Bewundern? Muss man immer das Andere.

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Bewundern? Muss man immer das Andere.
Bewundern? Muss man immer das Andere.
Thomas Meinecke und Klaus Walter diggen (nicht) im Ungefähren
Klaus Walter:
Meine Vorlage wäre ein Nachdenken über kindliche Formen der
Bewunderung. Ein Foto des verschwitzten Paul McCartney, das mich als 9Jähriger, wie ich heute weiß, auch sexuell angeregt hat. Die große
Bewunderung für den Fußballer Stan Libuda, die mit seinem unmännlichmelodischen Nachnamen zu tun hat, aber vor allem mit seinen Dribblings.
Dribblings, die bejubelt wurden, wenn sie gelangen. Die aber als brotlose
Kunst eines unreif-verspielten Kindes verurteilt wurden, wenn sie nicht
gelangen. Beide Bewunderungsszenen spielten im Grenzbereich zwischen
homosozial und homosexuell - natürlich ohne das zu wissen bzw. Worte
dafür zu haben.
Die Frage wäre: wie wirken diese Urszenen der kindlichen
Bewunderung bis heute nach. Verläuft Bewunderung bis heute nach solchen
Mustern, ist das die Matrix der Bewunderung? Dessen, was wir später Fan
sein nennen, weshalb wir bis heute Fan sein verteidigen gegen nicht mehr
Fan sein wollen/können, weil sich das mit dem Erwachsenwerden erledigt. So
etwa.
Thomas Meinecke:
Ich hab ja den Sprung vom Homosozialen zum Homosexuellen nie vollzogen.
Daher wahrscheinlich meine heutige größte Bewunderung kultureller
Errungenschaften aus dem sexuell andersdenkenden, sprich: schwulen
Untergrund. Obwohl: 'sexuell andersdenkend' würde ich für mich auf jeden
Fall auch reklamieren, das kommt aber sehr stark eher über die Schule der
Frauen, Feminismus sozusagen, mit dem ich meine eher emotionale Affinität
für Camp untermauern konnte. Wie auch immer, ich erinnere mich natürlich
auch in erster Linie an Schallplattenhüllen, wenn ich an frühe Momente der
Bewunderung denke. Singles-Hüllen von den Grabbeltischen (!), weil ich mir
von meinem Taschengeld nur von anderen missachtete Ausschussware - für 1
Mark leisten konnte. Das waren dann teilweise Popsängerinnen im
fortgeschrittenen Alter von - sagen wir mal - 30 Jahren, die mich auch
irritierten, wie sie da mit einem Telefon auf einer sogenannten Tagesdecke
lagen. Bewundert im eigentlichen Sinn habe ich diese weiblichen Figuren
sowieso nie, eher begehrt. Bewundert dann wahrscheinlich doch eher in
Frage kommende Role-models, also Männer.
Da ich bis mitten in die Pubertät rein in der Regel für ein Mädchen gehalten
wurde, was ich als bedrohlich fand, bewunderte ich so Hippie-Gestalten mit
Rauschebärten, virile Kapitänsgesichter wie in The Band. So wollte ich mal
werden. Und meine Eltern hatten mich deswegen auch in einen Ruderclub
gesteckt. Aber als 10- bis 14-jährigem hatten mir auch effeminierte CarnabyStreet-Stereotypen als Vorbild gedient. Heute haben ja auch Vollbärte eine
irgendwie feminine Qualität.
KW:
Kann man als kleiner Junge überhaupt Frauen bewundern? Ich meine vor der
Pubertät? In meiner Kindheit war das glaube ich nicht möglich. Da habe ich
durchweg Männer bewundert, eindeutig andere Männer waren als mein Vater.
