Kaisei Hôgo
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Kaisei Hôgo
Kaisei Hôgo von Hisamatsu Fûyô Dieser Aufsatz wurde von Hisamatsu Fûyô im Jahre 1838 geschrieben. Er war überliefert in einer Abschrift seines Schülers Yoshida Itchô. Der Titel bedeutet „Predigt von der Stille des Meeres“. Die Übersetzung stammt von Dr. Andreas Gutzwiller und ist seinem Buch „Die Shakuhachi der KinkoSchule“ („Studien zur traditionellen Musik Japans“ Band 5, Bärenreiter, Kassel 1983) entnommen. Für die Erlaubnis, diesen Text zu publizieren, sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt. Der wahrhaftige Geist richtet zwischen Vergangenheit und Gegenwart keine Schranken auf. Der unwahrhaftige Geist unterteilt alles in fusslange Abschnitte1. Der andächtig Lauschende hört am Kreuzweg den lang nachhallenden Ton der Handglocke des Gründers Fuke2. Die Gebräuche der Fuke-Sekt haben sich in den ungefähr eintausend Jahren, die seit ihrer Gründung vergangen sind3, sehr verändert. Vor allem hat ihre lange Verbindung mit Militärischem den Glauben geschwächt4. Ach, kann man, wenn man sich mit Waffen beschäftigt, die Gesetze des buddhismus befolgen und shugyô betreiben? Zum Glück ist die Doktrin der Fuke-Sekte nicht zugrunde gegangen, sondern hat sich, dank des ungefähr zweihundert Jahre währenden Friedens5 erhalten. Allerdings gibt es keine echten Meister mehr, und es gibt auch keinen, der den richtigen Weg weist. Nur in der Beschimpfung der Geduld sind die falschen meister kunstfertig, und es herrscht hauptsächlich die Borniertheit des Eigendünkels. Dadurch haben sie den Rang der Shakuhachi als eines Werkzeug des Glaubens6 erniedrigt und den buddhistischen Geist zum Erlöschen gebracht. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Kriegsleute ihre Natur nicht verleugnen können. Durch ihren schlechten Einfluss ist die Absicht des Gründers fuke verfälscht worden. Den Edelstein seiner Lehre haben sie genommen und ihn wie ein Fischauge7 weggeworfen. Sie besitzen zwar das Juwel, aber wie einen schmutzigen8 Kieselstein lassen sie es unbeachtet liegen. Wahrlich, gross sind die Vergehen der falschen Meister! Wahrlich, schmerzlich ist die Verblendung ihrer Schüler! Sie merken nicht, dass sie sich zusammen im Irrtum falscher Ich-Bezogenheit befinden, und indem sie nach Gewinn und Wohlergehen streben, gehen sie doppelt in die Irre. Nach und nach jedoch erinnern sie sich daran, dass die Shakuhachi ein Werkzeug des 1 Die Übersetzung dieser beiden ersten Sätze ist ein Versuch. Diese ersten drei Sätze bilden eine Einleitung zum Hauptteil des Aufsatzes. 3 Fuke soll um 845 u. Z. Gestorben sein. 4 Die Mitgliedschaft in der Fuke-Sekte war de jure auf Mitglieder der bushi-Klasse beschränkt. 5 Gemeint ist die Edo-Zeit. 6 Hôki. 7 Dies bezieht sich auf das chinesische Sprichwort „einen Edelstein für ein Fischauge halten“, das heisst, den Wert einer Sache nicht erkennen. 8 In der japanischen Textvorlage ist an zwei Stellen ein Quadreat als Zeichen für ein in der Handschrift nicht lesbares kanji angebracht. Ich danke Herrn Ichikawa Motoo für den Hinweis, dass Kurihara möglicherweise die fehlenden Zeichen durchaus hat lesen können, es aber aus Prüderie vorgezogen haben könnte, sie nicht widerzugeben. An beiden Stellen wären kräftige oder gar obszöne Ausdrücke möglich. Fûyô ist auch sonst in diesem Aufsatz nicht zimperlich. 