Politische Aspekte im Film „City of God“
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Politische Aspekte im Film „City of God“
Qualitative Rezipienten-Analyse: Politische Aspekte im Film „City of God“ Michael Weidig, Felix Rehm, David Weishaar „Wenn du wegläufst, fangen sie dich, wenn du bleibst, fressen sie dich.“ Dieses Zitat gesprochen von der Erzählerstimme der Hauptfigur Buscapé gewährt einen ersten Eindruck von Problematiken in den Favelas Brasiliens. Fernando Meirelles zeigt eindrucksvoll in seinem Film „City of God“ das diffizile Aufwachsen in der Favela Cidade de Deus. In diesem Viertel haben die nationale Judikative und Exekutive keinen Einfluss mehr, dadurch entsteht eine eigenständige Gesellschaft, welche von Gewalt und Machtverlangen geprägt ist. Anlässlich des im SS13-WS13 angebotenen Lehrforschungsprojekts "Film, Politik und Gesellschaft" der Universität Siegen, beschäftigte sich unser Forschungsteam, anhand eines qualitativen, leitfadengeführten Gruppeninterviews mit der Zuschauerrezeption des Films. Das Gruppen-Interview beabsichtigt einen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die Frage, welche politischen Aspekte bei der Sichtung des Films „City of God“ von den Rezipienten wahrgenommen werden. Methodisch wurde wie folgt verfahren: Es wurden immer wieder Fragen zu Plot, Charakteren und bestimmten Szenen gestellt und wiederholend dazu aufgefordert zu beschreiben, was im Einzelnen vorging ("Zerdehnung des Augenblicks"). 1 „Stützt man sich bei der Analyse nur auf das Drehbuch oder auf die Film-Story, bleibt unberücksichtigt, dass der Zuschauer stets Teil der Szene ist. Er modifiziert die Story in einer charakteristischen Weise, er deutet um, übersieht und "vergisst" – entsprechend der Dynamik des psychologischen Prozesses.“2 Der Fokus der Analyse liegt darin, Eindrücke und Erkenntnisse bezüglich der Filmwahrnehmung der Rezipienten, herauszuarbeiten. Die Rezipienten sind fünf Studenten (zwei Frauen und drei Männer) der Universität Siegen im Alter von 20 bis 30 Jahren, da diese die hauptsächlichen Kinobesucher, laut einer Umfrage der Filmförderanstalt (FFA): „Die Kinobesucher 2011. Strukturen und Entwicklung auf der Basis des GFK-Panels“, gut widerspiegeln. Anschließend an der gemeinsamen Filmsichtung folgte das Gruppeninterview. Da die Rezipienten den Film zum ersten Mal gesehen hatten, wurden ein Stammbaum und Bilder der Hauptakteure als Hilfsmittel gezeigt, um eine korrekte Verständigung über Personen im Film zu gewährleisten. Das Forschungsprojekt ist anhand der Gruppendiskussionsmethode nach Kromrey durchgeführt worden. 1http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/593/1287 2Ebd. Die Datenerhebung erfolgt über eine Protokollierung und Transkription durch Tonband und Videoaufnahme. Anhand unserer Forschungsfrage: „ nwieweit werden politische Aspekte om uschauer in dem Film City of God wahrgenommen“ haben wir uns auf erste Hypothesen hinsichtlich der Wahrnehmung von politischen Aspekten im Film gestützt. Erstens: Es existieren in dem Film "City of God" politische Aspekte. Zweitens: Diese politischen Aspekte werden von den Rezipienten wahrgenommen. Die systematische Erschließung des Datenmaterials gliederte sich wie folgt. Zunächst ist jeder Redebeitrag eines Rezipienten anhand des Politikbegriffs von Max Weber untersucht worden. Politik ist:“[…]Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.