Also uneindeutige Männer. Aber auch keine Hippie-Gestalten mit
Rauschebärten, die gab´s noch nicht, als ich 8, 9, 10 war. Und ich erinnere
mich sehr genau, wie mich die virilen Kapitänsgesichter von The Band irritiert
haben, auf dem Cover mit den Brauntönen, als kämen sie direkt aus dem
amerikanischen Bürgerkrieg, erwachsene Männer mit dem Staub und Dreck
der Etappe in den Klamotten, bärtig nicht aus Hippiemotiven, viril bärtig,
Seemänner, Bauern, Krieger. In diesen Männern sah ich keine Hippies, keine
Bundesgenossen, die fand ich eher bedrohlich, Gesandte aus einer mir
unbekannten Welt, dem weird old America von Greil Marcus. Das, mit samt
der alten Folksongs, die sie beleihen, war mir eine Welt mit sieben Siegeln, zu
viele old folks, zu viel down home, ein old down home, das ich zu sehr mit
dem home meiner Vorstadtheimat in Verbindung bringen konnte, um es als
attraktive Option zu begreifen. Die sahen ja aus wie unser Förster, alte
Männer mit rauhen Manieren und kratzigen Bärten. Sollte Jahrzehnte dauern
bis ich The Band kapieren konnte – und ein wenig bewundern. Mit Dylan lief
das ganz anders. Den wollte ich bewundern, als ich die Fotos sah, 65, die
Englandtour muss das gewesen sein, Chelsea Boots, Pin Stripes, Sunglasses
after dark, Pünktchenhemd, afroesker Lockenkopf, 65/66 sieht Dylan aus wie
der Gegenentwurf zu The Band auf dem braunen Rootscover. GroßstadtDandy, androgyn, bartlos. Dieser Look hat den Zehnjährigen fasziniert, leider
konnte er ihn nicht mit Dylans Musik in Verbindung bringen. Die elektrische
Speedmusik zu Dylans Look 65 lief ja in keinem Radio. Wenn Dylan, dann
Blowing in the wind, und das konnte der Zehnjährige schon gar nicht mit
diesem supercoolen Typen verbinden.
Die Eine-Mark-Singles gabs bei mir auch, allerdings ohne Cover in einem
Elektrogeschäft. Meine wichtigste Quelle war aber das Radio. Und die Bravo.
Meistens las ich von neuer Musik in der Bravo, bevor ich sie im Radio hörte,
d.h., meist sah ich Fotos von neuen Bands/Acts in der Bravo, bevor ich sie im
Radio hörte. Wenn mir Fotos und Artikel gefielen, war ich fest gewillt, die
Musik gut zu finden, wenn sie mir denn mal begegnen würde. Eigentlich war
es gar nicht mehr so wichtig, die Musik tatsächlich zu hören. Mein Urteil
stand schon fest, die Kombination aus Wort und Bild in der Bravo genügte,
um mich ins Schwärmen zu bringen, ich hörte die Bilder, hörte, was ich hören
wollte. Und das Schwärmen wollte ich mir von den musikalischen Fakten
nicht verderben lassen. Kindlicher Widerstand gegen die normative Kraft des
Faktischen, väterlich Faktischen. Fluchtpunkt Pop. Zwischen ca 9 und ca 14
führte ich eine Art Poptagebuch. Da schrieb ich jeden neuen Song, der im
Radio lief, rein und gab ihm Noten, mal Schulnoten, mal Punkte von eins bis
zehn. Dann schrieb ich Charts mit, Radiohitparaden oder die amerikanischen
Top 10, wie sie im AFN präsentiert wurden. American Forces Network gilt
mein ewiger Dank, kurzgeschorene Soldaten in Uniform, die
antimilitaristische Langhaarigenmusik in mein Kinderzimmer senden, weil die
Top 10 ist, und mir dadurch eine kindliche antiamerikanisch-antikriegsantikapitalistische Prägung mitgeben, gute Weltprägung für einen 12-
Jährigen. Wer mit 12 kein Antiamerikaner ist, aus dem wird später nie ein
guter…(bitte einfügen, Herr M.)
Der Modus der Bewunderung ist der Modus des fanhaften Schwärmens, des
Imaginierens. In mein Poptagebuch schrieb ich auch meine eigenen Charts.
Wenn ich in der Bravo von einer neuen Platte meiner Lieblingsband Dave Dee,
Dozy, Beaky, Mick & Tich las, dann ging die sofort an die Spitze meiner
Charts. Dafür musste ich die selbstverständlich nicht gehört haben.