2 glaubens ist. Jetzt plötzlich schämen sie sich über die Ungerechtigkeit, die sie dem Gründer Kinko widerfahren liessen. Ist es nicht in Wahrheit, als wenn man zwischen Tonscherben ein Juwel entdeckt? Noch allerdings hat das erneute Studium der wahren Lehre keine Früchte hervorgebracht. Kinko I selbst konnte die wahre Lehre nicht genügend verbreiten, da ihm nur begrenzte Wirkungszeit übrig war9. Er bat seine Nachfolger, dies zu tun, aber es gab wenige gute Schüler. Mit dem Gedanken der Wehmut liess er diese Bitte zurück, als er starb. Ach, trauert! Zu dieser Zeit hat Nyodô10 die Gelegenheit ergriffen und die Leute verwirrt. Er plünderte den Namen des Meisters und brachte in hinterlistiger Absicht wilde Gerüchte in Umlauf. Zu den alten Irrtümern fügte er noch den neuen schweren Fehler hinzu, sich an grossen Reichtümern zu erfreuen. Wie fliegen vom Gestank angezogen werden, so versammelten sich viele Leute um ihn. Sie glichen einer Familie, die vergiftet und von einer schweren Krankheit heimgesucht ist. Ihren grossen Sünden konnten sie zuletzt nicht entgehen und wie fliehende Ratten zogen sie sich aus dem Kreis der Fuke-Sekte zurück. Aber auch heute noch gibt es viele, die sich von dem übriggebliebenen Gift noch nicht erholt haben. Früher verhielten sie sich zur wahren Lehre wie Fische, die in einer schmutzigen Bucht leben und reines, fliessendes Wasser nicht kennen. Wie Insekten aber, die im dichten Gras sitzen und das offene Land suchen, so gibt es jetzt einige, die die Wahrheit suchen aber noch nicht erkennen. Es denen zu erklären ist nicht schwer. Jedoch ist es nicht leicht, die zu ermahnen, die die Wahrheit nicht suchen. Lasst es uns also denen darlegen, die es noch nicht wissen; und soll man es nicht auch denen erklären, die die Wahrheit schon suchen? Ich habe dies zwar früher in Hitori Mondô schon einmal getan. Von den dort behandelten Problemen11 haben die Leute aber in den seither vergangenen 20 Jahren12 von zehn weniger als zwei oder drei verstanden, obwohl es nach und nach vielleicht die Hälfte geworden sein mögen. Ach, wenige verstehen das shugyô des Weges! Ach, schwer ist es auszuwählen, was zum Erreichen des Ziels notwendig ist! Der Erfolg von shugyô hängt in Wahrheit nur vom Geist und vom Atem ab. Wenn der Geist erleuchtet wird, wird der Atem Geist. Ist der Geist unbewegt, wird der Atem vollendet. Das bedeutet es, vollständig in Zen einzutreten. Weiter: was Erleuchtung betrifft, so ist ihre voraussetzung, dass der Geist im Körper wohnt, ebenso wie ein Ton entsteht, wenn der Atem sich in der Fom sammelt13. Shakuhachi ist Körper-Form, und deswegen sammelt sich der geistige Atem in ihr. Wahrlich, wie soll da die Wahrheit nicht erscheinen? 9 Kinko I hat erst drei Jahre vor seinem Tod die Leitung der Shakuhachi-Schulen der beiden Haupttempel der FukeSekte in Edo übernommen, obwohl er schon vorher dort tätig war. 10 Yamada Benzô. Die Angriffe gegen ihn sind heute nicht mehr verständlich. Vermutlich war er ein Popularisierer der Shakuhachi, der es zu einigem Erfolg und Reichtum gebracht hatte. Besonders letzteres scheint ihm den Zorn Fûyôs zugezogen zu haben. 11 Mondô. 12 Hitori Mondô wurde 1823 geschrieben; es waren seither also erst 15 Jahre vergangen. 13 Die Übersetzung deses Satzes ist ein Versuch. Ein Druckfehler ist nicht auszuschliessen. Die beiden Sätze sind parallel konstruiert: „Geist, der im Körper wohnt, ist ki; Atem, der in Form einfliesst, ist Ton.