Flammen stand. „Oh nein! Er hat das Notizbuch nicht in einem Lokal verloren. 111 Er war bei dir!“ „Wie kommst du auf den Unsinn! Nein!“ sagte Sascha unterdrückt „Und nun hör bitte auf damit. Da ist nichts und da wird nie was sein!“ „Oh.“ meinte Hellen „Diese Phase also.“ „Was heißt ...“ „Nick, hast du morgen Abend schon was vor?“ rief Hellen und ignorierte, das Sascha versuchte, ihr den Ellenbogen zu brechen. Sie grub ihre andere Hand in ihre Raubvogelnestfrisur und lächelte liebenswürdig. „Ich, äh ... nein!“ sagte Nick und bereute es im selben Augenblick. Spätestens jedoch nach Hellens Einladung die er ebenso direkt an nahm ohne überhaupt zu wissen wofür sie war. „Gut.“ trällerte sie vergnügt trabte zu Kevin, zwinkerte ihrem Bruder zu und sagte zu Nick „Sascha wird dich ab holen.“ und indem sie sich an Kevin drückte „Und du, mein Lieber, sorgst dafür das er auch sicher mitkommt.“ „Ich nehm das Angebot an, sofort Schluß zu machen.“ sagte Kevin rasch zu Nick und legte seine dünnen Arme um Hellens Schultern. „Ich hasse dich.“ summte Sascha seiner Schwester nach, als sie mit Kevin das Geschäft verließ, und blickte dann ebenso unbeteiligt durch den Raum wie Buster. „Gefällt mir.“ sagte Nick schließlich und riss Sascha aus seinen verzweifelten Gedanken. „Was?“ „Die Entwürfe. Nett.“ „Oh. Ja. Danke. Nett.“ antwortete Sascha zynisch. Doch dann verlor er sich irgendwie in dem scheuen Lächeln und Nicks intensiven Augen und beinahe vergaß er seinen Groll. „Und danke.“ sagte Nick und sein ohnehin lächelnder Mund begann nun richtig zu Lächeln, sodass Sascha alle Dämonen die ihm geläufig waren anbeten musste, jetzt nicht ohnmächtig zu 112 werden. „Wofür?“ piepste er, räusperte sich und wiederholte die Frage sonor. Nick holte das Notizbuch aus seiner Hosentasche und schwenkte es zur Erklärung. „Achso ... ja. Es muss dir raus gefallen sein als du ... eilig weg musstest.“ erklärte Sascha, kratzte sich am Kopf und trat von einem Bein aufs andere. „Ja.“ meinte Nick, drehte das schwarze Buch in seinen Händen und sie stierten beide darauf. „Also dann, ähm, bis morgen.“ „Was ist das überhaupt für eine Sache? Wofür die Einladung?“ „Geburtstag. Meine Schwester hat Geburtstag.“ „Deine Schwester? Ach ja. Sie ist deine Schwester.“ „Von Geburt an.“ meinte Sascha und Buster kommentierte es mit einem „Wau.“ Im Nachhinein gesehen war es keine gute Idee gewesen, sich ausgerechnet mit Greueltaten der Vergangenheit den Mut für die Gegenwart zuzusprechen. Varis hatte seinen Kopf voll mit halb- oder ganz Toten, mit mehr oder weniger verstümmelten Leichen oder Lebenden und sein Gemüt begann diese sinnlose Schuld darüber zu entwickeln was rein Gottes Wille war. Und das alles nur, um sich klar zu machen, das er schon weit schlimmeres getan hatte, als mit einer Frau Sex zu haben. So stand er dann auch, nackt und schuldbeladen vor Hellen und der Splatterfilm seines Lebens zog an ihm vorüber. „Er hat mich noch nicht einmal angerührt.“ sollte Hellen später verzweifelt vorwurfsvoll einem völlig resignierten Amor entgegen schmettern. Sie hatte die Nase voll vom Vogel der Zeit, der – abgesehen vom Zeitreisen – ein wenig angenehmer Parasit war. Zudem hatte er die ganze Sache auf die er seit Jahren hin arbeitete nicht gerade erleichtert. „Ist es sehr schwer, nicht so plump dazustehen?“... „Wäre es zu viel verlangt 113 gewesen, sich etwas attraktiver zu kleiden?“... „Das soll lasziv sein? Kein Wunder das er Panik bekommt.“ Für Hellen war es, als hätte sie ihre Eltern eingeladen, beim Sex mit Varis mit guten Ratschlägen zur Seite zu stehen. Mit dem Ergebnis, das es nicht zum Sex kam. Amor betrat den Schauplatz, als er ein Geräusch vernahm, wie man es in der Vorbereitungsphase zu einem Konzert einer Teenierockband vernehmen konnte – wenn eine Horde präpubertärer Mädchen die entschlossen war alles für ihr Idol zu tun, kollektiv beschlossen hatte, seine Stimmbänder zu opfern. Das dies der Höhepunkt der Extase dieser Vampierfrau war, war so etwas wie ein Wunschdenken, das bereits im Keim erstickt wurde, einfach dadurch, das Amor Realist war. Er war Amor, Sachdiener in Liebesdingen – er war nüchtern genug um zu wissen, was auch immer für Emotionen in der Begegnung zwischen Varis und Hellen aufkeimen würden – sie würden nicht zur Lösung all seiner Probleme führen. Hellen stand also da, ihre Hände an die Ohren gepresst – von Amors Position aus wirkte es, als stöbere Hellen in einem Raqubvogelnest über ihrem Kopf – und kreischte dabei dreizehnjährige Wut in die Welt – und dabei tanzten ihre Beine als wollte sie ein Feuer austreten. „Ich habe nichts gemacht.“ bestand Varis und blickte betreten auf seine nackten Zehen. Das wars. Bis zu diesem Moment hatte er sich zumindest Theoretisch dazu überwinden können, diese Frau zu nehmen, ihr Veitstanz aber verhinderte eine Paarung auf alle Zeit. Dieses Bild, dieses Gekreische – es würde noch Jahrhunderte Später durch Mark und Bein dringen, sobald er eine Frau sah. Für Varis war die Sache damit gegessen. Jetzt galt es, diese Erkenntnis mitzuteilen. Irgendwo aus einem Schatten war ein genüssliches Schlürfen zu vernehmen. „Nastyboy!?“ rief Mana. Seit sich ihr dämonischer 114 Spielgefährte von der Leine genagt hatte, war sie abgelenkt von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens. Es ging soweit, das sie einige göttliche Aufträge anstehen ließ und weit mehr Menschen ein zufriedenes Leben führten als Gott geplant hatte. Ihr Glück, das ihre Kollegen eine so hinreißende Komödie aufs Parkett der Welt legten, das machte Gott nachsichtig. „Du solltest aber was machen!“ mahnte Amor. In den Schatten um sie herum kicherte es. „Ich... kann nicht!“ brummte Varis tiefe Baßstimme „Ich wollte... wirklich... ich hatte die Absicht... aber...“ er scharrte mit den Füßen am Boden, das blauschwarze Haar floss über seine gewaltigen Schultern und meinte dann: „Sie ist zu... zu...“ „Zu was?!“ brüllte Amor, der zwischen dem monströsen nackten Varis und der zierlichen aber äußerst anziehenden Hellen hin und her blickte. Sie hatte ihre Vorzüge ins rechte Licht gerückt, ihr Busen präsentierte sich geradezu auf dem Silbertablett, ihre Kurven waren atemberaubend, sie hatte Anmut, Liebreiz, wirkte verwegen und zu allem bereit. Amor fühlte, das auch er gerade zu allem bereit wurde. „Weiblich.“ sagte Varis. Dagegen konnte Amor allerdings nichts sagen. Und darauf fiel ihm auch nichts ein. Sein Blutkreislauf war gerade in andere Regionen abgewandert und so musste das Gehrin mit halber Kapazität fahren, wodurch er Schlagfertigkeit einbüßte. „Heißt das, ich muss diesen Scheiß Vogel für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen?“ kreischte Hellen. „Na na na.“ meinte der Vogel der Zeit und Hellen schlug gegen ihren Kopf. „Das tut mir nicht weh.“ erklärte die innere Stimme. Hellen ballte die Fäuste und ließ einen weiteren – aber unterdrückten Schrei raus, ja, so einen von der Sorte Magengeschwür. Aus den dunklen Schatten ertönte ein Schmatzen. Mana schlich um sie herum. Vergeblich. 115 „Das Problem ist, das es ein Pakt ist.“ erklärte Amor „Zugegeben, der dämlichste und sinnloseste Pakt aller Zeiten, aber ein Pakt. Wird er nicht erfüllt... sind wir alle am Arsch.“ und damit wanderte sein Blick streng über Varis Muskelberge. Jener Körperteil, der ihn bis jetzt immer etwas irritiert hatte, hatte sich echt gut verkrochen, und das nahm Amor die Hoffnung. Und dem Vogel der Zeit. Und Hellen. „Gibt es nichts was ich tun kann?“ fragte Hellen schließlich „Kann man nicht... ich weiß nicht... diesen Pakt übertragen? An jemanden der, hmmm, männlicher ist als ich?“ „Nicht das ich wüsste.“ schüttelte Amor den Kopf. Varis senkte sein Haupt ein weiteres Mal, sein Haar verdeckte nun fast vollständig sein Gesicht. „Selben Blutes, selbes Blut.“ summte Mana und stöberte in den Schatten herum, wo sich wieder ein gefräßiges schlürfen vernehmen ließ. Alle Blicke wandten sich dem kleinen makaberen Mädchen zu, dessen rotes Haar über die schwarze Kommunionskleidung floss. „Hey... das ist doch... ist das nicht?“ fragte Hellen, die sich an die Nacht unter der Brücke erinnerte. „Bist du nicht die Paranoia von diesem toten Rockstar? Du bist doch viel zu jung um zu kiffen!“ „Meine Rede.“ kommentierte der Vogel der Zeit. „Selben Blutes, selbes Blut.“ sang Mana unbeirrt weiter als gingen sie die Anderen gar nichts an. „Das wär toll, wenn dein Bruder den Pakt an deiner statt lösen könnte.“ murmelte Amor vor sich hin. Varis grinste daraufhin dämlich. „Sascha?“ fragte Hellen. „Selben Blutes, selbes Blut.“ trällerte Mana. „Mein Bruder... selben Blutes.“ sagte Hellen. „Selbes Blut...“ murmelte Amor. „Selbes Blut. Das wärs... das wäre die Lösung!“ 116 „Das heißt, wenn mein Bruder an meiner Stelle den Pakt erfüllt, dann werde ich den Vogel los?“ „Nicht ganz, blöde Zicke.“ erklärte Mana im singenden Ton „Dein Vogel müsste in deinen Bruder schlüpfen.“ „Und wie soll das gehen?“ fragte Hellen. „Blut.“ erklärte der Vogel anstelle Manas „Ich könnte über das Blut zu deinem Bruder gelangen.“ „Und... äh... wer erklärt ihm das alles?“ fragte Hellen. Varis grinste bloß und Amor zuckte mit den Schultern. „Na toll.“ Als Nick die Türe seiner Wohnung öffnete und Sascha vor ihm stand, geschah etwas seltsames mit ihm. Sein gesamter Körper sendete ihm Signale, die „Flucht“ bedeuteten. Das Herz begann schon mal heftig zu pumpen, in den Beinen wurde Milchsäure frei und er japste nach Luft, und seine Hand schlug die Türe vor Saschas Nase wieder zu. Natürlich hatte er nicht vergessen das er heute Abend auf diese Geburtstagsfeier von Kevins Freundin sollte – Kevin hatte den ganzen Tag von nichts anderem geredet. Es war aber ein erheblicher unterschied, wenn etwas in Aussicht stand, oder vor einem stand. In diesem Fall Jemand. Jemand, dessen Existenz in seinem eigenen Leben gewisse Fragen aufwarf, denen er sich nicht stellen wollte. Noch immer nicht. Das alles aber hatte nichts damit zu tun, das sein Körper gerade eine Art Fehlzündung initiierte. Das kam unerwartet. Und das Nick die Türe zugeschlagen hatte war ihm jetzt ein bisschen peinlich. So peinlich, das er überlegte, die Türe nicht wieder zu öffnen um darauf zu hoffen, das der Homepagemann das gar nicht mitbekommen hatte. Im selben Augenblick aber entwickelte er den Verdacht, das die Dinge so nicht funktionieren. Beherzt also öffnete er die Türe erneut, trat in den Gang hinaus, darauf bedacht das Sascha nicht in die etwas von Dingen überforderte 117 Wohnung blicken konnte und schloss ab. Dabei sagte er zu seiner eigenen Demütigung: „Sorry, der Luftzug.“ Sascha bewertete die Situation auf seine weise – und die lautete: Er will nicht das ich seinen Freund sehe. Und auch wenn ihn das schmerzte, glitt sein Blick über Nicks Körper und registrierte, das das Ausgehoutfit sich nicht vom Arbeitsoutfit unterschied. Als sie das Stiegenhaus hinab schritten und Sascha den Spruch an der Wand las: „Die Hände nach dir ausgestreckt, greifen sie in Glaspaläste um sich blutig zu schneiden. Du – Elfenkönig – regierst, ohne mein Blut zu sehen. -Sven“ War er vollends überzeugt, das Sven alles andere als tot war – und vermutlich gerade eifersüchtig in Nicks Wohnung saß. Andererseits aber zu wissen, dass dennoch er es war, mit dem Nick nun einen Abend verbrachte, stimmte ihn versöhnlich. Er dachte nicht mit der Erfahrung und seiner daraus erworbenen Moral. Wie auch. Nicks verschmitztes Lächeln machte ihn fast wahnsinnig. Und das er ihn in seinem kleinen luciferroten Peugeot durch die Stadt kutschierte, also weniger das er ihn manövrierte sondern das Nick tatsächlich in seinem Auto saß – neben ihm, machte Sascha fast fahruntüchtig. „Wir atmen dieselbe Luft.“ sagte er, und war im selben Moment überzeugt das er etwas weitaus weniger seltsames hätte sagen wollen. Es war ihm aber entfallen was das gewesen sein könnte. Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, halt die Klappe wenn du nichts besseres zu sagen hast, scholt er sich selber. Nick hatte bei einer Geburtstagsfeier für Hellen an einen Event in Form einer spektakulären Beerdigung mit ein paar hundert Leuten und mindestens einem echten oder unechten Alice Cooper und mindestens sechshundertsechsundsechzig echte oder unechte Spinnen mitsamt Spinnweben gedacht. Was ihn 118 jedoch erwartete war das pausbäckige Gesicht einer älteren Dame im Alter seiner Mutter, die entzückt ihre Hände zusammen schlug als sie Nick sah. Nick hatte diese Frau gewiss noch nie in seinem Leben gesehen, dennoch fand er sich an ihren weichen Körper gepresst wieder, wo er gewogen wurde und in sein Ohr ein: „Ich freu mich so, ich freu mich so.“ gesummt bekam. Er hatte sich noch nicht erholt davon, da wurde seine Hand von einem großen bärtigen Mann Marke Braunbär zerquetscht, der ihm ein wohlgesonnenes: „Sehr erfreut, sehr erfreut.“ entgegenbrummte. Irgendwo hinter sich registrierte er, das auch Sascha überschwänglich begrüßt wurde, aber Nick war wie benommen, als sein Blick über eine Wohnung im Dunkles Holz und Stofftapete im gutbürgerlichen Landhausstil einerseits, und einer bunten Truppe verschieden großer und runder Menschen andererseits glitt, die ihn überschwänglich anlächelten als wäre er der Dalai Lama. Irgend etwas war hier falsch gelaufen und der gewisse Fluchtreflex kribbelte ihm erneut über das Gemüt. Noch während er überlegte, ob er diesem Reflex nachgeben sollte, erschienen Hellen und Kevin wie aus dem Nichts – und stellten eine gewisse Normalität im Abnormen dar. Okay, ganz falsch konnte Nick also nicht sein. Es dauerte ganze zwei Stunden, ehe Nick einigermaßen verarbeitet hatte, wo er sich befand, und wer die Leute waren. In dieser Orientierungsphase wurden ihm von der pausbäckigen Frau, die sich als Hellens Mutter entpuppte, Speisen aller Art aufgedrängt, die er wie benommen in sich hineinzwängte, obwohl er alles, nicht jedoch Appetit hatte. Alle schnatterten durcheinander, lachten laut und boten das krasseste Kontrastprogramm das zu Nicks Erwartungen von diesem Abend möglich war. Kevin schwamm in dieser drollig bunten Masse mit als wäre er mit ihr Verschmolzen, Hellen sog 119 unablässig an einer Zigarette und stierte zu Sascha, als plane sie, ihm ein Skalpell an eine hervortretende Ader zu setzen. Und von Sascha bekam Nick nur mit, das er neben ihm saß, damit war das Fassungsvermögen für neue Informationen überfüllt und Nick ließ alles über sich rieseln wie einen Wolkenbruch im Herbst. Es war erträglich, aber würde hoffentlich bald vorbei gehen. Und als er gerade so begann, sich zu arrangieren, wohlfühlen wäre zu viel gesagt, stellte ihm eine der bunten rundlichen Frauen, die vermutlich eine der Tanten war, eine Frage. Nick realisierte das zu spät, um sie aus dem Stimmengewirr heraus zu filtern. „Was?“ fragte er, und weil dies das erste Mal an diesem Abend war, das er ein Wort sagte, wurde die gesamte Runde auf ihn aufmerksam. „Ich habe gefragt, wie lange ihr schon ein Paar seid.“ tönte die schrille Stimme ihm Gegenüber. Es war so still. Alle Blicke ruhten auf Nick. Und Nick begriff zunächst nicht. Sein Verstand machte Umwege, fragte ihn warum man glaubte er wäre mit Hellen zusammen, es wäre doch sonnenklar das sie mit Kevin liiert war, revidierte seine eigene Frage und stellte ihn ins Niemandsland zurück. „Was?“ fragte er daher nur und hoffte, das wäre Antwort genug. Jetzt sehnte er den Lärm und das Gelächter der guten Unterhaltung der anderen untreinander herbei, er wollte nicht Mittelpunkt sein. Und auf keinen Fall wollte er, das man die Frage präzisierte. „Na du und Sascha, seit wann seit ihr zusammen? Ihr seid ein so schönes Paar.“ Da war es wieder. Das Signal zur Flucht. Nick hörte nur Rauschen und er fühlte, wie seine Haut im Gesicht verbrannte. Von allen Dingen dieser Welt, die er sich nicht eingestand, war dies eine, mit der er am allerwenigsten Umgehen konnte. Noch dazu vor Fremden. Nick konnte nichts sagen, er spürte ein 120 Würgen in seiner Kehle. Sich jetzt übergeben wäre ein wirklich unpassender Moment, auch wenn es vielleicht das Gespräch in eine andere Richtung gelenkt hätte. Sascha reagierte. „Wir sind kein Paar.“ sagte er rasch. Er bemerkte, wie Nick immer blasser wurde und die Familienmitglieder begannen einander zu bestätigen, das sie das alle fälschlicherweise angenommen hatten weil Nick ja mit Sascha gekommen sei, und sie doch so gut zueinander passen würden. Und hatte Hellen nicht gesagt...? Und klar gäbe es auch unter Schwulen platonische Freundschaften, und was nicht ist könne noch werden. Nicht wahr? Ha Ha. Nick spürte seinen Körper nicht mehr, hörte nicht welche Bemerkung von wem an ihn herangetragen wurde, er begann seinen Kopf zu schütteln. „Nein, nein.“ stammelte er, „ich bin nicht...“ erhob sich von seinem Sessel, da seine Beine endlich das taten, was sie schon längst hätten tun sollen, und floh zur Eingangstüre. Sie ließ sich nicht öffnen, in seiner Panik hatte er versucht sie nach außen zu drücken, und rüttelte daran, ehe er auf die Idee kam, sie zu sich zu ziehen. Sascha erlebte eine Art Dejavue. Nick reagierte so kopflos wie im Cafe damals. Und wie damals war Saschas Reflex, ihm nachzulaufen. Da er sich aber nicht erst mit Zahlungsmodalitäten aufhielt, und sich zudem hier auskannte, konnte er Nick diesmal einholen. An den Stufen im Treppenhaus bekam er Nick am Ellenbogen zu fassen. „Warte!“ rief er, und setzte ein sachtes „Warte“ hinterher. Sascha sah, das Nicks Hände zitterten, aber er blieb immerhin stehen, wenngleich er sich nicht umdrehte. „Es tut mir Leid, sie reden viel.“ erklärte Sascha ruhig. „Ich bin nicht...“ rief Nick die Treppen hinunter, schaffte es aber nicht, seinen Satz zu beenden. Sascha tat es weh, das Nick so an seiner Lüge festhielt. Auch wenn er selber wusste, das es nicht einfach war, zu sein wer man ist – so hatte er kein 121 Verständnis mehr dafür, sich zu verleugnen. „Das ist doch nichts schlimmes.“ meinte er daher und blickte Nick auf den Nacken. Fast eine halbe Minute verstrich, in der Nick seinen Fluchtweg entlang schaute. Dann drehte er sich um, sah Sascha direkt in die Augen und sagte mit fester Stimme: „Ich bin nicht so wie du.“ dann musterte er ihn abschätzig und lief die Treppen hinunter. Der direkte Blick traf Sascha mitten ins Herz, und die Aussage drehte dasselbe um. Spätestens ab diesem Moment war Sascha absolut überzeugt, das Nick schwul war – da konnte dieser sagen was er wollte. „Doch, das bist du!“ rief er ihm hinterher, und weil er sich von diesem abschätzigen Blick verletzt fühlte setzte er hinzu: „Schwuchtel!“. Dann hörte er das untere Tor ins Schloss fallen. „Verdammt.“ Sascha schlug gegen die Wand – fester als er wollte, und verletzte sich. „Er wird schon.“ sagte Hellen dicht hinter ihm. Sascha hatte gar nicht mit bekommen das sie ihm gefolgt war. „Hast du dich verletzt?“ fragte sie fürsorglich und griff nach Saschas Hand die er gegen die Wand gedonnert hatte. Sascha war geistig noch bei Nick, als er sagte: „Nein, geht schon. AUA! Spinnst du?“ „Hoppla!“ sagte Hellen rasch und drückte ihren Finger in seine Hand. Sascha hatte sich zwar verletzt als er gegen die Wand geschlagen hatte, aber innerlich. Doch nun lief Blut aus seiner Handfläche, die plötzlich brannte. Das Hellen auch noch ihren Finger drauf drückte, linderte den Schmerz keineswegs. Er riss sich los und schnauzte sie an: „Was hast du gemacht?“ „Nix!“ gab Hellen rasch zurück, versteckte ihre eigene Hand, rollte mit den Augen und sage: „Hallo?“ „Hallo was?“ fragte Sascha. Hellen zog ihre Augen zu einem 122 Schlitz, legte ihren Finger an ihre Lippen und horchte. „Hallo? Bist du da?“ fragte sie erneut. Sascha, etwas irritiert, ließ sich anstecken und horchte ebenfalls. „Wen rufst du?“ fragte er im Flüsterton. Hellen rümpfte die Nase und zischte geheimnisvoll: „Meinen Vogel.“ Sascha legte seine flache Hand an sein Ohr um besser zu hören und sagte: „Da war was. Ich hör ihn. Ganz deutlich.“ Hellen starrte ihn fassungslos an. „Wirklich?“ „Ja. Er macht: PIEP PIEP PIEP.“ Sascha stand noch am späteren Abend vor seinem Wohnhaus und beobachtete Buster, der einen Hydrant markierte, sog die frühsommerliche Luft ein und stellte fest, das er scharf war. Und zwar seit dem Tag an dem er Nick auf die Zehen getreten war. Doch heute war es besonders schlimm und er ertappte sich dabei, das er wildfremden Männern nach schaute und sich bereit fühlte, es mit ihnen in irgendeinem Hausflur zu treiben. Sascha betrachtete die Wunde auf seiner Handfläche. Es war definitiv ein Schnitt, auch wenn Hellen das abstritt. Und – es klang vermutlich etwas seltsam, aber er hatte das Gefühl, das er seit diesem Moment besonders, nunja, überbedürftig war. Aber wahrscheinlich redete er sich das nur ein, Nick so emotionsgeladen zu sehen hatte durchaus seinen Reiz. Und immerhin war es die verletzte Hand, die zuvor Nicks Ellenbogen gehalten hatte. Es war schön gewesen, das es eine Zeit für alle so ausgesehen hatte, als wären er und Nick ein Paar. Es wurde Zeit, dass er Nick knackte. Das konnte doch nicht so schwer sein, er spürte doch genau, das da was war. Und diese Geschichte die er ihm über Sven aufgetischt hatte – die passte vorne und hinten nicht. Die diente doch nur dazu, ihn hin 123 zu halten. Kein Mensch verzichtet sein Leben lang auf Liebe und Sex, weil sich sein bester Freund wegen einer Tussi das Gehirn weg bläst. Oder sich erhängt – oder was auch immer. Sascha rieb sich die Handgelenke. Wäre ja noch schöner. Aber so wie Nick sich verhalten hatte, ob die Sache mit Sven nun stimmte oder nicht, er benutzte sie als Abwehr, vielleicht sogar vor sich selber. Nie Lieben. Was hatte das für einen Sinn? Sicher, klar, er selbst hatte das auch schon geschworen. Mehrmals. Aber so etwas meinte man doch nie wirklich ernst. Das war dummer, kindischer Trotz. Jeder, ausnahmslos jeder, der schon mal ... Sascha stockte. Moment. Konnte das heißen, das Nick noch nie ... Das er gar nicht wusste was er versäumte? Sascha hielt inne. Das ergab Sinn. Es war zwar total verrückt. Aber es ergab Sinn. Niemand den er kannte, der schon mal Sex hatte, hätte sich an so einen Schwur gehalten. Er kannte keine Priester, aber er hätte so einiges verwettet, das auch die das Zölibat nur dann – wenn überhaupt – leben konnten, wenn sie wirklich unbedarft da hineingeraten waren. Nick war Jungfrau? Hatte vielleicht wirklich noch nie geliebt? Ging das denn überhaupt? Überfiel einen die Liebe denn nicht gelegentlich, ob man wollte oder nicht, und man konnte nichts dagegen tun? So wie Sascha vor ein paar Tagen? Rums, und plötzlich ist man nicht mehr man selbst. Man konnte sich doch noch nicht mal aussuchen in wen man sich verliebte, wie denn dann ob. Das mit dem Sex, das konnte man ja vielleicht noch steuern – aber Liebe? Wie wollte man verhindern, sich zu verlieben? Sascha blickte in die Sterne, dann die Gasse hinunter. Nichts desto trotz. Er war scharf. Er war so verdammt scharf das er kaum gehen konnte. Und der Gedanke an Nicks mögliche Unschuld machte ihn so an wie sie ihm Angst machte. Himmel, ich bin soweit einen Hydrant zu bespringen, dachte Sascha, wie Buster. Ich sollte mich austoben, es mir geben bis mein Gehirn erweicht. Sascha war 124 verwundert über sich selbst. Fast wollte er meinen, etwas würde ihn lenken, steuern oder zumindest auf etwas vorbereiten – auf jeden Fall aber scharf machen. Ein Fahrrad schwirrte vorbei. Es war völlig egal wer es betrieb, Sascha war kurz davor, eine eindeutige Aufforderung heraus zu plärren. Lass es uns tun, hier, jetzt, unverbindlich, spontan, keine Verpflichtungen, gleich im nächstbesten Hausflur, keiner wird es je erfahren, nur schneller, harter, ungezügelter, wilder Sex. „Okay.“ brummte eine unerhört tiefe Stimme hinter ihm. Sascha zuckte zusammen, fuhr herum und erblickte einen gut zwei Meter großen Schatten, Haar wehte wie ein Umhang über die breiten Schultern. „Hab ich das etwa laut gesagt?“ sagte Sascha mehr zu sich selber als zu dem Mann, der - nackt war. Nackt und gut bestückt. Sascha schluckte. „Du?“ er kannte den Riesen. Das war aber schon sehr lange her. Ware das nicht als er...? „Lass es uns tun, hier, jetzt, unverbindlich, spontan, keine Verpflichtungen, gleich im nächstbesten Hausflur, keiner wird es je erfahren, nur schneller, harter, ungezügelter, wilder Sex.“ wiederholte Varis, und seine Stimme berührte jede einzelne Muskelfaser in Saschas ohnedies vibrierenden Körper. Er rang nach Luft. Das kam natürlich unerwartet. Sein Drängen war zwar einer gewissen Not entsprungen – aber er hatte es doch nicht wirklich ernst gemeint. Nicht das er sowas noch nie gemacht hätte. Und das Angebot stand. Wie auch noch was anders, und was war schon dabei? Er war ja nicht mit Nick verheiratet, noch nicht mal mit ihm zusammen – und wer weiß – würde das jemals auch passieren. Was solls, dachte er bei sich, mit einem verwegenen Kribbeln in seinem Bauch. Himmel, wie lange ist es her das ich sowas gemacht habe? Zehn Jahre? „Acht Monate!“ grollte Varis tiefe Stimme „Es freut mich das 125 du dich entschlossen hast.“ und gab sein makelloses Gebiss frei. „Nein ...“ erwiederte Sascha „Ich bin sicher das es zehn Jahre her ist. So etwas vergisst man doch nicht.“ „Schnell, unverbindlich, spontan. Vor acht Monaten.“ bestand der monströse Schatten auf seine Erkenntnis, und in Sascha dämmerte es. „Ach das meinst du. Das war etwas völlig anderes.“ Die Welt verflüssigte sich, zog diese Nacht, diese Straße und Varis mit sich und schob eine andere Nacht, einen anderen Mann – etwa acht Monate vorher – in Saschas Erinnerung. Er war nach draußen gegangen, auf den Parkplatz, wo es fast stockdunkel war – drinnen tobte die Hochzeitsgesellschaft. Er sog die Luft tief ein, als er drei Meter weiter einen orangenen Punkt aufleuchten sah. „Wieso rauchst du hier draußen? Da drinnen kriegst du das umsonst, brauchst nur atmen.“ aus der Dunkelheit drang ein belustigter Zischlaut. „Und was machst du hier draußen?“ „Ich feiere Jubiläum.“ erklärte Sascha. „Jubiläum?“ „Ja. Die fünfhundertste Frage wann ich meine bezaubernde Schwester heirate und ob wir uns Kinder wünschen.“ „Oh!“ „Danke.“ „Tut mir Leid.“ „Tut es nicht.“ Die Dunkelheit schwieg. Der orangene Punkt glimmte erneut auf. „Wenn ich ... nun ... sagen wir mal ...“ „Vergiss es.“ zischte Sascha. „Das versuch ich ja ... aber.“ 126 „Das ist nicht mein Problem. Ich geh jetzt wieder rein ...“ „Hier und jetzt.“ „... und tanze mit meiner bezaubernden Schwester ...“ „Auf dem Parkplatz.