Zwischen »Mad Economics or Polygtlot Peace« und »Dienst auf

Transcrição

Zwischen »Mad Economics or Polygtlot Peace« und »Dienst auf
Zwischen »Mad Economics or Polygtlot Peace« und »Dienst auf dem
Planeten«.
Wessen bedarf eine solidarische Gesellschaft?
Der vergessene »Impuls« Eugen Rosenstock-Huessys.
∗
Bad Boll – Arnoldshain – Frankfurt – Genf
Michael Gormann-Thelen (Hannover)
Vorbemerkung
Alle drei Hauptworte der Überschrift dieser Tagung, nimmt man sie einmal als
Zeitworte wahr, erscheinen wie aus unserer Zeit herausgefallen. Wir leben alles andere als
in »einer solidarischen Gesellschaft«! »Arbeit« ist uns schon lange ausgegangen oder, wie
Günther W. Riehl, ein Tagungsteilnehmer richtigstellen konnte, »abhanden« gekommen.1
Und wie steht es mit »Zeit«? Diese stellt man heute vor allen Dingen in Nano-Sekunden
oder in »Pikosekunden«2 im Hochfrequenzhandel in Rechnung. Der Tendenz nach
werden diese Zeitmessangaben nicht mehr wahrnehmbar schneller und schneller zerfällt
werden.
Schon
im
Jahre
1958
mußte
Eugen
Rosenstock-Huessy
in
einem
Rundfunkvortrag wider die Turing-Maschine, die immer noch die uns beherrschende
Form von Digitalität vorstellt, sich einen „geheimnisvollen Apparat“ konstruieren, den er
»Zeitzerstäuber« nannte, »durch den in unserer Zeit man in besonderer Weise die Zeit
∗
Dieser Beitrag verschriftlicht meinen mündlich gehaltenen Vortrag, den ich auf der von der Evangelischen
Akademie Bad Boll veranstalteten Tagung zu »Was bedeuten „Arbeit“ und „Zeit“ für eine solidarische
Gesellschaft? Impulse des Denkens von Eugen Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch« hielt, die vom 22. bis
23. Februar 2013 stattfand. Einiges, was in der Vortragszeit nicht angesprochen werden konnte, gestatte ich
mir einzufügen. Zu danken ist den VeranstalterInnen Esther Kuhn-Luz (Ev. Akademie Bad Boll), Dr.
Sabine Fandrych (Fritz-Erler-Forum Baden-Württemberg) und Welf Schröter (Leiter Forum Soziale
Technikgestaltung/Vizepräsident der intern. Ernst Bloch-Gesellschaft) und allen TeilnehmerInnen für eine
wohlgelungene, gut moderierte und kluge Tagung. »Mad Economics or Polyglot Peace« (Talheimer Verlag 1993)
ist eine Denkschrift über die Zukunft Deutschland, die Eugen Rosenstock-Huessy 1944 verfasste. »Dienst auf
dem Planeten. Über Kurzweil und Langeweile im dritten Jahrtausend« war Eugen Rosenstock-Huessys letzte
selbständig erschienene Schrift. Sie erschien 1965 (Kohlhammer). Die beiden Titel bezeichnen exakt die
Lage, in der wir uns heute befinden.
1 Hinweis Riehl auf Marianne Gronemeyer. Wer nicht arbeitet – sündigt! Wien: Primus Verlag 2013.
2 Vgl, Friedhelm Hengsbach SJ [= Societas Jesu], Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der
Beschleunigung. Frankfurt/Main: Westend 2012, S. 48. »Pikosekunden, also billionstel Teile einer Sekunde.“
Hengsbach ist der letzte nennenswerte öffentliche Repräsentant der katholischen Soziallehre, bis 2005 Leiter
des Nell-Breuning-Instituts, emeritierter Professor für christliche Sozialwissenschaft. Von protestantischer
Seite lässt sich niemand ihm vergleichbar nennen. Die EKD unterstellt seit 2004 ihr sozialwissenschaftliches
Institut und Haus dem Namen »Friedrich Karrenberg« (1904-1966). Dieser war ein mittelständischer
Unternehmer, Nationalökonom und lehrte Sozialethik in Köln. Mit seinem Namen verbindet sich vor allem
die Herausgabe des Evangelischen Soziallexikons (mehrer Auflagen und Erweiterungen seit 1954. Letzte
Neubearbeitung 2001). Karrenberg gehört zur Schule des Ordo-Liberalismus von Eucken, Müller-Armack,
Ludwig Ehrhardt. Diese zeichnete sich dadurch aus, abgesehen davon, wie sie während des Dritten Reiches
tätig waren, dass sie bewusst nicht an fortschrittliche Wege der Weimarer anknüpfen wollten.
2
totschlägt, sie zerstückelt, sie massakriert«.3 Dieser Zeitzerstäuber als ein Produkt von
Kraft und Einwirkungsdauer betrifft schon lange auch alles, was mit »Arbeit« zu tun hat.
So spricht man seit Beginn der 1990er Jahre richtigerweise von »ArBYTE«.4
Und wie steht es mit dem Untertitel unserer Tagung? Gibt es noch wirksame
»Impulse des Denkens« von Eugen Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch? Ersterer hat
allerhöchstens den wirksamen Impuls eines »toten Hundes« (so Hegel über Spinoza), also
gar keinen. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass er weder ein Philosoph noch
ein Theologe war. Bloch hingegen wirkt und gibt weiterhin Impulse, zumindest in
Philosophie und Öffentlicher Philosophie. Auch wird in seinem Namen ein anerkannter
Preis vergeben. Er wird im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen in Ehren gehalten, und
eine internationale Gesellschaft beruft sich auf seinen weltweit klingenden Namen. Ernst
Bloch ist ein anerkannter erzählender Philosoph mit einer Vorliebe für Unscheinbares,
Heimat in der Nachfolge von Johann Peter Hebel und dem »Vorschein« alles Utopischen.
Ähnliches lässt sich von Eugen Rosenstock-Huessy nicht sagen, obwohl man ihn
durchaus
in
eine
»Familienähnlichkeit«
(Ludwig
Wittgenstein
–
auch
ein
Generationsgenosse) zu Ernst Bloch bringen könnte. Aber dies stellte seinen Namen
unter den Scheffel. Er verdient wieder hervor- und herausgerufen und dem Vergessen
entrissen zu werden. Er verfiel dem Vergessen wie durch ein Standgericht,5 nämlich durch
das des 30. Januar 1933. Aus dieser Perspektive gesehen verhängte und wiederholte der
Nationalsozialismus sein Todesurteil. Nach 1945 änderte sich daran nichts. Durch dieses
Verhängnis und Vergessen machte man sich an solchem Standgericht mitschuldig. Das
Urteil wurde nicht revoziert. Sein Name, so zum Beispiel in den beiden großen
Konfessionen und ihren Kirchen, erscheint in ihren Annalen nicht. Vergessen heißt:
Niemand beruft sich auf ihn, niemand sagt ihn weiter, niemand gedenkt seiner.
Und ein anerkannter Preis mit und in seinem Namen? Gibt es nicht und wird auch
nicht verliehen, obwohl sein Namen, wenn überhaupt einer würdig wäre, genannt zu
werden, mit der modernen Geburtsstunde des Dialogs zwischen Juden und Christen
verbunden ist, nämlich durch die Freundschaft mit Franz Rosenzweig (1886-1929). Statt
Buber-Rosenzweig-Medaille müsste es eigentlich Rosenzweig-Rosenstock-Medaille heißen.
3 Vgl. Rosenstock-Huessys Schweizer Rundfunkrede »Die misshandelte Zeit« (1962), in: Eugen RosenstockHuessy. Friedensbedingungen der planetarischen Gesellschaft. Zur Ökonomie der Zeit. Eingeleitet und herausgegeben
von Rudolf Hermeier. Münster: agenda Verlag 2001, S. 47-73 [zit. als FB + Seitenangabe].
4 Vgl. Thomas Malsch, Ulrich Mill (Hg.). ArBYTE. Modernisierung der Industriesoziologie? Berlin: Ed. Sigma
1991.
5 1983 konnte Jacob Taubes seinen Beitrag zum »Lob des Polytheismus« mit dem fürchterlichen Schlusssatz
abschließen: »Der Gang der Geschichte selbst ist Standrecht in Permanenz.« Damit gibt er nachträglich Carl
Schmitt sein Einverständnis! Jacob Taubes. Vom Kult zur Kultur. München: Fink 1996, S. 349.
3
Datiert ist dieser Geburtstag auf das Leipziger Nachtgespräch vom 7. Juli 1913 und seine
Folgen.6 Es war unbefristet, aber durch beider Leben, Wirken und Lehre bewährt.