“ In der Übersetzung wurde das kanji ki in seiner Nebenbedeutung kongen als „Grund, Ursache, Voraussetzung“ interpretiert und auf beide Satzteile bezogen. An der Argumentation des ganzen Abschnitts ändert sich wenig. Wenn der geistige Atem aufsteigt, brechen die zehntausend Krankheiten nicht aus. Wer aber den geistigen Atem aufsteigen lassen will, muss sich zuvor vom Gift befreien. Wer sich vom Gift befreien will, darf die Schwindelanfälle, die vom Gegengift herrühren, nicht fürchten. Schrecke nicht zurück vor dem schmutzigen Ton, der entsteht, wenn der Grosse Bambus geblasen wird. Dieser Ton ist wie ein starkes Brechmittel, das den bösen Schleim heraustreibt. Wenn jemand diese Kur durchgemacht hat, dann allerdings wird er gänzlich auf die Stufe gelangen, wo es keine Krankheit gibt. Wer so gesund geworden ist, kann auch den geistigen Atem erscheinen lassen. Wer aber den geistigen Atem wirklich erscheinen lässt, erreicht auch die Stufe des wahren Tons14. Zweifle nicht! Der am meisten Entschlossene fürchtet die Schwindelanfälle nicht und erreicht nach langem shugyô den wahren Weg. Für den weniger Entschlossenen, der die bitteren Schwierigkeiten der Kur fürchtet und die Medizin nicht nimmt, ist es schwierig, den falschen Weg zu vermeiden. Der Unentschlossene aber, der von den Härten der Kur erfährt, und sich davor fürchtend die Medizin nicht nimmt, ist einer, der den Kleinen Bambus15 liebt. So einer behandelt den geistigen Atem selbstgefällig. Er spielt nur mit dem Weg und bringt einen Ton hervor wie absurdes Geplapper16. So jemand ist ein ehrloser Mensch und jemand, der nur Verblendung sieht. Halte mit so einem keinen Verkehr! Der Schwere Weg17 der Entbehrungen ist die Voraussetzung, den rechten Weg zu gewinnen. Die den Leichten Weg18 gehen sind Abkömmlinge eines bösen Geistes. Die sich auf dem Schweren Weg befinden vergessen, wie schwierig es ist. Die sich jedoch auf dem Leichten Weg befinden vergessen sogar noch, wie leicht er ist. Die Lösung ist nicht im realitätsbezogenen Geist19, jedoch erstreben sie nicht, sie von der Realität zu lösen20. Kein Streben unendliches Gehen kein Anhalten kein Ziel Werde wie die Stille des Meeres! Dass, wie ich oben gesagt habe, die Shakuhachi ein Werkzeug des Zen ist, war verschiedenen Zweigen des Zen bekannt. Aber die Lehren der verschiedenen Richtungen haben sich davon entfernt, und da die Sutren nicht übermässig verehrt und Schriften wenig studiert werden, muss man die Art, in der die Shakuhachi ein Wergzeug des Zen ist, von den Begriffen mui21 und kisoku22 her erklären. Deshalb muss man die Worte Fukes, „morgen ist ein geistliches Fest im Daihiin“ gut studieren23. 14 Tettei no oto. Im Gegensatz zum oben erwähnten Grossen Bambus, dessen Blasen ein Teil der „Kur“ ist. 16 Fûyô verwendet hier vier selbsterfundene Schriftzeichen. Druckfehler sind auszuschliessen, da Kuriharas Drucker mindestens zwei dieser Zeichen durch Aufspaltung anderer Standardtypen hergestellt hat. Alle vier Zeichen sind offenbar mit Absicht unverständlich, haben jedoch die Wurzel gonben (Rede), weswegen sie hier mit „absurdes Geplapper“ wiedergegeben werden. Eine radikalere Übersetzung wäre etwa „Blablabla“. 17 Nangyô. 18 Igyô. 19 Ushin im Gegensatz zu mushin. 20 Mushin. In der Übersetzung ist deiser Satz auf den vorigen bezogen, das heisst „die sich auf dem Leichten Weg befinden“ wurde zum Subjekt gemacht. Es ist jedoch auch möglich, den Satz als allgemeine Aussage ohne bestimmtes Subjekt aufzufassen, ähnlich wie die folgenden. 21 Das Prinzip der Inaktivität, oder besser der nicht zweckgerichteten Aktivität. 