Um mal aus der Kindheit rauszukommen wäre die Fragen: wie viel von
diesem Modus des Schwärmens hat sich bis heute gehalten? Wieviel davon,
konservieren wir – ich meine jetzt tatsächlich du und ich in unseren
konkreten Praxen, Modi usw – wieviel fanhaftes Schwärmen konservieren wir
strategisch und taktisch, um uns von den frühvergreisten Act your ageNichtschwärmern abzugrenzen? Alterslose ever changing dudes – ist das ein
tragbares Modell? Kann ich meinem eigenen Schwärmen für Burial trauen?
Oder ist das strategische Bewunderung? Dubstep allein zu Haus, geht das?
Gerade ist Chilton gestorben und ich habe eine Sendung dazu gemacht, fast
nur Songs, die in der DNS Platz genommen haben. Ist nicht das das
Eigentliche? “I´m free again, to do what I want again, I´m free again, to sing
my song again.” Wie valid und sozialisierbar ist demgegenüber die
Bewunderung für Burial? Und wie geht das: Bewunderung für Burial? Anonyme
Bewunderung, Bewunderung des Anonymen? Bitte antworten.
TM:
Klar, stimmt, Frauen bewundern ist ganz schön komplex. Eigentlich ahmte
ich aber bereits diverse Züge meiner großen Jugendliebe nach (den
Kapitänsbart zu erlangen, habe ich nie wirklich probiert, bis heute überhaupt
nie versucht, mir auch nur Koteletten wachsen zu lassen). Seit fünfzehn
Jahren bewundere ich glamouröse Wissenschaftlerinnen wie Silvia
Bovenschen, Judith Butler, Barbara Vinken. Auch Elfriede Jelinek zu
bewundern, fällt mir leicht. Wahrscheinlich habe ich auch als Jugendlicher
schon sogenannte komplizierte Frauen wie Anaïs Nin (über die ich bei Henry
Miller las, dessen enigmatische Frau June in meinem Jugendzimmer neben
dem Poster Bix Beiderbeckes hing) bewundert. Als männliche Vorbilder
hätten da wahrscheinlich nur schwule Hysteriker zur Verfügung gestanden.
Vor diese Wahl gestellt, entschied ich mich eher für das Vorbild
heterosexuelle Frau (anstatt homosexueller Mann): Mann, ist das kompliziert!
Meine große Jugendliebe war auch kompliziert. Sie las D.H. Lawrence, und
der verehrte genau solch komplizierte Frauen. Die Sprunghaftigkeit dieser
Frauen war mir vorbildlich. (Helene Cixous schrieb in ihren Untersuchungen
über das sogenannte weibliche Schreiben, D.H. Lawrence habe den ersten
authentisch weiblichen Orgasmus zu Papier gebracht. Irre…)
British Sector, Hamburg: Die Mods am Mönckebergbrunnen (die die bei
Hubert Fichte beschriebenen Gammler ablösten) waren für mich Role-Models
(und zwar beiderlei Geschlechts). Die Hippies nicht mehr. Erst wieder Poser
wie Bryan Ferry, James Osterberg, James Chance.
Dann fallen mir konkrete männliche Vorbilder aus den letzten Schuljahren
ein: Poeten, Schriftsteller, Filmemacher, RAF-Chauffeure, Drogenhändler aus
einem subkulturellen Café in Hamburg („Kaffeestube“). Ich saß dort, las
Rimbaud und Stirner, beäugte diese rund zehn Jahre älteren Heroen, die eine
Zeitschrift namens „Boa Vista“ herausgaben: Bernd Cailloux (erst zehn Jahre
später als Suhrkamp-Kollegen kennengelernt), Kiev Stingl (damals eine Art
Patti Smith, mit dem jungen Holger Hiller an der Geige, heute Faschismusaffiner Barde), usw. Später, als ich mein eigenes Magazin und meine eigene
Band hatte, sah ich sie in Hilka Nordhausens „Buchhandlung Welt“ wieder.
Waren also schon die Richtigen gewesen. Bix war ja schon 1931 gestorben.
Darüber wirst du wieder schmunzeln, Klaus, daß ich einen scheuen
Kornettisten des frühen (Modern) Jazz an meiner Wand hängen hatte. (Poster
auf dem Boulevard St. Michel 1970 erworben.)