Bedeutende Schriften und Briefe bezeugen es. Beider Leben durchdringt ein Impulssatz
der Gegenseitigkeit.7
Kurzvorstellung Eugen Rosenstock-Huessys (1888-1973)
Wie gesagt, es wundert immer wieder (oder auch nicht), dass Eugen RosenstockHuessy vorgestellt werden muß.8 Also, aber vom Leben her, das heißt von den Zäsuren.
Rosenstock-Huessy nennt dieses »datives Denken«.9
Sein Leben datiert, hierdurch auch unser Leben, der 30. Januar 1933. Eugen
Rosenstock-Huessy, daran muß erinnert werden, war Jurist. Er lehrte an der Universität
Breslau seit 1923. Am Mittwoch, den 1. Februar 1933, stellte er im Organ seiner Fakultät
den Antrag, man möge beschließen, die Universität wegen »nationaler Revolution« zu
schließen. Er wurde ausgelacht, hielt ab diesem Datum mehr keine Lehrveranstaltung,
fuhr nach Berlin und betrieb die Auflösung seiner Reichsbürgerschaft, die Lösung seiner
finanziellen Ansprüche und verließ am 9. November 1933 auf dem Dampfer
»Deutschland« das Dritte Reich und immigrierte in die USA.
Sein Antrag erhält Relief und Tiefenschärfe, zeigt auch die ihn charakteristische
Zivilcourage, wenn man weiß, dass er im Jahre 1931 ein grosses Werk veröffentlicht hatte:
»Die europäischen Nationen. Volkscharaktere und Staatenbildung«,10 in welchem er die
großen »Welt«-Revolutionen der Papstrevolution des 11. bis 14. Jahrhunderts, die
Reformation, die Englische Revolution, die Französische Revolution und die Russische
Revolution in einem neuartigen Sinne sowohl für Spezialisten als auch für Laien erzählte.
6
Vgl. insbesondere Dietmar Kamper. »Das Nachtgespräch vom 7. Juli 1913. Eugen Rosenstock-Huessy und
Franz Rosenzweig«, in: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). Intern. Kongreß Kassel 1986. Bd. I Die
Herausforderung jüdischen Lernens. Herausgegeben von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Freiburg/Münche: Verlag Karl Alber 1988, S. 97-104; Wolfgang Ullmann. »Die Entdeckung des Neuen
Denkens durch Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig«, in: Ders. Wir, die Bürger! Auf nach Europa,
Deutschland und zu uns selbst! Zivilpolitische Aufsätze. Vorwort Daniel Cohn-Bendit. Herausgegeben von
Michael Gormann-Thelen. Essen: Die Blaue Eule 2002, S. 175-203.
7 Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy. Ja und Nein. Autobiographische Fragmente. Herausgegeben von Georg Müller.
Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1968, S. 166-172.
8 So zuerst der Katholik Walter Dirks in seinem Vorwort zu Eugen Rosenstock-Huessy. Der Unbezahlbare
Mensch. Berlin: Käthe Vogt Verlag 1955, S. 13. Diese Schrift hätte die Programmschrift eines sozialen
Protestantismus aus ökumenischem und ökologischen Geist werden müssen. Karrenbergs Auffassungen
sind dagegen ein Schritt vor 1914 zurück!
9 Hierzu Eugen Rosenstock-Huessy. Heilkraft und Wahrheit. Konkordanz der politischen und der kosmischen Zeit.
Stuttgart: Ev. Verlagswerk 1952 [Reprint Moers/Wien: Brendow/Amandus 1990], S. 83-104.
10 Erstmals erschienen 1931 im Diederichs Verlag, Jena.
4
Jede Welt-Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen »totalen«, universell
gültigen Anspruch »an alle« in die Welt brachte, jeder ebenso unerhört wie alles
verwandelnd. Damit erklärt sich auch Rosenstock-Huessys Fakultätsantrag. Er besagt
schlicht und ergreifend, die Universität möge beschließen, wegen Gegen-Revolution
(Konterrevolution) zu schließen. Jede Revolution »in einem Lande« ist verfassungsmäßig
eine Gegen-Revolution. So auch z. B. die Stalinsche. Erst recht die Hitlers.11
Daß Rosenstock-Huessy an einem 9. November »das Reich« verließ (als freier
Mensch, wie er betonte), war kein Zufall, denn das gesamte Leben, Lehren und Wirken
Rosenstock-Huessys datiert sich vom 9. November 1918 her (so interpunktiert er auch,
auf seine Weise, was hier nicht gezeigt werden kann, alle 9. November, wie sie für die
Geschichte der Deutschen im 20. Jahrhundert bedeutsam werden sollte – einschließlich
den des Jahres 1989!). Während aber dieses Datum bei den meisten Deutschen mit einer
ungeheuren und ungeheuerlichen Verkennung, Verleugnung, ja Verwerfung der Realitäten
verknüpft ist, die durch den Ersten Weltkrieg und seine folgenden Zusammenbrüche
bewirkt wurden (Ende des Bismarckschen Reiches, Weltkrieg, neue Staatsform, Versailler
Vertrag, Dolchstoßlegende usw. usw.) und die meisten Gesellschaftsmitglieder in den
Abgrund führten, vor dem die meisten ihre Augen verschlossen, kämpfte RosenstockHuessy für die Anerkenntnis der neuen Lagen.12 Vergeblich. Zum Beispiel für die
Anerkenntnis der Lage, was es bedeutet, wenn eine hochgerüstete, gesellschaftlich mit sich
total zerstrittene und zerfallene Gesellschaft vor der Aufgabe steht, sich demobilisieren zu
müssen. Alle, auch die Gelehrten.13 Wie schafft man Frieden in einer solchen einer
verfallenen Gesellschaft?
Rosenstock-Huessy ließ alle kompromittierten Institutionen hinter sich: die
Universität, den Staat, die Kirche(n), das Militär. Er ging auf fast zwei Jahre in die
Industrie zu Daimler-Benz. Nachdem das Experiment einer Werkzeitung14 aufgelöst
wurde, wurde er Gründungsrektor der Akademie der Arbeit, die er aber nach nur einem Jahr
verließ, weil die Klassengegensätze und –herkünfte verhinderten, eine neue Lehreinrichtung aufzubauen, die auf der Artikulation der Erfahrungen aller in der Gesellschaft
11
Die juristische Lehre der Gegen-Revolution verfasste unter dem irreführenden Namen einer »Politischen
Theologie« Eugen Rosenstock-Huessys Antipode Carl Schmitt. Vgl. dessen Politische Theologie. vier Kapitel zur
Lehre von der Souveranität. (11922). Berlin: Duncker & Humblot: 1985.
12 Vier dazu wichtige Schriften aus den Jahren 1919 bis 1929 nahm Eugen Rosenstock-Huessy auf in den
zweiten Band von Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Heidelberg:
Lambert Schneider 1964, S. 45-197.
13 »Ehe nicht der Weltkrieg die Lehre erneuert hat, eher dürfen die Gelehrten nicht demobil machen.«
Vorwort zu den Europäischen Revolutionen, S. III.
14 Daimler-Benz ermöglichte einen Reprint dieser Werkzeitung 1919-1920 im Verlag Brendow, Moers 1991.
5
Arbeitenden errichtet werden sollte. Danach nahm er schwersten Herzens die Professur
an, um sich und seine Familie durchzubringen. Deshalb tat er alles, um diesen Schritt
wider bessere Einsicht zu »sühnen«. Er wurde ein unermüdlicher »Sozialkrieger« (also ein
Kämpfer unter dem Regenbogen des alttestamentlichen Bundes Noahs)15 für eine
umfassende Reform der Erwachsenenbildung in den Volkshochschulen und in der
Reformpädagogik. Als dritten Pfeiler betrieb er als einer der unorthodoxesten die
freiwilligen »Arbeitslager«, in denen versucht wurde, die sozialen Fronten und
Klassengegensätze in der Jugend einander zu öffnen und in Arbeit, Spiel und Lehre
zusammen mit Repräsentanten der gesellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen
Institutionen in Grosse Aussprache zu bringen.16 Was ein Menschenalter später an
anderem Weltort etwa von Paulo Freire und Ivan Illich versucht wurde, hat in diesen
Rosenstockschen Bemühungen einen ihrer Vorläufer. Später sollten sich auch wichtige
Sprecher der Bürgerbewegung in der DDR auf ihn berufen. Abseits von all diesen
Bemühungen, Friedensbedingungen (in) der Gesellschaft gemeinsam hervorzubringen und
vorzuleben, entstand ein weitläufiges, »rhizomatisches« publizistisches und wissenschaftliches Werk.
