| Arbeitgeber versuchen Betriebsräte zu stürzen – ein Grund mehr

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| Arbeitgeber versuchen Betriebsräte zu stürzen – ein Grund mehr
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Diesmal mit den Fachbeilagen
bewegen
M – Menschen machen Medien
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Ver- und Entsorgung
Kunst + Kultur
drei
Handel
s o l i d a r i t ä t
i m
n e u e n
ver.di vereinte dienstleistungsgewerkschaft
www.verdi-publik.de
f o r m a t
Wähl dir einen
versuchen Betriebsräte zu stürzen – ein
Grund mehr zur Wahl zu gehen
von Günter Wallraff
UWE NICKEL (49), ist
Betriebsratsvorsitzender beim
tüv Nord, er kandidiert wieder
Die Einkünfte der abhängig Beschäftigten stürzen
ab, die Zahl der Niedriglöhner wächst bedrohlich.
Die Spaltung der Belegschaften nimmt stetig zu,
denn Stammbelegschaften schrumpfen. Mittlerweile werden Menschen sogar nur für
Stunden eingekauft, z.B. im Einzelhandel,
und bilden eine besonders prekäre Schicht
von nahezu wehrlosen Beschäftigten.
Jetzt soll auch noch eine der Säulen
gewerkschaftlicher Vertretungsmacht
in den Betrieben gestürzt werden,
die Betriebsräte. Jedenfalls, wenn
es nach dem Willen der Hardliner
unter den Arbeitgebern geht. An
ihrer Seite: eine spezielle Sorte von
Unrechtsanwälten. „Wir machen
nicht alles, was Recht ist...“, inseriert
eine dieser Kanzleien unverhohlen
im Internet, „Wir machen Recht für
Arbeitgeber“.
Ich befasse mich seit einiger Zeit mit
diesen Anwälten des Schreckens und
habe an zahlreichen Beispielen ihr brutales Wirken recherchiert und als „Unternehmer“ undercover ihr zum Teil kriminelles
Treiben überführt. Naujoks, Schreiner und
andere bieten ihre fragwürdigen Tipps
und Tricks in 1 000 Euro teuren Coachings
oder Tagesseminaren in der ganzen Republik an und finden genügend Auftraggeber, denen sie versprechen, sie könnten
für 3 000 Euro Tagessätze aktive Betriebsräte beseitigen.
Wenn selbstbewussten Betriebsräten
in solchen Betrieben der Krieg erklärt
wird, geht es letztlich auch um Schwerbehinderte, Schwangere, Kranke, „Minderleister“, „Aufmüpfige“, Kämpferische – ja um Lohn- und Arbeitsbedingungen der gesamten Belegschaft.
Aktive Betriebsräte sind nach dem feudalistischen Arbeitgeberverständnis
die letzten Barrieren, die eingerissen
werden müssen, um in den Betrieben
Lohndumping betreiben und Beschäftigte nach Belieben heuern und feuern zu können.
Ist einer dieser Unrechtsanwälte
erst einmal angeheuert, dann
beginnt der Krieg im Betrieb
wie nach einem festgelegten
Schlachtplan. Die Einsatzmittel: falsche Anschuldi-
gungen, üble Nachrede, Unterschriftensammlungen gegen gewählte Betriebsräte und von oben organisierte
„Protest“veranstaltungen. Zweck all
dieser Übungen: die Belegschaft in
Angst um den eigenen Arbeitsplatz
zu versetzen und so zu spalten.
Im zweiten Schritt hagelt es Abmahnungen und Kündigungsschreiben mit konstruierten Begründungen; die Betroffenen sollen allein durch die Zahl der
manchmal zwanzig Abmahnungen und Kündigungen
genötigt werden, selber
das Handtuch zu werfen. Den Betroffenen
werden in dieser
KATHARINA KLOSE (28),
Phase auch Resteht bei Schlecker für den
gressforderunGesamtbetriebsrat zur Wahl
gen zum Teil
in Millionenhöhe zugestellt. Wer im
heimischen Briefkasten eine Zahlungsandrohung von
1,3 Millionen Euro findet, dessen Nerven liegen blank – so das Kalkül.