“ „... oder den Oberkellner.“ „Kein Jammern. Keine Vorwürfe. Einfach nur spontanen, ungezügelten, wilden ...“ „Oh Mann, du hast es ganz schön nötig.“ schüttelte Sascha den Kopf. Schweigen breitete sich aus. „Bitte.“ „Wie kommst du auf mich? Wie kommst du dazu, zu glauben das ich ...“ „Wer wenn nicht du, hä?“ „Der Oberkellner ...“ „Okay, okay.“ schnaufte die andere Stimme: „Ich frage dich nur dieses eine mal. Ja oder nein?“ Ein orangener Punkt fiel zu Boden und zog einen unbeeindruckenden Feuerschweif nach sich ehe er erlosch. Körper und Blech kollidierten, Reißverschlüsse ratschten und unterdrücktes Ächzen vermengte sich mit dem aus dem Festsaal dringenden Lärm. „Stefan, bist du da?“ zog eine schrille Stimme durch die Dunkelheit über den Parkplatz. „Scheiße“ drang es von der Motorhaube hoch. „Ist da jemand?“ schrie die Silhouette in Robe, ein Kopf wurde etwas zu eifrig gegen ein Stück Blech gedrückt und schlug dumpf auf. „Autsch!“ „Ich bins nur, Sascha.“ rief Sascha und winkte ungesehen aus der Dunkelheit des unbeleuchteten Parkplatzes über den lediglich schwach das Licht aus den Fenstern vom Festsaal her fiel. „Hast du den Bräutigam gesehen?“ schrillte es zu ihm herüber. 127 Sascha blickte auf den Frack der vor ihm auf der Motorhaube eines luziferroten Peugeot lag. „Nein. Hier ist niemand.“ Sascha ruckte, Stefan schnaubte. „Ist alles okay bei dir? Du klingst komisch.“ „Alles bestens! Wenn ich Stefan seh, sag ich das du ihn suchst!“ rief Sascha zur Trauzeugin und rammte den Bräutigam. „Danke.“ schrillte es, eine Türe wurde geschlossen, Körperteile schlugen aneinander, unterdrücktes Stöhnen wurde ein Wimmern. „Übrigends ... Sascha?“ durchbrach die Stimme nochmal die Leidenschaft. Jemand biss sich auf die Lippe, atmete tief durch. „Was gibt’s?“ „Gleich beginnt das Brautstrauß Werfen... wenn du dann bitte kommen könntest.“ „Ich ... komme gleich.“ ächzte Sascha die Türe fiel ins Schloss und er hielt sein Versprechen. Wie ein Strudel versenkte sich die Erinnerung und schlug Sascha in die Leiste. „Du hast es mit dem Bräutigam getrieben.“ grinste Varis beeindruckt. „Und wenn schon. Auf jeden Fall ist es nicht das selbe.“ „Finstere Nacht, keine Fragen, keine Verpflichtungen, einfach nur spontanen, wilden ...“ zählte Varis auf. „Ich war mit dem Scheißkerl vier Jahre zusammen. Vier Jahre. Und dann kommt er auf die Idee, das er so nicht mehr leben kann und sich nach einer Familie sehnt, Haus, Frau, Kinder und einen Van vor der Türe.“ „Wie originell.“ „Ich meine ... ich wusste, das er nicht dazu stehen kann, aber ich dachte immer – eines Tages ... Und weißt du was das 128 Schlimmste ist?“ Das ich mich schon wieder in so ein Exemplar verliebt habe, dachte Sascha. „Jedes Jahr, am vierzehnten Februar, schickt er eine Karte.“ wusste Varis. Eine Strähne seines blauschwarzen Satinvorhangs rutschte über die kolossal nackte Schulter und spielte mit einer Brustwarze. „An Buster!“ schnaubte Sascha zur ebendieser. „Den Hund?“ nickte Varis zu dem Terrier, der sich gerade hingebungsvoll die Eier leckte. „Valentinstagsgeschenk. Er behandelt den Köter wie ein Kind aus erster Ehe.“ Sascha fing den Schlüssel aus seiner Tasche und wandte sich einem luziferroten Peugeot zu. „Dein Auto.“ stellte Varis fest. „Unverbindlich, spontan – aber mit Komfort.“ grinste Sascha. „Geräumig.“ Sascha ließ seinen Blick über das Muskelgebirge schweifen, machte eine halbe Umdrehung um die eigene Achse und schloss die Eingangstüre des Wohnhauses auf. Varis gewaltiges Unterkiefer grinste. „Also doch Hauseingang.“ die sonore Stimme kroch in jede Freske und verbiss sich am metallenen Treppengeländer bis ins Dachgeschoß. „Pssssst.“ scholt Sascha, hielt inne, betrachtete den riesigen nackten Mann im klaren Licht des Treppenhauses und deutete dann nach oben. Nick lag seit zwölf Stunden regungslos am Rücken in seinem Bett. Der Wulst seines Lakens hatte ihn anfangs gestört, ihm nach etwa zwei Stunden das Gefühl gegeben, unmittelbar gegen seine Wirbelsäule zu scheuern und das Bett mit Blut und Knochenmark einzusauen – ab dann spürte er seinen Körper nicht mehr. Er stierte an die Zimmerdecke und versuchte, einen Zustand zu erreichen, in dem das Denken und auch das fühlen 129 auf hörte. Sein Körper war dieser Aufforderung rasch gefolgt, aber sein Geist und sein Gemüt quälten ihn. Im Nachhinein betrachtet kam ihm seine Reaktion etwas überzogen vor – eine Erkenntnis zu der er jedoch mehrere Stunden gebraucht hatte. Davor kreiste sein gesamtes Bewusstsein um diese gemeine Unterstellung, darum, wie ein Haufen wildfremder ihm derartige Neigungen unterstellen konnten. Und nicht genug damit, das er auch noch mit diesem Homepagemann zusammen sein solle. Die Empörung darüber hielt ihn lange auf Trab und jeder Einwand der sich irgendwoher aus seinem Unterbewusstsein regte, das an dieser Unterstellung doch etwas dran sein könnte, schob er von sich. Anfangs ging das noch leicht. Wie feines Löschpapier, so zaghaft waren diese Erwägungen - das da was dran sein könnte - und er konnte sie in seinem Entsetzen weit von sich schieben. Mittlerweile, und nach der Erkenntnis, das er die ganze Angelegenheit viel erwachsener, viel überzeugender Entkräften hätte können, wenn er einfach darüber gelacht und hinweggesehen hätte, betrug das Gewicht dieser Ideen über seine Neigungen schon deutlich mehr, und er benötigte schon eine ziemliche mentale Kraft, sie zu ignorieren. Lieber schwelgte er in der Idee, es wäre möglich, völlig losgelöst von Erfahrung und Emotionen jeder Situation nach der statistisch sinn- und stilvollsten Methode zu begegnen. Hätte, wäre, wenn übernahmen das Ruder und zeigten ihm auf, das er eigentlich nicht nur etwas überzogen reagiert hatte – sondern wenn man es mal genauer besah, wie er reagiert hatte, wie er sich genau verhalten hatte... verriet das nicht einiges? Je mehr Nick versuchte, sich dagegen zu stemmen, umso deutlicher wurde ihm, das er sich verhalten hatte wie eine Diva. Das alles an ihm und seiner Reaktion gewisse Schlussfolgerungen nach sich zogen. Hieß es nicht immer – das, wogegen man sich am meisten stemmt – das wäre einem am nächsten? Hier war das 130 Gewicht der unterbewussten Erkenntnis bereits von der Größe eines Panzers und er schaffte es nicht, sie weg zu schieben. Schlimmer noch, als er versuchte, dann zumindest großzügig darüber hinwegzusehen, erinnerte er sich schlagartig an Sven. Das er sich immer wieder an ihn erinnerte, war etwas parasitäres an das er sich beinahe gewöhnt hatte, aber wie er sich jetzt erinnerte, das entsetzte ihn. Vielleicht benebelte das lange wach liegen und grübeln das Gehirn, aber er vermeinte sentimental verschnulzte Geigen zu hören, während sich wie in einem schlechten Film Szenen mit Sven abwechselten. Wehendes Haar, sentimentale Blicke, zufällige Berührungen, entladendes Lachen, verlegenes Lächeln, verbitterte Tränen und zu guter Letzt der Kuss des Leichnams. Der Panzer der Erkenntnis rollte über ihn drüber und wie zur zynischen Krönung endete dieser kitschige Soundtrack der sein Gehirn gekapert hatte mit Sascha. Das kam unerwartet. Die sentimentale Melodie seiner Erinnerungen hielten tatsächlich auf Sascha zu, wie er das Geschäftslokal betrat, gezogen von Buster, und Zeitlupe rückte jede kleinste Bewegung in den Vordergrund. Nick schnellte hoch. Das war für den Körper gar keine so einfach Übung und er dankte es mit Schmerzen. Überall krachte und knackte es in seinen Knochen und Muskeln und Nick stellte fest das er nicht nur vollständig bekleidet war – er hatte sogar noch seine Schuhe an. Die Zeit des Grübelns war vorbei, die Erkenntnis benötigte Unterstützung. Nick verlor keine Zeit mit unnötigem Essen – er hätte ohnehin nichts runter bekommen – oder irgendwelcher Körperpflege. Er hob das Fahrrad im Flur auf seine Schultern als wöge es keinen Kilo, und trippelte die Treppen hinunter. Freilich, sein Körper wehrte sich, er zwickte und stach, und unter normalen Umständen wäre Nick wohl sogar gehumpelt. Doch es waren keine normalen Umstände – die Motivation hatte kein Gehört für den zimperlichen Körper. 131 Nick schwang sich aufs Rad und trat in die Pedale, es gab keine Zeit zu verlieren. Sonne schwirrte in den Raum, der das Licht, weiß, in weiß, in weiß, reflektierte. An der Wand hing das Gemälde eines unbekannten aber umso abstrakteren Künstlers, im Bett wühlte sich ein sandfarbener Schopf aus einer Armada von Decken und Kissen. Sascha fühlte sich blendend, räkelte sich und mochte es, wie sich das Leben anfühlte. Er fühle sich glücklich und zufrieden. Verdächtig glücklich. Verdächtig zufrieden. So zufrieden fühlte er sich für gewöhnlich nur... mit einem Satz saß er aufrecht. Er ließ seinen Blick über das Bett schweifen das – abgesehen von ihm selber – verwaist, aber ziemlich zugerichtet aus sah. Wie eine Diashow im Zeitraffer zischten Bilder durch seinen Kopf. Verwirrende Bilder. Verdammt, ich habe ... schoss es ihm in den Kopf. An der Tür klingelte es. Sascha dämmerte eine unheimliche Wahrheit. Ich habe mit ... splitterfasernackt sprang er rasch in seine graue Freizeithose, als es erneut klingelte. Ich habe mit ... ich habe ... er ließ seinen Blick noch einmal über das wirklich mitgenommene Bett schweifen und konnte den Gedanken der durch sein Bewusstsein brach kaum formulieren. Beeindruckt oder geschockt von sich selber, so genau konnte er seine Gefühle noch nicht zuordnen, platschten seine bloßen Füße über den blitzblanken Parkett zur Eingangstüre. Er löste die Verriegelung, öffnete die Türe weit, schaute seine Schwester an und sagte entschlossen: „Ich habe Gott gevögelt.“ ... Gott gevögelt ... Gott gevögelt ... hallte es auf dem Flur wieder. „Guten Morgen, Frau Schneider.“ lächelte Hellen zuckersüß zur Nachbarstüre und schob sich an Sascha vorbei, dessen Kopf aus der Türe schnellte, nur um fest zu stellen, das Hellen ein Biest war. Er drückte die Türe zu während Hellen ins Wohnzimmer 132 trabte und Buster sich seine Streicheleinheiten holte. „Kaffe?“ fragte Sascha und latschte in die Küche. Hellen riss sich von Buster los, grinste ihren Bruder an und sagte: „Du schaust blendend aus, Bruderherz, hast du Gott gevögelt?“ Durch Saschas Kopf rasten weitere Bilder, gewagte Bilder, unaussprechliche Bilder. „Das, oder Satan hat mich gevögelt.“ relativierte er. Hellen ließ ein Papiersäckchen vom Bäcker auf die Küchenablage fallen, plumpste mit ihren Ellenbogen gleich dazu und schob sich neugierig über die Marmorfläche. „Erzähl.“ forderte Hellen und öffnete die Papiertüte um ein Stück aus einem Croissant zu reißen. Varis und der Vogel hatten offenbar keine Zeit verloren. Sie beobachtete Sascha, der offenbar nach den richtigen Worten suchte, während er den Kaffee zubereitete. „So ein Tier? Hätte ich ihm gar nicht zugetraut irgendwie.“ plapperte Hellen unvorsichtig und stopfte das fasrige Stück in den Mund. Vor allem wenn ich bedenke wie er sich bei mir angestellt hat, dachte sie. Der Vogel der Zeit hatte abgefärbt. Aus der Kaffemaschine grugelte und röchelte es. „Du überlegst, was du Gott im Bett so zutraust?“ Nick stellte klirrend zwei Kaffeetassen neben die Papiertüte. „Du Nicht?“ fragte Helen spitz als wäre das das normalste der Welt. „Nein, eigentlich nicht.“ erklärte Sascha und beobachtete Hellen eine Weile, wie sie ihr Croissant mit ihren Fingern brutal aushöhlte. Sie schien ganz in ihren eigenen Gedanken und schleuderte einen Teil des Skelettes des Croissants in hohem Bogen von sich, als sie sich wild gestikulierend an Sascha wandte: „Wieso hältst du ihn eigentlich für Gott?“ Buster inhaltierte das Gebäck und hypnotisierte den Rest in Hellens Hand. „Ich denke, es ist Gott gewesen.“ erklärte Sascha als er die 133 Kühlschranktüre öffnete um Milch zu holen. „Ist dir eigentlich klar wie das klingt?“ Hellen nahm Sascha die Milch aus der Hand und schüttete sie so in ihren Kaffee, das der Tisch auch noch etwas ab bekam. „Ich meine, das ist doch so: Wenn du an Gott glaubst, dann vögelst du ihn nicht. Wenn du nicht an ihn glaubst, dann kannst du ihn nicht vögeln.“ Hellen verstand schon ganz gut, das ihr Bruder Varis für eine Art Gott halten musste. Welcher schwule Mann würde das nicht? „Weißt du noch? Damals? Als ich... naja...“ „Im Koma lagst?“ „Ja, genau. Also – wie soll ich sagen – da hatte ich eine Art Erscheinung. Ich war da am Weg nach drüben, und ER kam und holte mich ins Leben zurück. Ich hab das nie erzählt, weil ich mir dachte es wäre nur ein Traum gewesen – aber insgeheim dachte ich immer, das könnte Gott gewesen sein. Naja, und nach der vergangenen Nacht....“ „Du glaubst also, das Gott dich als eine art Spielzeug ins Leben zurückgerufen hat, dreizehn Jahre wartet und dann sagt: Hey, lass es uns heute treiben?“ „Naja. Zugegeben. Es klingt seltsam. Und bis gestern hätte ich das mit Gott ja noch nicht so ernst genommen, aber was passiert ist, als wir, naja, es war da was göttliches.“ „Göttliches.“ wiederholte Hellen und begann geräuschvoll, ihren Kaffee zu schlürfen. „Es war so... ich kanns gar nicht beschreiben, es war irgendwie so, als würde die Zeit stehen bleiben. Aber nicht nur bloß ein Moment, sondern alle Zeit, die Ewigkeit quasi.“ „Bruderherz, sowas nennt man Orgasmus.“ Sascha warf Hellen ein Geschirrtuch gegen die Brust. „Ich weiß wie sich ein Orgasmus anfühlt. Das war aber anders, es war als würde ich irgendwie gar nicht beteiligt sein, und dann wieder doch. Ich hatte das Gefühl als hätte ich riesige Schwingen, dann wurde alles unheimlich Grell. Das war 134 wirklich überirdisch, mystisch.“ erklärte Sascha mit glänzenden Augen und fügte dann rasch hinzu: „Zumindest beim ersten Mal, die anderen Male wars ganz normal.“ „Die anderen male?“ riß Hellen die Augen auf, begann dann aber schmutzig zu Grinsen. „Varis, du elender...“ „Was?“ „Und was ist nun mit Nick?“ lenkte Hellen ab – und es gelang. Saschas gesamte Körperhaltung veränderte sich. „Ich weiß nicht.“ sagte Sascha und eine lähmende Beschlagenheit schlich in seinen Bauch. Als Kevin den Copyshop betrat, spürte er, das irgend etwas anders war. Es war jemand da gewesen. Es roch würzig streng. Einbrecher, schoss es Kevin sofort in den Kopf. Einen kurzen Moment blieb er auf der Schwelle stehen, überlegte, still kehrt zu machen, in Ruhe erst Nick und dann die Polizei zu rufen. Doch in seinem Blut schwammen eine gehörige Portion Sexualhormone, die sich dieses Wochenende nicht ausreichend entladen hatten können. Kevin hatte das Bedürfnis, den Helden zu spielen – sollte er am Ende mit Schmerz bezahlen, würde ihm das entgegenkommen. Hellen verstand es, ihn verrückt zu machen und dann auf Abstand zu halten. Allerdings – Kevin empfand das bei jeder Frau die nicht ununterbrochen Aktiv sein wollte. Er sah sich um, packte ein großes Metalllineal von eineinhalb Metern Länge mit beiden Händen und stabilisierte seinen Körper. Wie ein Schwert, bereit, dem bösen Drachen zu begegnen, schritt er leise aber zügig voran. Er drückte sich seitlich an Kopierern und Tischen entlang – und auch wenn es völlig unnötig war – immerhin ging ihm alles nur bis zur Hüfte – sprang er hinter Hindernissen hervor und hielt das Metallschwert im Anschlag. Ein Geräusch! Kevin hielt inne. Er rümpfte seine Nase, der Gestank wurde im hinteren Teil des Ladens schlimmer. Vorsichtig, Kevin war immerhin ein Held 135 und kein Dummkopf, schob er sich seitwärts Schritt um Schritt weiter. Je näher er den seltsamen Geräuschen kam, umso heftiger spannte er seine Muskeln an, ging in die Hocke, bereit, mit seiner gesamten Kraft zuzuschlagen. Die Kassa war offen, Kleingeld lag verstreut auf Tisch und Boden. Kevin – nicht gläubig – machte das Kreuzzeichen. Es wirkte heroisch, es gab Kraft, es machte Mut. Sein Herz hämmerte wie verrückt, als er sich rücklings gegen das letzte Hindernis stemmte, ehe er um dieses herum den Eindringlingen gegenüberstehen würde. Er musste sich seine klebrigen Handflächen an seiner Hose abwischen, da das Metallschwert in seinen verschwitzten Händen zu rutschen begann. Kevin neigte vorsichtig seinen ovalen Kopf, um zu spähen, ob er einen Satz machen sollte und mit Gebrüll um sich schlagen, oder eher hinterlistig wie ein Fuchs einen Widersacher nach dem anderen aus dem Verkehr ziehen sollte. Seine Schuhbandhaare baumelten hektisch aber symmetrisch schwingend um sein Kinn, als Kevin die Sohle eines Schuhs sah. Kevins Adamsapfel sprang über seinen Hals. Er griff das Metallschwert etwas fester, blickte es entschlossen an, zählte bis drei und sprang mit einem Schrei hinter dem Regal hervor, hob dabei das Lineal und blieb wie versteinert stehen. Der Anblick war grässlich. In einem Meer von lediglich angebissenen Fast Food Spezialitäten, lag ein Mann, erschöpft, ausgezehrt und sein Körper hing so komplizert über Sessel und Tisch, das es wirkte als wäre er von diesen Möbeln überrumpelt worden. Erst auf den zweiten Blick erkannte Kevin, wer das war. Er ließ das Metallschwert langsam sinken, warf es dann zu Boden und stürzte auf den leblosen Körper zu. „Nick?!“ fragte er zuerst zaghaft, rüttelte dann an der Schulter und rief ihn mit immer größerer phonetischer Intensität. „Ist er tot?“ fragte eine freundliche Stimme hinter Kevin. Es war der Professor, der sich wohl ebenfalls von Geräuschen und 136 Gerüchen – auf jeden Fall aber von Kevins beispiellosem Schauspiel - angezogen gefühlt hatte. „Ich weiß es nicht.“ rief Kevin gehetzt in diesem geschäftigen Ton beherzter Retter die verdammt noch einmal nicht aufgeben würden, selbst wenn sie nichts weiter als einen Arm würden bergen können. „Dem Geruch nach zu Urteilen, würde ich sagen, schaut es schlecht aus für Ihren Kollegen, junger Mann.“ erklärte der Professor und näherte sich mit kleinen Schritten. Kevin rüttelte derweil weiterhin an Nicks Schultern und rief dessen Namen. „Lassen Sie mich mal.“ sagte der alte Stammkunde, und Kevin wich zur Seite wie ein ergebener Untertan. Der Professor holte ein Messer aus seiner Manteltasche, faltete es aus seinem Griff und rieb die Klinge mit einem Stofftaschentuch ab. „Was tun Sie da?“ fragte Kevin, der auf der Stelle bereute, das er dem Professor vertraut hatte. Dieser bewegte die Klinge unbeirrt auf Nicks Gesicht zu und hielt sie unter seine Nase. Dann winkte er Kevin, welcher herbei stürzte und dem Blick des Professors folgte. „Sehen Sie, junger Mann?“ Kevin blickte besorgt auf die Klinge die kurz davor war, Nicks bärtige Oberlippe zu spalten. „Er verträgt eine Rasur?“ riet Kevin – es war eher eine Überzeugung, Nick war ihm noch nie so unrasiert begegnet. „Das Messer beschlägt sich.“ verbesserte der Professor ihn und zog die Klinge zurück. „Das heißt, er atmet noch.“ damit entfernte er sich von Nick, klopfte Kevin zuversichtlich auf die Schulter uns sagte: „Mundhygiene täte ihm auch gut.“ während der Professor sich geschäftig zu seinem Kopierer schlich, ließ Kevin seinen Blick über den hinteren Geschäftsraum gleiten. Jemand hatte versucht, nicht nur TShirts zu produzieren, sondern auch Pizza in der T-Shirt Presse aufzuwärmen. Zudem dürfte wohl jedes Fast-Food-Service der 137 Stadt dieses Wochendende eine Lieferung in den Copyshop getätigt zu haben. Allerdings nur, damit jemand die Packungen öffnet und den Inhalt für Ungenießbar befindet. Nick hatte offenbar ein schwieriges verlängertes Wochenende hinter sich gebracht. Nick erwachte erst aus seinem komatösen Zustand, als Kevin ihm ein in eiskaltes Wasser getränktes T-Shirt in den Nacken drückte. Dabei brummte und ächzte er und schielte Kevin eine weile an, ehe er ihn erkannte. „Was machst du denn da?“ brummte Nick, gähnte und kratzte seinen frisch gewucherten Mehr-Tage-Bart. „Ach...“ summte Kevin geschäftig von sich „Ich reise von Land zu Land und wecke suizidgefährdete Copyshopmitarbeiter, die ihre Wochenenden in der Firma verbringen.“ „Was?“ fragte Nick schlaftrunken und erkannte erst jetzt, das er gar nicht daheim war. Sein Rücken krachte als er sich aufrichtete, durch streckte und dabei seinen Blick über das Desaster schweifen ließ, das einen beißenden Geruch verströmte. „S c h w u c h t e l.“ sagte Kevin langsam, wobei er seinen augenbraunlosen Kopf schräg hielt und seine Schuhbandhaare tänzeln ließ. Nick war auf der Stelle hellwach. „Geiles Shirt.“ nickte Kevin „Hätt ich dir nicht zugetraut nach deiner Aktion am Freitag.“ Nick blickte an sich herab, schlug rasch sein Kapuzenshirt darüber und verschränkte die Arme. Sequenzen der letzten zweiundsiebzig Stunden zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Er hatte wohl einiges zu verarbeiten. In seinem Magen schienen sich pelzige Würmer zu tummeln. Kevin – ansonsten in der Rolle des Kleinkindes – verhielt sich nun wie eine nachsichtige Mutter die schweigsam und ohne verbale Anschuldigung die Sauerei beseitigte. Nick – ansonsten in der Rolle des nachsichtigen Vaters – verhielt sich nun wie der 138 schuldbewusst Pubertäre. Das Leben hatte sich grundlegend verändert. Über Nacht. Okay, genau genommen über die letzten drei Tage. Ganz genau genommen, über die letzten dreizehn Jahre. Nick saß da, verschränkte Arme und sah Kevin beim zusammen räumen zu, scheinbar unfähig, selber irgend eine Entscheidung zu fällen. Als Kevin die Computermaus berührte, sprang mit einem beherzten Klonk der Bildschirm an und gab eine Seite frei, die sich, nun..., mit gewissen Themen befasste. Nick errötete, haute auf eine Taste und hoffte dabei, Kevin hätte nicht bemerkt, was auf dem Bildschirm zu sehen gewesen war. Doch hinter dem einen Fenster mit prekärem Inhalt wartete bereits das nächste – Nick war gar nicht klar gewesen, wie umfassend er sich im Internet informiert hatte. Das Internet in seiner ganzen Größe hatte ihm nie besonders viel bedeutet – er war eher der Papier und Bleistift Typ. Dieses Wochenende aber war er erschlagen worden von der Palette an Informationen die es zu jedem Thema gab das man suchte. Und ganz besonders zu dem Thema, das er suchte. Noch nicht vertraut mit der nüchtern - intuitiven Auswahlmethode alter Internet-Nerds hatte er einfach wahllos alles geöffnet, was er gefunden hatte – und das war manchmal etwas schwer verdaulich gewesen – aber nicht uninteressant. Klick um Klick schloss Nick rasch Fenster um Fenster, auch wenn er das eine oder andere doch gerne noch etwas länger besichtigt hätte. Allmählich wuchtete sich seine Seele wieder in seinen Körper – und sein Körper sich wieder in sein Leben. „Harte Zeiten, Robinson?“ neckte der alte Professor, als er Nick sah. „Verzeihung?“ „Zeit, von der einsamen Insel aufzubrechen. Hmmm?“ fügte der Alte hinzu und nickte wissend. „Ich verstehe nicht.“ bohrte Nick nach. „Freitag ist ein guter Junge.“ sagte der Professor im Plauderton 139 und sie blickten beide zu Kevin, der auf seine eigene uneffiziente Art Papier schlichtete. „Aber eine Insel von der man nicht fliehen kann ist ein Gefängnis.“ Der Professor erwiderte Nicks fragenden Blick so direkt, als wisse er Bescheid. Als ahne er das gesamte Ausmaß von Nicks momentaner Situation. Und auch wenn Nick noch gerne eine weile den Unwissenden gespielt hätte, so wusste er doch genau, was der Professor meinte. „Danke.“ sagte Nick daher leise. Der Professor winkte lächelnd ab, sagte „Nichts für Ungut, junger Mann.“ deutete auf den Schriftzug auf Nicks Shirt und fügte hinzu: „Aber das ist vielleicht etwas zu viel aufgetragen – fürs erste.“ Amors nackte Füße versanken im hohen Gras. Die Sonnen senkte sich gegen Abend und flutete den Park mit goldenem Licht. Amor hielt einen lila Pfeil in seinen Händen, von dem lila Glitzerstaub rieselte und blickte einem Pärchen nach, das ineinander versunken gegen Sonnenuntergang schritt. Zur Hölle, was ging hier vor? Wer wilderte in seinem Revier? „Naaaaastyboooooy!“ rief Mana und stöberte in Büschen, die abgebissene Leine schleifte sie seit Tagen mit sich herum. Die hölzerne Parkbank neben Amor knarrte, als sich Varis üppiges unverhülltes Muskelgebirge darauf niederließ. Seit Tagen grinste er blöd vor sich hin, und wäre Amor nicht so abgelenkt gewesen durch diese seltsamen neuen Pfeile die überall immer häufiger auftauchten, hätte er ihn vielleicht schon getötet – Gottes Wille hin oder her. „Ihr seid ein ziemlich kranker Haufen.“ schnarrte der Vogel der Zeit, in Gestalt einer Krähe, der es sich auf der Lehne der Parkbank gemütlich gemacht hatte. „Was ist nun? Hattet ihr nicht einen ach so dringenden Job für mich?“ Varis wurde schlagartig unentspannt. Ein Terrier stürzte auf jene Bank zu auf der er saß, und markierte sein nacktes Bein. 140 Varis war zwar für Sascha unsichtbar, er konnte ihn aber durchaus sehen. Er fuhr sich rasch durch sein blauschwarzes Haar und warf sich in Pose. Amor zischte verächtlich. Sascha setzte sich auf die Bank neben ihn, ohne es zu wissen. Der Vogel der Zeit neigte seinen Kopf und stierte Sascha interessiert an. „Denk nicht mal dran!“ knurrte Amor. „Tschirp.“ sagte der Vogel – für eine Krähe etwas ungewöhnlich. „Er ist ab jetzt Tabu. Ich muss Gottes Wille ausführen, und er ist Teil des Plans, also bitte – lebt eure amourösen Gefühle anders aus!“ schnauzte Amor. „Scheiß dich nicht an.“ erklang Manas unschuldige Stimme, und sie tauchte ihre flache Hand in einen frischen Hundehaufen. „Nastyboy, schau! Ich hab was für dich!“ rief sie dabei lockend. Sascha seufzte tief. Jemand schlurfte. Mana reckte den Hals in die Höhe. „Was für einen Gottesplan soll er erfüllen?“ fragte der Vogel der Zeit und hypnotisierte Saschas rechtes Auge. Zumindest etwas Augensaft könnte er schlürfen. Eine kleine Delikatesse stand ihm doch wohl zu. „Genau genommen ist er nur ein Teil des Plans. Dich brauchen wir für die andere Hälfte.“ erklärte Amor. Die Parkbank knarrte erneut, als sich Varis so setzte, das er Sascha hemmungslos anstarren konnte. Dieser wiederum stierte gedankenverloren in die Ferne. „Welche andere Hälfte?“ krächzte der Vogel der Zeit. „Saschas zukünftige andere Hälfte.“ sagte Amor „Nick. Er ist gefangen in einen mehr als blödsinnigen Schwur. Du musst ihn zurück bringen, damit er diesen auflösen kann.“ „Sonst?“ fragte der Vogel. Amor rollte den lila Pfeil zwischen seinen Fingern und erklärte gedankenversunken: 141 „Sonst kann mein Pfeil nichts ausrichten.