Wer also war Eugen Rosenstock-Huessy? Er war ein wichtiger Generationsgenosse
der »Generationskohorte« (Karl Mannheim) von Ernst Bloch, Hans Ehrenberg, Ludwig
Wittgenstein, Martin Heidegger, Carl Schmitt, Franz Rosenzweig, aber auch Adolf Hitler.
Es war jene letzte grosse Generationskohorte deutschen Denkens, die vom Nationalsozialismus fast gänzlich um den Verstand gebracht worden wäre, wenn dieser gesiegt
hätte. So wurden sie alle – ob nun Jude, Christ, Freidenker oder nur Wissenschaftler, ob
sie wollten oder nicht – Zeugen dieses Verhängnisses, vor allem der »Endlösung« und
ihrer Folgen.
Da für Rosenstock-Huessy weder die Wissenschaft noch das Amt eines Professors
im Zentrum seines Lebens stand, was war er denn? Er war in einem emphatischen deutschen
Sinne ein Gesellschaftsreformer christlichen Glaubens. Man muß sich vor Augen führen, dass erst
im 20. Jahrhundert die Großmacht »Gesellschaft« ihren Aufstieg erlebte. Darum konnte
Rosenstock-Huessy sich auch einen »Soziologen« nennen, jedoch gerade nicht in einem
universitären oder akademischen Sinne, sondern nur faute de mieux. Was ihm die
15
FB 153 ff.
Vgl. Das Arbeitslager. Berichte aus Schlesien von Arbeitern, Bauern, Studenten. Herausg. v. Eugen Rosenstock und
Carl Friedrich von Trotha. Jena: Diederichs 1931. Vgl. Christian Illian. Der Evangelische Arbeitsdienst.
Krisenprojekt zwischen Weimarer Demokratie und NS-Diktatur. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialen Protestantismus.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005.
16
6
Universität und ihre Fachwissenschaften niemals vergeben sollten, war der Anspruch,
den er gegen diese erhob, nämlich nur eine Wirklichkeit zweiter Potenz zu sein. Die
Wirklichkeit erster Potenz richtet sich, ihm zufolge, an jeden einzelnen von uns – an Du
und Dich und Deinen Beitrag am Zusammenleben aller. Nicht gilt zuerst: Was sollst du
tun? Nein, Wer bist Du, der Du bislang nicht mit Namen hervorgetreten bist? Umgekehrt
gilt ebenfalls, diese Frage an den anderen zu richten: Wer bist Du, der Du Dir
herausnimmst, im Namen einer namenlosen Instanz zu handeln? Diese Fragen als
Gesellschaftsreformer machen Rosenstock-Huessy für unser aller Zukunft zu unserem
Zeitgenossen – wenn man nur seinem Namen sich stellte. Der Name, Rosenstock-Huessy
zufolge, wirkt als Imperativ bzw. Vokativ, als Kohortativ bzw. »Präjekt«, der uns über
unseren alten Adam (vulgo inneren Schweinehund) hinauswirft und uns heißt , tätig zu
werden. Darum ist der Name unabdingbar. Der Name ist Geheiß. Er heischt. Er macht
auf sich als Heischeform aufmerksam. Darum kommt sofort das Folgen auf (Wem bitte?).
Das Jüdische wie Christliche ist, dass Gott Namenanruf ist, selbst aber Name des Namens
unaussprechlich. Gott ist der Name vor allen Namen. Dank ihm können wir uns auf
Namen berufen. Sich auf Namen berufen heißt Zukunft.
Bad Boll, Evangelische Akademie 1956 und 1962.
Der Gesellschaftsreformer zuerst. Der Wissenschaftler folgt.17 Zweifellos war
Rosenstock-Huessy ein genialer Wissenschaftler, wenn man unter genial versteht, dass er
ebenso innovativ wie traditionsbewusst Wissenschaft mit einem langen Atem zu betreiben
vermochte. Der Ausdruck »mit einem langen Atem« bedeutet vor allem, dass er etwas
verkörperte, beredtsam zu machen und auch auszusprechen vermochte, was »langfristig«
uns bewegt, bildet und antreibt. Wir sind nicht nur »Zeitwesen« des Hier und Jetzt, wir
kommen auch, darum weiß auch Ernst Bloch, von weit her, von lange zurück.
Rosenstock-Huessy konfrontiert uns mit uns selbst als Epochenwesen.18 Wissenschaft ist
selbst eine solche epochale Konfiguration. Aber eben nicht im Sinne Husserls, sondern als
Zeitwesen, das Epochen bildet (im doppelten Sinne). Am eindrücklichsten durch
geschichtliche Daten, Zäsuren, Ereignisse.19 Wir sind Zeitgenossen vom 11. September
und vom 9. November 1989, aber auch von August 2008, also vom Beginn dessen, was so
17
Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy. »Das Versiegen der Wissenschaften und der Ursprung der Sprache«, in:
Die Sprache des Menschengeschlechts. Bd. I, Heidelberg: Lambert Schneider 1963, S. 655-683.
18 FB 125 f.; 155 ff.
19 Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy, Heilkraft und Wahrheit. Kap. 1, S. 12-21.
7
dahin gesagt ‚Finanzkrise’ heißt. Da der Gesellschaftsreformer dem Wissenschaftler
Rosenstock-Huessy immer voraus war, verhält er sich zu den Wirklichkeiten, mit denen es
die Wissenschaft zu tun bekommt (meistens hat diese ja den Ereignissen gegenüber das
Nachsehen. Es bleibt Nach-Denken), immer »meta«-nomisch. Als Wissenschaftler verhält
sich der Gesellschaftsreformer »metanomisch«.20 Rosenstock-Huessy hat vor allem fünf
Metanomiken verfasst. Zunächst einmal eine Metanomik der Kirche unter dem
metanomischen Titel »Das Alter der Kirche«.21 Der Imperativ und Vokativ, der diese
Metanomik hervorzwang, war die Exkommunikation seines Freundes, des Patristikers und
Volksschriftstellers Joseph Wittig. Er wurde exkommuniziert wegen einer literarischen
Erzählung! Diese Metanomik oder Epochenlehre der Kirche steht total überkreuz mit den
Institutionen von Kirche und Wissenschaft. Es ist ein Gegenentwurf zu dogmatischer
Ekklesiologie, aber auch zur Religionssoziologie von Max Weber und Ernst Troeltsch bis
hin zu Robert N. Bellah. Darum hat von ihr kein Wissenschaftler Notiz genommen.
Weder von katholischer noch von protestantischer Seite. Die Kirchen, wie die Religionen
vielleicht insgesamt, sind das lebendige Gedächtnis unserer Langfristigkeit, von uns
Zeitwesen als Epochenwesen. So wie uns die Arbeit »abhanden« gekommen ist, ist der
Kirche ihre Langfristigkeit »abhanden« gekommen.
Die zweite Metanomik war eine des Staates. Aber wiederum nicht eine, wie sie die
Juristen betrieben. Rosenstock verfasst eine Metanomik des Staates von dem her, was die
Staaten als Einzelstaat wie als ‚Staatengemeinschaft’ hervorbrachte.22 Sie wurden ins Leben
gerufen durch die Grossen Revolutionen des gesamten zweiten Jahrtausends. Alle Staaten,
auch die islamischen, verdanken sich diesen Revolutionen. Auch den islamischen Staat
gibt es nur als ‚christlichen’, um es provokativ zu formulieren. Die Tage des Zorns der
»Arabellion« unserer Tage führen zurück in den Ursprung des zweiten Jahrtausends.
Zurück zu einem grossen christlichen Feiertag, einer grossen Liturgie einer Hochzeit aller
Toten und Lebendigen! Allerseelen.23
Die dritte Metanomik war eine der Gesellschaft. Das ist Rosenstock-Huessys Soziologie
»Im Kreuz der Wirklichkeit«,24 die zunächst von den »Übermächten« der Räume und des
20
Zuerst in Eugen Rosenstock-Huessy. Out of Revolution. Autobiography of Western Man. New York: Morrow
1938; vgl. auch FB 248-282.
21 Vgl. Eugen Rosenstock, Joseph Wittig. Das Alter der Kirche. 3 Bd. Berlin: Lambert Schneider 1927-28
[Neudruck mit Hinweisen u. a. herausg. v. Fritz Herrenbrück. Münster agenda Verlag 1998].
22 Vgl. Europäische Revolutionen 1931; Out of Revolution 1938.
23 Vgl. Europäische Revolutionen 1931, S. 111 ff.; Robert G. Heath. Crux Imperatorum Philosophia. Imperial Horizons
of the Cluniac Confraternitas, 964-1109. Pittsburgh, PA: Pickwick Press 1976.
