Soziale Arbeit – die Dienerin der Fürsorge Der
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Soziale Arbeit – die Dienerin der Fürsorge Der
Soziale Arbeit – die Dienerin der Fürsorge Der Mensch ist ein soziales Wesen, dessen Entwicklung und Selbstverwirklichung sich innerhalb gemeinschaftlicher, sozialer und politischer Bezüge vollzieht. Daraus stellt sich im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung die zentrale Frage, ob und inwieweit die gegenwärtige Gesellschaft – und erkennbare Veränderungsprozesse im Sozialen – Möglichkeiten zu einem selbstbestimmten Leben unterstützen oder verhindern, ob sie ein Leben in Würde fördern, gefährden, beschädigen oder gar verunmöglichen. von Aiha Zemp Die folgenden Gedanken verstehe ich als kritische Reflexion. Dabei werde ich nicht darum herum kommen, Entwicklungen der Gesellschaft und des Sozialen auf mögliche Pathologien derselben zu untersuchen, was mir jedoch in diesem Rahmen nicht in umfassender Analyse, sondern lediglich fragmentarisch möglich sein wird. Gegen das Vergessen Oberflächlich gesehen geht es hierzulande den Menschen mit Behinderung heute besser: Sie betteln nicht mehr auf der Strasse, in den Heimen sind sie nicht mehr in Zwölf−Bett−Zimmern verwahrt, es gibt einige Fahrdienste für behinderte Menschen und bereits vor acht Jahrenhat der damalige Verkehrsminister Ogi einen behindertengerechten Verkehr versprochen (die Mühlen mahlen laaangsaaam). Dass es aber die Geschichte des behinderten Menschen als akzeptierten Menschen bis heute nicht gibt, hat uns die Abstimmung über das Gleichstellungsgesetz im Mai dieses Jahres sehr deutlich gezeigt. Die Verachtung, die Aussonderung bis hin zur körperlichen Vernichtung von Menschen mit Behinderung ist im Verlaufe der Menschheitsgeschichte ein kontinuierlicher Prozess, an dem DenkerInnen ihrer jeweiligen Epoche (in den vergangenen zehn Jahren z.B. der australische Philosoph Peter Singer), geistliche Würdenträger, MedizinerInnen usw. ihren Anteil tragen. Zum Objekt erniedrigt, unter das Tier gestellt, zur Anbiederung an die Normalität gezwungen und damit einhergehend zur Verachtung des eigenen Andersseins gedrängt – das ist die behinderte Geschichte. Die vielen verschiedenen Formen des Umgangs mit Menschen mit Behinderung können hier nicht ausführlich dargestellt werden. Entscheidend ist aber das Bild, das sich die nichtbehinderte Umwelt von Behinderten gemacht hat und noch heute macht. Für die Naturvölker war körperliche Abweichung immer ein Manko, und ob davon betroffene Menschen überhaupt am Leben gelassen wurden, hing von den Vorstellungen der sie umgebenden Gesellschaft ab. Bei den Germanen wurden behinderte Kinder umgebracht, wenn der Vater es so haben wollte (es wäre interessant, genauere Forschung anstellen zu können über einen möglichen Zusammenhang von Patriarchat und der Tötung von behinderten Menschen oder überhaupt sogenannt insuffizientem Leben). Mit dem Aufkommen von gesellschaftlichen Strukturen wurde die Frage gestellt, ob das Überleben eines Menschen mit Behinderung als notwendig erachtet werden kann. Die Möglichkeiten der Hilfe für Behinderte und ihre tatsächliche Realität werden im antiken Griechenland offensichtlich: Einerseits wurden auf dem Gebiet der Medizin bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse 1 gemacht, andererseits sind Menschen mit Behinderung erniedrigt, versteckt oder auch getötet worden. In Sparta wurden alle Neugeborenen mit einem sogenannten Mangel vom Felsen Taygetos gestürzt, Im römischen Reich wurde, wer den übergeordneten Werten von Kriegsfähigkeit und ökonomischer Verwertbarkeit nicht entsprach, rigide ausgesondert. Die Tötung von behinderten Kindern wurde erstmals gesetzlich erlaubt, wenn fünf Zeugen das Kind zur Missgeburt erklärt hatten. Wo militärische und wirtschaftliche Kriterien oft das Ende eines Lebens mit Behinderung bedeuteten, setzte das Christentum an. Der Behinderte wurde zum leidenden Bruder (die Schwester natürlich miteingeschlossen), der aus Mitleid versorgt werden musste. Aber uneigennützig war dieses Verhältnis keineswegs. Pflegehäuser wurden gebaut als öffentliche Zeugen für vollbrachte Wohltaten, und mit Almosen für behinderte Menschen konnte man sich von gemachten Sünden loskaufen. Diese christliche Fürsorge bewahrte zwar viele vor dem Tod, bescherte ihnen aber nicht das