22 Geistiger Atem. 23 Dies ist die Antwort, die Fuke dem von Rinzai ausgeschickten Mönch gab, der die Tiefe seines Verständnisses vom Zen testen sollte. 15 Oben habe ich gesagt, dass die Krieger ihre Natur nicht verleugnen können. Sie fürchten zwar den Tod nicht, noch hängen sie am Leben. Wenn aber unheilbringende Wolken aufziehen, zertreten sie sie, und wenn böser Wind aufkommt, zerschmettern sie ihn24. Vor den Härten des Schweren Weges darf man sich jedoch nicht zurückziehen. Dann wird man erkennen, dass auch auf das Bild der zertretenen Wolke die Worte Fukes „HellDunkel-Schlagen“ anzuwenden sind25. Der Bambus-Weg ist in China begründet worden und später in unser Land gekommen. Wer jetzt den Gründer Fuke verstehen und die Wahrheit erstreben will, kann den BambusWeg nicht mehr verstehen. Was soll man aber tun, um ihn dennoch zu erkennen? Es gibt nur sehr wenig wahre Schriften und nicht ein einziges erleuchtendes Wort. Die folgenden zwei Sprüche zum Beispiel, „In den drei Existenzen26 ist alles eine Artikulation des Unendlichen und Wunderbaren“, und „Die Stimme der Ethik der Kriegerklasse27 ist Ausdruck der fünf Elemente28 und der fünf Tugenden29“ sind gänzlich Illusionen des yûi30. Sie sind Verdrehungen und Fälschungen und erklären nichts. Durch sie wird man nicht einmal ein klein wenig verständnisvoller. Aber nicht wenige Mitglieder der Fuke-Sekte lieben solche Sprüche und betreiben deshalb kein shugyô. Heute ist zwar das Ende der Zeit erreicht31, die Lehre des Gründers Fuke und der von ihm überlieferte Weg aber müssen gross und bedeutend werden. Soku32! Tiefsinnige Sprüche sind nichts als viele Worte und falsche Töne33. Wie das Geheul von zehntausend Hunden klingt das Blasen. Dem Regen des Hell-Dunkle kann man in keine Höhle entfliehen. Wer versteht den unerschrockenen Gründer Fuke vollständig34? Im ersten Monat des Jahres Tenpô 9 (1838) Chikuin Fûyô35 Sei 24 Diese Stelle bedeutet wohl, dass die Krieger allen auftauchenden Schwierigkeiten gegenüber zu gewalttätigen und somit absurden „Lösungen“ neigen; sie „zertreten Wolken“ und „zerschmetternWind“. 25 Dies bedeutet wohl, dass auch in der „zertretenen Wolke“, das heisst den falsch, weil gewalttätig gelösten Problemen der dualistische Widerspruch der Realität („Hell-Dunkel“) unaufgelöst enthalten ist. Weiter unten bezeichnet Fûyô diesen Widerspruch als „den Regen von Hell-Dunkel, dem man (...) nicht entfliehen kann. Die Worte „Hell-Dunkel-Schlagen“ entstammen einem von Fuke überlieferten Spruch. 26 Zu diesem Begriff siehe Hitori Mondô. 27 Budô, auch bushido, „Weg des Kriegers“ oder Klassenethik der Krieger (Samurai). Es ist möglich, dass mit dem Ausdruck budo onsei („Stimme der Ethik der Kriegerklasse“) die Shakuhachi gemeint ist, da deren Spielen ursprünglich auf Mitglieder dieser Klasse beschränkt war. 28 Holz, Feuer, Wasser, Erde, Metall. 29 Gerechtigkeit, Höflichkeit, Weisheit, Treue, Güte. 30 Yûi ist der Gegenbegriff zum oben erwähnten mui, das Prinzip des absichtsvollen Handelns. Die beiden Sprüche werden also charakterisiert als Illusionen der Welt des absichtsvollen, zielgerichteten Handelns. 31 Vgl. die ähnliche Schlussbemerkung in Hitori Kotoba. 32 Fûyô benutz hier offenbar soku, „Atem“, als abschliessenden Ausruf in ähnlicher Art wie Rinzais katsu. 33 Die Übersetzung dieses Satzes ist ein Versuch. 34 Den Abschluss dieses Aufsatzes bilden diese vier Verse im chinesischen Stil, die aus jeweils sieben Schriftzeichen bestehen. 35 Chikuin fûyô kann auch gelesen werden „der Bambus ist yin, der Wind ist yang“.