24 Neuausgabe herausg. von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lise van der Molen. 3 Bde.
Mössingen: Talheimer Verlag 2009-2010.
8
Raumdenkens handelt und diese beiden letzteren als Verfallsformen von »Ernst« und
»Spiel« und von »Krieg« und »Frieden« vorführt. Danach kommt die Zeitenlehre unter
dem ersten Titel »Die Gewalt der Zeiten«, später unter dem Titel »Die Vollzahl der
Zeiten«.25 Nicht heißt es »Zurück zu den Sachen!«, sondern »Zurück zu uns selbst!«
Die vierte Metanomik ist eine der Sprache. Es ist eine gattungsgeschichtliche
Metanomik.26 Darum heißt sie »Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige
Grammatik«. Dieser Titel ist eine Losung gegen alle Totalitarismen, die gerade diese
Metanomik in die Vernichtung treiben wollten. Darum heißt eines der ersten Zeugnisse
nach der Shoah „Das Menschengeschlecht“ von Robert Anthelme.27 Thema, darum nicht
in den Titel aufgenommen, ist die Sprache, wie sie über das Konzentrationslager
triumphiert.
Die fünfte Metanomik, mit der sich Rosenstock-Huessy, zeit seines Lebens immer
wieder als »Widerwart« und in Liebe gewidmet hat, ist die Universität, wie sie der
Reformation entsprang (nicht Humboldts Kopf!) und sich in alle Welt zerstreute.28
Zwei Mal wurde Eugen Rosenstock-Huessy von der Evangelischen Akademie Bad
Boll eingeladen, also an jenen Ort, der aufs Engste mit dem sozialen Protestantismus
verbunden ist in Personen wie Eberhard Müller, den beiden Blumhardts, dann vor allem
verbunden mit Otto Klepper (1888-1957),29 dem Finanzminister der letzten Regierung
Preußens, die durch den Preussen-Schlag im Juli 1932 entmächtigt wurde. Otto Klepper
war auch Mitbegründer der Frankfurter Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 e.
V., einer Gesellschaft, deren Vertreter aus dem Ende der Weimarer Republik dann den
Sozialstaat der Bonner Republik zu errichten halfen.30 Otto Klepper ist heute einer dieser
25
Herngsbach kommt in seinem Buch Die Zeit gehört uns kein einziges Mal auf seine Kirche zu sprechen, die
ein außerordentliches Verhältnis zur Zeit pflegt, von dem eine solidarische Gesellschaft viel lernen könnte.
»Die Zeitdauer der Kirche spannt sich vom Weltbeginn bis zum Weltende; denn die Kirche entsprach in
ihren Gläubigen von Anfang an und soll bis ans Ende der Zeit währen. Grundsätzlich sind wir überzeugt,
dass vom Beginn der Welt bis an das Ende der Zeiten kein Zeitraum sich findet, in dem nicht Menschen auf
Christus vertraut haben und vertrauen.« So Hugo von Sankt Viktor, gest. 1141. Diese Zeiten nannte
Rosenstock-Huessy »Vollzahl der Zeiten«. Illich widmete Hugo ein schönes Buch.
26 Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy. Die Sprache des Menschengeschlechts. 2 Bde. Heidelberg: Lambert Schneider
1963-1964.
27 erstmals erschienen 1946. Mehrere Auflagen.
28 Die erste öffentliche Rede nach 1945 hielt Rosenstock-Huessy in der Universität Göttingen am 5. Juli
1950. »Das Geheimnis der Universität«, in: Ders. Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und
Sprachkraft. Reden und Vorträge. Herausgegeben von Georg Müller. Stuttgart: Kohlhammer 1958.
29 Vgl. eindrucksvoll Astrid von Pufendorf. Otto Klepper (1888-1957). Deutscher Patriot und Weltbürger.
München: Oldenbourg 1997.
30 Vgl. dazu Astrid von Pufendorf; auch Wirtschaft – Politik – Gesellschaft. Die Wirtschaftspolitische Gesellschaft
1947/71 und das Bildungswerk OFFENE WELT. Ulrich von Pufendorf zum 70. Geb., 12. Oktober 1971.
Frankfurt/Main: Wirtschaftspolitische Gesellschaft 1971.
9
Vergessenen, der aber einer der wichtigsten Anreger der alten Bundesrepublik, ihrer
Verfassung und ihrer Institutionen wurden.
Eugen Rosenstock-Huessy hatte in Bad Boll 1962 eine Tagung mit leitenden
Mitarbeitern von Daimler-Benz unter dem Titel »Der technische Fortschritt erweitert den
Raum, verkürzt die Zeit und zerschlägt menschliche Gruppen«. Man müsste noch
hinzufügen: »… und beschleunigt alle Kommunikation ins Ungefähr«. Dann kommt man
zu dem »Gesetz der Medien«, wie es erst 1973 von dem kanadischen ersten
Medienwissenschaftler Marshall McLuhan formuliert wurde.31
Die erste Tagung mit Rosenstock-Huessy fand 1957 statt zum Thema »Evozieren
und Revozieren oder Die Auflockerung der sozialen Fronten als christliche Aufgabe«.32
Damit nimmt Eugen Rosenstock-Huessy als Gesellschaftsreformer eines seiner alten
Fragen auf, nämlich die Notwendigkeit, dass innerhalb einer Gesellschaft nicht eine
Verfassung allein die dominierende sein kann, sondern verschiedene, polynomische
Verfassungen, die zu den jeweils anderen sich gerade nicht abschließen dürfen, sondern
sich zu öffnen haben, durchlässig werden. Gegenüber allen Antiken betont der
Rechtsgeschichtler Rosenstock, dass erst das Christentum die verschiedenartigen
Verfassungen einander zu öffnen gestattet habe. Heute spricht man in der modernen
Rechtswissenschaft von der Polynomie von »Verfassungsfragmenten«.33 Es wird
meistensteils vergessen, dass genau dies »bewährte Lehre«34 des Christentums ist. Auch
wird meistensteils vergessen, dass es viele Gesellschaften auf unserem Planeten gibt, die
sich gegenüber genau dieser Aufgabe versperren, verweigern, ja kriegerisch durch
innerstaatliche Feinderklärungen dagegen Front machen. »Das Wort Front beweist, dass
31 Vgl. Marshall and Eric McLuhan. Laws of Media. The New Science. Toronto: University of Toronto Press
1988.
32 FB 113-133.
33 Hervorzuheben Gunther Teubner. Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung.
Berlin: Suhrkamp 2012 [Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft; 2028].
34 Was heißt »bewährte Lehre«? »Als ich in Zürich Student in meinem ersten Semester war – das ist sehr
lange her –, da war von Weltkriegen noch gar nicht die Rede. Und doch hat auch damals die Schweiz einen
Umstand beigetragen, um uns vor der mathematisch-physikalischen Zeitentwendung und
Zeitunterschlagung und Zeitberaubung zu schützen. Im Schweizer Zivilgesetzbuch von Eugen Huber steht
ein Satz, der dieses Werk von allen anderen europäischen Kodifikationen abhebt. Da steht nämlich, dass der
Richter sich nicht nur nach dem Gesetz und der Gewohnheit richten soll, sondern auch nach der bewährten
Lehre. Das fehlt im reichsdeutschen Bürgerlichen Gesetzbuch und im code Napoleon, also der Deutschen
und Franzosen, und es fehlt natürlich auch in dem richterlichen Hochmut der Präzedenzfälle der englischen
Richter, wo es eine juristische Wissenschaft überhaupt nicht gibt. Bewährte Lehre fügt, zum Unterschied
von dem, was in den naturwissenschaftlichen und theologischen Fakultäten heute gelehrt wird, der Lehre
das wunderbare Zeitmoment der Zukunft hinzu. Was ist denn bewährte Lehre? Eine Lehre, die der Zukunft
zugewachsen ist, die, nachdem sie ausgesprochen worden ist, von Gläubigen angewendet wird – nur das
kann sich ja bewähren, was im Glauben empfangen worden ist. Nun ist es also verheißen worden, und der,
der verheißt, und der, der anwendet, bilden eine Friedensgruppe, die Zukunft schaffen kann.« FB 65 f.