“3 In diesem ersten Durchgang wurde das Material lediglich anhand der Politikdefinition mit „Ja, ist politisch“ und „Nein, ist nicht politisch“ kategorisiert. Dies diente der Erschließung der für die Untersuchung relevanten Interviewstellen. Darauf folgte der Zugriff auf das isolierte Material anhand einer kategorischen Ausdifferenzierung von politischen Aspekten. Durch Webers Definition von Macht lassen sich die erstellten Kategorien als politisch einordnen.4 Ziel ist es hier, den gewonnen Daten, ihrer Ausprägung nach, politisch definierte Begriffe zuzuordnen. Ergebnisse: Das Ergebnis der Untersuchung ergab, dass die Rezipienten folgende politische Aspekte im Film wahrgenommen haben: strukturelle Gewalt, physische Gewalt, Staat, Macht, Kriminalität, Armut und Korruption. Insgesamt konnten den selektierten Daten 179mal eine oder mehrere der oben genannten Kategorisierungen zugeordnet werden. Aufgrund der Häufigkeitsauszählung der Kategorien ergeben sich folgende absoluten Anteile pro Kategorie: strukturelle Gewalt (22), physische Gewalt (42), Staat (24), Macht (38), Kriminalität (34), Armut (10) und Korruption (9). 3 Weber, Max (2010): Politik als Beruf. München und Leipzig: Duncker & Humblot GmbH, Berlin. 11., aktual. Auflage S. 4 (WISSENSCHAFTLICHE ABHANDLUNGEN UND REDEN ZUR PHILOSOPHIE, POLITIK UND GEISTESGESCHICHTE ) 4 Vgl. Weber, Max (1964): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Hrsg. von Johannes Winckelmann. - Studienausgabe. Köln [u.a.]: Kiepenheuer & Witsch. Analysiert man die gewonnen Daten (Redebeiträge), so ist festzustellen, dass die Rezipienten im Film „City of God“ eine starke Ausprägung von Gewalt erkennen. Anhand der Häufigkeiten aller Kategorien stellt sich ein prozentualer Anteil von 35,7 % durch die Kategorien strukturelle und physische Gewalt heraus.5 So erkennen die Rezipienten beispielsweise anhand des Filmes sich verändernde Gewaltstrukturen, denn für die hergestellte „Ordnung“ in der Stadt Gottes ist Locke [Gangsterboss] zeitweise verantwortlich, nicht die Polizei. „Wenn er sagt, er hat das alleinige Recht die Gewalt anzuwenden, dann hat er sozusagen das Gewaltmonopol und ist damit die Ersatzpolizei für das Viertel geworden.“ Ein weiteres Beispiel für den immer wieder erkannten Gewaltaspekt im Film „City of God“ ist die „Geschichte des Apartments“ [Filmkapitel: Stoff kaufen], dass laut den Rezipienten („Gewalt führt zu mehr Gewalt“) den Beginn einer Gewaltspirale hervorruft. Für die Studenten zeigt der Film vor allem, wie die Gewalt zur Normalität wird und dass ein Menschenleben im Zuge des anhaltenden Tötens immer weniger wert ist. „Da ist auch einfach überhaupt gar kein Mitgefühl mehr vorhanden. Locke erschießt einen aus seiner eigenen Gang, weil er ihn zuredet sie seien doch jetzt Blutsbrüder. Locke erschießt ihn und sagt dann so was wie: „Boa du hast mich gener t“. Ein Menschenleben ist da gar nichts mehr wert!“ Bei der Unterscheidung zwischen Mann und Frau fällt auf, dass die Männer insgesamt 58 mal strukturelle oder physische Gewalt im Film wahrnehmen, wohingegen die Frauen nur 6 mal in ihren Aussagen auf Gewalt zusprechen kommen. Außerdem fällt auf, dass die Kategorien Macht und Kriminalität ebenso deutlich höher von den männlichen Rezipienten angesprochen wurden. So zeigt sich, dass bei der Kategorie Macht (38) der Anteil der Aussagen der männlichen Rezipienten mit insgesamt 33 dem absoluten Häufigkeitswert der Frauen mit fünf Aussagen deutlich übersteigt. Desweiteren spiegelt sich eine ähnliche Verteilung der Häufigkeiten bei der Kategorie Kriminalität (34) wieder. Lassen sich bei den weiblichen Rezipienten nur insgesamt vier Aussagen finden auf die Kriminalität zutrifft, so sind es bei den Männern fast achtmal so viele – insgesamt 30 Aussagen. Desweiteren hat sich der Staat (24) als vierthäufigste genannte politische Kategorie in den Aussagen der Studenten herauskristallisiert. Die Kategorien Korruption (9) und Armut (10) fallen bei den Aussagen der Rezipienten im Vergleich zu den absoluten 5 Der Unterschied zwischen physischer und struktureller Gewalt ist dabei wie folgt definiert. Physische Gewalt „bedeutet den Einsatz physischer Mittel einer anderen Person gegen ihren Willen a) Schaden zuzufügen, b) sie dem eigenen Willen zu unterwerfen (sie zu beherrschen) oder c) der solchermaßen ausgeübten G. durch Gegen-G. zu begegnen.