“ er stippte mit seiner Fingerspitze gegen die Pfeilspitze und fragte sich, ob dieser Pfeil in der Lage wäre, Nicks Herz zu durchbohren. Als Sascha sich seufzend erhob – irgendwie war das ein unangenehmer Platz – er fühlte Paranoia in sich aufsteigen – steckte Amor den fremden Pfeil in seinen Köcher. Wir werden sehen. Und seine kleinen Flügel begannen zu schwirren, um ihn hochzuheben. Schwankend wie eine Hummel folgte er Sascha, und ein Schweif aus Glitzerstaub verriet die verschnörkelte Flugbahn. Gegenüber des Copyshops brummte ein schweres Motorrad vor sich hin. Seine Kraft ratterte so vereinnahmend, das sie sich über den Asphalt bis ins Geschäft hinein ausbreitete. „Hellen!“ erklärte Kevin stolz und zeigte zum zierlichen Körper, der dieses schwarze Ungetüm ritt. Es war nötig, das zu erklären. Hellens schlanker Körper steckte vollkommen in schwarzem Leder, und das Raubvolgelnest war in einen schwarzen matten Helm gezwängt worden. Nick hätte sie in der Tat nicht erkannt. Ungeduldig ließ sie den Motor aufbrummen, und dann ersterben. „Cool.“ meinte Nick anerkennend, als ihm im nächsten Moment ein Blitz von der Kehle bis in die Knie schoß. Ein Terriermischling hielt schwanzwedelnd auf die schwarze Motorradfahrerin zu. Drei Sekunden später erblickte Nick den sandfarbenen Schopf, und ja, auch den schlanken Körper und die überaus gut sitzende Jeans. War ihm das bloß noch nie aufgefallen, oder hatte er es sich schlicht verboten gehabt, das zu bemerken? „Oha!“ meinte Kevin, grinste dann, stupste Nick gegen die Brust, auf der – verhüllt vom Kaputzenshirt – noch immer Schwuchtel stand und sagte: „Na dann haben wir heute wohl beide noch was vor, hm?“ Damit verlor er keine Sekunde, und hopste auf unnachahmliche Art aus dem Laden, querte die 142 Straße und gesellte sich zum plaudernden Geschwisterpaar. Nick stand da, wie gelähmt, und beobachtete die drei, als sie alle sich umdrehten und versuchten, ihn durch die Auslage hindurch zu erkennen. Kevin winkte Nick herüber. Nick fielen in der Sekunde hundert Sachen ein, die er noch dringend zu erledigen hätte. Zugleich aber auch überfiel ihn eine Art Kühnheit. Zwischen der letzten Begegnung mit Sascha und heute lagen zwar nur wenige Tage – aber eine Erkenntnis die so schwer wog, als wären Jahre vergangen. Und diese Erkenntnis brachte auch eine gewisse Neugier mit sich. Genau genommen war Sascha ja nun einer seiner Art. Der einzige den er kannte. Und auch wenn noch Angst, eine Straße und eine Glasvitrine zwischen ihnen lag, fühlte Nick eine Verbundenheit. Nick atmete also tief durch, verließ das Geschäft und sperrte ab. Auf seinem Weg über die Straße wusste er gar nicht, wohin er schauen sollte. Er hatte das Gefühl, jeder, die ganze Welt, könnte sehen wer er nun war, was in ihm vorgegangen war. Er war jemand anderes geworden. Er war Jemand geworden. Und das fühlte sich sehr fremd an. Er kannte die neue Rolle noch nicht. „Steht dir gut.“ lächelte Sascha und fuhr sich über sein Kinn. „Danke.“ sagte Nick leise und starrte auf den Terrier, der ihn überschwänglich begrüßte. Kevin schnallte sich seinen Helm auf den ovalen Schädel und schwang sich hinter Hellen auf ihr Motorrad. Der Motor lief an, verbreitete seine Vibrationen im ganzen Stadtviertel, ohne viel Zeit zu verlieren brausten Kevin und Hellen davon und ließen Nick und Sascha im Vacuum der nun folgenden Stille stehen. „Wie geht es dir? Kevin sagte, du hättest das Wochenende in der Firma verbracht. So viel zu tun?“ durchbrach Sascha das Schweigen. „Ähm... ja. Ja. Saison.“ 143 „Verstehe!“ sagte Sascha und musste Nick unentwegt anstarren. Nick sah völlig ausgewechselt aus. Vielleicht liegt es am DreiTage-Bart, überlegte Sascha. „Ich hol nur mal kurz mein Rad.“ erklärte Nick und lief davon, über die Straße zurück in den Torbogen neben dem Geschäft. Sascha ließ Nick nicht aus den Augen. Nick wirkte lebendiger, die stoische Ruhe, die trotz des immer währenden Lächelns manchmal fast feindselig gewirkt hatte war verschwunden. Sascha fragte sich, ob das nun wieder eine Flucht war. Ob Nick sich auf sein Fahrrad schwingen und davon flitzen würde. Genau genommen rechnete er sogar genau damit. Als Nick jedoch sein Rad neben sich her schob und direkt auf Sascha zu schritt, betete Sascha zu allen Dämonen die ihm geläufig waren – und zu einem sehr geilen Gott – das er nicht ohnmächtig würde. Als gäbe eine Unsichtbare Macht eine Richtung vor, marschierten sie entschlossen los, Buster zog Sascha und Nick schob sein Rad. Nick hatte tausend Fragen, in seinem Kopf, und eine Art drängenden Wunsch, Sascha von seiner neuen Erkenntnis zu erzählen. Doch nicht eine einzige Frage formulierte sich, sie waren alle weg, hinterließen eine unfruchtbare Wüstengegend in Nicks Gehirn, durch die gelegentlich Dornbüsche rollten. Und keine Situation schien ihm richtig, seine Erkenntnis Preis zu geben. Platzte man es einfach raus? Wie sagt man es? Musste er es Sascha überhaupt sagen? Dieser war doch offenbar ohnehin überzeugt, oder etwa nicht? Auch Sascha grübelte um den heißen Brei herum. Hatte er sich zu entschuldigen? Für seine Familie? Für das was er Nick im Stiegenhaus nach gerufen hatte? „Ich habe in dein Notizbuch gesehen.“ platzte es aus Sascha heraus und Nicks Kopf quoll rot an. Nie war ihm die Tatsache verhängnisvoll erschienen, das es durchzogen war von 144 männlichen Körperstudien, bis jetzt. Okay, jetzt war es wohl raus, dachte er. „Alles du gezeichnet?“ fragte Sascha. Eigentlich wollte er darauf hinaus, wer der Mann war, der Modell für all die Zeichnungen gestanden hatte. Noch fühlte er sich bemüßigt, Nick auf die Schliche zu kommen. Nick atmete auf. „Ja.“ „Talentiert.“ meinte Sascha. „Danke.“ grinste Nick, „Ich habe noch viel mehr davon. Zu Hause!“ rutschte es aus ihm heraus, und er biss sich auf die Zunge. Über ihnen, in etwa zweieinhalb Metern Höhe jauchzte eine dickliche Gestalt in Nachthemd, dessen kleine Flügel mühe hatten, die Flugbahn stabil zu halten. Glitzerstaub rieselte auf Nick und Sascha herab, unsichtbarer Glitzerstaub. Nick schob das Fahrrad in den Vorraum, lehnte es gegen die Wand, schloß die Tür hinter sich und Sascha. Sascha machte sich daran, seine Schuhe aus zu ziehen. „Nicht nötig.“ erklärte Nick, warf den Schlüssel auf die wochenlang gesammelte Post auf der Ablage im Vorraum und wies Sascha den Weg ins Wohnzimmer. Nick betätigte diverse Lichtschalter und flitzte durch die Räume, als überprüfe er, das es kein unerwartetes Wurmloch oder sowas gab. Draußen war es dunkel geworden und das elektrische Licht senkte das Wohnzimmer in ein heimeliges Gelb. Buster lief schnurstracks durch die Wohnung, fand das Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Sascha trottete unsicher im Wohnzimmer herum und ließ seinen Blick über die Landschaft aus Kleidung und Bücherstapel schweifen. Welch ein Kontrast diese Wohnung zu seiner bot. Er fühlte sich unwillkommen, wie ein wüster Eindringling der unangekündigt ein Revier stürmte, das ihn nichts anging. Sascha bemühte sein detektiviesches Gespür, nur um fest zu stellen, das hier sonst keiner wohnen konnte. 145 Erleichtert verbarg er seine Hände in den Hosentaschen und suchte nach einem Satz der Anerkennung – aber das Chaos verlangte keine geistreichen Sätze sondern eine zupackende Hand. Nick kramte in einer Mappe die in einem Spalt zwischen Wand und dem Bücherregal steckte. „Fühl dich ganz wie zu Hause.“ rief ihm Nick zu ohne ihn anzusehen, kopfüber in der Zeichenmappe. Hier konnte er etwas Zeit schinden, um sich der Situation bewusst zu werden. „Ich glaube das geht nicht.“ gab Sascha zu, und schaute ungeniert auf Nicks Hintern. Und suchte nach etwas Haut unter T-shirt und Kapuzenshirt, wo sie sich der Schwerkraft beugten. Jetzt war er also da, wurde ihm ziemlich bewusst, in Nicks Wohnung. Wer hätte das gedacht. Noch vor einer Stunde hatte er gedacht, er würde ihn vielleicht nie wieder sehen. Nungut – zumindest nie wieder mit ihm sprechen. Als Nick gefunden hatte was er suchte und sich aufrichtete, ließ Sascha seinen Blick rasch interessiert gegen ein Poster schnellen. Nick versuchte sich in Gelassenheit. Er suchte nach einer Möglichkeit, mit Sascha über seine bewegende Erkenntnis zu sprechen. „Setz dich doch.“ sagte Nick und Sascha ließ seinen Blick über das mit Bücher, Kabel und Kleidung überwucherte Sofa schweifen: Wohin? Sascha beobachtete fasziniert und verzweifelt zugleich, wie Nick mit einer einzigen Bewegung alles zur Seite schob, wovon Einiges zu Bogen krachte. Reflexartig versuchte Sascha das Zeug aufzuhalten, aber Nick winkte ab und ließ sich in die weichen Polster sinken. Als würde er erwarten, das das Sofa lange Zähne aus führe, ließ Sascha sich nur sachte nieder, und je tiefer er glitt, je weiter schien das Sofa zurück zu weichen. Als ihn ein todesmutiges Was solls dazu ermunterte, einfach los zu lassen, sank er unerwartet tief ein – und weil Nick schwerer als er selber war – 146 oder auf der durch gesesseneren Stelle saß, kippte er fast auf ihn drauf. Nicht das ihn diese körperliche Nähe gestört hätte, begierig versuchte er sogar diese Nähe einzuatmen. Das erste mal das er sich traute, einen Lungenzug zu machen seit er die Wohnung betreten hatte - doch er rückte rasch von Nick ab. „Sorry.“ schnaufte er atemlos und spürte ganz genau jene Stellen an seinem Körper heftig pulsieren, mit denen er Nick beiläufig berührt hatte. Dieser Abend würde zur Herausforderung werden. Die Anziehung steigerte sich mit jeder Sekunde – auch mit jeder Sekunde, in der Nick sich so unerwartet gelassen gab. Er tat doch glatt so, als hätte er diesen kleinen Zwischenfall nicht bemerkt – zumindest aber so, als würde er sich nicht besonders daran stören. „Okaaaay, ... Zeichnungen.“ sagte Sascha, mehr als Appell gegen sich selber gerichtet, denn als Aufforderung an Nick. Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, und bei einem recht geilen Gott, du willst nicht schwul sein? Dachte Sascha bei sich, als er seinen Blick über diverse Körperstudien gleiten ließ, die allesamt tadellos waren, durchaus üblich auf dem Weg zu einem guten Zeichner. Sie setzten in wesentlichem nur mit größerem Detailreichtum das fort, was das Notizbuch bereits vorgegeben hatte. Nicht ein weiblicher Körper darunter, und als Sascha seine Aufmerksamkeit auf eine besonders muskulöse Körperstudie richtete, dachte er bei sich: Den kenn ich doch! „Und, ähm ... du zeichnest vom lebenden Objekt?“ versuche sich Sascha ein Bild von Tathergang zu machen, das weitaus blühender war, als die Realität. Er würde noch herausfinden wer das geheimnisvolle Modell war. „Aus dem Kopf.“ erklärte Nick und wurde ein wenig rot. Das stimmte doch nur bedingt. Sven hatte existiert – er hatte ihn gewissermaßen aus seinen Erinnerungen gemalt. „Das also hast du alles im Kopf? Nur das ich das richtig verstehe?“ fragte Sascha, ließ seinen Blick über all die 147 detailliert ausgearbeiteten Körperteile gleiten und dachte: schwul. „Ich meine, natürlich beobachte ich in der Natur, aber direkt umsetzen tu ich das aus dem Kopf.“ erklärte Nick nicht ohne Stolz. Natur also, dachte Sascha und fixierte einige Stellen, die man nicht so ohne weiteres in der Natur vorfinden würde, es sei denn, man würde der Natur auf die Sprünge helfen. Es war also doch recht einschlägig, was Nick natürlich fand. Und als Nick bemerkte, was genau Sascha so interessierte, trieb es ihm wieder ein bisschen die Farbe ins Gesicht und er sagte rasch: „Das ist von mir.“ und machte dazu eine flüchtige Bewegung über die Stellen die er meinte „Ich meine, habe ich von mir selber abgezeichnet.“ und wünschte sich in derselben Sekunde in einem Wurmloch verschwinden zu können. Na Prima. Auf welche weise versuchte er Sascha eigentlich zu erklären was mit ihm los war? Wollte er die Hosen runter lassen und sagen: du hattest recht? Sascha versuchte das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben, das einen nackten Nick vor dem Spiegel zeigte. Er begutachtete Nicks vermeintlich bestes Stück auf diversen Zeichenblättern und fragte sich, ob er je würde überprüfen können ob es stimmte. Es behagte Nick nicht, das Sascha sich so auf die Zeichnungen konzentrierte, wenngleich es ihm doch auch gefiel. Immerhin hielt er seit neuersten viel von Saschas Meinung und betrachtete ihn seit der finalen Einstellung in seinem sentimentalen Erinnerungs-Soundtrack mit etwas anderen Augen. Wie Sven, dachte Nick kurz und war so entsetzt von diesem spontanen Gedanken, das es ihm einen echt schmerzhaften Stoß ins Herz versetzte. Solchermaßen ernüchtert blickte Nick zu Sascha, welcher noch immer auf die Zeichnungen starrte. Nick bemerkte, das Sascha etwas am Hals hatte, das wie ein Insektenbein aus dem 148 Hemdkragen ragte. In derselben Annahme schlug er reflexartig da drauf. Sascha wurde unsanft aus seinen Träumen zu Nicks Leibesmitte gerissen. „Sorry.“ sagte Nick rasch „Du hast da ...“ und er zog an Saschas Kragen um darunter das vermeintlich tote Insekt zu entdecken. Stattdessen aber dehnte sich die dunkle Fläche aus. Fast entsetzt zog Nick den Kragen weiter herunter, und stellte fest, das er versucht hatte, den Ausläufer eines gewaltigen Tattoos zu erschlagen. Sascha zog den Kragen rasch wieder hoch. „Du bist tätowiert?“ platzte es fassungslos aus Nick heraus. Wenn Kevin oder Hellen mit einem Wahnsinns Tatoo protzten, dann ergab das einen gewissen Sinn. Es war logisch. Sascha aber hatte er bisher jedoch sehr seriös, zurückhaltend - um nicht zu sagen bieder - eingeschätzt. Ein riesiges Tattoo passte irgendwie überhaupt nicht. „Nein.“ gab Sascha nüchtern von sich, reichte Nick die Zeichnungen und sagte „Schön.“ Nicht, das er zu seiner Vergangenheit nicht stehen könnte, aber dieses Tattoo war nichts, auf das er stolz war, und in seinem Leben hatte er es sich schon oft weg gewünscht. Das sollte sich heute ändern. „Du hast ein Tattoo? Kann ich es sehn?“ bat Nick, nahm die Zeichnungen entgegen und legte sie einfach auf den Boden zu seinen Füßen – was Sascha aus dem Konzept gebracht hätte, wenn er es nicht schon gewesen wäre wegen der Bitte, sich quasi vor Nick zu entblößen. Nicht das er auf einmal Schamgefühle entwickelt hätte, zumal er erst wenige Tage zuvor genug anderes getan hatte, dessen er sich hätte schämen können – Gott stand ihm bei – quasi, aber das kam zu unerwartet. Zwischen der Auseinandersetzung im Treppenhaus seiner Eltern, und diesem Moment, da er sich quasi vor Nick ausziehen sollte, lag so gut wie nichts. Für Sascha trat der Aspekt Hemd aus – vor den Aspekt Tattoo zeigen. Der Weg hier her war zu mühsam gewesen, um ihn 149 durch Übermut zu vermasseln. „Es ist nichts... besonderes.“ erklärte Sascha zurückhaltend und verlor sich in Nicks braunen Augen. Himmel. „Es muss etwas besonderes sein, wenn du es hast.“ sagte Nick und fügte rasch hinzu „Ich meine, sonst hättest du es doch nicht.“ Verdammt, Nick sollte es einfach sagen, er sollte einfach sagen wer er ist, was er ist. Sascha blickte Nick ungläubig an. Entweder er ist grenzenlos naiv oder weiß genau was er will. Sascha schluckte, was sollte er darauf sagen? Langsam bewegte er seine Hände auf den Verschluss seines Hemdes zu ohne Nick aus den Augen zu lassen. Noch nie waren ihm seine Hemdknöpfe so klein und seine Finger so globig vor gekommen. In einer anderen Situation, bei einem anderen Mann, hätte er das ausgespielt und sich entkleiden lassen. Jetzt aber nestelte er mit zittrigen Fingern an den Knöpfen herum. Als er den letzten Knopf geöffnet hatte betete Sascha zu allen Dämonen die ihm geläufig waren, und zu einem recht geilen Gott, das er nicht ohnmächtig würde. Sachte ließ er das Hemd über die Schulter gleiten und beobachtete Nicks Gesichtsausdruck. Dieser sagte nichts, sondern bestaunte einen Drachen, der sich über Saschas halben Rücken, den Oberarm über die Schulter hin zur Brust ausdehnte. Und Nick sah die wunderschön zart definierten Muskeln, sein Blick glitt über Schultern, Brust, Bauch und Arm. Nick erlaubte es sich zum ersten mal vor sich selbst, es schön zu finden, anziehend. Vorsichtig berührte Nick das Hemd und schob es noch ein wenig zurück, um vordergründig das Tattoo in voller Pracht begutachten zu können. Sascha war schön gebaut. Nick prägte sich jede Wölbung ein. Das Motiv seiner nächsten Zeichnungen war damit klar. Nick überkam schließlich das unstillbare Bedürfnis, Sascha zu berühren. Er wollte wissen wie er sich anfühlte, warm oder eher kalt, weich oder eher hart. 150 Sascha fühlte die Blicke auf seiner Haut geradezu brennen und schloss seine Augen. Vielleicht war das Tattoo doch kein so schlechter Eindruck. Nie hatten er oder einer seiner bisherigen Lover es so erotisch gefunden, wie Nick, offenbar. „Kann ich anfassen?“ hörte Sascha von weit her an sein Ohr dringen und er wusste nicht ob er es nur geträumt hatte. Verstört schaute er Nick an, der lächelte – wie er immer lächelte – und einen verträumten Blick hatte, wie er immer einen verträumten Blick hatte – nur das Sascha nicht mehr unterscheiden konnte ob es ihm galt, ob es eine Anmache war, oder ob Nick vielleicht gerade in der Küche Toasts machte und er das alles nur träumte. „Ich weiß, das hört sich komisch an, aber ich denke immer, so ein Tattoo würde sich wie Samt anfassen.“ erklärte Nick seinen Wunsch. Ja, klar, dachte Sascha, und Bush sichert den Weltfrieden. Doch er nickte nur, denn Stimme hatte er schon lange nicht mehr. Sascha fühlte sich wie ein Vampir dem man die Halsschlagader feil bot, sie sogar für ihn an ritzte um seinen Appetit anzuregen, der aber versuchte, gegen das Unmögliche an zu kämpfen. Nick war überrascht von seiner eigenen Courage. Er hatte sich über das Wochenende vielleicht zu viel Informiert. Er berührte sanft Saschas Schultern und zog mit seiner Hand eine geschwungene Linie über dessen Rücken. Erogene Zonen! Erogene Zonen! Schrie Sascha innerlich. Jemand konnte sich unmöglich so verhalten ohne eine Absicht dahinter zu haben. Andererseits fing die erogene Zone derzeit bei der Türschwelle an und hörte sowieso nie wieder auf. Spätestens als Nick selbstvergessen die Hand zur Brust gleiten ließ, schnellte Saschas Hand auf Nicks Oberschenkel und krallte sich dort ins Fleisch. Nick erschrak über diese Reaktion nicht weniger als Sascha, und versuchte mit beiden Händen, die Hand von seinem Bein 151 zu nehmen. „Wie, äh, wie kommt es, das du ein Tattoo hast?“ fragte Nick betont arglos, und Sascha hatte das Gefühl, man hätte ihm die Quelle reinen Blutes unter den Eckzähnen weg gerissen und ihm stattdessen ein Daunenkissen ins Maul gerammt. Verdammt! Beinahe hatte er sich eingeredet, Nicks Interesse gelte mehr, als nur dem Drachen auf seiner Haut. „Ich bin nicht vom Himmel gefallen ...“ sagte Sascha voll Unmut, so wie du anscheinend „sondern habe eine Vergangenheit.“ und beinahe schon, um ein Haar, zog echter Groll in ihm hoch. Unschuld und Naivität – das war ja ganz reizvoll – aber sinnlos wenn es zu nichts führte. „Das glaube ich nicht.“ sagte Nick geradeheraus. Er hatte zwar Saschas Hand von seinem Bein bekommen, aber sie noch nicht los gelassen. Er wollte es sagen. Er wollte es ihm jetzt sagen, und hielt Saschas Hand mit feuchten Händen fest. „Ich bin zwar noch nicht ... was weiß ich wie alt du bist, dreißig?“ gab Sascha nahezu empört von sich. „Aber ich glaub an Vergangenheit hab ich dir einiges voraus.“ und auch wenn er sich seine Hand hätte gerne noch stundenlang halten lassen, versuchte er, sich zu lösen. Er sollte jetzt gehen. Der Dauerzustand der Erregung begann echt zu schmerzen und er hatte keine Lust, an explodierten Hoden zu sterben. „Ich meinte nicht das.“ erklärte Nick und hielt die Hand fester. Jetzt, sagte er zu sich, jetzt. Er drehte die Hand auf den Rücken, schob den Hemdsärmel hoch, zeichnete mit seinen Fingern die lange Narbe nach und sagte: „Ich glaube du bist schon vom Himmel gefallen.“ Nick zuckte zusammen. Was sagte er da? Warum sagte er nicht was er dachte? Warum kamen so seltsame Sätze aus seinem Mund? Warum schaute Sascha so? Nick schluckte. Sascha näherte sich ihm, blickte ihm abwechselnd in die Augen und auf den Mund. Schlagartig wurde Nick klar, was gleich passieren würde. Es 152 war ewig her, das er einem Menschen körperlich so nahe war wie Sascha jetzt. Und da war dieser tot gewesen. Sascha lebte, er näherte sich behutsam, und seine Lippen waren warm und weich. Nick hielt seine Augen geschlossen, wagte kaum zu atmen, sich nicht zu bewegen, wie zu einer Säule erstarrt hielt er inne, als sich Sascha längst wieder entfernte. „Also doch.“ hörte er Sascha von weit her sagen, und erst da öffnete Nick wieder seine Augen und sah Sascha auf so wunderbare Art lächeln. Noch nie hatte jemand ihn so angesehen. Fast niemand. Nick bemerkte, das er immer noch Saschas Hand hielt, und mit einer zügigen Bewegung zog Sascha Nick daran zu sich und schlang seine Arme um ihn. Nick hatte noch nie jemanden Umarmt. Zumindest nicht seit er in die Pubertät gekommen war. Die Nähe, die Wärme des anderen Körpers, zu spüren wie dieser sich im Atmen hob und senkte, die Arme, die sich so harmonisch um den Körper schlangen – es war ein Wunder. Nick hielt Sascha so fest, als müsse er andernfalls ertrinken. Er wollte mehr. Er wollte zumindest nicht, das dieser Moment jemals vorübergeht. Saschas weiche und warmen Lippen fanden ihn erneut, und Nick gab sich nur bereitwillig einem leidenschaftlichen Kuss hin, als ein Gefühl ihn durchbohrte wie Blei. Plötzlich war ihm, als wäre Sascha kalt, hart, tot. Nick sah Sven vor sich, ihm war als würde er gehalten von einem knöchernen Toten, der nun aber gar nicht der schön verkitschen Erinnerung entsprach. „Du hast geschworen, niemals zu lieben.“ donnerte eine blecherne, grollende Stimme – die Nick zwar Sven zuordnete, nicht aber Svens Stimme entsprach. Svens Kopf war zu einem entstellten Totenkopf mutiert, und knöchernes Gebein, daran verrottendes Fleisch neigte sich Nick entgegen, forderte seinerseits den Kuss. Ssascha kam gerade erst in Fahrt, als sich Nick begann, wie verrückt gegen ihn zu stemmen. Er riss sich los, starrte Sascha 153 entsetzt und mit wirrem Blick an, und schrie: „Ich habe geschworen niemals zu lieben.“ Tränen standen in seinen Augen, eine Grimasse von Ekel und Verzweiflung überzog Nicks Gesicht und er sprang vom Sofa. Als wäre der Teufel hinter ihm her, rannte Nick hinaus, hielt nur einmal kurz inne um Sascha einen Blick des Bedauerns zu zu werfen, und verließ dann seine eigene Wohnung. Es lag dieses aufregend erfrischende Knistern in der Luft, das für die Nächte der ersten warmen Sommertage typisch ist, aber an Nick war das vergeudet. So umsichtig wie Nick sich sonst verhielt, um nicht aufzufallen, um unsichtbar zu bleiben, in dieser Nacht vergaß er all diese Fesseln, all seine Knebeln. Es war nicht mehr oberste Priorität, unscheinbar zu sein. Die ganze Welt mitsamt ihren Menschen hatte keinen Wert, keine Dringlichkeit im Verhältnis zu seinem Leid. Daher bemerkte er auch nicht, das er laut mit sich selber sprach, als er ohne Ziel durch die Gassen irrte. Er bemerkte die Pärchen nicht, die Spaziergänger, die Herrchen die ihre Hunde aus führten – er bemerkte nicht, wie sie ihn ansahen, einen Bogen um ihn machten, über ihn den Kopf schüttelten und ihm noch lange nach sahen. Er sprach mit dem Schicksal, mit seinen eigenen Gedanken, seinen Schuldgefühlen, seiner Vergangenheit und er sprach mit Sven. Er spürte den Kuss noch deutlich auf seinen Lippen und wann immer ihm das einfiel, wann immer die Szene von vorhin durch sein Bewusstsein schritt – stach es ihn in den Eingeweiden. Er wollte zurück laufen. Er konnte nicht zurück laufen. Er konnte Sascha nie wieder sehen. Nein, auch wenn sein gesamtes selbst nichts sehnlicher wünschte, als Sascha nahe zu sein – er durfte nicht. „Sieh her!“ rief er „Sieh her! Es hat noch nicht einmal richtig angefangen und schon tut es weh! Schon ist es Leid!“ für Nick 154 war die Sache klar. Liebe ist das schlimmste Übel, es ist Leid, Qual und sie ist auf jeden Fall zu vermeiden. Wollte er am Ende denn auch von einer Decke baumeln? War das der Plan? War das der Sinn hinter der Liebe? Also wollte er es doch wie bisher handhaben – und eben nicht lieben. Das hatte die letzten dreizehn Jahre doch wunderbar funktioniert! War er etwa unglücklich gewesen? Nein! Jetzt war er unglücklich, jetzt litt er. Jetzt, wo er... Und wieder gabs einen Tritt der Erinnerung in die Magengegend. Nick war in der Hölle gelandet. Auch wenn er es sich einredete – und er redete mittlerweile sehr laut – er spürte das er nicht mehr zurück konnte. Er wusste, das er nicht mehr glücklich werden würde. Mit Sascha nicht, und ohne Sascha nicht. Sie würden am Ende noch beide von der Decke baumeln. Nick war so in Selbstgespräche vertieft – man sollte sie eher Selbstgeschreie nennen, das er nicht merkte, wie er in den Park gekommen war. Und auch da schritt er quer über den Rasen, dessen Tau die Hosenbeine nass machte, und ignorierte Wege und Paare und bemerkte noch nicht einmal, wo Laternen Sicht spendeten oder die Finsternis alles Sichtbare verschlang. Und so musste er sich fragen, was um alles in der Welt passiert war, als er diese Truppe Zirkusleute antraf. Sie standen und saßen auf einer Parkbank versammelt und auch wenn die Laterne darüber kaputt war, waren sie deutlich sichtbar. Sie waren einfach da und taten so, als würden sie auf ihn warten – auf ihn, und niemanden sonst. Erst wäre er beinahe auch an ihnen vorbei gelaufen, hätte sie ignoriert, wie den Rest der Welt. Doch weil der Anblick gar so grotesk war, riskierte er einen zweiten Blick. Er kannte die doch. Sie kamen ihm bekannt vor. Das riesige Muskelgebirge von Vater mit seiner etwas rotznasigen Tochter. Der skurrile Onkel. Plötzlich wurden seine Gedanken völlig still. Er zog das 155 Notizbuch aus seiner Hosentasche und verglich die Zeichnung die er einst im Cafe machte und die ihn so überrascht hatte. Das er die Zeichnung in der Dunkelheit sehen konnte, verwunderte ihn nicht weiter – immerhin war das was er vor sich sah wesentlich beeindruckender. „Hallo Nick.“ sagte der kleine dicke Mann im Nachthemd. Nick hatte keine Zweifel daran, das er gemeint sein könnte, dennoch blickte er sich um. Es schien angemessen, das zu tun. „Ja, dich meinen wir.“ erklärte der kahlköpfige Mann für alle. Nick entging nicht, das der Riese splitterfasernackt war. Viel bemerkenswerter aber fand er das kleine Mädchen. „Sieh ihr nicht in die Augen.“ brummte das Muskelgebirge rasch und Nick zuckte zusammen. „Wie geht es dir denn?“ fragte Amor. „Gut!“ sagte Nick reflexartig. Wenn ein Fremder dich so etwas fragt, dann will er nicht über deine Probleme sprechen. Das hatte ihm seine Mutter einst beigebracht. Außer er ist ein Psychologe. „Lügner!