10
wir in Wirklichkeit zwischen Krieg und Frieden keinen absoluten Unterschied mehr zu
machen imstande sind. Wir haben im Krieg den Frieden und im Frieden den Krieg in
unauflöslicher Einheit, und ich glaube, das liegt daran, dass wir keine
Krieg mehr
35
äußerlich führen können.«
In Bad Boll vor allem war es, wo Rosenstock-Huessy auf eine über die letztere
Aussage hinausgehende Aufgabe aufmerksam machte: »Wo wir alle eigentlich nur kleine
Teile des Ganzen sind und es wahrscheinlich auch nicht anders können, müssen wir
Ordnungen finden und darauf habe ich nun seit 1912 meine Sach’ gestellt, wir müssen
Formen finden, in denen statt des Kriegsheeres die Urbedürfnisse der menschlichen Seele
in der Gemeinschaft sich verleiblichen können. Das 19. Jahrhhundert hat die Kunst
verklärt und auch die Wissenschaft, und ich glaube, bei uns handelt es sich statt dessen um
Inkarnation, um Verleiblichung der Vorgänge.«36
Der Gesellschaftsreformer legt aber aus leidvoller Erfahrung des gesamten 20.
Jahrhunderts den Finger auf das gesellschaftliche Problem: »Der gesellschaftliche Frieden
muß gelebt werden, er muß vorweggenommen werden.« Hier verweist er auf eine Mitgift
der Kirche, von der freilich man lange nichts mehr in dieser Richtung gehört hat: »Das hat
die Kirche eigentlich immer auch vor dem 19. Jahrhundert getan, dass sie das Kommen
des Herrn vorweggenommen hat und sich als die Kirche gefühlt hat, die den Namen
Kirche deswegen führe, weil sie vom kommenden Herrn lebt. Sie heißt auch Kirche, das
heißt Kyriake – Haus des Herrn. Aber der Herr, dem sie dient, ist der, der kommt. Es ist
eine eschatologische Vorstellung, wie man heute bei den Theologen sagt, aber es genügt ja
einfach, wenn wir sagen in unseren Laienausdrücken: die Kirche der Erwartung, die
Kirche der Sehnsucht, die Kirche der Unruhe, die Kirche, die es auch nicht aushalten
kann, ewig zu warten, die also an einem Stück Verwirklichung sich stärken muß, damit sie
es aushält in diesen Gesellschaftskämpfen, in dieser Hetze.«37 Mitgift bedeutet heute, dass
diese bewährte Lehre vom kommenden Herrn als vorweggenommenen und zu lebenden
Frieden (gegen alle Widerstände und wider alle Vernunft) in die Erfindung solcher
Formen des gesellschaftlich vorwegzulebenden Friedens über-setzt werden muß. Solches
Übersetzen, solche Vorwegnahme, solches Vorleben ist ein »schöpferischer Prozess«.
Diesen verwechseln wir immer wieder mit Vorstellungen von Konsum und von
Warenproduktion. Diese aber sind schöpferisch nur in »schöpferischer Zerstörung«, wie
35
FB 113 ff.
FB 125.
37 FB 126.
36
11
wir spätestens seit Schumpeter wissen. Es geht aber um anderes! Es geht, so
Rosenstock-Huessy, »um den Wiederhervorruf der schöpferischen Kräfte«, um das
Hervorbringen von gesellschaftlichen Formen, die eine Art Äquivalent eines
»Jahressontags des Menschen« ausbilden.38 Dazu machte Rosenstock-Huessy bedeutsame
Ausführungen später in Arnoldshain und Frankfurt am Main.
Arnoldshain, Evangelische Akademie 1957 und 1958
In diese Evangelische Akademie lud die Akademie und die Wirtschaftspolitische
Gesellschaft von 1947 ein. Leider ist von der ersten Tagung vom 6. bis 7. Juli nur ein
kleines Fragment über den »weggelaufenen Eschatologen« übriggeblieben. Man kann sich
denken, wer diese weggelaufenen Eschatologen gewesen sind. Die zweite Tagung vom 12.
bis 14. Juli 1958 verhandelte »Die menschlichen Voraussetzungen einer langfristig
produktiven Gesellschaft. Wie ist man auf 100 Jahre praktisch?«39
Als zentralen Imperativ formulierte Rosenstock-Huessy: »Wir müssen in eine
Gesellschaftsordnung eintreten, in der die Wandelbarkeit – to change with honour – das
Selbsterhaltungsprinzip der Menschheit wird.«40
Dieses Prinzip wie das komplementäre von der Entfesselung unserer »schöpferischen
Kräfte« verlangt von jedem von uns eine solche Wandelbarkeit. Nicht eine im Sinne
kannibalistischer oder anthropophager »Flexibilisierung«, sondern in einem mindestens
vierfachen neuartigen Sinne: Angesprochen sind wir alle hierbei als Bürgerinnen und
Bürger, und zwar nicht in einer antiken Polis, sondern als Bürger unseres Planeten Erde,
auf dem schon heute mehr als 50 Prozent aller Erdbewohnen in urbanen Siedlungsformen
wohnen. Diese reichen vom Ghetto zur Favela, von gated communities bis hin zu neuen
Architekturen ganzer Megastädte. Als Bürger solcher sozialen Polynomien verkörpert
heute jede(r) schon (1) die menschliche Gattung selbst und ihre vielfältigen Umwelten; (2)
die Orientierung in einer Mehraltrigkeit, auch wenn diese den wenigsten in ihrer
Bedeutung zum Überleben bewusst ist; (3) jede(r) muß sich festlegen lassen, künftig noch
mehr als heute schon, auf einen härtesten Widerstand, den es gemeinsam mit anderen
38
FB 91-94; 132 f.
Es handelt sich um zwei Reden, die in Gänze transkribiert erstmals veröffentlicht wurden in Globale
Wirtschaft und humane Gesellschaft. Ost-, West- und Südprobleme. Herausg. v. Rudolf Hermeier, Mark M. Huessy
und Valerij Ljubin. Münster: agenda Verlag 206, S. 149-194.
40 FB 136.
39
12
schöpferisch in die Form seines reflektierten Gegensinnes zu transformieren gilt.41 Die
Rosenstock-Huessy’sche Parole lautet: »Einmütigkeit trotz Verschiedenheit!« Wenn
solches gemeinsames Handeln überlebenswichtig ist, dann können die langsamsten und
beharrendsten Kräfte, die uns zur Verfügung stehen, also das, was man die Religionen
nennt, nicht die Führung übernehmen, allenfalls bleibt ihnen die Haushaltfunktion, uns
gegenseitig den Rücken zu stärken. Das verwandelt aber diese Kräfte von Grund auf. Die
Selbstbegrenzung läge in der gegenseitigen Evokation solcher Kräfte, die zum Überleben
der Gattung und der Erde beitragen. Eine geradezu tolle wie wider-natürliche Forderung.
Und (4) Nur Mitteilung um der Mitteilung willen (was ich Kommunikation ins Ungefähr
genannt habe) ist zu verwandeln in die Kraft, immer neue Teilnahme zu erzeugen. Dazu
bedarf es aber einer Totalverwandlung aller der Kräfte, die heute um Selbstpräsentation,
Narzissmus, Arbeitskraftunternehmertum und Selbstermächtigung sowie Selbstherrlichkeit kreisen. Zurücknahme ins Inkognito des gemeinsamen Tuns verlangt Demut,
Bescheidenheit, Kooperation und spirituelle Arbeitsteilung. »Eine Ökonomik der
Menschheit ist nur möglich, wenn mindestens drei Generationen auftreten, wo sich das
lebende Geschlecht sich in die Bresche zwischen dem vom Lebensbaum Abgefallenen
stellt und sie zurückträgt und auf den Baum des Lebens wieder aufpfropft. Glauben Sie
denn, dass diese Worte in der Bibel alle nur Redensarten sind?«42 Die heutige Redensart
»Resilienz« ist eine schwache Lizenz auf diese biblische Forderung!
Frankfurt am Main, 30. Januar 1959, Paulskirche.
Diese Rede Eugen Rosenstock-Huessy wurde auf der Jahrestagung der
Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 in der Paulskirche gehalten. Sie darf als eine
der großen auf Deutsch gehaltenen Reden überhaupt gelten. Er sprach zu
»Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft«.43 Wie alle anderen von ihm gehaltenen
großen Reden haben sie fast keine Spuren hinterlassen. So kann man dagegen nur geltend
machen, dass sie eine reiche Ressource zukünftiger, aber schon wirksamer Verheißungen
bilden mögen.
In dieser Rede zu der heute brennenden Frage, wie die Weltwirtschaft von den sie
bestimmenden kriegerischen Schaltvorgängen (vom elektronischem Frequenzhandel über
41
Dazu Wolfgang Ullmann. »Ama quia durissimum – Imperativ der Menschlichkeit inmitten der Gefahr
ethnokratischer Regression« (1993) in Ders. Wir, die Bürger! , S. 164-174. Sehr aktuell!