“ Von struktureller Gewalt wird dann gesprochen, „wenn der Staat mittels seiner Organe, Institutionen und (z. B. Gesetzgebungs-)Verfahren sowie über die Art und Weise der Bevorzugung oder Benachteiligung von Gruppen nur einseitig die Interessen bestimmter Teile der Gesellschaft vertritt und andere Interessen diskriminiert.“ Vgl. hierzu: Schubert, Klaus/Martina Klein (2011): Das Politiklexikon. Schriftenreihe: Bundeszentrale für Politische Bildung. 5., aktual. Aufl. Bonn: Dietz Häufigkeitswerten der anderen Kategorien nicht so stark ins Gewicht. „Als Buscapé [Hauptdarsteller/ Erzähler] beim Fischverkauf von der Polizei festgenommen wird, nehmen die ihm gleich das Geld weg, die Polizei ist eigentlich on Anfang an korrupt.“ Gleichzeitig wird im Film immer wieder die Korruption der Polizei deutlich, die geschmiert wird, also auch am Drogengeschäft verdient und als Waffenlieferant fungiert, was ebenfalls von den Rezipienten erkannt worden ist: „Die Korruption bei der Polizei wird or allem durch die Einnahmen des Drogengeschäftes deutlich und auch in der Szene, als die Polizei den wischenhändler nach der Waffenlieferung erschießt.“ Das Ende des Films gibt für die Rezipienten noch einmal deutlich die Korruption der Polizei wieder. In der Szene, die von den Rezipienten angesprochen wird, schießt Buscapé versteckt Fotos von der Situation, in der die Polizei Lockes Einnahmen in Beschlag nimmt und ihn auffordert, das Kästchen wieder aufzufüllen. „Am Ende sieht man das auch wieder. Der Locke drückt der Polizei ja nur das Kästchen mit Geld in die Hand und kommt frei.“ In der anschließenden Szene wird Locke von der Zwergenbande – einer Gang aus Kindern, aus Rache erschossen. „Da wird nicht einmal in den Menschen rein geschossen, sondern fünfzehn mal, gerade dieses Thema, zeigt die enorme Brutalität die da herrscht. Da will sich jeder Drogenbaron selbst übertreffen und seine Macht verdeutlichen. Am besten durch Gewalt.“ In dieser Äußerung zeigt sich nicht nur, dass die Rezipienten einen Gewalt- und Machtaspekt erkennen, sondern auch, dass die Ausübung von Macht für die Studenten meistens durch physische Gewalt passiert. Fazit: „City of God“ ist ein aufregender Film über eine brasilianische Favela, die beherrscht ist von Gewalt, Armut, Brutalität, Drogenhandel und Bandenkrieg. Mit der Hilfe des Gruppeninterviews haben sich unsere Hypothesen über den Film bestätigen lassen. Es konnte deutlich herausgearbeitet werden, dass die Rezipienten politische Aspekte im Film „City of God“ erkennen und diesen Aspekten, Kategorien bzw. politisch definierte Begriffe zugeordnet werden können. Durch eine Häufigkeiten-Tabelle der erkannten politischen Aspekte konnte ebenso festgestellt werden, dass die Studenten überwiegend über physische Gewalt sprechen. Daraus lässt sich die Annahme ableiten, dass für die Rezipienten gerade der Begriff der Gewalt von zentraler Bedeutung für die Wahrnehmung von politischen Aspekten im Film „City of God“ ist. Es gilt zu beachten, dass bei nur einem Gruppeninterview mit fünf Studenten im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die exakten Häufigkeiten und Ergebnisse nicht repräsentativ auf eine eben solche Grundgesamtheit übertragen werden können. Ebenso können die dargestellten Unterschiede zwischen Mann und Frau bei solch einer geringen Anzahl an Rezipienten nicht verallgemeinert werden. Dennoch gilt es rückblickend festzuhalten, dass alle Rezipienten politische Aspekte im Film erkannt haben. Dieses Ergebnis trägt zum einen zu der Erkenntnis bei, dass die Studenten den Film „City of God“ als politisch einstufen. Zum anderen kann es als Grundlage und Anregung verstanden werden, sich weiter mit der Thematik „Politik, Film und Gesellschaft“ auseinanderzusetzen. Um eine höhere Aussagekraft über wahrgenommene politische Aspekte im Film „City of God“ treffen zu können, wäre ein Vergleich dieser Ergebnisse mit weiteren Untersuchungen sinnvoll. Hier können z. B. Studien oder Befragungen anderer Altersklassen oder Berufsgruppen erhoben werden.