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Foto: Matthes & Seitz
Literatur als Zeugenschaft
Warlam Schalamows erschütternde »Erzählungen aus Kolyma« III.
Von Stefan Möller
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»Man schreibt es auf – und kann es vergessen …«
Schreiben, um zu vergessen – mit diesem Gedanken endet eine der „Erzählungen aus Kolyma“, die im dritten
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Band der Werkausgabe von Warlam Schalamow unter dem Titel „Künstler der Schaufel“ versammelt sind. Die
Dur
Erzählung ist überschrieben mit „Der erste Zahn“. Der erste Zahn, der einem Häftling auf dem Weg ins Lager vonErz
einem Begleitposten ausgeschlagen wurde und der sinnbildlich für die Entmenschlichung, für den vollkommenen Aus
Her
Verlust der Humanität im System Gulag steht. Dieser erste ausgeschlagene Zahn ist Symbol für den Verlust
vers
jeglicher Würde.
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Warlam Schalamow hat fast 20 Jahre seines Lebens in den Lagern der Kolyma, im
nordöstlichsten Teil Sibiriens verbracht. 1953, nach Stalins Tod, wird er entlassen, lebte erst
bei Kalinin und kehrte einige Jahre später zurück nach Moskau. Schreiben, um zu vergessen – Hör
das Vergessen hat Schalamow nicht geschafft, das Lager ließ ihn zeitlebens nicht mehr los.
Bereits kurz nach seiner Entlassung beginnt er, das Erlebte in eine Vielzahl von Erzählungen zu W
transformieren. In einem Zeitraum von reichlich zehn Jahren - die frühesten Erzählungen sind L
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auf das Jahr 1954 datiert, die späten stammen aus den Sechzigerjahren - entsteht mit dem
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Kolyma-Zyklus ein Werk, das in seiner Behandlung des Themas – von Gabriele Leupold
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vortrefflich ins Deutsche übertragen –einzigartig in der Literaturgeschichte ist.
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Innenleben des Gulags
Zwei wesentliche literarische Stimmen haben vom Innenleben des Gulags berichtet. Alexander
Solschenizyn, der ungleich bekanntere, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete Autor,
hat mit „Der Archipel Gulag“ eines der wirkungsmächtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts verfasst und den Alltag w
des Lagers in „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ in einer Erzählung kunstvoll verdichtet. Warlam
Schalamow hingegen wurde in der russischen und westeuropäischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Die Werke beider Autoren unterscheiden sich im Stil fundamental. „Der Archipel Gulag“ trägt den Untertitel
„Versuch einer künstlerischen Bewältigung“. Es handelt sich um kommentierende, Fragen aufwerfende Prosa,
Solschenizyn unternimmt den Versuch, Motive zu verstehen und aufzuzeigen. Ironie findet sich ebenso wie Spott,
da ist vom »herzallerliebsten Staatsanwalt« die Rede, da wird angesichts der Tatsache, dass die Häftlinge auf den
Transporten Salziges zu essen, aber kaum Wasser bekamen, sarkastisch die Frage an den Leser gerichtet »Nicht
um die Menschen zu quälen, aber – wüssten Sie was besseres vorzuschlagen? Womit hätte man das Pack
unterwegs füttern sollen?«
Nichts davon bei Schalamow. Durchgehendes Stilmittel der Erzählungen ist die sprachliche Reduktion und das
Fehlen jeglicher Empathie. Der Künstler ist im Lager, erfroren, verhungert, das Kunstvolle wurde gestohlen,
erschlagen. Schalamow kann dem Erlebten nicht mit den Mitteln der tradierten literarischen Form begegnen,
einem Erlebten, dass keinen Millimeter Platz für sprachliche Verzierung lässt. Aber: Gerade im Verzicht auf
jegliche moralische Kommentierung des Systems, jegliche (Be-)Wertung des Handelns, jegliches Mitgefühl für die
Protagonisten der Erzählungen zwingt den Leser gedanklich in die Welt des Gulags, einem Zwang, dem man sich
während der Lektüre oft entziehen möchte, es aber nicht kann. Die Lektüre ist quälend und „quälend“ ist das
höchste Lob, dass man dieser Prosa aussprechen kann. Das Unbehagen steigert sich langsam. Die Szenen
kommen ohne drastische Effekthascherei aus, ohne allzu detailliert beschriebene Grausamkeit. Es ist die
Aneinanderreihung, die ein komplexes Bild der Ausweglosigkeit und des Verlusts der Moral entstehen lassen.
Schalamow bietet dem Leser keine Fluchtmöglichkeiten, keine Katharsis deutet sich an. Der Mensch ist seinem
Schicksal ausgeliefert und um es ertragen zu können, hört er auf, Mensch zu sein. Es bleibt nur seine äußere
Hülle, deren Handeln allein auf das Überleben ausgerichtet ist. Ein Überleben, das von vielen kleinen Faktoren und
Zufällen abhängt. Ob man einen wärmeren Schlafplatz ergattert oder die Suppenkelle bei der Essensausgabe nicht
nur Wasser, sondern auch etwas Einlage aus dem Kessel fischt. Die Krankenstation wird zum Sehnsuchtsort, hier
findet man ein paar Tage Ruhe.
Und der Leser wird zum aktiven ‚Zuschauer’, gezwungen, sich selber den elementaren Fragen humanistischen
Handelns zu stellen.