42 FB 142.
43 FB 144-162.
13
die Börsen, unter denen es welche gibt, die nur auf der Spekulation des Untergangs der
Erde beruhen – z. B. Emissionshandelsbörsen – , bis hin zu den Giftbanken) zu
Teilkräften künftiger Solidarität umgewandelt werden können, formuliert RosenstockHuessy zwei Grundbedingungen: 1. »Die künftige Solidarität, deren Fehlen uns heute
noch plagt, weil der Geist nicht wehen will, ist die Solidarität all derer, die sich unter dem
Zwang des technischen Fortschritts ändern müssen. Wandlungsfähig muß jedes Mitglied
der Gesellschaft bleiben.«44 2. »Den seelischen Zutritt zu dem Rohstoff Mensch zu
pflegen, ist die Friedensbedingung einer Weltwirtschaft.«45
Es geht nicht um eine weitere hilflose Beschwörung des »flexiblen Menschen«.
Dessen unendliche Flexibilisierung schafft täglich neue Fakten. Vor allem das, dass es
unabänderlich
hinzunehmen
scheint.
Was
aber
verdeckt
sich
hinter
dieser
‚Anscheinsgegenwart’ (specious present) unendlicher Flexibilisierung – möglichst in »real
time« (Echtzeit)? »Wir alle müssen die Rhythmen unserer Arbeit, ja, unserer Kalender
ändern. Jeder Wechsel im Rhythmus des Lebens tut weh. Die Schmerzen des
Rhythmuswechsels beschämen uns. Er muß daher ausdrücklich eingeübt werden, um
erträglich zu wirken. Der modernste Unternehmer und die hinterwäldlerische
brasilianische Dorfgemeinde haben miteinander gemein die Wachstumsschmerzen des
unaufhörlichen Rhythmuswechsels. Das ist die neue Solidarität; sie fordert Pflege, weil
jeder Schmerz des einzelnen immer nur durch soziales Brauchtum zur adeligen
Gewohnheit werden kann.«46
Eugen Rosenstock-Huessy kann und will keine Lösungen auftischen. Das kann ein
Gesellschaftsreformer, also eine letzte Wandelgestalt der sittlichen Existenz der
hebräischen Propheten, aber auch jemand, der dem Ruf »Jesus is the Christ« der
Evangelien, nicht aber Thomas Hobbes’, folgt, gerade nicht, er kann jedoch ein Passwort
aufstellen, welches nicht den Zugang (access) zu einem weiteren »gadget« erlaubt, sondern
welches einen möglichen »seelischen Zutritt« zu uns selbst gewährt und einräumt, welches
also einer Antwort durch uns selbst bedarf, und diese ist nur möglich, wenn wir einander
Zeit nicht nur nehmen, sondern einander entbieten und gewähren. Dies verlangt eine neue
Form von Freiheit, nämlich sich innerlich Zeit nehmen zu können. Weiters verlangt dies,
44
FB 150.
FB 161; 155 ff.
46 FB 150 f.
45
14
dass wir furchtlos auftreten – gegenüber den Problemen und jedem Hinderer,47 aber
auch gegenüber dem Anderen und uns selbst. Es muß erlaubt sein, den anderen mit sich
selbst zu konfrontieren, ihn danach zu befragen, was ihn überhaupt befähigt und
persönlich auszeichnet. Zeichnet einen selbst solcher Freimut aus? Und lässt sich der
andere, wie auch sich selbst, auf ein Gemeinsames festlegen? Zumindest auf eine
bestimmte Zeit, die also einer bestimmten Verheißung und eines bestimmten Geheißes
bedarf, sonst können wir überhaupt nicht »die Zeit ernst nehmen« (Franz Rosenzweig).
»Weil die Weltwirtschaft sich weder auf Missionare der Kirche noch auf Kriegsschiffe
der Staaten verlassen kann, muß sie den Gegenrhythmus zu ihrer eigenen technischen
Rhythmik kontrapunktisch selber erzeugen. Einstmals hieß es: Gegen Demokraten helfen
nur Soldaten. Das kommt mir etwas unfruchtbar vor. Wie wäre es mit dem neuen Vers:
Gegen Waren und Maschinen hilft nur – Du musst selber dienen!«48 Rosenstock-Huessys
Vorschlag war, jede(r) solle sich mindestens ein Jahr auf ein »Friedensdienstjahr« einlassen.
Im Unterschied zum Zivildienst für die Bundeswehr, den er schon 1912 gefordert hatte
(unter dem Titel »Ein Landfrieden«), auch im Unterschied zu den uns bekannten
Sozialdiensten oder zu einem Freiwilligen Ökologischen Jahr oder zum Dienst in NGO’s
heute, forderte Rosenstock-Huessy, dass dieser freiwillige »Dienst« unter absolutem
»inkognito«49 zu erfolgen habe, also Dienst wieder enger an Demut gerückt werden sollte.
Ob dies noch eine Möglichkeit unter Bedingungen technischer Zivilisation und
Kommunikation
(abgesehen
von
den
heutigen
Zwängen
der
Kranken-
und
Sozialversicherungen) ist, wäre eine Frage. Jedenfalls: »Nun beginnen Sie vielleicht zu
ahnen, wer wir selber eigentlich sind: Wir sind nicht der Mann des letzten Fortschritts, des
neuesten Patents, der raffinierten Maschine. Die muß ich freilich verkaufen, liefern,
aufstellen, absetzen; aber »wir selber« sind nicht dieser Sekundenmensch an der äußersten
Spitze. Wir kommen aus der Ewigkeit aller Geschlechter.«
Genf 1936, Berlin 1932
47
Bubers Übersetzung des hebräischen Wortes ‚Teufel’. Ein sehr aktuelles Buch des Schweizer Föderalisten
Denis de Rougemont. Der Anteil des Teufels. Wien: Amandus 1949. Ganz im Geiste Rosenstocks sein Die
Zukunft ist unsere Sache. Stuttgart: Klett-Cotta 1980. Wieder zu entdecken!
48 FB 155.
49 FB 162. »Die Solidarität hält uns offen und hält die Welt offen. Darauf kommt es bei einem blutig ernsten
Friedensdienst an. Er ist keine Spielerei. Er ist ein Jubeljahr. […] Die Solidarität des technisch
fortgeschrittensten mit dem technisch Rückständigsten gibt den seelischen Zutritt zu sich selber.“ FB 159.
Diese Solidarität als Friedensdienst ist komplementär verbunden mit „Inkognitodienst“. Ganz im Gegensatz
zu den VIPs von heute. Vgl., auch FB 155. Minimum nach Rosenstock-Huessy ein Jahr!
15
Auf dem Scheitelpunkt von Eugen Rosenstock-Huessys »bewährter Lehre«, freilich
in einer Zeitfalte versteckt, befindet sich dessen Vermächtnis, welches, obzwar »der
Zukunft zugewachsen«, noch einmal an- und ausgesprochen werden müsste, damit es
»von Gläubigen angewendet« werden kann, denn »nur das kann sich ja bewähren, was im
Glauben empfangen worden ist. So könnte es eine »Friedensgruppe« stiften.
Um diesen Scheitelpunkt dieser Zukunft, wie sie von Rosenstock-Huessy
ausgesprochen wurde, ‚würdigen’ zu können, müssen wir an das Ende der 1970er Jahr
springen. 1980 veröffentlichte der grosse sozialistische und libertäre ökologische Denker
André Gorz (geb. 1923 unter dem Namen Gerhart Hirsch. Er emigrierte vor Hitler nach
Frankreich), der 2007 wegen der schweren Erkrankung seiner Frau zusammen mit dieser
durch Freitod aus dem Leben schied, seinen »Abschied vom Proletariat«.50 Die
tiefgreifenden Änderungen des Spätkapitalismus hatten jede Variante vom Proletariat
obsolet werden lassen. Seit Anfang der 1970er Jahre hatte auch schon der Siegeszug des
»personl computer« begonnen. Wie beschreibt Gorz nun die damalige aktuelle Lage? »Die
Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter umfasst die Gesamtheit der aus der Produktion durch
den Prozeß der Arbeitsvernichtung Ausgestoßenen oder der in ihren Fähigkeiten durch
die Industrialisierung der intellektuellen Tätigkeit (Automation und Informatik)
Unterbeschäftigten. Sie umfasst die Gesamtheit der Überzähligen der gesellschaftlichen
Produktion: gegenwärtig und virtuell, permanent und zeitweilig, total und partiell
arbeitslose. Sie ist das Verfallsprodukt der alten, auf Arbeit, Würde, Wert, sozialem
Nutzen, Arbeitsbedürfnis begründeten Gesellschaft. Sie erstreckt sich auf fast alle
Schichten […]. Die traditionelle Arbeiterklasse ist nur noch eine priviligierte Minderheit.