Dann lernte ich einen kennen, der mal bei Peter Zadek in Bochum eine
Nebenrolle hatte spielen dürfen. Grenzenlose Bewunderung.
Noch heute ist das Fan-sein das Größte am Genuss von Pop, finde ich. Ich bin
Fan von Jens Friebe und Scott Matthew, zum Beispiel. Ich kaufe mir in der
Drogerie jede neue CD von Shakira und Mariah Carey, weil ich jedes Mal
etwas Großes, Unerhörtes, eine Überraschung, erwarte. Von Kode 9, Georgia
Anne Muldrow oder Flying Lotus natürlich auch. Von Timmy Regisford, selbst
von Jerome Sydenham wird jede 12-inch gecheckt. Von Timbaland nicht
mehr, hat aber viele Jahre Spaß gemacht, die fortgeschrittenste Baustelle des
Pop inmitten der Hitparaden entdecken zu können. Ich war erleichtert, als
mir die CD von Delphic gefiel. Ich sehe es oft als eigenes Versagen an, wenn
mir etwas nicht liegt. Wenn das mal weg sein sollte, kann ich mich gleich der
Zeitlosigkeit, dem bekannten Rückzug auf die sogenannte Avantgarde, der
zur Zeit forcierten angeblichen Fusion von Klassik und Club (wer hat die
eigentlich heraufbeschworen?) widmen.
KW:
Du schreibst: „Ich sehe es oft als eigenes Versagen an, wenn mir etwas nicht
liegt.“
Resultiert daraus nicht auch die Bereitschaft zur Selbsttäuschung? Dass man
sich selbst dazu überredet, etwas gut zu finden, zu bewundern, damit bloß
nicht die Fähigkeit zur Bewunderung verschwindet und mit ihr eine
Daseinsberechtigung im Universum Pop? Ich sehe es bis heute als eigenes
Versagen an, dass ich Jazz nicht verstehe. Meine Bewunderung für Ayler oder
Mingus kommt nicht vom Hören, sie kommt vom Lesen. Die Lektüre kluger
Texte über Ayler und Mingus bringt mich regelmäßig dazu, es noch mal mit
der Musik zu versuchen. An der ich regelmäßig scheitere. Dann beschließe
ich, Ayler und Mingus und all die anderen weiterhin zu bewundern, ohne ihre
Musik zu verstehen. Also verstehen, wie ich einen Popsong der Box Tops seit
vierzig Jahren verstehe, oder einen Dancehall-Hit von Cutty Ranks oder Lady
Saw. Da brauche ich keine Selbsttäuschung, das klappt sofort. Allerdings ist
da weniger Bewunderung im Spiel, im Sinne von: zu jemandem aufschauen.
Da kommt, lieber Thomas, wieder die Klassenfrage ins Spiel. Wenn ich sage,
dass ich Jazz nicht verstehe ist das – unter anderem – auch ein Kokettieren
mit der nicht vorhandenen musikalischen, überhaupt kulturellen,
Frühausbildung im kleinbürgerlich/proletarischen Elternhaus. Da gabs keine
Musik, außer aus dem Radio. Bix Beiderbecke ist mir nicht begegnet. Ravel
und Mussorgsky ebensowenig. Bis heute nur in Gestalt der Craig/von OswaldRekonstruktionen im Deutschen Grammophon-Paket, ein Eckpunkt der ClubKlassik-Fusion, die du ansprichst. Wenn ich den hohen Ton höre/lese, mit der
diese Fusion wie auf Kommando von allen Seiten gepriesen wird, dann kann
ich auf der Stelle zum trotzigen Frühteenager werden, der sein Leben lang
Box Tops hört. Und Grassroots, Classics IV, Blue Eyed Bubblegum Soul vom
amerikanischen Fließband. Gehört im amerikanischen Soldatenradio
(Besatzerradio). Wenig später kommt aus dem selben Radio weniger
fließbandhafte Musik mit anderen Texten aus Amerika, die den Jugendlichen
lehrt, das Fließband mit samt dem Kapitalismus, für das es rollt und den
Waren, die es produziert, abzulehnen. Amerikanische Popware macht den 12Jährigen zum Antiamerikaner, weil es ja irgendwie eindeutig sein muss. Dem
12-Jährigen wird eine Dichotomie implementiert, die - als Struktur – für
Jahrzehnte Bestand haben wird: kommerziell vs. progressiv. Kommerziell ist
Bubblegum, Country, Bacharach –AOR und vor allem: Soul, Motown
insbesondere. Progressiv ist: Doors, Steppenwolf, Iron Butterfly, Buffalo
Springfield. Beide Strömungen koexistieren im Top 40-Radio von AFN.