In dieser Etappe des Psychokriegs
werden in der Regel auch Privatdetektive auf die Opfer angesetzt,
die heimlich, aber durchaus nicht
unsichtbar in deren privatem Leben
herumspionieren. Ich habe mit Kolleginnen und Kollegen lange Gespräche geführt, die Opfer solch systematisch betriebenen Psychoterrors wurden
und seitdem für ihr Leben traumatisiert
sind. In einem Fall – von Naujoks’ Schikanen zermürbt – versuchte sich eine
Kollegin umzubringen.
Unangefochten gewählt
Im Anschluss wird dann den in ihrem
Selbstwertgefühl zutiefst Verunsicherten
auch schon mal ein Aufhebungsvertrag
und ein Abfindungsangebot unterbreitet. Manchmal auch das nur, um ihnen
den Fangschuss zu geben. „Der wollte
3 Millionen Euro Abfindung“, wurde in
einem mir bekannten Fall dreist behauptet. „Und dem wollt Ihr als Betriebsrat
vertrauen?“ Wer dann nicht mehr weiter
kann und in die meist klägliche Abfindung einwilligt, dem wird am Ende noch
die Zustimmung zur Verschwiegenheit
abgerungen. So müssen sich die Kriegs-
MICHELE WETZEL (33), ist
bei Ikea Erfurt Betriebsratsvorsitzender und steht zur Wahl
herren vor keiner nachträglich in Kenntnis
gesetzten Öffentlichkeit noch vor einem
Prozess fürchten.
Der Kahlschlagkapitalismus mit seinen
Unrechtsanwälten ist gemeingefährlich
– aber nicht allmächtig. Das zeigen uns
Kolleginnen wie Ulrike Schramm de Robertis, die Lidl in die Knie gezwungen
und es mit Unterstützung von ver.di geschafft hat, einen Betriebsrat zu gründen.
In meinem Buch Aus der schönen neuen
Welt erzähle ich die Geschichte vom Psychokrieg bei der Volksbank Ludwigsburg.
Die dortige ebenfalls hoch angesehene
Betriebsratsvorsitzende – auch sie sollte
ein Opfer der Unrechtsanwälte werden
– wurde kurz vor Ende des Konflikts unangefochten wieder gewählt. Da flog
der Anwalts-Rammbock Helmut Naujoks
endlich in hohem Bogen aus der Bank.
Der Vorstand hatte begriffen, dass dessen Kriegermentalität den ganzen Betrieb
zu vergiften drohte und sogar das Betriebsergebnis schmälerte. Auf verbrannter Erde sprießen keine Arbeitsfreude
und auch kein Gewinn.
die spielregeln
seite 3
gewerkschaft
gesellschaft
spezial reisen
Im Westen was Altes In Aachen, Düren
und Stolberg engagieren sich ver.dianer gegen
Rechte
seite 6
Am Anfang steht d ie Redefrei heit In
Banda Aceh haben sich nach dem Tsunami freie
Gewerkschaften entwickelt
seiten 12+13
Wandern Sie mal wieder Wissen Sie
Von Luft und Licht Dem Drogeriediscounter
Es fehlt noch was Der 26. März 2010 ist der
Schlecker geht es so schlecht, dass er uneingeschränkt mit ver.di über einen neuen Tarifvertrag
verhandeln will
seite 4+5
Testfall Griechenland
Equal Pay Day. Auch in diesem Jahr werden Frauen
in ganz Deutschland wieder gleiches Geld für
gleichwertige Arbeit fordern
seite 9
schon, was Sie dieses Jahr im Urlaub machen?
Nein? Wir haben uns gedacht, warum mal nicht
wieder wandern gehen? Wandern entschleunigt,
setzt Zeit und Raum wieder in ein messbares
Verhältnis, und manchmal muss man nur vor die
Haustür treten und losgehen. Wandern Sie mit uns
durch Deutschland
seiten r1–r8
Die Griechen erleben als Erste in Europa, welche Einschnitte der Krise jetzt folgen
seite 8
F OTO S : H E N D R I K WA R D E N G A ; J Ü R G E N LÖ S E L ; A N D R E A S P Ö C K I N G ; R O L A N D G E I S H E I M E R / ATT E N Z I O N E ; M U R AT T Ü R E M I S ; G E R H A R D F I T Z T H U M ; A F P / G E TTY I M AG E S
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