In ihrer Mehrheit gehört die Bevölkerung heute dem nachindustriellen Neoproletariat der
Status- und Klassenlosen an, die zeitweilig, als Ersatz- und Gelegenheitsarbeiter oder
Teilzeit-Angestellt, Hilfs- oder Aushilfsdienste verrichten – Tätigkeiten, die in nicht allzu
ferner Zukunft zumeist von der Automation ausgelöscht werden […]«.51 Dieser Abschied
verursachte damals gerade auf Seiten der Linken einen traumatisch wirkenden Schock.
Nichts mehr war wie vorher. Kurze Zeit später, im historischen Moment, wo ein Sozialist
1981 zum ersten Mal französischer Präsident werden sollte, erdrosselte der führende
marxistische Intellektuelle und Philosoph Louis Althusser (1916-1990) im gleichen Jahr, da
Gorz’ Abschiedsschrift erschien, seine jüdische Frau. Dieses Doppeldatum war das Ende
allen realexistierenden Sozialismus, welches dann real 1989-1990 eintrat.
50
51
Frankfurt/Main: EVA 1980; 2. Auflage Rowohlt Taschenbuch 7801Hamburg 1983.
André Gorz. Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, 1983, S. 63-64.
16
1932 hatte Eugen Rosenstock-Huessy seine letzte sozialpolitische Friedensschrift
unter dem Titel »Arbeitsdienst – Heeresdienst?« veröffentlicht, er widmete sie dem
Reichskanzler und Zauderer Heinrich Brüning (1885-1970). Die Lösung der
Weltwirtschaftskrise war mit friedlichen Mitteln nicht mehr möglich, als RosenstockHuessy diesen letzten Aufruf startete, auf christlicher Grundlage einen Totalumbau des
Kapitalismus auf friedlicher Grundlage zu wagen. Der Versuch, man weiß es, scheiterte.
Der »kriegerische Messianismus« des Nationalsozialismus hatte schon gesiegt, die
Machtübertragung braucht nur noch ausgefertigt und übergeben, das Kriegsrecht der
Gesellschaft gegenüber erklärt und durch Maßnahmen durchgeführt werden.52
In dieser Schrift, ihr gingen einige wichtige andere sozialpolitische Schriften voraus,
stellt Rosenstock der Lösung der Arbeitslosenfrage von damals den Totenschein aus. An
der Diagnose hat sich bis heute wenig geändert. Immer noch wird das Problem der
Arbeitslosigkeit wirtschaftspolitisch gesehen. Immer noch wird sie individualistisch
gesehen. Wie beim Arbeitslosengeld, so auch bei allen versicherungsrechtlichen Fragen. In
der Rentenfrage ebenso, auch in der individuellen Förderung durch Weiterbildung,
Weiterqualifikation. Nicht zuletzt im Falle von Harz IV.
Die Diagnose ist dieselbe, die 1980 Gorz anstellte: »Rosenstock geht von der
vorläufig unaufhebbaren Tatsache aus, dass die menschliche Arbeitskraft, in steigendem
Maße ersetzt durch die Naturkräfte, in keiner Beziehung mehr zur Fassungskraft der
Märkte steht und infolgedessen schlechthin aufhört, im bisher gütligen Sinne ein gut zu
sein. Auf Grund dieses Tatbestands trennt sich strukturell in der Gesellschaft die aus der
Wirtschaft entlassene, untätige Arbeitskraft von der tätigen: die bisherige Solidarität der
Arbeitskräfte wird zersprengt, da der frühere leichte Umschlag der Arbeitslosigkeit in die
Arbeit nunmehr für Millionern unserer Arbeitslosen nicht mehr in Frag kommt. Die
Arbeitslosigkeit ist zu einer neuen, potenzierten Form der Proletarisierung – zur heutigen
Form der Proletarisierung – geworden: ihr Kern ist nicht die Not des besitzlosen
Nichteigentümers, der fremdbestimmten Lohnarbeit, sondern die Not jener, deren
Arbeitskraft zur Untätigkeit verdammt ist und aufhört, ein wirtschaftliches und
gesellschaftliches Gut zu sein.«53 So ist die Lage bis heute. Sie hat sich einzig ins
52 Letzteres machte erstmals öffentlich der aus Deutschland emigrierte Jurist Ernst Fränkel in seiner bis
heute wichtigen Arbeit (z. B. für Syrien und anderswo) Der Doppelstaat. Herausgegeben und eingeleitet von
Alexander von Brünneck. 2. durchges. Ausgabe. Hamburg: EVA 2001 (Orig. 1938).
53 Ich zitiere hier eine Zusammenfassung von Rosenstock-Huessys katholischem Freund Ernst Michel
(1889-1964), der der Nachfolger von Rosenstock in der Leitung der Akademie der Arbeit wurde. In den
beiden Gedenkschriften der Akademie der Arbeit nach 1945 werden beide nicht genannt! Während des NS
zog sich Michel als Psychotherapeut zurück. Vgl. Ernst Michel. Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt. Ihrer
17
Universelle erweitert. Die Diagnose trifft so z. B. insbesondere (eine Potenzierung
mehr) auf die südlichen Länder der EU zu, wo über 50% aller Jugendlichen (ausgebildet
oder nicht) zu den „Ausgestoßenen“ gehören. Wie man weiß, sind es genau diese
Jugendlichen, die am stärksten an der »Arabellion« in den islamisch geprägten
Gesellschaften Nordafrikas und der arabischen Halbinsel beteiligt sind. Die kommenden
Ereignisse, so in den sog. Schwellenländern, sind auf demselben Vormarsch. In anderen
Weltgegenden sieht es ähnlich aus. Die Lage dynamisiert sich dramatisch. Kaum etwas
kann dem Einhalt gebieten, geschweige denn eine Lösung bringen. Was zeichnet sich
hinter diesen Ereignissen ab? Zum ersten Mal in der Gesamtgeschichte des Kapitalismus kann dieser
weder von außen her (durch Rückgriff auf Ausbeutung vor-kapitalistischer sozialer und
wirtschaftlicher Verhältnisse) noch ‚aus sich selbst heraus’ (à la Münchhausen) die sozialen
Verhältnisse reproduzieren, dank derer er nur produzieren kann. Auch dem heutigen HyperKapitalismus wird es nicht gelingen, sich selbst zu regenerieren. Die Ressourcen dazu sind
höchst begrenzt. Sein Ende in dieser Form ist absehbar. »Das Ende der Welt, wie wir sie
kannten« – ein erster eschatologischer Titel ohne jede Theologie – ist längst eingetreten.54
Es bildet das »Hinterücksdogma« (ein schöner Neologismus Rosenstock-Huessys)
zunehmender sozialer Verzweiflung bei gleichzeitiger technologischer und medialer
Euphorie.
Zumindest den Hintergrund dieses Hinterrückdogmas hat Rosenstock-Huessy 1932
benannt: »Es erhebt sich aus dieser strukturellen gesellschaftlichen Umlagerung die
Aufgabe, diese neue Proletariat, das anderer Art ist als das alte, in die Gesellschaft
hineinzuverfassen: also für eine ganze Schicht neue Funktionen zu schaffen, überflüssige
Arbeitskraft als Volkskraft in nicht marktmäßigen und doch lebensnotwendigen Formen
zu speichern.« Damit spricht Rosenstock-Huessy etwas Neues an: es geht um den Vorrang
des Volkes vor der Gesellschaft. Als Christ, als Gesellschaftsmitglied und Wissenschaftler
jüdischer Herkunft versteht unter »Volk« eben nicht, wie sonst bei allen anderen während
der Weimarer Republik, seien es nun solche aus Kirche, Staat, Gesellschaft, Wissenschaft
oder aller ‚völkischen’ Ideologien, die Homogenität einer ‚Volk’ genannten Entität. Im
Judentum und in der hebräischen Bibel ist das Volk immer Volk Gottes und alle, die
Krisenformen und Gestaltungsversuche. Frankfurt/Main: Josef Knecht 1953. Diese Schrift erschien erstmals 1932.
Sie wurde ein Klassiker der Betriebswirtschaft und der Industriesoziologie. Sie erschien unverändert 11947; 2
1950; 3erw. 1953; 1960. Hier S. 344 ff.
54 So lautet der Bestseller von Harald Welzer und Claus Leggewie zu unserem Verhalten kognitiver Dissonaz
gegenüber dem Klimawandel. Jeder weiss darum, aber tut alles, um ihn zu befördern. Harald Welzer zieht
daraus die Konsequenz in seinem neuen wichtigen Buch (ganz auf der Linie von Rosenstock-Huessy) Selbst
Denken. Frankfurt/Main: Fischer 2013.