“ rief Mana wie ein ungezogenes Mädchen. Nicks Blick schlich zu ihr, als Varis wieder betonte: „Schau ihr nicht in die Augen!“ Nick zuckte erneut und bemühte sich, der Versuchung zu widerstehen, das kleine Mädchen anzusehen. „Wir wissen warum du hier bist.“ erklärte Amor. „Weil ich mich verlaufen habe?“ fragte Nick, sah sich um und fügte hinzu „Obwohl ich eigentlich sehr genau weiß wo ich bin.“ „Kein Wunder. Da bist du auch schon reichlich lange.“ gab Mana von sich und Nick bemühte sich, nicht hinzusehen. „Ich kam eigentlich gerade erst frisch...“ entgegnete er ihr, und stierte dabei intensiv auf Varis Bauchnabel. Als er das bemerkte – und vor allem bemerkte, das Varis es bemerkte – konzentrierte er sich rasch auf den Mann im Nachthemd. Er 156 schien jemand zu sein mit dem man vernünftig reden konnte. „Sie meinte nicht den Park.“ erklärte dieser „Sie meinte dein Leben.“ „Was weiß sie schon von meinem Leben?“ entgegnete Nick ungehalten. Das Zirkusleute immer irgendwelche mystsichen Shows abziehen müssen. Gleich fangen sie an, von Gedankenlesen und Kristallkugeln zu faseln. „Du hast geschworen, nie wieder zu lieben. Hast du eigentlich in den letzten dreizehn Jahren mal überlegt, was dieses wieder bedeutet?“ fragte Amor. Nick fühlte sich ertappt. Woher konnten sie das wissen? Dann aber fand er seine kritische Distanz wieder und erklärte sich dies mit einem Trick. Vielleicht hatten sie ihm zugehört, er hatte ja doch laut mit sich gesprochen gehabt. „Ich weiß, du dachtest du hättest nie geliebt.“ fuhr Amor fort „Zumindest hast du dir das lange genug eingeredet, nicht wahr?“ „Wie macht ihr das?“ fragte Nick und machte einen Schritt zurück. Plötzlich ertönte über ihm in einem Zweig ein beherztes „Krah!“ „Er ist schon okay, er gehört zu uns.“ beruhigte Amor, als er Nicks verblüfften Blick sah. Nick kannte den Vogel. So gut er eben sagen konnte, das man einen Vogel kannte. Mag es Millionen Vögel geben auf der Welt, die diesem glichen – so wusste er doch ganz genau, das er diesen Vogel schon einmal gesehen hatte. Wie könnte er ihn auch vergessen, trat er doch in regelmäßigen Abständen in seinen Alpträumen auf. „Wer seid ihr?“ fragte Nick. „Freunde.“ gab sich Amor knapp „Freunde die dir helfen werden.“ „Helfen wobei?“ Nick fühlte sich in Schach gehalten, der Vogel über ihm, die drei seltsamen Gestalten vor ihm, und diese seltsamen Psychotricks mit denen sie in seinen Gedanken lesen 157 konnten. „Warum wolltest du nie wieder Lieben?“ fragte Amor. „Laaaaangweilig!“ motzte Mana, verdrehte die Augen und blies Luft durch ihre Lippen. Sie verstand es, Nick zu irritieren. „Das geht euch nichts an.“ erklärte Nick und machte einen weiteren Schritt zurück. Er sollte hier schleunigst verschwinden. „Du hast Sven geliebt!“ brummte Varis Stimme sehr weich und mitfühlend. Das lag wohl daran, das Varis sehr gut mit fühlen konnte. Auch er liebte. „Woher weißt du den Namen?“ fragte Nick. Eine Faust zog seinen Magen zusammen, sein Herz raste und kalter Schweiß kroch langsam den Rücken hinunter. „Mann! Willst du den Scheißschwur nun lösen oder nicht?“ klirrte Manas Stimme ungehalten in die Nacht. „Schwur?“ Nick kannte sich nicht mehr aus. „Willst du glücklich werden?“ fragte Amor, und Nick begann schon zuzustimmen, als Amor hinzufügte „Mit Sascha?“ Nein, wollte Nick darauf schreien. Er wolle keine Liebe, er wolle ohne Liebe glücklich werden. Aber sein Mund folgte nicht. Er schwieg, blieb gelähmt, sein Kopf jedoch nickte. „Vergiss es!“ rief Mana „Der will nicht. Merkt ihr das denn nicht?“ „Also wenn er Sascha nicht will... ich finde sie hat recht – dann muss er ja nicht.“ gab Varis eifrig und betont großzügig vor sich, während er daran dachte, eine gewisse Nacht zu wiederholen. „Was ist los mit euch?“ platze Amor der Kragen „Fällt ihr mir jetzt in den Rücken? Ich hab euch den Vogel der Zeit befreit, jetzt tut was ihr versprochen habt und helft mir gefälligst!“ „Sorry.“ brummte Varis schuldbewusst. „Wovon sprecht ihr eigentlich?“ „Die Sache ist die.“ begann Amor „Du hast da vor dreizehn 158 Jahren einen ziemlich... naja... sagen wir unüberlegten Schwur getätigt. Du weißt schon, welchen. Dieser Schwur steht, nun, er steht... ähm gewissen Plänen im Wege. Und wir sind nun hier, um dir zu helfen, diesen Schwur obsolet zu machen.“ „Der Schwur hat seine Richtigkeit.“ beharrte Nick auf einen Standpunkt, den zu Vertreten er sich gerade nicht so sicher war. Aber die seltsame Brigade war in der Überzahl und dabei, einen wirklich wichtigen Punkt in seinem Leben zu negieren. Was wussten die schon? Sven hatte den Fehler begangen, seine Liebe wahr zu machen, sie leben zu wollen, und nun war er tot. Nick hatte ihm noch selber Mut gemacht, also war er indirekt auch schuld an Svens Tod. Die Herrschaften hier, und überhaupt alle, redeten sich leicht, wenn sie von der Liebe sprachen. Auch Nick hatte mal so geredet, und Sven ermutigt seiner Angebeteten die Liebe zu gestehen. Es war der schlimmste Fehler in seinem Leben gewesen. Hätte Sven nicht versucht, seine Liebe wahr zu machen, so würde er noch leben. „Vielleicht.“ so gab Amor zu bedenken „Kanntest du nicht alle Fakten.“ „Was soll das heißen?“ „Manches sieht anders aus als es scheint. Vielleicht beruht dein Schwur auf falschen Annahmen.“ „Sven ist tot. Das ist keine Annahme, das ist ein Fakt.“ „Sollen wir dir nun helfen, du Versager, oder nicht?“ gab Mana ihrer Ungeduld freien Lauf. Amor bedachte sie mit einem sehr wütenden Blick. „Wenn es einen Weg gäbe, die Situation noch einmal zu beleuchten. Mit dem Wissen das du jetzt hast. Mit einem Wissen das du damals nicht haben konntest, nicht zulassen konntest zu haben, wenn du mit diesem Wissen an den Tag des Schwurs zurückgehen könntest – würdest du?“ wollte Amor wissen. „Was sollte das bringen?“ Nick war verunsichert. Meinten sie 159 etwa Zeitreisen? Das war absurd. Völlig unvorstellbar. „Du könntest einiges anders betrachten, besser verstehen.“ „Ihr habt eine Zeitmaschine mit der ihr mich dreizehn Jahre zurückversetzen wollt. Sehe ich das richtig?“ „Es ist nicht direkt eine Zeitmaschine. Und du könntest nicht in deinem jetzigen Körper reisen.“ Sie machten wohl Witze. Nick hatte gut Lust, sie herauszufordern. Vermutlich würde das ganze seltsame Theater hier damit ein jähes Ende finden. Er könnte nach Hause gehen, und... da war er wieder, der Schlag in die Magengegend. Mit glühendem Kopf und weichen Knien erinnerte er sich, das Sascha noch bei ihm zu Hause sein könnte. Nick spüre Sehnsucht nach ihm, aber zugleich auch diesen furchtbaren Schranken, diese eiskalte Beklemmung, diesen Schwur. Es war mehr als reine Provokation, als er schließlich sagte: „Okay! Ich machs. Was soll ich tun?“ „Was könntest du schon verlieren? Schlimmstenfalls... Oh... Oh, okay. Du bist einverstanden. Das ist gut!“ stammelte Amor aufgeregt und der Vogel der Zeit ließ ein heiseres Krächzen los. Mit einem Mal entstand rege Betriebsamkeit. Varis erhob sich von der Parkbank – das war im Prinzip das Betriebsamste – Amor und Mana wichen zur Seite und winkte Nick herbei. Zögernd näherte er sich der Bank und setzte sich vorsichtig als hätte er angst, sich einen Span einzuziehen. „Hinlegen bitte.“ gab Amor Anweisung, und Nick bekam erste Zweifel. Was würden sie sich für einen Verrückten Zaubertrick einfallen lassen? „Ganz ruhig atmen, nicht schrecken.“ sagte Varis in einem besorgniserregenden ruhigen Tonfall. Nick fiel ein, das er gar nicht wusste, in welcher Gestalt er denn die Zeitreise machen würde. Und – auch wenn er nicht wirklich glaube, in wenigen Minuten dreizehn Jahre zurück zu reisen – wie er wieder in die Gegenwart zurück fände. Und ob er, wenn er etwas verändern 160 würde, die gesamte Welt verändern würde. Am Ende käme er in einer vollkommen anderen Welt heraus und wäre... ja... wäre Sascha nie begegnet. Und auch, wenn er immer noch nicht an die Umsetzung dieses bescheuerten Plans glaubte, so tadelte er sich, so unüberlegt eingewilligt zu haben. „Schön entspannen.“ brummte Varis, berührte vorsichtig Nicks Buch und sagte „Du bist zu verkrampft. Lass los! Es wird dir nichts passieren. Wir haben das schon mit tausenden Leuten gemacht.“ Ah, dachte Nick, sie machen Hypnose. Das hätte er sich eigentlich denken können. Und noch während er in den klaren Sternenhimmel blickte und sich darauf einstimmte, arglos vor sich hin zu träumen – stürzte die seltsame Krähe auf ihn zu. Sie zielte genau auf seine Stirn, zwischen seine Augen und in jenem Moment, als sie sein Gehirn durchschmetterte, fühlte Nick seinen Körper nicht mehr. Im nächsten Augenblick zerrte ihn etwas hoch, hoch hinauf in den Nachthimmel. Alles war größer, gewaltiger, der Abstand zum Boden vergrößerte sich rapide, Nick kämpfte mit Schwindel und Übelkeit. Er wurde wie verrückt hin und her gerissen und bald wusste er nicht mehr, wo oben und wo unten ist. Und dann kam das Feuer. Es war als würde die Welt brennen, dann bemerkte er, das er selber es war, der brannte. Er wurde mit dem Sog eines Strudels weg gerissen, und ehe er sein Bewusstsein verlor, erblickte er ein Geschöpf das grässlicher war als alles was er je gesehen hatte. Es hatte einen widerwärtig nackten, buckligen Körper, einen kahlen runden Schädel und zwei gelbe verlorene Vorderzähne. Es lachte bösartig und alles in ihm und um ihn herum verkrampfte sich. Es war etwas böses, das wusste er. Sein letzter Gedanke war: Etwas schreckliches ist passiert! Sascha drehte einen Schlüssel zwischen seinen Fingern hin und her – und ließ ihn dabei fallen. Buster schreckte hoch und 161 blickte ihn müde an. Hingebungsvoll, aber müde. Es war vier Uhr in der Früh, Buster lag endlich in seinem luxuriösen Körbchen – aber von erquickender Nachtruhe war nicht zu sprechen. Sein Herrchen hielt es keine drei Minuten an derselben Stelle aus, und keine zwei Minuten ohne einem tiefen besorgniserregenden Seufzer. Sie waren erst vor einer Stunde heim gekommen. Zu Busters tiefgreifender Verunsicherung hatte Sascha in der fremden aber inspirierend duftenden Wohnung intensiv aufgeräumt. Bei jedem Geräusch das nicht durch den Krach erzeugt wurde, den Sascha beim akribischen Säubern erzeugte, hielt dieser inne. Zehnmal pro Stunde lief Sascha wie von einem unsichbaren Soldaten aufgefordert zur Türe, öffnete sie, horchte, und schloss sie wieder. Und dann war es passiert. Die fremde Wohnung war sauber, fast so sauber wie Saschas eigenes Domizil, und unterbrach jäh Saschas Tatendrang. Fünfmal verließ Sascha entschlossen die fremde nun saubere Wohnung, und betrat sie wieder um drei Minuten rastlos auf dem Sofa zu warten. Buster hatte brav mitgespielt, auch wenn nach dem dritten Mal die Spannung raus war und er wusste, das nichts Aufregendes mehr zu erwarten gewesen war. Endlich waren sie aber doch daheim gelandet – doch die Ruhelosigkeit des Herrchens nahm kein Ende. Sascha spielte mit dem Schlüssel der fremden Wohnung herum, stand auf, vergaß was er tun wollte, setzte sich wieder. „Hellen?“ sagte nun Sascha und riss Buster wieder aus einem Sekundenschlaf. Erst dachte er, er würde angesprochen, doch Sascha drückte sein Telefon ans Ohr. „Ja, ich weiß wie spät es ist.Ist Kevin bei dir?“ „Hat sich Nick bei euch gemeldet?“ „Ich weiß, daß es mitten in der Nacht ist. Hat er sich gemeldet?“ „Nicht?“ 162 „Ich mach mir Sorgen um ihn.“ sagte Sascha „Hellen?“ Hellen hatte schon aufgelegt. Sascha überlegte nicht lange und drückte auf Wahlwiederholung. „Nick ist abgehaun.“ platzte Sascha heraus. „Ja, gewissermaßen gehört das zu seinem Persönlichkeitsprofil.“ gab Sascha zu. „Aber... Hellen?“ Er starrte eine weile unentschlossen auf das Display seines Mobiltelefons und drückte erneut die Wahlwiederholung. „Hat er sich wirklich nicht gemeldet?“ fragte er. Doch Hellen hatte nicht abgehoben sondern ihn einfach weg gedrückt. Das Licht des Morgens zog kaum die ersten zähflüssigen Schatten, da ertönte bereits der Chor der Singvögel im Park. Varis, Mana und Amor bewegten sich um Nicks leblosen Körper herum, welcher vor ihnen im Gebüsch lag. Mana häufte verspielt verrottendes Laub und Grad darüber, Varis zog ihn an Arm oder Bein noch etwas mehr ins Gebüsch, heraus aus dem Blickfeld eventuell vorbeikommender Passanten. „Ist das normal?“ fragte Amor der sich verwunderte, das die unsanfte Behandlung Nick nicht weckte. „Es dauert normalerweise nicht so lange.“ brummte Varis und schob mit seinem nackten Fuß Nicks Leib in der Körpermitte noch etwas weiter unter den Busch. Ein leicht nervöser Unterton schwang in seinem Bass mit. Amor hörte es genau. Mana stierte wütend auf Nick, seit er in die Bewusstlosigkeit gesunken war. „Mieses Arschloch!“ zischte sie leise. „Wie lange sollte es denn so dauern, im Durchschnitt?“ fragte Amor. „Ich weiß es nicht.“ gab Varis zu, und rieb sich am Kinn. „Aber nicht so lange. So lange hat es noch nie gedauert.“ Amor befühlte vorsichtig Nicks Stirn – er hätte auch ungestüm und rücksichtslos sein können wie Mana und Varis, die Nicks 163 Körper behandelt hatten wie einen Sack Kohlen – Nick blieb ungerührt - und zuckte entsetzt zurück. „Er ist kalt!“ „Wirklich?“ fragte Varis, neigte seinen Kopf und legte seinerseits seine massive Hand auf Nicks Stirn, wobei er das Gesicht beinahe vollständig abdeckte. „Stimmt.“ gab er zu. „Ist er tot?“ fragte Amor. Mana hob ihre zarte, blasse Hand, fasste Nick an einer Augenbraue und zog so heftig daran, das die Haut sich dehnte und schließlich Haare her gab. Jeden Menschen in noch so tiefem Schlaf hätte das aufgeweckt. Amor war entsetzt. Mana warf die Augenbrauenhaare zu Boden und fuhr mit ihren kleinen Fingern erneut grob in Nicks Gesicht, zerrte an den Wangen, bohrte ins Kinn, rieb brutal über die Nase. Amor kämpfte mit sich, ob er sie aufhalten sollte. „Was macht sie da?“ flüsterte er zu Varis. „Sie reagiert sich ab.“ erklärte Varis „Ausserdem steckt sie ihm gerade einen Käfer in die Nase.“ „Sie... was?“ „Sie reagiert sich ab. Sie mag ihn nicht. Aber der Käfer scheint ihn zu mögen.“ Varis legte seinen Kopf schief. Amor riss die grobe Kinderhand von Nicks Gesicht, pulte den Käfer aus dessen Nase und schrie Mana an: „Bist du verrückt?“ Sie zog eigenwillig ihren Arm zurück und sagte „Er hats verbockt!“ „Was?“ „Er hat Nastyboy mitgenommen! Nastyboy gehört mir! Er hat kein Recht dazu!“ schrillte ihre beleidigte Kinderstimme. Mana verschränkte die Arme und blickte finster. „Er hat was?“ Amor blickte Mana an wie ein Vater dessen Kind gerade gestand, das es Kaugummi gestohlen hatte. „Nastyboy. Er hat ihn mir weg genommen.“ „Oooh!“ brummte Varis und taumelte hoffnungslos zurück. 164 „Was heisst das?“ Amor hatte Varis noch nie hoffnungslos erlebt. „Das er am Arsch ist!“ brüllte Mana mehr als unhöflich. Mana schlug mit ihrer flachen kleinen groben Hand auf Nicks Stirn, sodass die Haut rot anlief. „Ich bin am Arsch.“ dachte Nick als er wieder fähig war, zusammenhängende Gedanken zu fassen. Um genau zu sein war es das einzige, zu dem er derzeit fähig war: Gedanken fassen. Und diese fassten sich eben so zusammen: Ich bin am Arsch. Diese Erkenntnis überkam ihn, als ihm zweierlei bewusst wurde: Er war nicht Herr über seinen Körper, er war sich noch nicht einmal sicher ob es sein eigener Körper war. Und er war nicht Herr seiner Motivation, was er im ersten Moment so gar nicht formulieren hatte können. Er hatte es auch jetzt noch nicht formuliert, es war mehr ein diffuses Gefühl. Eine Art düstere Ahnung. Etwas böses hatte von ihm Besitz ergriffen. Doch der Reihe nach. Gerade war er noch im Park gewesen und hatte Bekanntschaft mit ein paar abstrusen Wahrsagern eines Zirkus gemacht, die in seinen Gedanken herum gestöbert hatten wie in einem Wühltisch beim Sonderabverkauf, und ihn unter der idiotischen Idee einer Zeitreise hypnotisierten. Nick wusste wie es war, hypnotisiert zu werden, das durfte er als Kind in der Therapie erfahren, in der man versucht hatte, so etwas wie ein Vatertrauma zu lösen, das er noch nicht hatte. Aber das hier war etwas anderes. Vielleicht war das der Unterschied zwischen billiger Showhypnose und therapeutischer Hypnose? Nun, in diesem Fall hätte er der Showhypnose wesentlich mehr Punkte gegeben, denn was er in ihr erlebte fühlte sich so real an, es wirkte echt. Und sie brachte ihn an einen echten Ort. Einen, den er schon einmal gesehen hatte, den er kannte. Die Farben, die 165 Geräusche, die Gerüche – sie waren intensiv und sehr vertraut. Er war schon einmal hier gewesen. Und dann sah er ihn. Einen jungen Mann von zarten siebzehn Jahren dem all das markante fehlte, das ihm heute im Spiegel entgegen schaute. Es war Nick. Nick sah sich selber. Unglaublich jung. Er hatte sich nie so junge gefühlt wie er hier aus sah, nicht einmal als Kind. Aber das war wohl die Tücke der Ich-Perspektive. Umso verrückter war es, sich von außen zu sehen, wie ein Fremder, und auch wenn gewisse Bewegungsabläufe sich nicht geändert hatten, so konnte Nick nicht glauben, das er wirklich so agierte. So wie jeder, der das erste Mal seine Stimme hört, von ihr angewidert ist, so war er es jetzt von der Art wie er als Gesamtkonzept wirkte. Oder gewirkt hatte. Im Spiegel posiert man bloß, hier aber war er das nackte Leben. Unzensiert. Und es war widerlich. Das Gefühl von Ablehnung und Hass wuchs besorgniserregend und ungebremst rasch an, ehe Nick merkte, das da etwas war, das diese Negativität schürte. Etwas Böses. Nick hatte versucht, sich selbst zu folgen und dabei Bekanntschaft mit seinem jetzigen Körper gemacht. Dem Körper seiner aktuellen Ich-Perspektive. Er existierte nicht. Oder anders gesagt – er gehorchte nicht. Aber er gehorchte diesem Abgrund den er in sich spürte. Und dieser hatte zufällig das selbe Ziel. Sven. Nick erkannte die Situation in der sich sein jugendliches Abbild befand, und er wusste, das Sven hier war. Als er das erkannte, war ihm elend und aufgekratzt zugleich zumute. Nie hätte er gedacht, Sven jemals lebend wiederzusehen, außerhalb seiner Träume. Er spürte Sehnsucht. Und zugleich hatte er Angst davor. In den vergangenen dreizehn Jahren hatte sich das Bild der Erinnerung gewiss verändert. In all den Zeichnungen und seinen Albtäumen hatte sich ihm doch bloß eine verzerrte Vorstellung von Sven gezeigt. Nick ahnte einfach zu deutlich, 166 das es sich von dem unterscheiden würde, das er sobald zu sehen bekäme. Zuvor aber wurde er Zeuge, wie er sich selbst, sein jugendliches selbst, im Spiegel kontrollierte – prüfte, ob das Haar saß, und seine Augenbrauen befeuchtete. Oh, der Tick mit den Augenbrauen, den hatte er fast vergessen gehabt. Zu allem Überfluss spannte der Teenager auch noch seinen Bizeps an, um sich selber zu bewundern. Nein, nicht bewundern, Mut machen. Er wirkte sehr nervös. Nick erinnerte sich gar nicht das er nervös gewesen war damals. Der jugendliche Nick verließ den Raum, und der Körper in dem er sich nun befand setzte sich in Bewegung um ihm zu folgen. Der Körper erhob sich kraftvoll und folgte dem Jungen aus einer Höhe, die Nick klar machte, das er fliegen musste. Nick befand sich also im Körper eines Vogels. Eines bösen Vogels, wie es den Anschein hatte, denn eine dumpfe Beschlagenheit machte sich in Nicks Gemüt breit – ungeachtet der Eindrücke die er verarbeiten musste. Und dann sah er ihn. Sven. Er sah genauso aus wie in seiner Erinnerung, und doch auch wieder nicht. In seinen Träumen war er mit gewachsen, war älter geworden, war immer in seinem eigenen aktuellen Alter gewesen. Nun aber frischte seine Erinnerung pur den lebenden Sven auf, und das traf ihn mitten ins Herz. Es zerstörte alle Schreckensbilder des Leichnams, die ihn so lange gefesselt und geknebelt hatten. Aus Nicks Herz – auch wenn es körperlich nicht anwesend war – floss die Trauer in dicken zähflüssigen Tropfen, und zugleich wurde es geflutet von einer tiefen Wiedersehensfreude. Am liebsten wäre er hin geflogen und hätte ihn umarmt. Doch sein fremdartiger Köprer gehorchte nicht. Er saß, von den Jungen unbemerkt, noch im anderen Zimmer, aber so, das er sehen konnte. Nick erinnerte sich. Es war dieser unselige Tag, als er Sven riet, seiner Angebeteten noch seine Liebe zu gestehen. Sven wirkte 167 gedrückt und aufgeregt. Er starrte die meiste Zeit auf seine eigenen Handgelenke, während Nick auf ihn einredete. So viel hab ich gesprochen? Frage sich Nick. Sven schien immer wieder Luft zu holen, um etwas zu sagen, und tat es dann doch nicht. Das hatte Nick damals gar nicht bemerkt gehabt, so beschäftigt war er gewesen, mit guten Ratschlägen zu glänzen. „Was soll schon passieren? Das schlimmste das passieren kann ist, das sie dich nicht mag. Dann wärst du so weit wie jetzt, wo du dir ständig einredest das sie dich ja doch nicht will. Also verlierst du nichts.“ erklärte Nick überraschend lebendig. „So einfach ist das nicht.“ schüttelte Sven den Kopf, hob wieder seinen Brustkorb als wolle er nun erklären, wo das Problem lag, aber dann blitzte eine Angst in seinem Gesicht auf und er sagte nichts. Nick als Vogel wusste, das sein jugendliches Ebenbild über diese feine Geste hinwegtrampeln würde und die Überzeugungsarbeit fortsetzen würde. Er aber, er der Erwachsene im Leib eines Vogels, hätte einfach zu gerne gewusst, was Sven ihm hatte sagen wollen. Halt die Klappe, dachte er genervt gegen sein frühers Ich, hör hin, hör doch einfach mal hin, es ist die letzte Chance, verdammt, er will dir etwas sagen. Wenn du jetzt nicht zuhörst wirst du ihn nie wieder lebend sehen! Nick wünschte sich, das er einen Körper hätte, mit dem er energisch ins Zimmer schreiten und sein junges Selbst schütteln konnte. Einen Mund hätte, mit dem er Sven hätte fragen können, was ihm auf dem Herzen liegt, was er plane, warum, und wie er es verhindern könnte. Doch der Vogelkörper saß regungslos da und eine finstere Kraft in ihm schien die Verzweiflung zu genießen, die er fühlte. Sie war hungrig, mehr als hungrig – gierig. Je länger Nick der Szene beiwohnte, die hundert Signale wahr nahm, die Sven sandte, die er damals übersehen hatte, umso unerträglicher wurde es. Ich muss es verhindern, beschloss er. Ich muss herausfinden wie ich diesen Körper lenken kann. Ich muss verhindern das 168 Sven stirbt. Als Kevin vom Motorrad sprang, das unter Hellens Hintern ungeduldig brummte, bemerkte er bereits Sascha, der vor dem Geschäft zappelte und den Hund völlig verrückt machte. Hellen murmelte etwas genervt in ihren Helm, das Kevin nicht hören konnte, und gab dem Benzingaul die Sporen. „Hat sich Nick bei dir gemeldet?“ fragte Sascha Kevin. „Oh, hallo! Ja, danke, mir geht es gut. Und dir? Ach, ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen weil so ein Verrückter Telefonterror betrieben hat.“ sagte Kevin. „Was? Achso... ja. Also hat er?“ fragte Sascha. Buster verdrehte die Augen und ließ schnaubend seine Schnauze auf die Vorderpfoten krachen. Kevin seufzte, hielt inne als er die Türe zum Shop öffnete und sagte: „Nein, hat er nicht! So wie er nie hat! Warum sollte er auch?“ „Oh, verdammt.“ sagte Sascha und biss sich nachdenklich auf seinen Finger. „Aber vielleicht haben wir Glück und in ein paar Sekunden hat mich mein erster Kunde das Geschäft betreten lassen und ich kann nachsehen ob Nick hinter einem Bildschirm liegt. Neuerdings fühlt er sich dort heimisch.“ erklärte Kevin. Sascha sah sich um. „Kunde? Da ist doch eh keiner... oh... achso...“ Sascha senkte etwas beschämt den Kopf. Kevin hielt noch einmal inne, blickte Sascha augenbrauenlos und prüfend ins Gesicht, seine Schuhbandhaare beschrieben synchron achter. „Sag mal, was ist eigentlich vorgefallen?“ „Ja... also... wie soll ich sagen. Das ist nicht so einfach zu erklären...“ begann Sascha ausschweifend. „Du hast ihn geknutscht und er hat die Panik bekommen. Jetzt ist er weg und du denkst er springt von einer Brücke.“ vervollständigte Kevin rasch den Satz. Sascha sah Kevin 169 überrascht an. „Er hat sich also doch gemeldet?“ schloss er. „Nein.“ erklärte Kevin und öffnete die Türe „Es war heute morgen in den Nachrichten.“ Sascha drängte sich an Kevin vorbei und lief schnurstracks zu den Computern im hinteren Teil des Geschäfts. Irgendein Server surrte, aber keine Anzeichen von menschlichem Leben. Kevin beobachtete Sascha, der sogar unter Stühlen und Ordnern nach sah. „Hast du schon unter Brücken nachgesehen?“ schlug er vor und wackelte mit den nicht vorhandenen Augenbrauen. „Was? Brücken? Wieso?“ fragte Sascha und verzog dann die Mine. Er fand es nicht annähernd so amüsant wie Kevin. Er hatte aber auch nichts geschlafen und das puschte die Dramatik simpler Momente unheimlich. „Brücken, Parks und Krankenhäuser.“ meine Kevin „Wenn du nach einem Toten suchst, fang dort an. Man erzählt sich, das sei vielversprechender als Aktenordner und Bürostühle. Wobei... vermutlich hat man dort auch schon jemanden gefunden. Also, schau dich nur in Ruhe um.“ und damit wandte sich Kevin ab. Sascha benutzte ein unflätiges Wort gegenüber Kevin, das dieser jedoch nicht wahr nahm, weil er durch den Verkaufsraum schritt und die Kopierer anwarf. Brücken, Parks und Krankenhäuser – das war keine so schlechte Idee. Kevin war vielleicht ein wenig einfach – aber er hatte seine lichten Momente. „Hey, super, vielen dank.“ flötete Sascha und klopfte Kevin fröhlich auf die Schulter, als er rasch aus dem Shop flirrte – gefolgt vom hektischen getrippel von Busters Krallen auf den Fliesen. Kevin klatschte entschlossen in seine Hände und sagte zu sich: „Na, dann werden wir den Laden heute also mal alleine schupfen.