Weshalb ich jeden Hit der Supremes, Four Tops, Temptations, Stevie Wonders
und Marvin Gayes aus 65-69 wirklich in- und auswendig kenne, ebenso jedes
„Walk on by Raindrops keep falling on my head I´ll never fall in love again.“
Und hasse, kommerzielle Scheiße, amerikaunkritisch. So, und jetzt zurück
zur Bewunderung und zum Ende des jugendlichen Antiamerikanismus. Soul
und Bacharach sind via AFN implementiert, eingebrannt lebenslang, aber
negativ besetzt. Es braucht eine Bewunderungs/Fan-Struktur, um mir meine
Liebe zu dieser Musik zu gestatten. Über Punk, Modpunk, The Jam und
Costello fange ich wieder an, Musik zu hören. Die beziehen sich positiv auf
Stax, Motown usw. und geben mir die Erlaubnis, das gut zu finden. Zu
bewundern, zu welchen Leistungen die Fließbandproduktion von Berry
Gordys Firma fähig war. Black Capitalism par excellence. Trotzdem komisch,
dass auch der junge Erwachsene Idole braucht, die es ihm ermöglichen, das
Verdrängte und Geächtete zuzulassen. Autoritäre Struktur. Just my
imagination.
TM:
Gar nicht so einfach zu beantworten, die sogenannte Klassenfrage. Meine
Eltern hatten noch kein Auto, waren eher ein Studentenhaushalt, eine WG
eigentlich, und arbeiteten zum Beispiel nachts in Fabriken, als sie meinem
kleinkindlichen Gemüt Cool Jazz einflößten - was mich wahrscheinlich für die
Signale von Mingus und Ayler, die ich mir beide erst viel später selbst
erarbeiten musste, empfänglich machte. Einen Fernseher hatten wir erst, als
ich bereits Jugendlicher war - und mich mein Vater in das legendäre Konzert
von Thelonious Monk in die Hamburger Musikhalle mitnahm (das mein
Leben, meine Wahrnehmung bis heute prägen sollte). Jazz zu verstehen, ist ja
ein komplexer, aber eben gar nicht bürgerlicher Bildung, sondern eher einem
non-verbalen, nicht-akademischen Verstehen (to dig!) verpflichteter Prozess.
Als ich mein erstes Radiointerview in den frühen 1980er Jahren ausgerechnet
mit Sun Ra führte, hätte mir allenfalls die postkoloniale Sonic Fiction, wie ich
sie Jahrzehnte später bei Kodwo Eshun beschrieben fand, helfen können,
aber ich verstand (diggte) auch so auf Anhieb, dass dieser Mann auf dem
Saturn geboren war.
Ich denke auch nicht, dass in dem, was ich als Versagen vor dem Neuen
anzudeuten versuchte, eine Art Angst vor dem Alter(n) zu sehen ist, denn
solche Lernprozesse begleiten mich seit ich circa 15 Jahre alt bin. Darüber
konnte ich mich vor paar Jahren sogar in einem Gespräch mit dem viel
jüngeren Kollegen Benjamin von Stuckrad-Barre prima einigen: In was für eine
helle innere Aufregung einen die Begegnung mit dem Neuen, noch nicht
Verstandenen, versetzen kann. Und wie auch später die Begeisterung für das
nun Verstandene von einer Art Trauerarbeit um den dann verlorenen
Moment, wo einen der entsprechende Lärm zum ersten Mal getroffen hatte,
umflort wird. Die splitternde, non-musician-eske Gitarre bei den Velvets, Sun
Ra am Moog Synthesizer, die tausend Plateaus in frühen Roxy Music
Aufnahmen, Washing Machine von Larry Heard, die frühen Beats der
Neptunes. (Was du in Sachen Jazz beschreibst, kenne ich so eigentlich nur bei
Metal, leiste mir aber den Luxus, es dann eben auch wirklich eher nicht
mögen zu müssen.)