18
dieses Volk bilden, leben eine Heterogenität, die sich durch die Freiheit zur Aufnahme
von Fremden in ihrer Heterogenität und in ihrem Glauben gewiß und verantwortlich
weiss. Dies ist auch das Verständnis von ‚Volk’, welches Rosenstock-Huessy in allen
seinen Arbeiten zugrundelegt und in seinen rechtsgeschichtlichen Arbeiten untersucht.
Auch das ‚deutsche Volk’ ist und war niemals homogen zwangsformiert,55 sondern eine
geschichtlich heterogene und polyphone Mannigfaltigkeit.56 Rosenstock-Huessy benennt
darum als letzten Horizont der Reproduktion bzw. Regeneration (die sich nicht mit der
von Marx decken) die »Reproduktion der Produktionsordnung selbst« als »die Produktion
der Produzenten«.57
Zu eine vertieften Diskussion kam es durch den Nationalsozialismus nicht mehr.
Nach 1945 kam es zu Erweiterungen, die während der Weimarer Zeit nicht mehr zum
Zuge kamen. Man denke etwa an die Mitbestimmung.
Eugen Rosenstock-Huessy ergriff noch einmal 1936 in einer Denkschrift für den
Ökumenischen Rat der Kirchen unter dem Titel »Heilsgeschichte wider Theologie. Eine
Kritik der Schrift „Die Kirche und das Staatsproblem on der Gegenwart“ des
Ökumenischen Rates der Kirchen (1936)«58 das Wort, in der er eine Synthese aller dieser
Fragen als Christ in der Ökumene wagte. Zugleich war seine Denkschrift eine Kritik der
Schrift »Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart«, die unter der Federführung
des protestantischen Theologen Paul Althaus im Auftrag der Forschungsabtailung des
Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum (11934, 2erw. 1935) vorgelegt worden
war.59 Rosenstock-Huessys »vertrauliche« Intervention richtete sich gegen diese Schrift,
weil sie im praktischen Leben einer Verteidigung des ‚totalen Staates’, also des Staates des
Nationalsozialismus, gleichkam. Diese Denkschrift, welche den Juristen und den
theologisch gebildeten christlichen Laien auf der Höhe seiner literarischen, juristischen
und theologischen Meisterschaft zeigt, verdiente eine detaillierte Diskussion heute. Sie
55
So die gesamte »völkische«, darum antisemitische und antijudaistische Literatur, sowohl die populäre wie
auch die wissenschaftliche. Vgl. dagegen Rosenstock-Huessy. Im Kreuz der Wirklichkeit.
56 Eugen Rosenstock-Huessy. »Die Polyphonie des Volkes« (1926) in Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. 2,
S. 156 ff. Zur selben Zeit prägte Rosenstock-Huessy den Begriff »Mehraltrigkeit«. Der Politiker ist einaltrig,
die Lehrer, siehe die bewährte Lehre, müssen mehraltrig sein.
57 Vgl. vor allem den zweiten Teil von Eugen Rosenstock-Huessy. Der unbezahlbare Mensch. 1955.
58 Veröffentlicht in Heilkraft und Wahrheit, 1952, S. 22-50. Das Typoskript ist mit »Vertraulich« versehen. Sie
diente wohl als Vorlage für die ökumenische Tagung 1937 in Oxford unter dem Titel »Church, Community,
and State«, über die ein ausführlicher Bericht von Rosenstock-Huessys Freund Oldham im gleichen Jahr in
Chicago erschien.
59 Zu diesem Theologen gibt es jetzt zwei Untersuchungen. 1. Andre Fischer. Zwischen Zeugnis und Zeitgeist.
Die politische Theologie von Paul Althaus in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012; 2.
Gotthard Jasper. Paul Althaus (1888-1966). Professor, Prediger und Patriot in seiner Zeit. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 2013.
19
steht auch in Zusammenhang mit seiner Mitarbeit der Schocken-Ausgabe der Briefe
seines Freundes Franz Rosenzweig, die 1935 noch in Berlin erscheinen konnte. Im
Anhang dieses Bandes veröffentlichte Rosenstock-Huessy seinen Briefwechsel mit Franz
Rosenzweig aus dem Jahre 1916 unter dem Titel »Judentum und Christentum«, welches er
mit einem Vorwort versah, in welchem er sich gegen die Position von Karl Barths
»Theologische Existenz heute« (Juli 1935) wandte, dagegen die Position seines Freundes
Hans Ehrenberg setzte, welcher die gesellschaftliche und christliche Verteidigung der
Juden zum Eckstein des Kampfes gegen den Nationalsozialismus gemacht hatte. Diese
Position wurde aber von Karl Barth in den Kämpfen um das Barmer Bekenntnis nicht
zugelassen.60
Rosenstock-Huessy Denkschrift bildet einen der wichtigsten programmatischen
Grundlagen für eine ökumenische Sozialethik und für einen ökumenisch-ökologischen
Sozialprotestantismus. So wie das erste Jahrtausend um den »Singular des Einen Gottes in
Durchsetzung gegen den Plural der vielen Abgötter« rang, im zweiten Jahrtausend um
»den Singular der Einen Welt« durch die grossen europäischen Revolutionen und durch
die Globalisierung, so wird es im dritten Jahrtausend um die Durchsetzung »des Singulars
des Einen Menschengeschlechts gegen die verschiedenen Lebensalter im Volk, gegen die
verschiedenen Rassen unsers Stammbaumes und gegen die Klassen in der Gesellschaft
gehen.«
Was ist der neue Horizont, den diese Denkschrift für eine solidarische Gesellschaft
durch bewährte Lehre aufreißt?
»Die gesellschaftlichen Probleme der Zukunft weisen alle einmütig ein Merkmal auf,
das sie von den territorialen Problemen der Staatenwelt unterscheidet. Alle
gesellschaftlichen Probleme beschäftigen sich mit dem Übergang des Menschen aus einer
Lebensform in eine andere. Hier wird immer gerechnet mit einem Wechsel, einer
Veränderung, einer Überführung aus einem Zustand in einen anderen. […] Da der
Mensch sich wandelt, so sind alle die Zustände, Arbeitsplätze und Standpunkte, die er
einnehmen kann, auf Zeiträume beschränkt, die kürzer als lebenslänglich sind. [….]
Unsere Erkenntnis, dass die Gesellschaft es mit den vergänglichen Lebensformen zu tun
hat, mit den nicht-lebenslänglichen Zuständen des Menschen, führt also unmittelbar zur
praktischen Anwendung. […] Die heilsgeschichtliche Betrachtung lehrt die Mehrzahl der
Wirtschaftsformen. Wo immer aber ein notwendiger Wechsel durchgemacht werden muß,
60 Dazu die wichtigen Arbeiten von Pfarrer Wolfram Liebster. Theologie im Lichte des neuen Denkens. Bad
Neuenahr-Ahrweiler: Warlich 2010, S. 176 ff; 222 ff.; 394 ff. et passim.
20
da bedarf es der Erziehungsformen, mit deren Hilfe man lernt, aus einer solchen Form
in andere Formen hinüberzuleben. – Unser gesellschaftliches Problem ist daher heute,
solche Gefäße bereitzustellen, die den Menschen darauf vorbereiten, dass er sich in
größeren und kleineren Lebensperioden immer wieder neu verbünden und neu lösen muß.
Das ist etwas Neues.«61 Die Kirchenmänner lässt vor dieser Aufgabe die Theologie im
Stich, die Wirtschaftspolitiker die Ökonomen, die gesellschaftlichen Institutionen die
Soziologen.
Dies heißt mit anderen Worten, dass erst einmal nicht im Zentrum zur Lösung dieses
Neuen die großen Institutionen, die Fachleute und die Wissenschaftler stehen, sondern
zunächst einmal wir alle selbst als – Bürger. Diese gesellschaftliche Einsicht wurde uns in
ganz Europa jedoch durch die ost-europäischen Bürgerbewegungen wieder beigebracht,
die 1989-1990 das Ende der kommunistischen Staatenwelt herbeiführten. Das Wort der
Stunde war – Solidarität! Das ist gerade am westlichen Kap Europas weder bei der
politischen Klasse, den öffentlichen Intellektuellen oder den Bürgern selbst angekommen.
Sie – wir alle – bedürften ihrer zivilen Urteilskraft, deren herausragendster christlicher
Zeuge im 20. Jahrhundert Eugen Rosenstock-Huessy war. Damit er es wieder werde, gilt
es, sein Vermächtnis erneut und neu wieder öffentlich zu machen und zu debattieren.
Noch besser: durch soziale neue Formen überflüssig zu machen. Um unser aller Zukunft
willen! Aber wie gesagt: Antworten erteilen wir durch uns selbst!
Michael Gormann-Thelen
Altenbekener Damm 41
30173 Hannover
[email protected]
61
Heilkraft und Wahrheit, S. 31 ff.

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