Leben, denn sie wurden in der Rolle des Leidenden, des hilflosen Objekts festgehalten. Diese Pflegehäuser waren die Vorboten einer immer perfekter funktionierenderen Aussonderung. Auch Martin Luther akzeptierte Behinderte nicht als Menschen, denn er schlug vor, den ‚Wechselbälgen‘ (er unterschob diese Kinder dem Teufel) das ‚homicidum dranzuwagen‘. Mit der Entwicklung der Industriestaaten und der Entstehung der Klassengesellschaft wurden die Aspekte der Produktivität, der körperlichen und geistigen Unversehrtheit dominierend. Die Strassen wurden von den Bettlern geräumt, das Fürsorgewesen zunehmend von der öffentlichen Hand übernommen, die behinderten Menschen hinter Anstaltsmauern versorgt. Die Anzahl der Einrichtungen zur Aussonderung stieg mit zunehmenden medizinischen und sozialhygienischen Kenntnissen und mit ihnen die Spezialisierungen mit den einhergehenden Sonderbehandlungen. Aber die Menschen mit Behinderung blieben Objekte, die mit sich geschehen lassen mussten. In der Medizin werden seit dem 18. Jahrhundert Behinderte in körperlich Verkrüppelte, Schwachsinnige und Idioten getrennt. Mit dieser Aufteilung wurden verlässliche und noch verwertbare Behinderte von den wirtschaftlich Unbrauchbaren unterschieden. Auf diesem Hintergrund entstanden die Sonderschulen. MedizinerInnen und PädagogInnen sahen ihr oberstes Ziel erfüllt, wenn sie einen behinderten Menschen arbeitsfähig gemacht hatten, was in den meisten Fällen für Betroffene nicht viel anderes hiess, als auf eine bestimmte Funktion hin abgerichtet zu werden. Um die Jahrhundertwende wurde mittels der Ideen der Erb− und Rassenlehre aus dem Slogan der damaligen Fürsorge ‚Hilfe dem Hilflosen‘ ganz schnell die ‚Opferung der Hilflosen‘. Behinderte wurden für medizinische Versuche missbraucht, und unter dem Nazi−Regime sind sie mit den Juden, Fahrenden, Homosexuellen und anderen zusammen massenweise ins Inferno geschickt worden. Im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik erscheint Behinderung oft nur noch als Abschreckungsmittel. EthikerInnen sprechen behinderten Menschen wieder das Recht auf Person ab. Nicht−Personen sollen getötet werden dürfen, um, wie sie es nennen, ihnen das ‚Leiden zu ersparen‘. Behinderte selber werden jedoch nicht gefragt, ob sie überhaupt leiden, und wenn ja, woran. Um die Not des eigenen Leidens zu verdrängen,, will man sich der TrägerInnen des projizierten Leidens entledigen. Das Problemfeld Behinderung ist immer mehr in ein Spannungsfeld zwischen einer individuellen bedürfnisorientierten Förderung und einer am Kosten−Nutzen−Aspekt orientierten Entsorgungsdebatte geraten. 2 Gegen die Gleichmachung Der Normalitätsbegriff des ‚Üblichen‘, die umgangssprachlich am häufigsten verwendete Bedeutung des Normbegriffs im intuitiven Sinne, unterliegt dem gesellschaftlich−historischen Wandel. Normalität bzw. Abnormität bezüglich menschlichen Seins bezeichnen also zunächst keine objektiven Eigenschaften. Es sind vielmehr Perspektiven, mit denen jede Erscheinung, jedes Merkmal über die von aussen herangetragene Definition zum Beleg von Normalität und Abnormität werden kann. So gesehen bedeutet Normalität das uneingeschränkte Funktionieren im jeweiligen Sozial− oder Gesellschaftssystem. Eine solche Normalität ist als unreflektierter Konformismus zu verstehen und geht von der Prämisse aus, dass Menschen, die sich im gesellschaftlichen Rahmen mehr oder weniger ähnlich verhalten, als normal oder gesund gelten. Mit diesem Normalitätsbegriff ist eine Anspruchshaltung verknüpft, mit der als ‚normal‘ gilt, was die Bedeutung von ‚wünschenswert‘ hat und die Forderung nach ‚Normalität‘ möglichst lückenlos erfüllt. Normalisierung ist damit nichts anderes als der Anpassungsprozess an gesellschaftlich vorgegebene Normen. Wenn nun ein Mensch bei seinem Versuch, sich zu normalisieren, an für ihn unüberwindbare Grenzen stösst, wird das als soziales Problem definiert, und hinter diesen Definitionen stecken Interessen, denn soziale Probleme sind nicht einfach da. Diese Problemdefinitionen sind Teil von Machtstrukturen, und es ist keine neue Einsicht, dass die Machtressourcen bei den sogenannten Problemgruppen gering sind. Taucht ein solches Sozialproblem auf, sind Spezialisten als Vertreter der ‚Normalisierungs−Macht‘ nicht nur zur Stelle, sondern auch dazu legitimiert, den Normverstoss mit Hilfe von