“ 170 Nick vermerkte, das fliegen keine Eigenschaft war, die er als Mensch vermisste. Auch wenn sein Magen über ein Jahrzehnt in der Zukunft in einem leblosen Körper im Gebüsch im Park lag – so wurde ihm regelmäßig schlecht, sobald der Vogelkörper sich kräftig in die Lüfte schwang. Von der Perspektive wurde ihm schwindlig und wenn er die Kontrolle über den Körper gehabt hätte, er wäre überall dagegen gedonnert und am Ende hätte er sich dafür entschieden, zu Fuß zu gehen. Auch wenn das für eine Krähe etwas mühsam und vor allem gefährlich gewesen wäre. Die gesamte Welt wirkte wesentlich gefährlicher aus der Perspektive eines Tieres – auch wenn es ein Tier war, das die Zeit beherrschte. Der Leib des Vogels war Sven gefolgt und Nick merkte, wie er zunehmend angespannt wurde. Einerseits würde er nun vielleicht endlich jenes Mädchen sehen, das Svens Herz gebrochen hatte und ihn damit in den Selbstmord trieb – andererseits stand dieser unseelige Moment unmittelbar bevor. Nick war sich nicht sicher, ob er diese Szene so direkt erleben wollte. Nick verstand den Vogel der Zeit als einen reinen Beobachter, der ihn an jene Schauplätze brachte, die für sein weiteres Leben in der Zukunft relevant sein könnten. Somit war ihm klar, das er nicht würde eingreifen können, und unter diesen Umständen wollte er nicht Zeuge des Todes an sich sein. Sven kam in sein Zimmer, das aus der Vogelperspektive und nach der langen Zeit einigermaßen verbaut aus sah. Auf jeden Fall aber war es ziemlich unordentlich, Nick fühlte sich sofort wohl. Es war seltsam, Sven so unbemerkt beobachten zu können, und zugleich fragte Nick sich, warum er selber nicht bemerkt wurde. Eine Krähe in seinem Zimmer bemerkt man doch? Vielleicht war er ja unsichtbar, kam es ihm in den Sinn. Sven wirkte seltsam gedrückt und angespannt. Nicht wie 171 jemand der sich in der nächsten Stunde würde in eine Schlinge werfen. Diese Mischung aus Himmelhochjauchzend und Zutodebetrübt kannte Nick. Sven war richtig verliebt. Das hatte Nick damals auch schon gewusst, nur war es etwas anderes, ihn so zu sehen – wo er sich nicht für jemand anderen zusammenreißen musste. Sven warf sich auf sein Bett, seufzte, stierte in die Luft, seufzte, schlug mit der Faust auf die Matratze um schließlich wieder sanft zu seufzen. Plötzlich erhob er sich, öffnete die Lade des Nachtkästchens und fischte ein Buch heraus. Nicks total ödes und vollgekritzeltes Mathematikbuch aus der Volksschule und Nick fragte sich, warum er dieses Buch in der Schublade aufbewahrte – geschweige denn warum er es jetzt lesen wollte. Sven blickte zur Türe, und öffnete das Buch dann, um ein Foto hervor zu holen. Nick konnte zwar das Motiv nicht sehen, wusste aber, das es ein Foto von dem Mädchen sein musste. Jetzt hätte Nick doch gerne den Körper steuern wollen. Zu gerne hätte er gesehen welche es war. Auf dem Begräbnis damals hatte er sie alle verdächtigt, aber sie war offenbar so abgebrüht, dass sie entweder gar nicht gekommen war, oder aber keinen Bezug zwischen Svens Selbstmord und ihrer derben Abfuhr hergestellt hatte. Sven schaute lange und intensiv auf das Foto. Dabei fuhr er sich mit seinen Fingern gedankenverloren über die Lippen. Nein, nicht gedankenverloren, seine Hand wanderte weiter über den Hals, tastete sich über das T-shirt. Oh, nein, oh nein, Sven, bitte nicht – dachte Nick. Nicht das er es nie erwartet hätte, das Sven so etwas machte, aber das er es so kurz vor seinem Tod machte, auf ausgerechnet jenes Mädchen das ihn auf dem Gewissen hatte. Nick war regelrecht zornig, und konnte es doch nicht zeigen. Diese innige Bosheit die dem Vogelkörper innewohnte schien sich an der aufkeimenden Eifersucht zu laben. Svens Hand wanderte in seine Hose, während er unablässig auf das 172 Foto stierte, und bediente sich. Nick hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, ihn hätte das nicht angemacht. Er war hin und her gerissen zwischen der Enttäuschung, das Sven doch so einfach gestrickt war, Eifersucht auf das Mädchen, die er erst jetzt, so viele Jahre später, zulassen konnte – und Erregung. Als Sven auf seinen Höhepunkt zusteuerte, bemerkte Nick, das diesem Tränen aus den Augenwinkeln liefen. Überhaupt schien Sven auf einmal regelrecht zusammenzubrechen. Er begann auf einmal zu schluchzen, krümmte sich zusammen und ohne seinen Orgasmus gelebt zu haben, drehte er sich zur Seite und zog seine Beine an. Als er so in die Embryonalstellung sank, ließ er das Foto los und es fiel auf seinen Kopfpolster. Nick erstarrte. Er kannte das Foto. Er kannte es zu gut. Und er kannte die Person auf dem Foto nur zu gut. Sie blickte ihm allmorgendlich in den Spiegel. Hätte Nick seinen Magen hier gehabt, er hätte sich übergeben. Sven lag unten in seinem Bett und schluchzte sich die Seele aus dem Leib, und Nick saß oben auf dem Schrank, gefangen in einen unsichtbaren Vogelkörper und hätte am liebsten das selbe getan. Wenn er gekonnte hätte, er wäre hinuntergestürzt und hätte Sven umarmt, ihm all das gestanden was er sich stets verboten hatte. Ach wenn er das gewusst hätte. Wenn er es bloß geahnt hätte. Obwohl der Vogel festen Boden unter den Füßen hatte, wurde Nick schwindlig, dachte er, er müsse ohnmächtig werden. In Sekundenbruchteilen rasten Gedanken, Ereignisse und vor allem sämtliche Möglichkeiten einer verschenkten Zukunft durch den Sinn. Wenn er es nur geahnt hätte. Wie hatte er sich doch eigentlich danach gesehnt gehabt, so sehr er es sich auch selber verboten hätte. Hätte Sven nur eine kleine Andeutung gemacht, irgendetwas gesagt, eine kleine Geste gemacht – alles wäre anders gekommen. Nick hatte doch jahrelang heimlich darauf gehofft. Aber er war wohl ebenso feig wie Sven gewesen. Er hatte ebenso erwartet, der andere habe den Mut, 173 den er selber aufzubringen hatte. Und Nastyboy fraß sich voll. Er fraß sich am Leid der Beiden so voll das er dachte er müsse platzen. Aber er fraß weiter und weiter und in seiner unendlichen Gier ahnte er, das noch viel mehr herauszuholen war. Oh ja, er hatte gewusst das es sich auszahlte, den Vogel der Zeit zu entführen. Er war ja nicht blöd, er war ja kein dummes Haustier für das die Anderen ihn immer hielten. Er hatte mitgehört und er hatte gewusst, das es hier mehr Futter für ihn gab, als er fressen konnte. Er würde so stark werden, das die Anderen nur so schauen würden. Jawohl, neidig würden wie werden. Aufschauen würden sie zu ihm und es würde ihnen Leid tun, wie herablassend sie ihn immer behandelt hatten. Ach, das Leid der beiden Jungs schmeckte so köstlich. Vor allem Nick war eine wahre Quelle von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen – aber auch Svens Qual der unerwiderten Liebe, der Angst vor einer Zukunft als Außenseiter war köstlich. Nastyboy wuchs mit den Delikatessen die ihm die Beiden verschafften, und mit Eifer stellte er bereits das Kochrezept zusammen für ein noch köstlicheres, noch üppigeres Mahl. Auf Qualität kam es ihm nicht mehr so an, er wollte nur mehr, mehr. Auf jeden Fall mehr. Sie sah verdammt gut aus. Hätte Amor sich eine Frau backen können, so hätte sie wohl ausgesehen. Sie war groß und schlank und ihre ellenlangen Beine endeten in einem engen weißen Minirock. Sie war komplett in weiß gekleidet und trug eine kleine Schürze mit Rüschen, wie Kellnerinnen sie tragen. Am anderen Ende der Beine glänzten weiße High Heels mit einem Lila Masche darauf. An der Rückseite der weißen Strumpfhose schlängelte sich die gute altmodische Naht hoch. Auf ihrem pechschwarzen Haar im Pagenschnitt saß ein kleines Krönchen aus weißem Tüll und lila Strass. 174 Diese Haltung. Man sehe sich nur diese Haltung an. Ihr Rücken war elegant durch gestreckt, als sie den Bogen in Position brachte und die Sehne anzog. Diese Eleganz... von der konnten sich manche Schützen etwas ab schauen. Sie visierte eine Frau mittleren Alters an, die in einem Arbeitsoverall steckte und ihren Körper über die geöffnete Motorhaube neigte. Kaltblütig und entschlossen wie ein Jäger schoss die Dame in weiß den Pfeil ab, und er zog eine Spur aus lila Glitter hinter sich her. Ohne den Bogen zu senken, und in einer professionellen Ruhe nahm sie einen weiteren Pfeil aus dem Köcher, legte an und schoss diesen auf einen Mann im Anzug, offenbar den Besitzer des Wagens. „Hey, Hey!“ rief Amor empört, als ihm klar wurde, was diese Frau da im Begriff war zu tun. Die Körperhaltung der beiden getroffenen Menschen änderte sich Schlagartig, und ebenso schlagartig baute sich eine allzu bekannte Spannung auf. Amor hatte das schon tausende Male erlebt. Nämlich dann, wenn er seine Pfeile verschoss. „Wer sind Sie! Was tun Sie denn da!?“ rief er und seine winzigen Flügel begannen zu schlagen um ihn hoch zu heben. Die Dame in weiß erschrak, sie hatte offenbar nicht damit gerechnet, gesehen werden zu können. Als sie Amor erblickte, der mit der Eleganz und Fluglinie einer Hummel auf sie zusteuerte, entfalteten sich riesige transparent Schwingen. Sie schienen weniger aus Materie zu bestehen als aus reiner Energie die je nach Bedarf die Flügel sichtbar oder weniger sichtbar machte. Es wirkte schön, elegant und sinnvoll. „Gudrun?“ rief Amor. Er kannte sie doch. Das war doch die Kellnerin aus dem Cafe in der Nähe des Copyshops. Jene Kellnerin, die sich umgebracht hatte und die er vor Gottes Amtszimmer angetroffen hatte. Gudrun reagierte wie jemand, der genau wusste, das er ertappt worden war, und der so tat als gäbe es noch eine Fluchtmöglichkeit. Zugegeben, gegen ihre 175 Ausstattung zum Fliegen hatte Amor keine Chance. Und genau das würde der zweite Punkt sein, den er ansprechen würde, wenn er Gott zur Rede stellte, warum er einen zweiten Amor engagierte. Aber Amor würde sie dennoch finden, das geboten ihm alleine schon ihre Beine. Lieber Nick, tippte Sven in seinen Computer ein, betätigte die Maus und löschte Lieber weg. Nun stand Nick da. Sven überlegte und schrieb Geliebter davor. Geliebter Nick, las er sich selber vor. Er wiederholte es mehrmals, eher er mit dem Cursor in die nächste Zeile sprang. Doch noch ehe er ein weiteres Wort schrieb, löschte er Geliebter wieder weg. Nick – oder die ornithologische Version der Zeit – saß auf der Lehne von Svens Sessel und konnte daher genau mit lesen. Krampfhaft überlegte er, das er kein solches Mail von Sven erhalten hatte. Nick, du wirst dich sicher wundern, warum ich dir ein e-mail schicke, schrieb Sven, und löschte dann wieder jeden Buchstaben einzeln. Bis auf den Namen. Nick, vielleicht wirst du mich hassen, aber ich muss es dir einfach sagen. Sven benutzte die Maus um den Text zu markieren und drückte auf Entf. Nick, ich... begann Sven von neuem und stierte dann minutenlang auf den blinkenden Cursor. Dann schrieb er weiter, langsam, Buchstabe für Buchstabe, hielt immer wieder inne – liebe. Wieder vergingen einige Minuten in denen Sven wie hypnotisiert auf den Bildschirm starrte und klopfte schließlich rasch Dich, in die Tastatur. Hätte Nick seine Beine dabei gehabt, hätte er nun weiche Knie bekommen. Schick es ab, schick es ab – beschwor er Sven, als könne er die 176 Vergangenheit ändern, als wäre er mehr, als ein reiner Beobachter. Plötzlich schien Sven Angst vor der eigenen Courage zu bekommen und löschte die Zeile wieder. Oh nein, bitte schreib es nochmal, sende es verdammt noch einmal ab – flehte Nick. Schließlich aber schien Sven die Muse zu küssen und er begann energisch zu schreiben. Nick, ich hasse dich. Jeden Tag und jede Stunde die ich dich kenne, jede Sekunde die du in meiner Nähe bist hasse ich. Denn ich kann an nichts anderes mehr denken als daran, dich zu berühren, zu umarmen, dich zu küssen. Ich möchte nichts sehnlicher, als dir endlich sagen, dass ich mich in dich verliebt habe – aber das geht nicht. Du würdest es nicht verstehen, würdest entsetzt sein, du würdest mich hassen. Ich hasse mich doch selber dafür, das ich so empfinde und damit alles zerstöre. Aber ich kann nicht mehr so weitermachen. Auch wenn du dich für immer von mir abwendest, so muss ich es dir sagen... Svens liefen Tränen über die Wangen und Nick wünschte sich nichts sehnlicher, als sie trocknen zu können. Als ihm sagen zu können, das er keine Angst zu haben braucht. Er wollte ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, das er Sven nicht hasst – nein – er wünschte sich, er könnte Sven sagen das er ihn auch geliebt hatte. Liebte. Aber mehr als beobachten konnte er nicht und er ahnte, wie unerträglich es noch werden würde. War dies ein Abschiedsbrief? Oder hatte Sven tatsächlich versucht, ihm seine Liebe zu gestehen? Warum hatte Sven es nicht abgeschickt? War es tatsächlich einfacher zu sterben als ihm zu sagen wie er fühlte? Nick war ja kein Mensch gewesen der sich leichtfertig über andere lustig machte. Dass Sven ihm so wenig vertraut hatte – das er ihn für so niederträchtig gehalten hatte, dass er lieber gestorben war als sich ihm anzuvertrauen, verletzte Nick. War er tatsächlich so unnahbar? 177 Nun... er war als ein Beobachter hier weil er so unnahbar war. Zum ersten Mal, seit Nick in seiner Vergangenheit war, dachte er an Sascha. Und auf einmal wurde ihm klar, warum er hier war. Er musste dazu stehen. Das war es. Das war doch die Erkenntnis die er gewinnen sollte. Konnte er nun zurück? Wie konnte er zurück in die Zukunft aus der er gekommen war? Nick hatte das Bedürfnis, sofort Sascha aufzusuchen. Doch nichts tat sich. Kein Hinweis darauf, wie er aus der Situation wieder heraus kam. Nick wollte unter keinen Umständen erleben und zusehen müssen, wie Sven sich wegen ihm umbrachte. Dieser löschte den geschriebenden Text wieder und begann von neuem... und Nick kannte diesen Text. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, denn nie – bis jetzt – hatte er ihn so verstanden wie in diesen Sekunden. Lieber Nick, Die Hände nach dir ausgestreckt, greifen sie in Glaspaläste um sich blutig zu schneiden. Du – Elfenkönig – regierst, ohne mein Blut zu sehen. -Sven Dieses Mail kannte er sehr wohl, aber er hatte es nie so gelesen, wie er nun wusste, das es geschrieben worden war. Sven überlegte noch eine weile, kreiste mit seinem Mauszeiger über den Sende-Button, und entschloss sich, noch etwas hinzu zu fügen: Lies mal, habe ich heute geschrieben, wie findest dus? Das fügte er zwischen Nicks Namen und den Text, löschte das Lieber heraus und schickte das Mail ab. Nick hätte am liebsten den Kopf gegen eine Wand geschlagen, wenn er bestimmen hätte können, wie er sich bewegt. Mit nur einem Satz hatte Sven eine Distanz hergestellt, die über dreizehn Jahre gehalten hatte. Nick hatte immer gespürt, das da etwas drin steckte in 178 den Zeilen. Nicht umsonst hatte er selbst sie an die Wand im Treppenhaus geschrieben. Als ein Andenken, hatte er es gedacht. Es war so klar, so logisch. Nick konnte nicht fassen, dass er in all den Jahren – und er hatte den Text doch täglich gelesen – nicht erkannt hatte, was er bedeutete. In diesen Minuten schien es, als hätte der Text nie etwas anderes bedeuten können. Sven schien zu erwarten, das die Zeilen so ankamen wie er sie gedacht hatte. Sobald das Mail raus war, begann er mit dem Fuß zu wippen, seine Hände zitterten und er kaute an seinen Fingernägeln. Und wie ein besessener klickte er alle zwanzig Sekunden auf Mails Empfangen. Er schien alles, seine gesamte Seele in das Mail gesteckt zu haben. Nick dachte angestrengt nach, was er ihm geantwortet hatte. Nastyboy labte sich. Es herrschte ein reges Sterben in der Welt der Insekten im Park an diesem langweiligen, wenn auch wunderschönen Nachmittag. Mana krallte ihre Finger in ihre Emopuppe und hypnotisierte Käfer, Ameisen, Fliegen und Wespen – kurzum alles was zufällig an ihr vorbei krabbelte, als sie im Gras, unweit eines reglosen Leibes saß. In der Folge warfen sich Käfer auf Gehwege vor die Füße von Passanten, Wespen und Fliegen stürzten sich in Spinnennetze oder Limonadedosen und Ameisen suchten einen anderen Stamm auf. Keine zwei Meter entfernt hatte Varis seinen enormen Leib auf den Tisch einer Sitzgarnitur gewuchtet, ein Bein lässig auf die Sitzbank gestemmt, das andere scharrte im Sand. Dort wachte er nun schon seit Amor sich für einen Moment verabschiedet hatte. Dieser hatte irgendetwas von langen Beinen und kurzen Röcken gefaselt, dann innegehalten, das bockige kleine Mädchen betrachtet und gemeint, das wolle er jetzt auch gar nicht näher ausführen. Dann hatte er seinen Blick auf Varis 179 ruhen lassen, der gerade damit beschäftigt war, seine Brustmuskeln nach einer inneren Melodie im Takt zucken zu lassen und hatte verächtlich gemeint, das dieser es noch weniger verstünde. Der Moment – wie Amor ihn genannt hatte – dauerte mittlerweile schon einige Stunden an, und Nick lag nach wie vor leblos im Gebüsch. Varis war in Sorge, das Nick noch nicht wieder aufgewacht war – wobei die Sorge weniger Nick an sich galt – sondern eher den Schwierigkeiten, die er mit Amor bekommen würde. Plötzlich durchbrach ein schnauben und röcheln die sommerliche Stille des Nachmittags. Varis spannte jeden Muskel an, ja, sogar Muskeln, die streng genommen gar keine waren, und erhob sich vom Tisch. Sascha hielt die Leine mit dem Terriermischling wie eine Wünschelrute vor sich, und Buster stürmte direkt ins Gebüsch, direkt auf den leblosen Körper von Nick zu. Auch wenn Varis für Sascha unsichtbar war, sorgte er sich zunächst darum, einen guten Eindruck zu machen, als darum, zu verhindern das Buster Nick fand. Und so geschah es, das Sascha mit einem heiseren Aufschrei des Entsetzens in die Knie sank. „Verdammt.“ sagte Varis und warf Mana einen bedeutungsschweren Blick zu. Diese jedoch zuckte nur mit den Schultern und suchte mit gelangweilter Mine ein weiteres Geschöpf um ihm den Lebenswillen zu rauben. Sascha hatte nicht wirklich erwartet, dass er einen Toten sucht. In den Stunden der Suche hatte er diverse Vorstellungen, wie dieses Treffen ausfallen würde. Von ergreifenden Szenen, in denen Sascha Nick beherzt von Brückengeländern weg zerren würde, über den alten Eifersuchtstraum – nämlich das er Nick bei einem Liebhaber finden würde bis hin zu schwülstigen Szenen aus stürmischen Liebesfilmen war so ziemlich alles 180 darunter gewesen. Nicht jedoch hatte er tatsächlich daran gedacht, Nick tot vorzufinden. „Nein!“ stieß es daher heiser aus seiner Kehle, als Buster ihn stolz vor Nicks leblosem Körper abstellte und sich eine üppige Belohnung erwartete. Nick sah mitgenommen aus. Besorgniserregend verdreht lag er auf dem Rücken, sein T-shirt mit dem Aufdruck „Schwuchtel“ hatte deftige Grasflecken und war von Erde verdreckt. Jemand hatte ihn wohl eine ganze Strecke ins Gebüsch gezogen und versucht, ihn mit etwas Laub und Gras zu bedecken. Zudem zeigten rote Flecken im Gesicht, das ihn wohl jemand etwas malträtiert haben musste. Varis stand, noch unsichtbar aber etwas unbeholfen daneben und schaute etwas betreten drein. Ja, das ganze war etwas peinlich. So sollte Sascha Nick natürlich nicht vorfinden. Gut, seiner persönlichen Meinung nach sollte er ihn gar nicht finden, aber er hätte die öden Stunden des Wartens dazu nutzen können ihn etwas zurecht zu machen. War ja nicht nötig das man Nick so liebevoll hier hin geworfen hatte wie ein altes Geschirrtuch. Gut, ein Glassarg und ein Anzug hätten auch nicht gerade eine bessere Grundstimmung erzeugt, aber es hätte doch etwas her gemacht. Varis geriet beinahe ins Schwelgen – denn eine ähnliche Situation – mit Glassarg und so – hatte er schon einmal miterlebt. „Was ist passiert? Was haben sie mit dir gemacht?“ fragte Sascha mit zitternder Stimme, klaubte Gras und Laub von Nicks Körper und strich ihm zärtlich über das Gesicht. Die Haut war kalt und Sascha tastete rasch nach dem Puls. Er konnte ihn nicht finden und neige seine Wange an Nicks Lippen. Doch er konnte auch keinen Atem spüren. Kurz überlegte Sascha, ob er Herzmassage und Beatmung machen sollte – kam aber zu dem Schluß, dass er gar nicht wisse wie lange Nick schon hier herum läge. Ohne Zeit zu verlieren zog er sein Handy aus seiner Hosentasche um einen Notruf zu tätigen. 181 Doch noch ehe jemand am anderen Ende der Leitung ran ging, spürte Sascha, wie ihm jemand das Handy langsam vom Ohr weg aus der Hand nahm. Es geschah so sanft und selbstverständlich, das er gar keinen Widerstand leistete. Er sah dem Handy nach, das von einer recht großen Hand umschlossen wurde – so fest – bis es krachend zerbrach und schließlich Plastiksplitter zu Boden bröselten. Erst da regte sich Empörung. „Hey, was...“ und im nächsten Augenblick erkannte er, wem diese Hand gehörte: Gott höchst persönlich. Beziehungswiese dem, den er seit langem schon für Gott hielt. Gott pflegte wie immer die Freikörperkultur und sein langes blauschwarzes Haar wehte üppig im Wind wie der Umhang eines Helden. „Ist er...?“ fragte Sascha. Immerhin hatte er hier die höchste Instanz vor sich, die, zugegebener Maßen, unpassend erregt war. Varis schloss langsam seine Augen und schüttelte weise seinen Kopf. „Er ist nicht tot, er schläft nur.“ grollte seine gewaltige Stimme tröstend durch Mark und Bein. Sascha blickte wieder zu Nick herab, hob ihn an den Schultern an und schüttelte ihn. Varis legte eine Hand auf Saschas Schulter und machte „Schschsch... nicht.“ „Aber er schläft so... so tief...“ gab sich Sascha beunruhigt, aber auch entschlossen, Gott zu vertrauen. „Es ist ein... äh... besonderer Schlaf.“ brummte Varis und Mana schüttelte genervt ihren roten Schopf. „Ein besonderer Schlaf?“ fragte Sascha nach. „Warum sagst du ihm nicht einfach, dass er tot ist?“ zischte Mana herüber. „Weil er nicht tot ist!“ entgegnete Varis heftig und als er sah dass Sascha zuckte fügte er rasch mit sanftem Ton hinzu „Vertraue mir.“ „Das will ich tun, Herr.“ gab Sascha ehrfurchtsvoll von sich, und dachte für Bruchteile einer Sekunde an gewisse Sequenzen 182 in einer gewissen Nacht. Mana lachte zynisch. „Herr!“ spöttelte sie für Sascha ungehört. „Was ist geschehen?“ fragte Sascha. Varis warf Mana einen hilfesuchenden Blick zu, diese aber verdrehte nur verächtlich die Augen und zeigte Varis ihren Rücken. „Er ist... gestolpert.“ meinte Varis rasch. „Gestolpert?“ „Ja... äh... er ist im Stockdunkeln gegen einen Baum gelaufen.“ erklärte Varis. Sascha hob seinen Blick und sah sich um. Es gab im Park zwar genug Bäume, nicht aber in der Nähe, sodass jemand automatisch derartig spektakulär hier ins Gebüsch fallen konnte, wenn er einen solchen beherzt anvisieren würde. „Und wie kam er dann hier her?“ fragte Sascha. „Ich bin ja gespannt wie du da wieder raus kommst.“ murmelte Mana bösartig. „Ich habe ihn hier her gebracht... damit keiner auf in drauf tritt.“ erklärte Varis und verzog sein Gesicht. „Damit keiner auf ihn drauf tritt?“ wiederholte Sascha und blickte nun zu Gott direkt auf um ihm ins Gesicht zu sehen ob er das wirklich ernst meinte. Varis versuchte mild zu lächeln wie er es weisen Männern ab geschaut hatte. Er meint es ernst, dachte Sascha, bei allen Dämonen die mir geläufig sind und einem ziemlich geilen ihmselbst – viel Ahnung davon wie das hier unten bei uns Menschen funktioniert, hat er ja nicht gerade. Und dann fügte er in Gedanken hinzu: Das erklärt einiges. „Ich kann ihn hier nicht liegen lassen.“ erklärte Sascha schließlich, schob einen Arm unter Nicks Knie, den anderen unter dessen Achseln und stemmte sich mit ihm hoch. So ein lebloser Körper war ganz schön schwer, Nicks Kopf sackte ins Genick zurück und sein Kiefer klaffte auf. „Ähm, könntest du...?“ bat Sascha Varis, und hielt ihm Nick entgegen. Dieser hob behutsam Nicks Kopf und lehnte ihn 183 sachte gegen Saschas Schulter. Als Amor wenige Sekunden Später den Park betrat – oder besser – beflog, bot sich ihm folgendes Bild: Ein Mann trug einen anderen Mann durch den Park – quasi in den Sonnenuntergang – als würde er ihn über eine Schwelle tragen wollen. Dahinter stapfte Varis, der sich gelegentlich über Sascha beugte und Nicks Kopf einen kleinen Schubs verpasste, wenn dieser zurück kippte. Mana schleppte sich hinterher, den Blick trotzig in den Boden verhaftet, ihre Emopuppe an ihren kleinen Leib gepresst. Amor schwenkte in einem etwas zu groß geratenen Bogen herum und schwirrte plump wie eine Hummel hinter der Karawane her. Sascha ahnte indes von dieser Begleitung nichts. Gott hatte sich in Luft aufgelöst, sobald er mit Nick davon marschiert war. Nichts. Gar nichts hatte Nick Sven damals geantwortet. Er hatte das Mail erst entdeckt, als Sven bereits unter der Erde war. Und diese Erkenntnis war derzeit nicht im Geringsten dazu geeignet, ihn zu beruhigen. Bei einem kleinen Rundumblick durch das Zimmer bemerkte Nick das Seil, an dem Sven in wenigen Stunden würde von der Decke baumeln – dort, wo im Augenblick noch der Boxsack zur sportlichen Ertüchtigung hing. Es war ein Kletterseil, das sich Sven auf seiner Suche nach immer neuen Sportarten einmal zugelegt hatte. Benutzt hatte er es aber nur ein einziges mal. Wenn Nick geahnt hätte wofür, hätte er es ihm sicher - wenn auch nur unter einem Vorwand – weg genommen. Sven hatte sein Zimmer verlassen, und Nick hätte erwartet, das sein beobachtender Vogelkörper ihm unbeirrt folgen würde. Immerhin war es doch der Grund warum er hier war: um die Situation zu begreifen. Er hatte begriffen, aber anstatt in seine Gegenwart zurückzukehren steckte er fest. Und nun setzte der Vogel die Beobachtung noch nicht einmal fort. Stattdessen 184 spürte er, wie eine durchdringend böse Macht Besitz über den Vogel erlangte. Eine Macht, die über die Zeit, über sein Leid hinweg gewachsen war. Sie schien den Vogel zu lenken, sie schien die Position der Beobachtung zu verlassen um zu agieren. Nick spürte, wie der Vogelkörper sich erhob und auf das Keyboard zusteuerte. Wie bei jedem Flugversuch, auch wenn es nur ein sehr kurzer war, wurde Nick übel. Als er ich wieder fing und klar sehen konnte, traute er seinen Augen kaum: der Vogelkörper bediente den Computer. Nicht nur, dass er begriff, wie er seinen Schnabel auf das Keyboard hacken musste, um Wörter zu bilden, er verfügte über das Wissen, ein Mail von einer Website aus zu schicken. Und erst nachdem Nick diese Überraschung verdaut hatte, stellte er zu seinem Entsetzen fest, das die böse Macht im Vogelkörper Zugriff zu seiner Erinnerung hatte. Oder, schlimmer noch, ihn über seine Befürchtungen austrickste. Denn in der Sekunde da Nick begriff, das diese böse Macht in der Lage sein könnte, in seinem Namen eine fingierte Mail zu senden, schien er schon sämtliche Zugangsdaten offen zu legen und der Vogel brauchte nur noch abzutippen. Nick versuchte sich zu wehren, versuchte seine Gefühle und seine Gedanken zu schützen, doch Nastyboy war zu stark geworden. Nick musste zusehen, wie der Körper mit dem er in die Vergangenheit gereist war, jener Körper, der ohne ihm nie her gewesen wäre, ein Mail verfasste, das so schwarz, so böse war, das es Sven direkt in den Tod treiben würde. Als Nick erkannte, das seine Weigerung in der Zukunft zu lieben, den Tod seines Freundes in der Vergangenheit verursachen würde, meinte er wahnsinnig zu werden. Es war eine Falle, man hatte ihn in eine Falle gelockt. Nein, dieser Vogelkörper diente nicht zur reinen Beobachtung – er konnte agieren, er konnte die Vergangenheit manipulieren. Er war extra in die Vergangenheit 185 gereist, um diese Tragödie in Gang zu setzen. Und Nick erinnerte sich an ihn – erinnerte sich wie seltsam es gewesen war, das dieser Vogel in Svens geschlossenem Zimmer gewesen war. Nick merkte, wie er beinahe den Verstand verlor. Konnte es sein, das sein feiges Verhalten dazu geführt hatte, Sven zu töten? Doch wenn dieser böse Vogel agieren konnte, so musste er doch auch selber dagegen ankämpfen können. Da betrat Sven wieder sein Zimmer. Er war bleich. Er hatte sich Nick offenbart und hatte nun eine Heidenangst vor seiner eigenen Courage. Aus Svens Reaktion schloss Nick, das sein Körper unsichtbar sein musste – ein Rabe neben der Tastatur hätte Sven sicher irritiert. Doch in diesen Minuten wünschte sich Nick, das er sichtbar wäre – denn das hätte Sven vielleicht davon abgehalten, die Mail zu lesen. Und vielleicht hätte Nick macht über den Körper erlangen und das Mail noch löschen können. Doch die dunkle Macht war zu stark und hielt Nick klein. Tatenlos musste er zusehen, wie Sven sich an seinen Rechner begab, und wie sich die Pupillen weiteten, als er das Signal war nahm, dass ein neues Mail angekommen war. Der Körper des Vogels schien ein krankes Interesse daran zu haben, die besonders argen Momente genau zu beobachten. Sven stand augenblicklich ein leichter Schweißfilm auf der Stirn und mit zittrigen Fingern hielt er die Maus fest. Schließlich schloss er die Augen und sein Atem ging flach und heftig, als er das Mail anklickte. Hallo Sven, du hast mich ja ganz schön erschreckt. Fast hab ich geglaubt, du willst mir irgend so einen schwulen Kram andrehen. Puh. Lass solche perversen Sachen in Zukunft sein, ja? Kümmere dich lieber um deine heimliche Angebetete, anstatt mich mit solchen kranken Sachen zu ärgern. Grüße Nick P.s: Lieber Tot als schwul. 