Schalamow überlebt den Gulag, weil er zum Feldscher, einem Hilfsarzt, ausgebildet wird, ein Posten, der anders
als die Arbeit im Bergwerk, Überlebenschancen bot.
»Und ich wäre gern ein Klotz.«
Die Erzählungen sind sorgfältig, ja bis zur Perfektion strukturiert und konstruiert. Es entsteht ein komplexes
Textwerk, das bedrückender kaum wirken kann. Der Leser findet sich in einem Spannungsfeld zwischen der
Sogwirkung des Textes und dem Wunsch, sich ihm zu entziehen.
Eine der eindrucksvollsten Textpassagen findet sich am Schluss der Erzählung „Die Grabrede“. Die Erzählung
nimmt ihren Anfang mit dem Satz »Alle sind sie tot …« Es folgt eine Aufzählung, die jeweils mit den Worten »Tot
ist« beginnt. Am Schluss sitzen Häftlinge beieinander und überlegen, was sie tun würden, wenn sie nach Hause
kämen. Von wartenden Ehefrauen, vom Sattessen wird geträumt. Schlussendlich ist noch ein Häftling an der
Reihe, seinen Traum vom Nachhausekommen zu erzählen. »Und ich wäre gern ein Klotz. Ein menschlicher Klotz,
versteht ihr, ohne Arme, ohne Beine. Dann würde ich in mir die Kraft finden, ihnen in die Fresse zu spucken für
alles, was sie mit uns machen.«
Nur als Objekt sieht er sich in der Lage, wütend zu sein, als Mensch fehlt ihm die Kraft.
An dieser Passage verdeutlicht sich auch: Schalamow benennt nicht die Verantwortlichen für das Lagersystem, er
klagt nicht wörtlich das stalinistische System an. Es sind „sie“, und „sie“ sind eine ferne, nicht greifbare Macht.
»Nicht-Menschen«
An die „Erzählungen aus Kolyma“, die im vorliegenden Band ihren Abschluss finden, schließen sich als zweiter Teil
die „Skizzen aus der Verbrecherwelt“ an. In den Lagern gab es zwei Gruppen von Gefangenen, die politischen
Häftlinge und die Kriminellen. Wohl dem, der als Krimineller ins Lager kam. Privilegiert und von stalinistischen
System zu Handlangern bei der Ausrottung der Trotzkisten gebraucht, installierten sie ein, zusätzliches, System
der Unterdrückung ihrer Mithäftlinge. Sie lebten in ihrem eigenen, nach strengen Regeln funktionierendem
System, dass auf bedingungslosem Respekt und absoluter Unterdrückung der Anderen beruhte. Ihre Chancen, die
Haft zu überleben, waren ungleich höher als die der politischen Häftlinge, die der Brutalität hilflos
gegenüberstanden.
Verzichtet Schalamow in den „Erzählungen“ auf jegliche Wertung, verleiht er seiner Verachtung gegenüber der
Verbrecherkaste in den „Skizzen“ in aller Deutlichkeit Ausdruck.
Hier spricht er jegliche Menschlichkeit ab. Im Unterschied zum ‚normalen’ Lagerinsassen, der häufig den Kampf
gegen das Lager und damit seine Menschlichkeit verlor, hatten die Kriminellen nie Menschliches an sich, sie sind
»Nicht-Menschen«. In den „Skizzen“ beschreibt Schalamow interne Strukturen, Auseinandersetzungen der
verschiedenen Verbrecherströmungen und Handlungsweisen. Hier legt der Autor stärkeren Wert auf den
chronistischen Aspekt der Prosa. Dass sich derartige Strukturen bis heute erhalten haben, kann man in Nicolai
Lilins „Sibirische Erziehung“ nachlesen, im Frühjahr bei Suhrkamp erschienen.
Im Eingangskapitel rechnet er mit der Romantisierung des Verbrechers durch die russische Literatur ab. Er hat die
Verbrecher überlebt und hat nichts romantisches finden können. Nur Unmenschlichkeit.
So enden die „Skizzen aus der Verbrecherwelt“ auch mit dem Ausruf»Karthago muss zerstört werden!
Die Welt der Ganoven muss vernichtet werden!«
Es gibt wenige Werke, bei deren Lektüre sich der Leser so unwohl fühlen wird, deren Wirkung so intensiv so
intensiv ist. Man weiß nicht, wie oft in den letzten Jahren eine Veröffentlichung als „literarisches Ereignis“
angepriesen wurde. Über die „Erzählungen aus Kolyma“ war dies nicht zu lesen. Selten aber wäre dieses Prädikat
treffender.
Dem Verlag Matthes & Seitz für die Veröffentlichung zu danken – ach, geschenkt! Matthes & Seitz muss man
sowieso immer danken. Ein Glücksfall für jeden, der unter Literatur nicht Nicholas Sparks versteht. Dessen
neuester Erguss ist bei Thalia aktuell „Buch des Monats“ (Kostenpunkt für den Titel „Buch des Monats“: 50 000
EUR). Verlagsvertreter von Matthes & Seitz werden bei Thalia nicht mehr empfangen. Keine Vampire im
Programm und überhaupt zu wenig massenkompatibel. Und hätte diese Einstellung nicht auch finanzielle
Auswirkungen – ein größeres Lob kann ein Verlag doch eigentlich nicht bekommen!