KW:
Heute geschrieben in einer Kritik des neuen Albums von Erykah Badu. Eine,
die man/ich bewundern möchte, seit ich sie kenne. Klappt aber nicht.
„Die wahrscheinlich letzte Hohepriesterin des Soul“ sei Badu, schreibt Tobias
Rapp im SPIEGEL. Und weist ihr eine herkulische Aufgabe zu:
zusammenzuhalten, was auseinanderfällt. Hier die schwarze Mittelschicht,
die nach Suburbia strebt, dort die schwarze Unterschicht, gefangen im Inner
City Blues, der heute Ellbogen & Revolver-HipHop heißt. Letzte Hohepriesterin.
Klingt gut. Aber stimmt das? Oder spricht hier der (weiße) Wunsch nach
legitimierten und verehrungswürdigen SprecherInnen eines besseren
schwarzen Amerika. Die Sehnsucht nach der „Miss Black America“, die Curtis
Mayfield 1970 besingt?
Auch das neue Album ist wieder so ein wahnsinnig kenntnisreicher,
bildungskanonischer, stilsicherer, in seinen bewusst gesetzten Sidesteps
bestechender Leistungsnachweis einer ganz besonderen Künstlerin.
Allerdings stellt sich die Frage: erreicht Erykah Badu mit ihrem abgehangenslicken, erinnerungsgesättigten Sound tatsächlich die realen, mentalen und
imaginären Inner Cities? Oder ist das nicht der nach höheren Weihen
strebende Soundtrack zum Black History Month, zur gepflegten Erinnerungsund Selbstermutigungsarbeit unter Afroamerikanern, die es einigermaßen
geschafft haben? Klar, Badu läßt uns baden in ihrer warmen Vielstimmigkeit,
in einem Jazz-Funk-Groove, der organisch genannt wird, in Abgrenzung zum
hektischen Geklöppel des Massen-R&B. Alles fein. Aber bin ich der Einzige, der
sich irgendwann sehnt nach dem bezwingend suggestiven „Lollipop“-Hook
eines delinquenten Lil´ Wayne, nach dem industriell gefertigten
Überwältigungsglamour einer Beyoncé? Danach, dass Erykah Badu endlich
einen Hit hat, der aus jedem Auto dröhnt?“
Zurück zur Konfrontation: die sogenannte Klassenfrage ist keine sogenannte,
das sagen nur diejenigen, die die Existenz einer Klassengesellschaft
dementieren. Zwischen Metal und Jazz liegen ja neben anderem auch
Klassen. Hat mir den Zugang zu Metal allerdings nicht erleichtert.
Diggen. Schöner Begriff, schöne Vorstellung. Aber braucht es zum
Diggenkönnen nicht ein entsprechendes Selbstbewusstsein
(Klassenbewusstsein?), das einem die Angst nimmt, das Falsche zu diggen?
Eine - komischerweise begegnet mir das Wort in letzter Zeit dauernd, dabei
gehörte es 50 Jahre lang nicht zu meinem Wortrepertoire – Herzensbildung?
Sun Ra diggen?
„…aber ich verstand (diggte) auch so auf Anhieb, daß dieser Mann auf dem
Saturn geboren war.“
Da wäre ich wieder skeptisch. Ist da nicht ein Konformismus des Diggens,
des Bewunderns, im Spiel, ein Konformismus, nach dem man sich darauf
einigt, dass Sun Ra so toll ist, weil er vom Saturn kommt. Und wo du Eshun
erwähnst. Die allgemeine Bewunderung für sein Buch war mir auch suspekt,
obwohl ich ihn immer gegen Faktizisten- und Down to Earth-Spießer
verteidigt habe. Die Eshun-Verehrung hatte etwas Religiöses und dabei sich
ehrgeizig nach der Decke – dem Himmel, der Sonne – streckendes, eine
prästabilierte Harmonie der Eshun-Bewunderung, aus der nie Kontroverse,
Debatte oder sowas resultierte, immer nur raunende Zustimmung. Diggen im
Ungefähren. Das muss man genauso kritisieren wie die Kritik am Fansein von
Leuten, die für sich in Anspruch nehmen, aus dem Fanalter raus zu sein und
mit einer habituellen Äquidistanz zu allem und jedem durch die Welt zu
laufen. Und das für erwachsen halten. The dialektik, stupid. Bewundern?