186 Nick beobachtete Sven, wie er fassungslos Wort für Wort las, und in sich zusammenfiel. Dabei rief er immer wieder, das er diesen Mist nicht glauben solle. Doch der Schnabel blieb geschlossen. Als Sven die Zeilen fertig gelesen hatte, wozu er ewig brauchte, begann er zu würgen. Rasch griff er nach dem Papierkorb und übergab sich da hinein. Nick merkte, wie diese düstere Kraft im Vogelkörper immer stärker wurde, je mehr Sven litt. Und das sie auch sein eigenes Leid anzapfte. Nick musste Sven irgendwie mitteilen, das dieses Mail falsch war, das es nicht stimmte. Er versuchte seinen ganzen Willen aufzubringen, um sich gegen die Bosheit zu stemmen und Macht über den Körper zu erlangen. Nick wollte dieser Mail einen entscheidenden Satz hinzufügen. Einen, der den Selbstmord seines Freundes verhindern könnte. Doch wie sehr er sich auch bemühte, er konnte den Körper keinen Millimeter bewegen. Nachdem Sven sich die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, las er das Mail noch einmal. Er ballte die Fäuste und drehte sich auf dem Drehstuhl um die eigene Achse, und schlug direkt in den Boxsack. Er sprang vom Sessel und schlug in den nächsten Minuten ununterbrochen auf ihn ein. Nick hingegen versuchte verzweifelt, einen Flügel zu bewegen, doch nichts passierte. Doch er spürte, das die boshafte Macht im Vogelkörper in direktem Zusammenhang mit den Emotionen von Sven und Nick stand. Je entschlossener Nick kämpfte und seinen Willen mobilisierte, anstatt zu leiden, umso schwächer wurde Nastyboy. Zwar war Sven eine reine Quelle an Energie für diese Düsternis – doch Nick spürte, das er stärker sein konnte. Ein unbändiger Wille wuchs in ihm, wie er ihn noch nie gefühlt hatte. Er schaffte es, seine gesamte Verzweiflung, sein Entsetzen und seine Trauer direkt umzusetzen in positive Kraft und den Entschluss, Sven zu retten, koste es was es wolle. 187 Sven war unterdessen in Tränen ausgebrochen und umarmte den Boxsack während er in die Knie sank und schluchzte. In der Sekunde schaffte Nick den ersten Durchbruch – und zu Nastyboys blankem Entsetzen schlug ein Flügel des Raben so aus, das er gegen die Tastatur kippte. Sven hörte das klacken der Tastatur und erhob sich. Doch anstatt Sven von der grausamen Nachricht abzulenken, oder gar einen versöhnlichen Satz hinzuzufügen, brachte er ihn nur dazu, sich die Nachricht erneut anzutun. In dem Moment da Nick sich kurz selber dafür verfluchte, naschte Nastyboy wieder Kraft. Nick nahm erneut Anlauf. Er bündelte seine Gedanken, und dachte an Sascha. Und das er seinen Willen nicht nur aufbringen wollte, um Sven zu retten, sondern auch, um zu Sascha zurück kehren zu können. Und bei der Erinnerung an den Kuss, spürte er, wie er wieder Macht über den Vogelkörper erhielt. Er sprang und flatterte zwar unbeholfen wie ein verletztes, flügellahmes Tier, doch es gelang ihm immerhin, wenn auch nur für Sekunden, gegen Nastyboy anzukämpfen. Nick verlor erneut die Kontrolle und die andere Macht übernahm wieder den Körper. Nick musste stärker sein. Sven begann schließlich wie besessen, wahllos Daten auf seinem Rechner zu löschen. Genau genommen all jene Daten, die irgend etwas über seine Neigung verraten konnten. Nick bemerkte, das er auf dem Seil gelandet war. Das war die Idee! Vielleicht konnte er wieder Kraft über den Vogelkörper erlangen und das Seil verschwinden lassen. Er brauchte es dazu nur soweit bis zur Wand schieben, bis es hinter die Kommode rutschen würde. Sven könnte so zumindest nicht auf blöde Gedanken kommen. Und während Sven dazu überging, mit einem Kugelschreiber irgendwelche Texte auf Zettel zu kritzeln, bäumte sich Nick ein weiteres Mal gegen Nastyboy auf, um Kontrolle über den Vogel 188 zu bekommen. Es gelang immer besser, je öfter er es schaffte, je positiver er dachte und umso überzeugte er war, Sven damit retten zu können und dem Ziel – Sascha – näher zu kommen. Zwar schaffte er noch immer keine klaren und gezielten Bewegungen, aber er stürzte bäuchlings voran und schleuderte dabei so gegen das Seil, dass er es tatsächlich ein gutes Stück auf den Schlitz zwischen Tisch und Wand zu bewegen konnte. Durch das Geräusch wurde Sven aufmerksam. Zielsicher ergriff er das Seil, ehe es in den Spalt rutschen konnte, und umwickelte damit seine Fäuste. Oh nein, rief Nick innerlich, und genau diese Gefühle stärkten Nastyboy wieder. Nick fühlte sich innerlich fallen, verlor die Besinnung, als er begriff, dass er selber soeben Sven auf das Seil aufmerksam gemacht hatte. Als Nick wieder zu sich kam, hatte Sven den Boxsack bereits demontiert und das Kletterseil effektiv um die Halterung befestigt. Sorgfältig kontrollierte Sven den Knoten der Schlinge, stieg auf den Drehsessel und legte seinen Kopf hinein. Nichts an Sven wirkte mehr verzweifelt oder nervös. Sein Gesicht war ohne Ausdruck und jede seiner Bewegungen war entschlossen. Nick hatte Sven noch nie so gesehen, und es jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sven schien abgeschlossen zu haben. Kein Leid, keine Qual, nur noch nüchternes Beenden einer Sache, an die er ohnedies nicht mehr glaubte. Damit raubte er Nastyboy Kraft. Kraft, die Nick ihm jedoch in Massen lieferte, als er begriff, das er Sven hier ein zweites Mal verlieren würde. Das er diesem schrecklichen Moment beiwohnen würde. Ich kann ihn retten – sagte sich Nick – unter aufbegehren seiner ganzen Kraft. Noch ist es nicht zu spät. Sven trat den Drehstuhl weg und sank tonlos in das Seil. Das letzte was er sah, war ein Rabe, der aus dem Nichts auftauchte und direkt auf ihn zuflog. Er hielt ihn für den Todesboten. 189 Nick flog. Er vergaß, das er nicht fliegen konnte, breitete die Schwingen aus und segelte auf Sven zu. Er krallte sich in das Seil und bearbeitete es mit seinem Schnabel. Unaufhörlich pickte er die Fasern aus dem Verbund, biss und riss Strang um Strang aus dem festen Seil, bis es nachgab. Mit einem plumpen Geräusch prallte Svens lebloser Körper zu Boden und blieb unnatürlich verrenkt am Boden liegen. Nick segelte herab – er beherrschte nun des Vogels Körper als wäre er seiner – und setzte sich auf Svens Schulter. Mit seinem Schnabel versuchte er, Svens blondes Haar aus dessen Gesicht zu ziehen, als er sein jugendliches Selbst den Raum betrat. Svens blonder Haarschopf ergoss sich über den graublauen Teppich, in einer ungelenken Embryonalstellung lag er da, einen Arm unnatürlich geknickt unter sich begraben. Auf der verdrehten Schulter saß eine Krähe und Blickte Nick mit schräg geneigtem Kopf an. An den Schultern drehte er Sven zu sich herum, dessen Kopf lose nach hinten kippte, er konnte bis in den Rachen sehen, als sein Kiefer herunter klappte. Das blonde Haar klebte am Speichel in den Mundwinkeln, war über das Gesicht gewirbelt. Nick hielt den blonden, leblosen Schopf in seinem Arm. Er strich immer wieder über Svens hohle Wange und ohrfeigte sie dann. Sven würde gleich aufwachen. Sicher würde er gleich aufwachen, er trieb nur einen dummen Scherz. Einen sehr dummen Scherz. Doch Sven wachte nicht auf. „Verschwinde, du scheiß Vogel.“ schrie Nick die Krähe an, die lästig auf die Brust des Toten sprang, sich immer nur kurz scheuchen ließ. Sie war lästiger als eine Fliege im Hochsommer, die von Schweiß kosten möchte. Sie wetzte den Schnabel an Svens Hemd, blickte Nick auffordernd an. Dieser hob sachte Svens Kopf an und entfernte das Seil, indem er es vorsichtig über den Kopf schob. Als er den gefiederten 190 Aasfresser wieder scheuchen musste, bemerkte er ein Stück Papier in der Brusttasche von Sven. Es war ein Abschiedsbrief. Sven hatte kein Wort zu viel geschrieben. „Liebe ist Aussichtslos“. Sie hatte ihn wohl nicht erhört. „Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.“ stand noch als reiner Zynismus dabei. Nick fühlte sich hin und her gerissen zwischen Schmerz und Hass. Mal wiegte er den Toten in seinen Armen – dann wieder hatte er den Wunsch, ihn zu schlagen. „Wenn du nicht tot wärst – dafür könnte ich dich umbringen.“ schrie er, flüsterte er. Und dann fasste Nick den Entschluss. Er wolle nie lieben. Nie wieder. Er schrie es hinaus, irgendeinem gelangweilten Gott entgegen: „Ich schwöre hiermit, nie wieder zu lieben.“ Und dann küsste er den Toten. Ein erstes Mal. Ein letztes Mal. Wenn man aus einem wirklich schlimmen Alptraum erwacht und sich in seinem Bett wieder findet, benötigt es dennoch oft ein paar Minuten, ehe man sich sicher ist – ganz sicher – welcher Bewußtseinszustand der reale ist. Mitunter nämlich nützt es nichts, sich am Kopfpolster fest zu krallen – die Eindrücke des Traumes sind so nah, sind so fest gefressen ins Gehirn. Manchmal muss man auch aufstehen und irgendetwas ganz Gegenständliches machen. Etwas das so banal ist, dass man sich dankbar daran festklammern kann. Wie etwa ein Glas Wasser oder der Klodeckel. Wir aber sprechen hier von einem wirklich schlimmen Alptraum – genau genommen – nicht einmal von einem Traum. Und Nick wachte nicht in seinem eigenen Bett auf. Sonne schwirrte in den Raum, der das Licht, weiß, in weiß, in weiß, reflektierte. An der Wand hing das Gemälde eines unbekannten aber umso abstrakteren Künstlers, und am Bett saß ein sehr großer und sehr nackter und extrem muskulöser Mann mit langem Haar, der ihn nicht aus den Augen ließ. In einer Armada 191 von Decken und Kissen sprang ein kleines Mädchen mit langen roten Haaren, schwarzem Spitzenkleidchen und mitsamt ihren Schuhen wild auf und ab. Sie wirbelte dabei eine ziemlich zugerichtete Puppe herum und summte eine Melodie die ziemlich disharmonisch klang. Kurz unter der Zimmerdecke drehte ein kleiner dicker Mann in einem weißen Nachthemd wackelig wie eine Wespe seine runden, wobei rosafarbener Glitzerstaub herab rieselte. Nick fühlte sich erbärmlich, während er diese Szene ein paar Minuten aus seinen halb geschlossenen Augen beobachtete. Der Verdacht drängte sich ihm auf, dass er im Himmel gelandet war. Und nachdem er eine weitere Minute überlegte, hielt er die Hölle für wahrscheinlicher. „Na toll!“ sagte eine Stimme in seinem Inneren ziemlich gefrustet. Nick realisierte nicht sofort, dass diese Stimme in seinem Kopf war und riß seinen Kopf herum. Spontan sprang ein erleichtertes Lächeln in das kantige Gesicht des nackten Riesen: „Guten Morgen.“ brummte seine beinahe abscheulich tiefe Stimme. Kein Zweifel, dieser Person musste Satan sein. Nick erkannte allmählich die Zirkusleute von neulich Nacht – doch schien ihm erst jetzt der Zusammenhang klar zu werden. Nicht dass er sich nicht ohnedies die letzten dreizehn Jahre irgendwie wie am Rande der Hölle gefühlt hatte – nun – herzlichen Glückwunsch – jetzt dürfte ihm der letzte Sprung gelungen sein. Des Teufels Gruß rief die anderen Gestalten auf den Plan. Das Mädchen hielt mitten im Sprung inne, zog die Beine an und Plumpste mit ihren spitzen Knien unsanft auf Nicks Arm. Dabei schlug sie ihm zu allem Überfluss auch noch grob den malträtierten Teddy ins Gesicht. Der fliegende Mann mit der Halbglatze senkte sich sachte auf den Boden herab und verschwand dadurch für einen Moment aus Nicks Gesichtsfeld, 192 da er relativ klein war. Drei Gesichter neigten sich nun über ihn und stierten ihn erwartungsvoll an. „Wo ist er?“ wandte sich der kleine Dicke an den großen Kräftigen und Nick fragte sich umgehend, ob er – wie dereinst im Vogelkörper – vielleicht unsichtbar war. Gegen diese Theorie sprach, daß das kleine Mädchen das auf seinem Arm saß erneut und ziemlich zielsicher mit ihrem Stofftier auf sein Gesicht einschlug. „Ja, genau! Wo ist er?“ rief sie in zorniger Enttäuschung. Kinder die diesen Ton anschlagen liegen meistens im nächsten Moment am Boden im Einkaufscenter, strampeln dabei mir ihren Beinen so dass sie sich wie ein Breakdancer um die eigene Achse drehen und erfreuen Eltern mit ihrer deutlichen Äußerung eines Wunsches oder Nicht-Wunsches. „Yummy“ zischte etwas in Nick und schmatzte beunruhigend. Die drei Gesichter schenkten ihm wieder ihre volle Aufmerksamkeit. „Geht es dir gut, Nick?“ fragte schließlich der kleinere Mann, der damals im Park ja ganz vertrauenswürdig gewirkt hatte. Das Bild allerdings, wie er eben noch im Nachthemd durch den Raum geflogen war hatte seinem Image einen deutlichen Dämpfer verpasst. Nick wollte nicken, als er sah, wie der schmutzige Teddy wieder auf sein Gesicht zu raste, schloss seine Augen und seinen Mund. Doch der erwartete Schlag blieb aus, und als er wieder einen Blick riskierte, sah er, wie Satan den dünnen Arm des Mädchens in der Luft fest hielt. „So eine blöde Göre.“ sagte eine Stimme, und Nick suchte nach der fünften Person im Zimmer – aber da war keiner. Allerdings fühle er ein gehässiges Lachen in seinem Bauch. „Ich habe einen ziemlichen Muskelkater in...“ erklärte Nick und hielt verschämt inne. „Wo denn?“ brummte der Teufel. Nick bewegte sich testhalber 193 ein bisschen um sich zu vergewissern. „In... in...“ stammelte er und konnte nicht fassen was er sagte: „...den Flügeln.“ Satan und der Mann im Nachthemd tauschen intensiv Blicke. Amor schlug die weiße Decke zurück und gab das unsägliche Shirt mit dem Schriftzug „Schwuchtel“ frei, während Varis Nick an den Schultern packte und auf setzte. Nick fühlte sich noch zu schwach um Widerstand zu leisten und ließ die Prozedur über sich ergehen. Man glotzte schweigend hinter seinen Rücken. „Und?“ fragte er schließlich nervös, als sich die Türe öffnete und ein sandfarbiger Schopf besorgt herein lugte. In Saschas Gesicht ging die Sonne auf, als er Nick bei Bewusstsein vor fand. Mit einem einzigen Satz stürmte er zu Nick und umarmte ihn. „Vorsicht!“ rief Nick leise aus, als er überrascht fest stellte, dass Sascha durch Satan und dessen Gehilfen einfach so hindurch greifen konnte. Er kann sie nicht sehen – schoss es Nick durch den Kopf. Allmählich begann er sich daran zu gewöhnen, dass manche Dinge für manche Menschen unsichtbar waren. Angespannt fügte sich Nick in die Umarmung und wartete ab, ob Sascha irgendetwas an seinem Rücken ungewöhnlich fand. Doch Sascha schien nichts seltsames zu bemerken – und Nick auch fürs erste nicht wieder los lassen zu wollen. Irgendwo in seinem Inneren war etwas ziemlich angewidert von dieser Zuneigung und eine gewisse Übelkeit breitete sich aus. Kurz bevor Nick sich über Saschas Rücken erbrochen hätte, riss er sich los und sagte entschuldigend: „Ich habe Schmerzen.“ Sascha riss enstetzt seine Augen auf: „Ich bin so unaufmerksam – das hätte ich mir doch denken können. Wo tuts denn weh?“ 194 „In meinen Flü... mein Rücken, mir tut mein Rücken weh.“ erklärte Nick rasch. Er fühlte sich schlagartig gestresst. In diesem Raum waren sechs Personen. Eine konnte er nur hören aber nicht sehen. Sascha konnte nur ihn sehen, nicht aber alle anderen. Und die anderen schienen die sechste Person noch nicht einmal hören zu können. Zudem wusste Nick noch immer nicht, ob er Flügel hatte – diese aber vielleicht nur für Sascha unsichtbar waren. Ebenso ungeklärt war, wo Nick sich eigentlich befand – wobei er sich mittlerweile ziemlich sicher war, doch nicht in der Hölle zu sein. Zumindest nicht räumlich betrachtet. „Oh doch, Herzchen, meiner Einschätzung nach bist du direkt in der Hölle gelandet.“ sagte diese Stimme wieder. Nick sah alle sichtbaren und für andere unsichtbaren Geschöpfen an und stellte fest, dass keiner von ihnen diesen Satz gesagt oder gehört hatte. Ich werde wahnsinnig, stellte er fest und sofort ging es ihm besser. „Hast du Hunger oder Durst, kann ich irgend etwas für dich tun?“ fragte Sascha, sah Nick eine weile seufzend an und fügte hinzu: „Ich bin so froh dass du hier bist.“ Bei diesen Anfall von Glück wurde Nick wieder schlecht. Es war dieser dunkle Abgrund, den er schon als Vogel gefühlt hatte, der ihn irgendwie runter zog. Und genau dieses Böse schien regelrecht allergisch auf positive Gefühle zu reagieren. Nick warf Varis einen recht unglücklichen Blick zu. Vielleicht war er nun tatsächlich so etwas wie ein Engel der Hölle? Geschichten von Vampiren und Dämonen schwirrten durch Nicks Erinnerung, und er fragte sich, ob er als ein Wesen der Verdammnis überhaupt in der Lage war, menschliche Nahrung zu sich zu nehmen. „Ein Wasser.“ sagte Nick, überlegte kurz, dass in der Hölle Feuer dominierte und es vielleicht keine so gute Idee war, „Oder... doch etwas... hartes.“ bat Nick und hielt Sascha dabei 195 am Unterarm fest. Dieser hielt erstaunt inne: „Was?“ „Feuerwasser.“ erklärte Nick, „Schnaps, Likör oder irgend so etwas.“ „Es tut mir leid, aber ich habe keinen Alkohol hier.“ erklärte Sascha. „Es geht auch Benzin oder Parfum.“ meinte Nick und als ihm bewusst wurde, wie das klingen musste, setzte er ein diabolisches Grinsen auf und sagte: „Tabasco. Ich möchte Tabasco.“ Sascha brauchte eine Weile, ehe er begriff, das Nick es ernst meinte. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, wandte sich Nick hektisch an Varis. „Wer zur Hölle.... beziehungsweise was... WAS bin ich?“ „Oh Mann.“ stöhnte jemand genervt. „Nun beruhig dich mal.“ sagte Hellen zu Sascha und tätschelte Busters Schädel, der auf ihren Oberschenken lag und auch beruhigt werden wollte – obwohl er eigentlich ganz ruhig war. Kevin schritt mit Stiefeln – gewichtigen Stiefeln mit entscheidender Imagefunktion – über den hellen Parkett und ließ seinen langen Mantel hinter sich her wehen. Unter anderen Umständen hätte Sascha das nervös gemacht, er wäre ihm mit einem Wischmob gefolgt und hätte ihn darum gebeten, die Schuhe doch bitte auszuziehen. Nun aber war er damit beschäftigt, auf seine Knie zu stieren und erschüttert zu sein. „So kenne ich ihn nicht.“ erklärte Sascha und schob seinen Hemdsärmel soweit zurück, dass er auf eine alte Narbe blicken konnte. Hellen fixierte einen Wirbel auf Saschas Hinterkopf, der es derzeit besonders arg trieb und sprach aus was sie dachte: „Mal ehrlich – du kennst ihn doch so oder so nicht.“ Sascha zuckte zusammen und starrte sie empört an. „Natürlich kenne ich ihn!“ rief er aus. Aus dem Augenwinkel registrierte er, wie Kevin vor den Bildern an der Wand stehen 196 blieb und den Kopf zur Seite neigte – ähnlich wie Buster es als Welpen getan hatte, wenn er versucht hatte, etwas neues zu verstehen. „Okay!“ meinte Hellen „Lieblingsspeise?“ „Was?“ „Hat er Geschwister?“ „Ich weiß nicht...“ „Wie alt ist er?“ fragte Hellen weiter „Wer sind seine Eltern?“ „Was hört er für Musik?“ Kevin drehte den Kopf in die andere Richtung und Sascha beobachtete die Schuhbandhaare, die wie Pendel einer Uhr sich langsam damit Abwechselten, länger beziehungsweise kürzer zu werden. „Ich meine nicht so kennen.“ erklärte Sascha empfindlich. Hellen begann ebenfalls, Kevin zu beobachten, der seinen Kopf immer weiter drehte, dabei begann, seinen Oberkörper mit zu neigen.„Ich meinte eher... naja... also man sieht sich an und weiß einfach Bescheid.“ Hellen und Sascha neigten sich instinktiv etwas mit Kevin mit. „Sexuelle Orientierung?“ fragte Hellen streng, als Kevin sich wieder in die aufrechte Position begab und sie sich wieder voll auf ihren Bruder konzentrieren konnte. „Okay... ich gebe zu, ich war anfangs etwas unsicher...“ und in bestimmendem Ton fügte er hinzu: „Aber das hat gar nichts mit dem zu tun, was heute passiert ist.“ „Er hat eine total kranke Vorliebe für Haferflocken.“ erklärte Kevin, der sich vor das nächste Bild positionierte, gedankenverloren „Er ist dreißig, Einzelkind und hat keinen Vater.“ wieder begann er, seinen Kopf zu neigen. „Er verträgt meine Musik und dass er schwul ist schlägt ihm glaub ich ziemlich auf den Magen. Dennoch...“ Kevin drehte sich langsam zu Sascha und Hellen herum, sich seiner wirklich 197 abnormal coolen Stiefel und seines langen schwarzen Mantels sehr bewusst – und verkündete: „Dennoch, daß er Feuer spuckt ist auch mir neu.“ Nick fühlte sich wie der Kopf einer verdammten Höllengang. Was genau mit ihm abging verstand er noch immer nicht. Er hatte einen Muskelkater in seinen Flügeln, ohne zu wissen ob er auch Flügel hatte, hatte eine Stimme in seinem Kopf die ziemlich zynisch sein Leben kommentierte und es fing ihn jedes mal zu recken an, wenn irgend etwas begann, nett zu werden. Dabei hätte Nick derzeit eigentlich genug Probleme. Das Erlebnis mit Svens Tod steckte ziemlich fest in den Knochen und er hatte eigentlich den Wunsch, sich in seine Wohnung zu begeben und in Selbstmitleid zu ertrinken. Stattdessen trabte er zum zweiten Mal in wenigen Tagen durch die Gassen und führe Selbstgespräche. Nun, es waren nicht wirklich Selbstgespräche, aber das würde keiner der Menschen verstehen, die ihm begegneten. Sie sahen weder den nackten Riesen, dessen langes blauschwarzes Haar wie ein Umhang hinter seinem Rücken her wehte, noch das kleine rothaarige Mädchen im Trauergewand, das einen Sprachschatz beherrschte, der jede Erzieherin in große Erklärungsnot gebracht hätte. Und sie sahen nicht den kleinen dicken Mann im Nachthemd, der beständig Glitzerstaub absonderte. Nick wusste nicht, in welcher Beziehung sie zueinander Standen, aber sie waren ziemlich besessen davon, ihm helfen zu müssen. Wenn er bedachte, in welcher Lage er sich nun befand, nachdem sie ihm bereits einmal geholfen hatten – lief ihm der kalte Schauer über den Rücken. Er würde Sascha ein neues Bett besorgen müssen. Überhaupt: Armer Sascha. Dem hatte er einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Sich selber im Übrigen auch. Seine Überlegungen, dass Wasser ihm schaden könne, wenn er ein Geschöpf der Hölle wäre, hatte er für recht pathetisch gehalten. Das hieß: er 198 hatte nicht wirklich daran geglaubt. Er hatte irgendwie erwartet, das er später einmal, wenn er über diesen Tag nachdachte, über diese naive Idee lachen würde können. Sascha hatte sich große Mühe gegeben. Auf einem silbernen Tablett hatte er eine winzige weiße Porzellanschale gestellt in die er sorgfältig Tabasco geträufelt hatte. Dazu hatte er zwei Scheiben Weißbrot, ein Glas Wasser und eine Rose drapiert. Sascha hatte sich zu Nick aufs Bett gesetzt und ihm das Tablett vor die Nase gehalten. Nick war ganz anders geworden, als Sascha ihm so direkt in die Augen gesehen hatte und sie quasi aus getestet hatten, wer es länger aus hielt und darüber zu Lächeln begannen. Ein ziemlich heftiges kribbeln war durch Nicks Magen gewandert das plötzlich schrecklich widerlich zu brennen begann. Nick versuchte erst, diese Hölle in seinem Körper zu verbergen, sie zu verdrängen, doch schließlich krümmte er sich doch zusammen. Reflexartig griff er nach dem Glas Wasser, das Sascha unverlangt mitgebracht hatte. Sascha rückte Nick näher und legte ihm besorgt einen Arm auf den Rücken. Irgendetwas hatte er gefragt, doch es ging in der Feuerfontäne unter, die Nick aus seinen Eingeweiden hervor kotzte. „Donnerwetter.“ hatte diese innere Stimme gesagt. Sowohl der Teufel selber als auch das kleine Mädchen waren spontan zur Seite gesprungen und der kleine Mann fasste sich mit beiden Händen auf den Kopf. Sascha war so erschrocken, dass er rückwärts auf den Boden kullerte und Nick anstarrte, als wäre er der Leibhaftige. „Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, und einem ziemlich geilen Gott...“ hatte er ausgerufen, war aufgestanden und aus seinem Schlafzimmer gestürzt. Nick hatte ganze Arbeit geleistet: in der Mitte des Bettes klaffte ein schwarz umrandetes Loch in der Größe einer Badewanne und es roch widerlich nach Pech und Schwefel. 199 „Ups.“ hatte Satan gebrummt und das kleine Mädchen hatte geschrien: „Nastyboy du madenscheißender Fäkalpartikel, ich packs echt nicht!“ Nun, irgendwie war nach diesem Vorfall die Luft raus und die Zeit gekommen, einen anderen Ort aufzusuchen. Sascha hatte kein Wort gesagt und sofort die Wohnungstüre aufgehalten, als Nick aus der Schlafzimmertür gewankt war. Sie hatten sich noch einmal intensiv in die Augen gesehen, aber als Nick wieder dieses brennen die Kehle hoch klettern spürte, war er gerannt was das Zeug hielt. Seit diesem Vorfall schwafelten seine teuflischen Begleiter irgend etwas von Dämonen, Kidnapping und Besessenheit. Das alles war ja gar nicht so von der Hand zu weisen, aber es klang reichlich abgedreht und verworren. Gut, die Erfahrung des Feuerspeiens wollte Nick nicht unbedingt wiederholen – vor allem weil er sich ein bisschen den Mehr-Tage-Bart angesengt hatte und der Geschmack von verbrannten faulen Eiern im Mund war auch keiner den er besonders vermissen würde. Aber der Gedanke wiederum, sich ausgerechnet dieser seltsamen Truppe anzuvertrauen brachte kein beruhigendes Gefühl. Sein Erscheinungsbild vermittelte den Menschen auf der Straße allerdings auch kein Gefühl von Behaglichkeit. Er hatte seit Tagen nicht geduscht, sich seit fast zwei Wochen nicht mehr rasiert und aus einem ihm unbekannten Grund zierten blaue Flecken und Schürfwunden sein Gesicht und seinen Körper. Er trug ein zerschlissenes T-shirt mit der Aufschrift „Schwuchtel“ das stellenweise versengt, durch Erde und Gras verdreckt und sogar mit Blut vollgeschmiert war. Er verströmte einen Geruch von dem ihm selber schlecht wurde und unterhielt sich angeregt – regelrecht agressiv – mit sich selber, wobei er wild gestikulierte und manchmal in fast zärtlichem Ton zu seiner rechten Hand sagte: 200 „Hey, gurkennasiges Furzgesicht sagt man nicht.“ oder „Zwirnloser Sandlwanst ist nicht besonders nett“ aber auch „Könntest du den Ausdruck rotzriechender Gulaschgorilla bitte unterlassen?“ dabei blickte er zufälligen Passanten entschuldigend ins Gesicht und zuckte mit den Schultern. Und dann trafen sie auf sie. Sie stand mitten auf der Straße, ihre Beine wirkten durch ihre High Heels und den Minirock noch länger. Wie ein Westernheld bei einem Duell stand sie entschlossen da, mit einer atemberaubenden Körperspannung, einen Pfeil im Anschlag. Hinter ihr ragten riesige lila Flügel auf, die beeindruckend mächtig und fragil zugleich wirkten – als wären sie da und zugleich auch nicht. Als bestünden sie lediglich aus gut eingesetztes Licht. Sie selber war vollständig in blendendes weiß gekleidet – nur ihr streng frisiertes Haar saß wie ein schwarzer Helm auf ihrem Kopf. Nick war sich erst nicht sicher, was er da eigentlich sah. Dann bemerkte er an den Reaktionen seiner diabolischen Begleiter, das auch diese sie wahr nehmen konnten, gewöhnliche Menschen aber würdigten sie keines Blicks – was wirklich skurril wirkte, denn die Dame machte etwas her. Gott, das muss Gott sein, schoß es Nick in den Kopf. Unter anderen Umständen hätte ihn das ziemlich positiv gestimmt – da er sich aber für einen Abgesandten der Hölle hielt, spannte er jeden Muskel an und straffte seine Schultern. Er versuchte auch seine Flügel auszubreiten – es konnte nicht schaden, falls er welche hatte. Satan selbst blieb von Gott erstaunlich unbeeindruckt, aber Amor verlor ein wenig die kontenance. Nick rechnete sich noch aus, welche Rolle er in diesem Kampf zwischen Himmel und Hölle spielen würde, als Amor in Kopfhöhe an ihm vorbei zischte – so gut er mit seinen kleinen Flügeln eben zischen konnte. Und noch ehe Nick registrieren konnte, was geschehen war, hielt Amor einen lila Pfeil in seiner Hand und das blendend weiße Geschöpf rief: 201 „Heeeey!“ ließ verärgert den Bogen sinken und stemmte die Faust in die Hüften. „Das Spiel ist aus!“ rief Amor, und war sich nicht ganz sicher ob er gerade in einem Krieg oder in einem Flirt steckte. Alles das selbe, sagte er sich. Nick fand den kleinen Mann ziemlich mutig, sich so mit Gott anzulegen. „Von welchem Spiel redest du?“ herrschte sie Amor an. „Olalà.“ sagte eine Stimme in Nicks Kopf. Ein gewisses Bauchgefühl verbesserte sich. „Ich weiß nicht, was dich geritten hat...“ rief Amor wütend „Von wegen.“ sagte Nicks Stimme - zynisch synchron mit Amors Gedanken - „Aber das hier.“ und damit hob Amor den lila Pfeil „hat nun ein Ende!“ Hinter einer mit weißem Leder ausgeschlagenen Tür, die so konstruiert war, das man eben nichts durch hören sollte, ertönte herzhaftes Gelächter. Die langen, weißen Gänge entlang ploppten nach und nach Schädel aus den Türen und sahen einer grimmigen kleinen Person nach. Diese patschte mit nackten Füßen und im Nachthemd auf die große weiße Tür mit dem Silberbeschlag zu, und schwenkte einen lila Pfeil in seiner Faust. Dabei rieselte beständig Glitzerstaub. „Im Übrigen, ER lässt ausrichten, das du dich im Büro blicken lassen sollst.“ hatte Gudrun überheblich gesagt, und Amor äffte diesen Satz gerade missmutig nach. Das Zwinkern und den Kußmund jedoch, mit dem Gudrun diese Botschaft untermalt hatte, ließ er bleiben – aber sie nagten. Wars das jetzt? Soll er mich doch raus hauen, dachte Amor aufsässig, ich hab sowieso die Nase voll. Kein Interesse, mich noch länger von ihm demütigen zu lassen. Soll er doch sehen was er von dieser... dieser... Frau, hat. Die Tür zu Gottes Büro wirkte phänomenal riesig im Verhältnis zu Amor, der sich auf die Zehenspitzen stellen und seinen Arm 202 hoch recken musste, um den versilberten Türgriff zu erreichen. Seine Flügel wollte er ganz bewusst nicht einsetzen. Wenn er nicht mindestens ebenso irisiernde Flügel wie Gudrun bekommen konnte, wollte er gar keine mehr haben. Als wäre die Türe in der Lage, sich selber in Bewegung zu setzen, sobald man ihren Griff berührte, öffnete sie sich erstaunlich geschmeidig. Vielleicht aber auch stand Gott hinter ihr und öffnete sie – sehen konnte man ihn aber nicht. Als Amor wenige Minuten später wieder aus dieser Tür heraus trat, stand er einem Meer von neugierigen Gesichtern gegenüber. Amor räusperte sich geräuschvoll, hob seinen Kopf und marschierte entschlossen an ihnen vorbei. Nichts hatte Gott ihm erlassen, nach wie vor war er barfüßig, dick, klein, hatte eine Halbglatze, trug ein Nachthemd und lächerliche Flügel. Doch seine Körperhaltung hatte sich verändert, er stolzierte regelrecht und in seinem Gesicht lag entschlossener Ernst. Nicht dieser verbitterte und zynische Ernst, sondern gewichtiger, verantwortungsbewusster – ja – heldenhafter Ernst. Sie sahen ihm alle nach, flüsterten hinter seinem Rücken. Das Gerücht, das Gudrun als Amor arbeitete hatte sich rasch verbreitet – und was das für den bisherigen Amor bedeuten konnte, versuchte man sich mit blühenden Geschichten auszumalen. Das diese offenbar in Mehrheit nicht positiv für Amor endeten, zeigte sich in der Überraschung über Amors stählernen Auftritt. Im Köcher, den Amor trug, steckte ein Pfeil, größer als seine bisherigen, dicker, massiver und aus purem Silber. Er glitzerte nicht, verlor auch keinen Glitzerstaub, aber er hatte etwas gewichtiges. Er hatte eine geradezu gefährliche Aura. Für wen auch immer er bestimmt war, dessen Herz musste hart wie ein Diamant sein. 203 Es lief darauf hinaus, dass sie den Friedhof aufsuchten. Wem das genau eingefallen war, konnte keiner mit Bestimmtheit sagen, vermutlich hatte jeder seinen Beitrag dazu geleistet. Nick, der es seit dem Begräbnis vermieden hatte, Svens Grab aufzusuchen, hielt es nun, nachdem er dieses traumatische Ereignis gerade wieder durchlebt hatte – für angemessen, mal doch vorbei zu schauen. Nastyboy hielt Besuche auf Friedhöfen generell immer für eine blendende Idee, er war eben ein Vielfraß – und er hoffte stets, dort auf ein unerwartet frisches Buffet in Form einer Beerdigung zu treffen. Die Stimme in Nicks Kopf meinte, prinzipiell nichts dagegen zu haben, merkte aber auch an, das es ja sowieso keine Rolle spiele, wenn sie dagegen wäre. Mana folgte Nick sowieso überallhin, als trüge er einen Magneten in sich, der es ihr nicht ermöglichte, sich von ihm zu entfernen. Nick hätte sich speziell vom Teufel irgendwie mehr Engagement erwartet. Bei der Begegnung mit Gott hatte er sich völlig raus gehalten und stattdessen jungen Männern nach gesehen. Alles in allem eine Begegnung, die etwas enttäuschend abgelaufen war. Nicht dass Nick darauf bestanden hätte, als diabolischer Novize sofort in einen Krieg zwischen Himmel und Hölle verwickelt zu werden – aber das sich die beiden Großmächte so gar nichts zu sagen hatten. Nun, vielleicht war über Äonen hinweg alles gesagt worden – und – wie Eheleute, die Jahrzehnte zähe, endlose Schlachten hinter sich haben, hatten sie sich darauf geeinigt, so zu tun als würde es keine Rolle spielen, wer oder was der Andere war oder tat. Wenn es wirklich nötig war, kommunizierte man über den Nachwuchs – und das war in diesem Fall wohl der kleine fette Mann. Zumindest war dieser nach Gottes Bitte ziemlich gehorsam davon geflogen. Nick fühlte sich müde und erschöpft. Er hatte das Gefühl, nur diese dunkle Macht in ihm würde seinem Körper die nötige Energie für halbwegs koordinierte Bewegungen geben. Er 204 fühlte sich eher wie eine Marionette die gezogen wurde. Zwar unterschied sich das nicht wirklich gewaltig von seinem bisherigen Lebensgefühl – doch es wurde ihm bewusst. Vor allem, da er allmählich einen gewissen Konflikt zwischen dem was er wollte und dem was er letztlich tat spürte. Was bedeutete, das er erstmals in seinem Leben so etwas wie einen Willen spürte. Einen Willen, der über die Verweigerung hinaus ging und sich sogar einigermaßen deutlich formulieren ließ: Er wollte Sascha. Oder zumindest wollte er zunächst mal nur in seiner Nähe sein und vielleicht etwas reden. Doch sobald er an ihn dachte und Schmetterlinge mit ihren leisen Flügelschlägen seinen Magen hoch kribbelten, verwandelten sie sich in erbarmungsloses Feuer. Es begann ihn zu recken und – so seltsam das klang – nur wenn Nick an die schrecklich schmerzhaften Stunden dachte, die er mit Sven durchgemacht hatte, ließ dieser Schmerz nach. Zwar litt er auch dann, doch dieses Leid stärkte ihn, es löschte das Brennen in seinem Bauch und verlieh ihm Körperspannung. Und so tobte in Nick ein ständiger ermüdender Kampf. Sascha drängte sich nämlich immer wieder in sein Bewusstsein. Und als wäre das nicht anstrengend genug, hatte er immer diese Stimme in seinem Kopf. Sie klang vorwurfsvoll, zynisch, schien einen Streit mit der negativen Macht haben, die immer stärker Kontrolle über Nick erlangte. Der Nick immer bereitwilliger die Kontrolle übergab, mit jedem mal, wenn er sich negative Erinnerungen ins Bewusstsein rief. Somit begann die Stimme ihn sogar zu ermahnen, versuchte, Nick dazu zu ermuntern, den körperlichen Schmerz zu ertragen und positives zu denken. Sie hatte gut reden, sie hatte die Erfahrung noch nicht gemacht, Feuer zu speien. „Wenn du wüsstest.“ meinte die Stimme seufzend. Nick und seine Höllengang irrte von Grab zu Grab, doch nur unter Nicks Schuhen knirschte der Kies. Es war zu lange her 205 das Nick hier war, um sich zu erinnern, wo genau sich Svens Grabstätte befand. „Du musst ihm Paroli bieten!“ lag die innere Stimme Nick weiterhin im Ohr. „Du hast ein ziemliches Talent, in Schwierigkeiten zu gelangen.“ brummte Varis. „Ich?“ fragte Nick. „Nein... er spricht mit deinem Vogel.“ sagte Mana und balancierte am Rand von Grabsteinen entlang. „Er kann ihn hören?“ war Nick überrascht. „Nein. Aber der Vogel kann ihn hören.“ erklärte Mana, die damit erstmals seit Nick sie kannte zwei Sätze ohne Schimpfworte aneinandergereiht hatte „Und ich! Und er hat recht!“ Nick blieb stehen und starrte das düstere Mädchen an. „Du kannst ihn die ganze Zeit hören und sagst nichts?“ „Nun scheiß dich nicht gleich an, Mann.“ maunzte sie und setzte ihren Weg fort. Nick schoß ein weiterer Gedanke ein. „Warum kann ich dich eigentlich ansehen?“ „Weil du Augen im Kopf hast.“ raunte der Vogel. „Das meine ich nicht. Bei unserer ersten Begegnung durfte ich sie nicht ansehen.“ erklärte Nick der Stimme in seinem Kopf. „Weil du jetzt sowieso am Arsch bist.“ erklärte Mana, sprang in einem weiten Bogen vom Grab einer offensichtlich reichen Familie und stellte sich breitbeinig vor Nick. Sie stemmte ihre Arme in ihre Hüften, hielt dabei den Teddy an der Schlinge um den Hals fest und blicke Nick herausfordernd an: „Sagmal, hast du Glimpfbirne uns eigentlich zugehört?“ „Jadoch.“ gab Nick zögernd von sich und vermisste unmittelbar sein ruhiges ereignisloses Leben. Die letzten Stunden waren ein einziger Alptraum der mit jeder neuen Sequenz komplizierter und schlimmer wurde. Wer wollte ihm, verübeln, wenn es einfach eine gewisse Zeit brauchte, bis sich setzen konnte, was 206 man ihm erzählte? „Okay.“ sagte Mana „Was haben wir gesagt?“ Zum ersten Mal konnte Nick es schätzen, das er eine innere Stimme besaß, die abgetrennt von seinem Bewusstsein existierte. In Gedanken bat er den Vogel um Hilfe. „Nicht einsagen!“ stellte Mana jedoch schon die Bedingung. „Irgendwas mit einem... äh... Haustier?“ fasste Nick zusammen. Mana verdrehte ihre Augen und stampfte wirklich bösartig in den Kies – der jedoch keinen Mucks von sich gab. „Lass ihn in Ruhe!“ sagte plötzlich jemand sehr entschlossen. „Olalà.“ kommentierte die innere Stimme. Der kleine Mann strahlte trotz seines Nachthemdes eine faszinierende Kompetenz aus. Verschwunden war die ewig verzweifelte Aura die ihm vor der Begegnung mit Gott noch angehaftet hatte. Die Höllengang brauchte ein paar anerkennede Atemzüge, sich an den neuen Amor zu gewöhnen, ohne dabei zu realisieren, was genau sich verändert hatte. „Hier“ donnerte Varis fulminanter Brustkorb als sein Blick an Amor vorbei glitt. Svens Grab sah ziemlich verwittert aus. Als Nick es zuletzt gesehen hatte, hatten quasi noch die Späne daran geklebt, die durch das ziselieren des Namens entstanden waren. Offenbar hatte nicht nur Nick es vermieden, sich an ihn zu erinnern – und etwas zu unternehmen, das an ihn erinnern könnte. Wie eben der Besuch oder die Pflege des Grabes. Nun, da Nick sich verantwortlich für seinen Tod fühlte, tat es ihm Leid, wie verkommen es war. Umgehend notierte er für sich, das er sich künftig darum kümmern wolle. „Habt ihr schon eine Idee, wie wir Nastyboy da heraus kriegen?“ fragte Amor und klopfte Nick auf den Bauch. Wie immer wenn Amor etwas sagte, fühlte sich zunächst Varis angesprochen, und wie immer, stierte er verlegen auf seine 207 Zehen. „Nicht wirklich, wir wissen ja noch nicht einmal, wie er da hinein gekommen ist.“ und damit klopfte auch er seine mächtige Hand gegen Nicks Bauch. „Hey.“ beschwerte sich Nick und machte einen Schritt zurück, doch Mana war schon zur Stelle. Sie ballte ihre kleine Hand zu einer Faust und rieb ordentlich auf um Nick in den Bauch zu boxen. „Sympathische Leute, hm?“ sagte die innere Stimme, als Nick sich zusammenkrümmte. „Du sagst es.“ stöhnte Nick „Nastyboy ist dieses Haustier, oder?“ fragte er unbestimmt in die Runde. „Dämon.“ erklärte Amor „Es ist ein Dämon der sich von negativen Gefühlen ernährt.“ „Und ein ziemlicher Gierrammel.“ kommentierte die innere Stimme. Nick zog sein Notizbuch aus der Hosentasche, blätterte ein wenig darin herum und zeigte dann auf die Zeichnung, die er damals im Cafe angefertigt hatte. „Ist er das?“ Die Höllengang stierte ihn überrascht an. „Wann hast du das gezeichnet?“ fragte Amor. „Nicht so wichtig.“ meinte Nick und ließ zu, das Amor das Notizbuch in seine Hand nahm. Varis und Mana steckten ihre Köpfe zusammen, um ebenfalls auf die Zeichnung sehen zu können. „Du bist talentiert!“ erklärte Amor. „Das ist in diesem Cafe!“ erkannte Mana die festgehaltene Situation. „Kann ich mal?“ fragte Varis und griff über Amors Kopf um das Notizbuch an sich zu nehmen. „Ja, das ist er.“ bestätigte Amor. Varis begann im Notizbuch zu blättern. „Ich habe ihn gesehen als ich in die Vergangenheit gereist bin.“ 208 erklärte Nick. „Dieser gierige Fäkalparasit.“ sagte Mana. „Danke auch.“ sagten Nick und der Vogel synchron. „Was hast du diesmal für einen Pakt geschlossen?“ scholt Amor Nick. „Ich habe nicht... ich habe keinen Pakt geschlossen. Im Gegenteil, ich war doch unterwegs um einen aufzuheben.“ „Der meint nicht dich, Schätzchen.“ erklärte die innere Stimme, „aber sag ihm, dass ich auch nichts dafür kann.“ „Ähm.“ Nick zeigte mit seinem Zeigefinger auf seine Stirn „Er... sie, sagt es hat auch nichts damit zu tun.“ „Kidnapping.“ sagte Mana streng „Nastyboy ist zu blöd um einen Pakt auszuhandeln.“ dann machte sie einen Schritt auf Nick zu und brüllte ihm in den Bauch „Hast du gehört, zu blöd, zu dämlich, zu dumm.“ „Ich weiß nicht ob es gut ist, was sie da macht.“ erklärte Nick „Er wird stärker, wenn sie sich so auf führt.“ „Jetzt hast dus!“ sagte die innere Stimme. „Er ist wirklich nicht besonders klug, aber er wird immer stärker, wenn negative Gefühle im Spiel sind.“ sagte Nick „Sogar wenn sie sich gegen ihn richten.“ „Du bist wirklich talentiert.“ brummte Varis, und durchblätterte das Notizbuch mit glänzenden Augen, „Wer ist das?“. Nick spürte ein brennen in seinem Bauch. „Sven.“ sagte er rasch, griff sich an den Bauch und schaute Varis erstaunt an. „Was ist?“ fragte Amor. „Er mag es nicht wie ihre Hoheit fühlt.“ erklärte Nick. „Wer?“ fragte Amor. „Hoheit. Köstlich.“ amüsierte sich die innere Stimme. „Er.“ deutete Nick auf Varis, den er nach wie vor für den Fürst der Finsternis hielt. Nick holte sofort wirksame Medizin in seine Erinnerung und schielte auf Svens Grabstein. 209 „Warum tust du das?“ fragte die innere Stimme erbost. „Was tu ich?“ „Du fütterst ihn!“ „Was macht er da?“ fragte Hellen und bohrte ihre langen Fingernägel in Kevins Mantel. „Er redet.“ sagte Kevin, der seine Hände mit dem Fernglas auf einen Grabstein gelegt hatte. Sein Schuhbandhaar wetzte an der Inschrift, und der Saum seines langen Mantels breitete sich malerisch auf dem Grab aus. „Mit wem?“ fragte Sascha. Er kauerte mit seiner Schwester hinter Kevin, vermied jedoch jeglichen Kontakt mit diesem – oder irgendeinem anderen Grab. „Das kann ich nicht sehen. Ich sehe keinen.“ sagte Kevin. „Gib her!“ zischte Hellen und entriss Kevin das Fernglas um sich selbst zu überzeugen. „Und?“ fragte Sascha sie „Tut er... also... macht er es wieder?“ „Er redet.“ schilderte Hellen was sie sah. „Vielleicht betet er.“ „Das klingt plausibel.“ erklärte Kevin „Wenn ich plötzlich Feuerwerfer spielen würde, würde ich auch beten.“ dann ließ er kurz seinen Kopf kreisen und fügte rasch hinzu: „Also ich würde nicht beten... aber ich würde verstehen wenn jeder andere es täte.“ „Er schaut ganz schön fertig aus.“ meinte Hellen. „Ja. Das tut er.“ nickte Kevin. „Das ist auch ziemlich plausibel. Mich würde das auch mitnehmen wenn ich plötzlich... also, naja, nicht mich, aber jeden anderen würde es auch ziemlich mitnehmen, wenn er plötzlich Feuer speien würde.“ „Wessen Grab ist das?“ fragte Sascha. Hellen schraubte am Fernglas herum, ihr Raubvogelnest von Haar ragte weit über die Deckung hinaus, die der Grabstein bot. Allerdings hatte es den Vorteil, tatsächlich wie ein Vogelnest auszusehen. Niemand würde Verdacht schöpfen. 210 „Das ist nicht zu erkennen. Ein ziemlich vernachlässigtes Grab. Vielleicht von seinem Vater?“ mutmaßte Hellen. „Ja.“ nickte Kevin wissend „Das kann sein.“ Hellen und Sascha hielten den Atem an. „Das klingt ziemlich...“ „Plausibel.“ sagte das Geschwisterpaar synchron. Amor drehte den silbernen Pfeil zwischen seinen Fingern und grübelte. Varis blätterte wie besessen in Nicks Notizbuch. Mana trat gegen Svens Grabstein. Nick hatte ihnen erzählt was bei der Zeitreise vorgefallen war. Das genau diese Rückkehr in die Vergangenheit erst Svens Tod ausgelöst hatte. Das, wenn er nichts unternommen hätte, Sven vielleicht sogar noch leben könne, und so weiter. Alles in allem kristallisierte sich heraus, das Nick erst am Anfang stand, sich vor Schuldgefühlen zerfressen zu lassen. Wenn sich die erste Aufregung und alles erst einmal gelegt hätte, und Nick Gelegenheit haben würde, über alles nachzudenken, gäbe er ein fortwährendes Festbankett für Nastyboy ab. Er war – im wahrsten Sinne des Wortes – ein gefundenes Fressen. Jene Schuldgefühle die auf ihn zukommen würden, würden alles in den Schatten stellen, was er in den letzten dreizehn Jahren gelitten hatte. Schlimmer noch, sie würden sich effektiv zwischen Nick und Sascha stellen. Amor wog den massiven, gewichtig silbernen Pfeil in seinen Händen und ermahnte sich seiner Verantwortung. Seine Mission, aus Nick und Sascha ein Paar zu machen war durch Nastyboys feindliche Übernahme in weitere Ferne gerückt als je zuvor. Nick würde immer besser darin werden, alle positiven Gefühle für Sascha zu unterdrücken. Vielleicht sogar würde er anfangen ihn zu hassen, weil er jedes mal Schmerzen bekäme. Welche Macht konnte dagegen schon ankommen? Amor ließ das Sonnenlicht spielerisch auf dem Pfeil reflektieren und seufzte tief. „Nastyboy wird dich nicht freiwillig aufgeben.“ erklärte Amor 211 schließlich. „Du bist einfach zu lecker.“ sagte die innere Stimme. „Zwei Dinge.“ sagte Amor und erhob sich. „Nastyboy muss sich sicher sein, das bei dir nix zu holen gibt. Man müsste also die ganze Scheiße aus dir raus bringen.“ „Und zweitens?“ „Wie hat es sich angefühlt, als du Feuer gespien hast?“ „Ganz Ehrlich? Ich will so etwas nie, nie wieder.“ gab Nick zu. „Das dachte ich mir.“ schüttelte er resigniert den Kopf. „Ein Ende mit Schrecken, oder ein Schrecken ohne Ende?“ fragte die innere Stimme. „Was?“ „Ich häng dir die Leine um, ich schwörs!“ sagte Mana böse. Nick begriff nicht richtig. Oder anders: er weigerte sich noch, zu begreifen. „Entweder alles bleibt so wie es jetzt ist, und zwar ganz genau so – oder... tja.“ erklärte Amor. „Oder was?“ „Du drückst die Sache durch! Ich kann dich von den ganzen miesen Dingen heilen, die dich jetzt und in naher Zukunft quälen werden – und glaub mir – der heutige Tag ist dagegen noch ein wirklich guter Tag. Du stehst unter Schock und hast noch nicht die Möglichkeit gehabt, dich mit deinen Parasiten anzufreunden – aber ich kann dir versichern – nach dem heutigen Tag wirst du dich noch sehnen.“ „Sollte ich mich jetzt, ähm, besser fühlen?“ fragte Nick betreten. Das es einen schlimmeren Tag als den heutigen geben könnte, konnte er sich nicht vorstellen. „Oh doch.“ sagte die zynische Stimme in ihm „Aber das liegt nicht an mir.“ „Du könntest das ganze aber auch heute beenden.“ stellte Amor in Aussicht. „Die Sache mit dem Feuerspeien wird dir da aber noch wie – hm - Urlaub vorkommen.“ 212 „Das heißt: Entweder ich mach heute das Schlimmste durch was ich mir nur vorstellen kann, oder ich mache für den Rest meines Lebens nur etwas halb so Schlimmes durch?“ fragte Nick. „Fast!“ sagte Mana „Du kannst dir nicht vorstellen wie schlimm das sein wird, was du heute durch machen müsstest. Und von dem die Hälfte müsstest du andernfalls bis in alle Ewigkeit ertragen. Und Ewigkeit ist wirklich lang.“ „Das heisst ich kann nicht sterben?“ fragte Nick und sah seinen heimlich aufkeimenden dritten Lösungsweg davon schwimmen. „Sowohl der Dämon als auch ich machen dich Unsterblich.“ erklärte die innere Stimme. „Auch wenn ich... nun... mich bemühen würde?“ fragte Nick. „Selbstmord ausgeschlossen!“ sagte Mana bestimmt. „Und sie muss es wissen.“ sagte der Vogel der Zeit. „Das ist Scheiße!“ rief Nick lauter als er beabsichtigt hatte. „Das klingt nicht wirklich nach beten.“ gab Sascha zu bedenken. Kevin nickte wissend. „Plausibel.“ sagten sie alle drei zusammen. „Das ist nicht fair!“ Nick war noch nie in seinem Leben wirklich laut geworden. Er war eher der Typ der zu Schweigen begann, wenn es an der Zeit war, laut zu werden. Doch diese Zeiten waren vorbei. Und die Aussicht, so oder so Qualen zu leiden, machte ihn richtig sauer. Davon hatte ihm keiner etwas gesagt, als sie ihm Verheißungsvoll die Reise in die Vergangenheit angeboten hatten. Im Gegenteil. Als die Lösung all seiner Probleme, hatten sie es beworben. Nick begann sich über seine eigene Dummheit zu ärgern. Er hatte das alles für so Unmöglich gehalten, das er sich über Risiken und Nebenwirkungen nicht hatte aufklären lassen. Alle Filme über das Zeitreisen hatten recht, stellte er finster fest, es wird alles 213 nur schlimmer. Egal wie trostlos einem die Gegenwart vor kommt, egal wie sehr man sich wünscht, in der Vergangenheit anders entschieden zu haben: wenn man daran rüttelt wirds erst richtig deftig! Einen Moment lang erwog Nick tatsächlich, lieber für alle Ewigkeit in Verdammnis zu leben. Doch diese Taktik hatte er schon einmal angewandt, und die hatte ihn hier her gebracht. Vielleicht sollte er es Mathematisch angehen. Wenn die Schmerzen der Ewigkeit halb so schlimm waren, wie die, die die Austreibung des Dämons mit sich bringen würde, hätte er bereits nach dem dritten Tag ohne Dämon einen Gewinn gemacht. Das klang Vernünftig – auch wenn Nick sich nicht sicher war, ob man Schmerz so mathematisch messen könne. Nicht umsonst lebten so viele Menschen lieber in lebenslang mäßigen Schmerzen – seelisch wie körperlich – als sie einmal dem großen Schmerz hinzugeben der sie heilen könnte. „Okay.“ sagte er schließlich „Ich machs.“ „Schenkst du mir das Buch?“ fragte Varis. Amor stellte seine Bogentasche vor sich auf den Boden. „Du bist dir sicher?“ fragte er Nick. „Nein, verdammt noch einmal, ich bin mir nicht sicher!“ sagte dieser gehetzt und beobachtete, wie Amor den Bogen zusammen schraubte. Vielleicht hätte er genau nachfragen sollen, wie genau die Hilfe aus sah die Amor anbot. „Was wird das?“ „Das ist mein Bogen. Ich bin Schütze.“ erklärte Amor geschäftig und prüfte die Sehne. Nick begann zu schwitzen. Er versuchte abzuwägen um wieviel schlimmer sich ein Pfeil durch den Körper gegenüber Feuerspeien anfühlen könnte. Wirklich Hoffnung das es sich zumindest die Waage halten könnte, hatte ihm die Höllengang ja nicht gerade gemacht. „Wie, äh, wie genau schaut denn dieser – ähm - Exorzismus aus?“ fragte Nick mit großen Augen und machte einen Schritt 214 zurück, als Amor begann, den massiven silbernen Pfeil einzuspannen. „Vielleicht nämlich... also, vielleicht nämlich überlege ich es mir noch.“ Amor senkte den Bogen und warf Nick einen genervten Blick zu. Er brauchte nichts zu sagen, Nick verstand das Ultimatum genau. Für alle Ewigkeit, sagte er sich. Im Moment nämlich, da jetzt gleich der Schmerz einsetzen sollte, klang es gar nicht mal so schlimm, für alle Ewigkeit etwas weniger zu leiden. Wobei Ewigkeit war ja doch lang. „Einen Moment noch.“ bat Nick. Augen zu und durch, dachte er. Ein Pflaster musste man auch schnell abziehen. Und je länger man wartet, um so schlimmer wird etwas. Wer hatte noch gesagt, dass das schlimmste in allen Dingen immer die Angst wäre, nie die Sache an sich? „Okay.“ sagte er schließlich, schloss die Augen und die zynische Stimme in ihm sagte: „Na, ob die Angst wirklich schlimmer ist?“ Noch ehe Nick sich beschweren konnte, das der Vogel der Zeit es ihm nicht gerade leichter machte, hörte er, wie die Sehne anschlug und der Pfeil swirrte. Oh, da hatte die Höllengang aber ganz schon übertrieben. Er spürte gar nichts. Nicht mal einen Piks. Na das war ja einfach gewesen. Erleichtert blinzelte Nick, um sicher zu gehen das der Pfeil auch wirklich abgeschossen worden war. Er erblickte Amor, dessen Bogen leer war. Allerdings hatte er nicht getroffen. Zumindest nicht Nick. Er hatte auf den Grabstein gezielt – und dort steckte der silbrige Pfeil auch fest. „Willst du auch mal?“ fragte Hellen ihren Bruder. Nachdem sowohl Kevin als auch Hellen eine bis dato harmlose Berichterstattung von sich gegeben hatten, fühlte Sascha sich sogar soweit, einfach so zu Nick hin zu gehen. Offenbar war soweit alles normal. Dennoch, sie hatten ihn nicht gesehen wie 215 er ausgesehen hatte als er das Schlafzimmer in Brand setzte. Beherzt also nahm er das Fernglas entgegen, sich auf den Grabstein zu knien kam für ihn nicht in Frage. Ein bisschen hatte er Bauchkribbeln, als er im Fernglas eine verschwommene Gestalt erkannte, die Nick sein musste. Mit zittrigen Fingern drehte er am Zahnrädchen um das Objektiv scharf zu stellen. „Was ist los?