Muss man immer das Andere.
TM:
Diggen im Ungefähren: mein Ding! (Kodwo Eshun ist ja auch ein
Abtastsystem, ein Tonabnehmer, für jedes Wummern in der Rille erst mal
empfänglich. Das ist mir sympathisch, - auch wenn ich seine Rückschlüsse
überwiegend gar nicht teile.)
Natürlich ist der Klassenunterschied ein sogenannter, - sonst gelangte man ja
nie zur politischen Praxis! Wohingegen der Unterschied von Metal und Jazz
mir geradezu essentiell zu sein scheint (um hier mal mein eigenes antiessentialistisches Credo kurz kokett zu unterlaufen, aber diese frisch
gebadeten, frisch geföhnten, schlecht geschminkten maskulinen MetalModelle einer feindlichen Übernahme sogenannter Weiblichkeit haben mich
stets eher abgestoßen).
Dein Zitat deiner eigenen Worte über Erykah Badu habe ich nur ungern
überflogen. Verrückterweise beschreibst du ihre Aficionados quasi im
Umkehrschluss deines einfach nicht eingetretenen Verständnisses dieser
super-komplexen Künstlerin (die ihre Schönheit im Booklet zur CD als
Hässlichkeit zu beschreiben versteht). Ich hab sie von Anfang an gemocht,
und ich habe auch schon an US-amerikanischen Kreuzungen, an roten
Ampeln, die Beats und Bässe ihrer Musik unter Sitzbänken von Jeeps dröhnen
gehört. Ist das nicht – ähem – auch rassistisch, dass Afroamerikaner immer
street zu sein haben?
(Ich weiß schon, in amerikanischen Holzwohnungen kann man nicht laut
drehen.) Ihre Produzenten sind doch auch gebildet: Georgia Anne Muldrow,
Shafiq Husayn, Madlib… I beg your pardon, Klaus!
Eine Frage, die mir beim Überfliegen unseres Wortwechsels noch kam:
Bewundern (emulieren) Drag Kings eigentlich sogenannte Männlichkeit? (Aber
ich muss jetzt schließen, nämlich abreisen, und danach ist die Opak-Deadline
bereits überschritten. - Wir könnten ja in der nächsten Nummer weiter
plänkeln.)
KW:
P.S. Kein Pardon. Mochte Badu auch sofort, das steht auch im Text. Nicht im
Text steht die in der Tat rassistische Forderung, dass Afroamerikaner „street“
zu sein haben. Ich sprach lediglich von der Sehnsucht nach dem Hit, dem
welteinenden, universalistischen Hit, as in Motown 1968. Naiv, klar. Von
wegen street: im neuen Video läuft Badu über genau jene Straßen von Dallas,
die JFK 1963 passierte, bevor er erschossen wurde. Dabei zieht sie sich nach
und nach aus und wird schließlich an der JFK-Stelle erschossen. Meine
Bewunderung.
Thomas Meineck ist gebürtiger Hamburger. Der seit 1977 in München lebende
Autor ist außerdem Musiker in der 1980 von ihm mitgegründeten Band
Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) und Radio-DJ beim Zündfunk (BR 2).
Derzeit arbeitet er BLINDTEXTBLINDTEXTBLINDTEXTBLINDTEXTBLINDTEXT
Klaus Walter lebt in Frankfurt/M. Schreibt zu Popkultur, Sport und Politik.
Von 1984 bis 2008 DJ der Sendung „Der Ball ist rund" im HR. Seit 2008
Mitarbeiter des Internetradios „byte.fm", das den Grimme Online Award 2009
erhielt.

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