“ fragte Hellen, als sie Sascha beobachtete, der noch einmal mit freiem Auge in Richtung Nick sah und dann wieder ins Fernglas blickte. Das Kribbeln im Bauch mutierte zu einem Handfesten Schmerz. Was er sah bestätigte alle Befürchtungen die er je in Bezug auf Nick gehabt hatte. Einerseits wollte er das Fernglas sofort zu Boden werfen, er wollte nicht sehen was sich ihm zeigte. Zugleich aber konnte er den Blick nicht abwenden. Er hatte diese Person schon einmal gesehen. Nein, nicht lebendig, nicht im echten Leben. Er hatte sie auf sämtlichen Zeichnungen in Nicks Notizbuch gesehen. Das schulterlange blonde Haar, diese großen Augen, die hohen Wangenknochen, unverkennbar war es jene Person, hinter der er all die Zeit Nicks heimlichen Freund vermutet hatte. Das erste was Sven sah, war ein nackter muskelpepackter Riese mit einem kleinen Notizbuch und einem großen Ständer, der ihn anglotzte als wäre er der Messias höchst persönlich. Dann erst sah er seinen alten Freund Nick. „Wie siehst du denn aus?“ fragte er ihn. Nick schien um Jahre gealtert. Er war um Jahre gealtert. Allerdings sah er neben dieser Tatsache tatsächlich bemerkenswert zerstört aus, und das lag nicht nur daran, das er aus sah als würde er einen Geist sehen. Neben den Wunden, dem versengten Mehr-Tage-Bart und den Schmutzflecken fand Sven speziell die Aussage auf dem T-Shirt bemerkenswert. „Was soll das?“ fragte er gerade heraus und zeigte auf Nicks 216 Brust. Er schien der Einzige in der zugegebenermaßen etwas skurrilen Runde zu sein, dem es wirklich gut ging. Nick blickte an sich herab. Das er dieses Shirt trug hatte er bereits vergessen, doch das er es ausgerechnet hier, in dieser Situation, nach dem was er wusste, trug, fand er gelungen. Und in der Sekunde, da er von dem Schriftzug auf seinem T-shirt zu Sven auf blickte bekam er den ersten Vorgeschmack darauf, was die Höllengang mit ihren Visionen von Schmerz gemeint hatten. Na klar, was war natürlicher, als das er sich freute, das er Sven endlich als Mensch gegenüberstehen konnte. Das er ihm endlich sagen konnte, das dieses Mail das Sven erhalten hatte nicht von ihm selbst gewesen war. Das er für Sven ebenso empfunden hatte, wie dieser für ihn? Er würde ihn endlich umarmen können, würde ihn spüren können. Ach, was gab es nicht alles zu bereden, zu fühlen nach all den Jahren und nach den Erkenntnissen der letzten Tage? Nicht länger musste er sich die Schuld an seinem Tod geben, sie konnten Freunde sein. Wie sehr hatte er es vermisst, einen besten Freund zu haben. Und, ach ja, die Liebe. Was hatten sie nun nicht alles gemeinsam? Das alles waren positive Gefühle, überwältigende Gefühle, großartige Visionen. Das alles konnte Nastyboy nicht ertragen. Das brennen im Bauch, das Nick an diesem Tag mehrmals gefühlt hatte, war nichts gewesen gegen das, was jetzt in ihm begann Fuß zu fassen. Er hatte das Gefühl, das jede Pore auf seiner Haut langsam aufgerissen würde, sich die Haut zusammen kringle wie ein ein Stück Papier. Ihm war, als bohrten sich langsam feine metallene Späne in sein Fleisch, in jede noch so empfindliche Stelle, und als wäre diese Stelle bereits durch kochendes Wasser verbrannt und aufgeschwollen. In seine Organe zog zunächst eine bleierne Schwere, ehe es sich anfühlte, als würden sie wachsen, sich aufblähen, immer ekelhaft größer werden und einander behindern. Nick hatte sich nie besonders dafür interessiert, wo seine Leber oder sein 217 Magen saß, nun aber fühlte er sie genau, sie waren sich im Weg und wuchsen doch weiter. Sie klemmten aneinander, pressten sich zusammen, quetschten sich unaufhörlich gegenseitig, und zogen sich mit einem Schlag zusammen, wurden winzig klein, zerrten damit an Blutgefäßen und Nerven, hingen im Nichts. Als würden alle seine Nerven zu porösen Eis gefrieren zischte ein Blitz durch jeden einzelnen und noch so feinen Nervenstrang. Nastyboy leistete volle Arbeit. Er fügte Nick den größtmöglichen Schmerz zu, den er einem Wirtskörper zufügen konnte, ohne ihn zu töten. Er war überzeugt – er war besessen davon – Nick klein zu kriegen. Er kannte seinen Lebenslauf, er kannte seine Angst vor der eigenen Courage – bei nichts war Nastyboy so sicher, wie dabei, das Nick irgendwo in seinem Wesen, in seiner Seele noch etwas düsteres finden würde, das er einen negativen Grund finden würde, um Nastyboy zu füttern, um den Schmerz zu beenden. Und er lag damit auch gar nicht so daneben. Mana hatte recht gehabt – es hatte sich im Traum nicht vorstellen können, so Leiden zu können. „Halte durch!“ rief die innere Stimme, der Vogel der Zeit. „Ich kann nicht!“ presste Nick hervor und hatte dabei das Gefühl, er spräche ohne Haut in seinem Mund. Als wären ihm Nerven in den Blutbahnen gewachsen, spürte er nun, wie bei jedem Herzschlag jeder einzelne Tropfen Blut an den Gefäßwänden entlang zischte. An offenen, an aufgeschundenen, an verbrannten Gefäßwänden. Sechs Liter Blut, er spürte jedes Milligramm, und es war ihm, als bestünde es aus Tabasco der geschäftig – Nicks Herz raste – über offene Gefäßwende wetzte, hin und zurück, hin und Zurück, 190 mal in der Minute. Lieber litt er sein Leben lang, dachte Nick, wobei jeder Gedanke sich anfühlte, als rollen zu große Steine durch seine Gehirnwindungen. Nick konnte kaum etwas sehen, so beschäftigt war er mit dem Schmerz. Kam es in Frage, jetzt aufzugeben? Wie schlimm 218 konnte es noch werden? Wollte er den bisherigen Schmerz umsonst gelitten haben? Nick zitterte am ganzen Leib, als er seine Hände nach Sven aus streckte. Er war entschlossen, Nastyboy Paroli zu bieten. Er hätte es als Vogel schon machen sollen. Er selbst war kaum in der Lage, positive Gefühle zu entwickeln, aber er wusste, das Nastyboy auch auf die Gefühle von anderen reagierte. Nick ahnte, was es für Sven bedeuten würde, wenn er ihn umarmte, mehr noch, wenn er ihn küssen würde. Auch wenn er dazu eigentlich nicht mehr imstande war, so machte Nick einen Schritt auf Sven zu und auch wenn es sich anfühlte, als wäre er ohne Haut, als wäre es das bloße Fleisch das sich an Sven drückte, so umarmte er ihn, drückte sich an ihn. Bingo, Sven freute sich tatsächlich spürbar und begann Nick zu küssen. Nick erwiderte den Kuss leidenschaftlich und Nastyboy bäumte sich ein letztes Mal auf, doch er hatte keine Macht mehr. Er riß Nick das Rückgrat auf, brach die Wirbelsäule entzwei und kroch umständlich aus ihm heraus, direkt in Manas Fangschlinge. Nick merkte, wie der Schmerz sich schlagartig aus seinem Körper verflüchtigte. Nach und nach gewann er sein normales Körpergefühl zurück, konnte die Umarmung spüren, und den Kuss. Sven schien dreizehn vergeudete Jahre aufholen zu wollen – und wenn er so weitermachte, könnte es ihm gelingen. Mit Nastyboy verließ aber nicht nur der Schmerz Nicks Körper, sondern auch Kraft. Kraft, die ihn über den ganzen Tag geschleift hatte. Kaum also das er den Kuss richtig genießen konnte, verlor Nick das Bewusstsein. Sascha schleuderte das Fernglas auf das Grab auf dem Kevin und Hellen es sich gemütlich gemacht hatten, und rannte aus dem Friedhof. „Was hat er denn?“ fragte Hellen und Kevin untersuchte das Fernglas. Nachdem er entschieden hatte, das man es noch 219 würde gebrauchen können, auch, wenn das eine Objektiv zersprungen war, prüfte er, was Sascha so aufgewühlt hatte. „Oha.“ meinte er, als er seinen Chef in einer ziemlich leidenschaftlichen Umarmung vor fand. Es war eine Sache, zu wissen das er schwul war – eine andere Sache hingegen, es zu sehen. Wortlos reichte er Hellen das Fernglas, welche es sofort anlegte. „Verstehe. Ich würde sagen, das mit der sexuellen Orientierung hätten wir geklärt.“ 3 Monate später Nick öffnete langsam seine Augen. Das Laken hatte, nicht nur durch seinen unruhigen Schlaf und der Tatsache, noch nie richtig gespannt worden zu sein, einen dicken Wulst gebildet der Nick in den Rücken drückte. Der Polster lehnte sich lässig gegen den Scheitel, und stützte sich auf Nicks Stirn ab. Einen Moment. Nick brauchte nur einen Moment. Von draußen drang das emotionslose Kichern vergeblicher Startversuche an sein Ohr. Der alte Citroen AX des Nachbarn verweigerte wieder einmal seinen Dienst. Mit einem tiefen Seufzen drehte er seinen Kopf und betrachtete das lange blonde Haar, das sich malerisch über den Kopfpolster ergoss. Nicht nur das Haar war malerisch. Nick drehte sich zur Seite und stützte seinen Kopf in eine Hand, sodaß sein Arm quasi ein Dreieck bildete. Da lag er also. Sven. Wie eine nordische Gottheit. Er war seit damals keinen Tag gealtert. Das hieß, die letzten Wochen alterte er natürlich schon wieder, aber das konnte man noch nicht wahr nehmen. Sven nutzte jede Minute seines Lebens voll aus. So als hätte er eine beklemmende Erinnerung an dreizehn Jahre tot sein. Ständig war er auf der Suche nach neuen aufregenden Sportarten – worauf sein jugendlicher Körper sehr gut ansprach. Nick ließ seinen Blick über den perfekt gebräunten und atemberaubend gemeißelten Körper gleiten. Zweifellos – ohne Zweifel – 220 beneidete ihn die gesamte schwule Szene darum, ihn in seinem Bett liegen zu haben. Gemeinsam hatten sie in den letzten Monaten jeden Winkel der Umgebung aufgesucht, der auch nur im entferntesten das Etikett schwul verdiente. Sie hatten in der Tat beide viel aufzuholen. Sie hatten so viel zu besprechen und so vieles gemeinsam zu entdecken. Wie in einem Rausch waren die letzten Wochen davon gezogen und es gab keine Stelle in Nicks Wohnung, an der sie nicht unaussprechliche Dinge getrieben hatten, und keine Schwulenbar oder Schwulendisko die sie nicht heimgesucht hatten – süchtig nach erleben. Sie galten als das Traumpaar der Szene – wobei eher Sven für das Etikett Traum zuständig war. Es gab keinen Ort, wo nicht mindestens ein Mann sich den ganzen Abend aus der Ferne nach Sven verzehrte. Nachdem Kevin gekündigt hatte um sich ganz auf seine Karierre als Rockstar zu konzentrieren, arbeitete Sven bei Nick im Geschäft. Das hieß, auch dort reduzierten sich die Flecken, die nicht mit unaussprechlichen Erinnerungen verknüpft werden konnten. „Guten Morgen, mein Prinz.“ schnurrte Sven, der wohlwollend bemerkte, wie Nick seinen Körper bewunderte. Nick jedoch fragte sich, wie sich ein riesiges Tatoo auf diesem Körper machen würde. Vielleicht ein großer Drache. Seufzend rollte er sich auf den Rücken. Sven verstand das sofort als Aufforderung. Nick kratze gähnend über das Chaos, das der Sex mit seinem schwarzen Haar angestellt hatte und erzeugte mit der anderen Hand ein kleines Keramikkonzert im Küchenschrank. In einer Garfield-Müslischale, die daraus hervorging, ertränkte er Haferflocken mit Sojamilch als Sven herein gesprungen kam, ihn überschwänglich von hinten umarmte und munter fragte: „Und? Was machen wir heute?“ 221 Nichts, dachte Nick, gar nichts, fernsehen, essen, schlafen, wirklich schlafen. Er war es müde, das Leben eines Teenagers zu führen. Gut, Sven war Teenager. Ein Teenager der dreizehn Jahre warten musste, eher er einer sein durfte, aber Nick war ein erwachsener Mann. Nicht das man mit dreißig ein alter Mann war, aber Nick war noch nie der Typ dafür gewesen, sich die Nächte in Discos und Bars um die Ohren zu schlagen. Er wollte Ruhe. Es wäre schön, gemeinsam essen zu gehen, ein Candle Light Dinner vielleicht, und dann einen Film anzusehen. Aber so etwas fand Sven regelrecht gruftig. Nick seufzte. Er verlor das Interesse an seinem Müsli und an Sven, wand sich aus der Umarmung und blieb ihm die Antwort schuldig. Auf dem Weg ins Bad knirschte es unter seinen nackten Fußsohlen und das erste Stück Stoff das er fühlte – eine Socke – nutzte er, um zumindest auf diesem Bein voran zu schlittern. Damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe. Er musste das widerliche Gefühl von Krümel auf nackter Haut nicht ertragen, und die Socke konnte in die Nähe der Waschmaschine bugsiert werden. Nick ballte seine Fäuste und bremste mitten in einem Passanten auf dem Zebrastreifen. Oder besser gesagt in dessen Terriermischling, der aufjaulte und sich dann knurrend im Vorderreifen seines sonnengelben Fahrrads verbiss. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sich Nick und der junge Mann an der Leine entsetzt an – als wäre nicht klar, wer einen Fehler begangen hatte. Eine plötzliche Invasion tausender Schmetterlinge durchflatterte Nicks Bauch und machten seine Knie weich. Erinnerungsfetzen. Er seufzte. Aus dem silbrig – von Kalkflecken matten - Hahn schoß Wasser in unterschiedlich dicken Strahlen in mannigfaltige Richtungen und traf gelegentlich in das klebrig mit Zahnpasta verkrustete Waschbecken. Nick bildete mit seinen Händen Schaufeln und warf sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, um die sentimentalen 222 Gedanken an Sascha weg zu spülen. Er hob seinen Kopf und betrachtete sein Spiegelbild. Dabei sah er nicht wirklich sich selber oder die unzähligen vertrockneten Spritzer, sondern nur Fragmente, wie etwa seine Bartstoppeln, über die er mit seinen Fingern rieb, um abzuschätzen ob er mit dem Rasieren noch einen Tag warten könne. Oder seine dichten Augenbrauen die wie schwarze Balken die Stirn von seinem restlichen Gesicht trennten. „Buster!“ Sascha zog kurz an der Leine ohne Nick aus seinen Augen zu lassen und der Mischling ließ auf der Stelle los, würgte den Geschmack des Gummis hoch, und himmelte sein Herrchen sabbernd an. Eilig setzten die Beiden den Weg auf die andere Straßenseite fort, wobei sich Sascha noch zweimal verunsichert nach Nick umdrehte, und der Buster hechelnd die Nase unablässig in die Knie seines Begleiters rammte. In Nicks Magen spannte sich eine Saite und riss dabei. Er beugte sich über die Badewanne, mit einer Hand stützte er sich an der gekachelten Wand gegenüber ab – mit der anderen betätigte er den Knauf mit dem blauen Punkt. Wasser stürzte aus der Brause und trümmerte eiskalte Nadelstiche auf Nicks Schädel. Das weiße T-shirt sog sich voll und legte sich wie ein Schild kalt und schwer über seinen Rücken. Nick konzentrierte sich auf den nassen Vorhang der rings um sein Gesicht in den kleinen Stausee mündete, der sich wegen des chronisch verstopften Abfluss bildete. Gerade als er fest stellte, das er das erstaunlich lange aushalten konnte, reichte es ihm auch schon. „Wir könnten heute auf das Konzert von Killerkev gehen.“ rief Sven von der Küche herüber. Ach ja, Kevins Konzert, erinnerte sich Nick, also nichts mit ruhigem Abend. Er hätte so oder so keinen ruhigen Abend bekommen. „Dannach könnten wir...“ flötete Sven und hielt an der Badezimmertüre inne „Was machst du denn?“ Nick stand in einer ziemlich großen Pfütze, zitterte verfroren und grinste, wie er immer grinste. 223 Der Raum war weiß in weiß in weiß. Nun. Nicht ganz. Über einen Teil der Wand und die Decke erstreckten sich schwarze Rußwolken. Auf dem Nachtkästchen tanzte surrend ein Mobiltelefon wie ein sehr großer flügellahmer Käfer. Mit einiger Verzögerung begann es eine ziemlich nervtötende Melodie zu spielen, und als diese endlich vorbei war, wiederholte sie sich einfach. Nach dem siebenten Mal kroch ein Arm aus der Armada aus Decken und Polster, tastete nach dem Gerät und verschleppte es in die kuschelige Höhle. „Hallo Hellen.“ brummte Sascha. „Was? Nein, ich...“ Sascha schlug die Decke zurück und ließ prüfend seinen Blick über das etwas zugerichtete Bett schweifen. Niemand da außer er selbst und Buster, der aufmerksam seinen Kopf hob. „Ich habe nicht mit Busters leiblichen Vater,... das geht dich außerdem überhaupt nix an. Zudem ist er nicht der leibliche... nein, ich bringe dir die verdammten Pläne nicht in den Copyshop... Hältst du mich für so dämlich? ... Nein, ich halte es für keine gute Idee... Hellen... Hellen... Stop!“ Sascha setzte sich entschlossen auf. „Er arbeitet jetzt auch da.“ erklärte er eindringlich „Ich bin kein Masochist, dass ich mir das junge Glück geben muss.... nein... nein... doch, die sind sehr wohl zusammen... können wir von etwas anderem reden bitte? ... Heute? ... Wann? ... Ich weiß nicht. Sie werden sicher auch da sein... ja... ja... so viele? okay... du hast natürlich recht, bei achttausend Leuten sollte es uns gelingen, uns aus dem Weg zu gehen. ... ja. JA! Ja ich komme. Nein, ich sag das nicht nur so. Wirklich.“ Sascha seufzte genervt „Ich schwöre. Bei allen Dämonen die mir geläufig sind und einem ziemlich geilen Gott. Ja! Bis am Abend dann.“ damit drückte er auf die rote Taste und schleuderte das Handy aufs Bett. 224 Das Büro war todschick! Ein Schreibtisch aus Walnußholz, die Wände aus mit Silberfäden durchwirktes Milchglas, der Fußboden ein aus weitgehend legal erworbenen Engelsfedern gewebter Teppich. Amor trug einen weißen Nadelstreifanzug mit Lackschuhen und einen mafios coolen Hut. „Sir?“ sagte eine weibliche Stimme aus einem Mikrofon. Ja, man sagte jetzt Sir zu ihm. Amor machte eine kurze Pause um den Eindruck zu erwecken, er wäre sehr beschäftigt, drückte dann gewichtig auf die Taste, neigte sich vor und sagte: „Ja, Mathilda?“ dabei grinste er anzüglich. Er hatte sich aussuchen dürfen, wen er beschäftigen wollte. „Amor ist da.“ sagte sie, und dem Sachbeauftragten in Schicksalsfragen entging der eifersüchtige Unterton nicht. „Bitten Sie sie doch herein.“ sagte er. Er liebte diesen Apparat. Natürlich war er nicht wirklich nötig – aber er wirkte so wichtig und der Sachbeauftragen in Schicksalsfragen schätzte Spielereien die etwas her machten. Nach einer kurzen Pause drückte er noch einmal auf die Taste, bewegte seinen Mund nahe auf das Mikrofon zu und sagte: „Und,... Mathilda!“ er ließ los und wartete ihr schmollendes „Ja?“ ab. „Sie kommen doch bitte auch gleich mit herein.“ damit lehnte er sich zurück und erfreute sich daran, wie sich die Türe zu seinem Büro öffnete und zwei sehr große, schlanke Frauen im mittleren Alter, mit schwarzem Pagenschnitt und weißen Minikleidern auf kriminell hohen Absätzen herein starksten und ihm zu zwinkerten. Das versprach ein Nachmittag ganz nach seinem Geschmack zu werden. Achttausend Leute waren eine verdammte Menge. Kevin stand hinter der Bühne und konnte durch einen Spalt hindurch nur einen Ausschnitt genießen. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn – was nicht alleine daran lag, das er bei hochsommerlichen 225 Temperaturen Stiefel und einen langen Mantel trug. Er hatte die Hosen so etwas von voll. Hellen war ein Genie. Es war fast beängstigend, mit welchem Wissen über die Branche sie brillieren konnte – und besser noch – wie sie es einsetzen konnte. Offenbar kannte sie die dreckigen Geheimnisse sämtlicher Macher im Musikbusiness – und damit jonglierte sie wie eine Akrobatin – mühelos und zielsicher. Bei seinem letzten Konzert vor einigen Monaten war er ein Künstler unter vielen gewesen. Der Auftrittsort ein Raum, der klein genug war, dass zweihundert Leute nach viel ausgesehen hatten. Es hatte fast mehr Musiker als Publikum gegeben und wenn man es versaute, dann gab es ein duzend Bands, die das Publikum wieder versöhnten. Zudem war der Eintritt gratis gewesen. Nun aber stand er auf der einen, und achttausend zahlende Leute auf der anderen Seite des Bühnenverhaus. Die Vorbands waren nur dazu da, um das Publikum für ihn aufzuwärmen – und sie waren verdammt gut. „Alles okay?“ fragte ein Roady, der den Schweißfilm auf Kevins bleichem Gesicht bemerkte. „Na klar!“ schmetterte Kevin dem Mann entgegen und löste sich vom Blick auf die Menschenmenge. Die zweite Vorband hatte gerade ihren letzten Song beendet, und Kevins großer Auftritt stand an. Nick trottete über das Gelände, wühlte sich durch die Menschen und sah sich einfach nur ein bisschen um. Sven war wenige Minuten nachdem sie das Konzertgelände betreten hatten in den vorderen Reihen untergetaucht, wo er sich austoben konnte. Gelegentlich sah Nick, wie seine blonde Mähne aus der brodelnden Menge stob, wenn er wiedermal jemandem ziemlich auf die Zehen hüpfen oder einen Ellenbogen ins Schlüsselbein stoßen musste. Sven hatte eine Lebenskraft in sich, die bemerkenswert war. Nick mochte das Gewühl nicht so 226 besonders und genoss es eher, sich die Musik aus einiger Entfernung anzuhören, während er durch die Gegend lief und Leute beobachtete. So ein Konzert war irgendwie immer auch ein Kostümball für Menschen, die im Alltag ihre musikalische Neigungen nicht so nach außen tragen konnten. Fasziniert betrachtete Nick diverse T-Shirt aufdrucke und Kappen. Er spielte sich seit einiger Zeit mit der Idee, sich kreativ in diese Richtung zu entwickeln. Also Fanshirts zu entwerfen – aber auch Comics zu zeichnen. Die wenigen Minuten die er vom atemlosen Leben mit Sven abzweigen konnte, setzte er die Eindrücke um dessen Rettung um. Zwar hatte er es noch keinem gesagt, aber er zog es durchaus in Erwägung, aus seiner Geschichte – oder besser Svens Geschichte – ein Comic zu machen. Die Vorgruppen waren gut. Nick musste schmunzeln, wenn er daran dachte, wie nervös Kevin gerade sein musste, und wie verzweifelt er dabei wäre, das zu verbergen. Plötzlich sah er Sascha. Sein Körper reagierte völlig überzogen darauf. Erst beendete er sämtliche Herzaktivitäten, und dann preschte er richtig los. Nick bekam weiche Knie, sein Magen drehte sich um und ihm wurde sogar schwindlig. Wie angewurzelt blieb er stehen, überlegte gar, sich sicherheitshalber auf den Boden zu setzen. Sascha stand einfach so herum, inmitten der Menschenmenge und ließ seinen Blick über die Köpfe hinweg schweifen. Nick hoffte so sehr, das er hersehen würde, wie er auch Angst davor hatte. Was sollte er dann tun? Immerhin hatte er ihm bei der letzten Begegnung das Schlafzimmer in Brand gesetzt. Und auf einmal sahen sie sich in die Augen. Über all die Köpfe hinweg, gute sieben Meter voneinander entfernt, und sahen sich einfach an. Nick versuchte durchaus, seinen Blick abzuwenden, ihn nicht so schamlos an zu starren – aber es gelang nicht. Sascha dürfte es ähnlich ergangen sein. Und weil es irgendwie 227 blöd war, sich einfach nur minutenlang anzusehen, und es ziemlich zu stören begann, dass ständig Menschen zwischen ihnen hin und her trabten und offenbar nichts von diesem magischen Moment bemerkten, ging Nick einfach auf Sascha zu. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, und ohne sich durch das Gerempel aus dem Konzept bringen zu lassen, verringerte er nach und nach den Abstand zwischen ihnen, und mit jedem Meter den er zurück legte, ging er ein bisschen schneller, so als habe er Angst, Sascha könne sich in Luft auflösen, wenn er zu langsam wäre. Dabei schossen ihm Sätze durch den Kopf, den er sagen könnte. Von wegen, wie schön es wäre ihn zu sehen. Das er gut aus sähe. Nein, wirklich gut sah Sascha nicht aus. Das hieß, es sah natürlich blendend aus – aber er dürfte keine gute Zeit hinter sich haben. Schließlich stand er direkt vor ihm und es war an der Zeit, die tausend Sätze heraus zu lassen, die er ihm in Gedanken über all die letzten Wochen hinweg gesagt hatte. Doch kein Satz war der richtige für diesen Moment. Nick entschloss sich dazu, zu sagen das er Sascha ja immer noch etwas schulde (Bett), doch als er seinen Mund aufmachte, hatte dieser (sein Mund) nichts besseres zu tun, als sich Saschas Lippen zu bemächtigen. Ziemlich überwältigt von Nicks Reaktion, stieß Sascha ihn von sich weg. Auch Sascha hatte in den letzten Wochen ein paar Anthologien formuliert, die er allesamt imaginär zu Nick gesprochen hatte. Erst würde sich Nick diese anhören müssen. Jawohl. Entschlossen blickte er in diese braunen Augen, stellte fest, wie sehr er alleine schon die Art vermisst hatte, wie Nicks dichte Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammengewachsen waren und erst dieses Lächeln, das so schüchtern wirkte, und so verschmitzt. Ach, was solls, dachte Sascha, packte Nick am Tshirt, zog ihn zu sich her und küsste ihn. Sie küssten sich, als die zweite Vorband die Bühne räumte, und sie küssten sich, während die Roadies die Bühne für Kevins Auftritt vorbereiteten. Sie küssten sich noch 228 immer, als Kevin die Bühne betrat und als er nach einem zweistündigen Spektakel die Bühne zum ersten Mal verließ. Auch seine Zugaben hindurch küssten sie sich, und sie küssten sich nach wie vor, als die Fans und Metalheads langsam das Feld räumten. Auch als Sven Nick auf die Schulter klopfte, küssten sie sich, und Sascha nahm einfach die Hand des Jünglings und schob sie weg, ohne den Kuss zu unterbrechen. Erst als Sven einen Trichter aus seinen Händen formte, sie an Nicks Ohr setzte und ziemlich laut: „Können Sie sich ausweisen?“ brüllte, lösten sich die Beiden aus ihrer Umschlingung. Wie benommen hielten sie sich an den Händen, sahen sie sich um und stellten fest, das fast alle gegangen waren. Noch ehe Nick sich überlegen konnte, wie er das alles Sven beibringen sollte, fuhr ihm der leise Schock in die Knochen. Neben Sven stand ein ziemlich großer, ziemlich muskulöser Mann in zu engen Jeans, dessen blauschwarzes Haar wie ein Umhang über den Rücken wehte, und ziemlich verknallt grinste. Mit Sven, der sich für seinen braun gebrannten und athletischen Körper nicht zu schämen brauchte, und dessen blondes lockiges Haar nicht mindere Tendezen aufwies, heroisch durch die Nacht zu wehen, sah es ein bisschen so aus, als hätten sich die Beiden auf einer GötterKonvention kennen gelernt. Sascha war nicht weniger beeindruckt davon, ihn hier wieder zu sehen. „Darf ich euch jemanden vorstellen?“ fragte Sven. „Gott!“ rief Sascha. „Satan!“ rief Nick. Irgendwo, und das muss geschrieben werden, weil es nun einmal zu einem verdammt guten Ende dazu gehört, lief ein kleines Mädchen in einem schwarzen Kommunionskleid und langen roten Zöpfen über eine Klatschmohnwiese gegen Sonnenuntergang. Unter ihrem linken Arm hatte sie ihre Emo229 Puppe geklemmt, an der rechten Hand führte sie ein ziemlich abscheuliches Geschöpf an der Leine, das ungelenk und schmierig an ihrer Seite entlang sprang und versuchte, sich von der Leine zu lösen. Sie waren unterwegs um irgendwo irgend eine noch ganz zufriedene Seele in den Freitod zu treiben. In Vorfreude darauf, machte das kleine Mädchen einen kleinen, zaghaften Sprung und würgte Nastyboy dabei etwas.... 230