medizinischen, psychiatrischen, pädagogischen und sozialen Therapien in Richtung institutionell erwünschter Normalität zu korrigieren. Medizin, Fürsorge und Pädagogik sind die hauptsächlichen Träger dieser ‚Normalisierungsmacht‘, und die Sozialarbeit ist als Hilfs− oder Mitarbeiterin eine nicht zu unterschätzende Säule in diesem System. Norm, Normalität, Normalisierung sind Effekte einer Machtstrategie, die ein Interesse an Abweichungen, an Differenzen hat. Die Mehrheit braucht Minderheiten, um sich als Mehrheit definieren zu können, und sie muss alles daran setzen, diese Minderheiten in ihrer Position zu belassen, weil die Mehrheit das Bestehende zementiert und es letztlich die Minderheiten sind, die gesellschaftliche Veränderungen fordern oder gar zu erzwingen versuchen. Der Sozialarbeit kommt also in diesem System eine wichtige Rolle zu: Die Minderheiten so weit zu beruhigen, dass das ihr immanente revolutionäre Potenzial weiter schlummert und bei Frühlingserwachen nicht nach eigenem Leben verlangt. Für die Vielfalt Wir leben in der Zeit des Neoliberalismus, und die Globalisierung fordert Einheitskultur. Beiden liegen als Muster die Ungleichheiten zu Grunde und nicht die Verschiedenheiten, was zur Folge hat, dass weiterhin oder mehr denn je denen gegeben wird, die ohnehin schon haben. Unterschiede sind natürlich – Ungleichheiten jedoch nicht. Im Gegensatz zur Kultur der Behinderung braucht eine Kultur der Verschiedenheit als Prinzipien Respekt, Offenheit, Neugierde (nicht im Sinne von Gier, sondern im Sinne von Wundertüte) und Gedankenfreiheit. Der Diskurs über die Vielfalt ist der Diskurs über die Einmaligkeit der spezifischen Begabungen der Menschen mit besonderen Bedingungen und aufgrund dessen auch ihrer 3 besonderen Möglichkeiten, Bedürfnisse und Grenzen. Es geht um die grundsätzliche Akzeptanz des wirklich anderen Menschen, der als solcher teilhaben will und teilhaben soll am individuellen und gesellschaftlichen Menschsein. Vielfalt meint nicht nur die Menschen, die von der Gesellschaft als ‚behindert‘ definiert werden, sondern schliesst Geschlecht, Rasse, Religionszugehörigkeit usw. mit ein. Vielfalt bezieht sich darauf, dass jede Person in ihrem So−Sein akzeptiert wird, und nicht, wie irgendwelche Normen sie vorgeben möchten. Es geht nicht darum, die Bedingungen für eine gelingende Integration zu verbessern. Solche Bemühungen lassen Betroffene immer in einer ihnen feindlichen Welt zurück. Es kann also nur darum gehen, jegliche Art von Segregation, die unweigerlich zur Diskriminierung führen muss, sofort zurückzuweisen. Zur zentralen Aufgabe der Sozialarbeit gehört es, den ‚Randständigen‘ die von der Mehrheit festgelegten Spielregeln zu lehren. Dabei ginge es ganz grundsätzlich darum, ein neues Spiel mit allen für alle zu kreieren. Nicht die Minderheiten müssen sich ändern, sondern jegliches System, das irgend welche Segregationen hervorbringt, muss grundsätzlich verändert werden. An dieser Stelle sei einmal mehr Bertold Brecht zitiert: Um Hilfe zu verweigern ist Gewalt nötig. Um Hilfe zu erlangen ist auch Gewalt nötig. Solange Gewalt herrscht, kann Hilfe verweigert werden. Wenn keine Gewalt mehr herrscht, ist keine Hilfe mehr nötig. Also sollt ihr nicht Hilfe verlangen, sondern die Gewalt abschaffen. Hilfe und Gewalt geben ein Ganzes. Und das Ganze muss verändert werden. (Badener Lehrstück vom Einverständnis) Die Wahrung der Vielfalt ist ohne Forderung nach einer humanen und solidarischen Gesellschaft nicht möglich. Mit Wahrung der Vielfalt ist jedoch nicht Indifferenz gemeint, wie das in den Diskussionen der Postmoderne oft der Fall ist. In den letzten paar Jahren sind wir ZeugInnen des Verschwindens einer humanen, politischen und philosophischen Alternative zum Neoliberalismus geworden. Die Schattenseiten der Vernunft feiern Auferstehung. Soziale Verbindlichkeiten und Anerkennungsverhältnisse sind brüchig geworden. Anerkennungsverhältnisse aber bilden den Rahmen oder sind die Voraussetzung, dass individuelles Leben gelingen kann. Auch wenn in Zeiten der Ressourcenknappheit oft voreilig Kreativität abgeklemmt wird, dürfen wir unsere Visionen nicht zu Illusionen verkommen lassen. Auch wenn es vielleicht unmöglich erscheint, sind wir im Moment trotzdem aufgerufen, den Kampf gegen die ‚Pappmaché−Gesellschaft‘ aufzunehmen, um die Ethik des Habens in eine Ethik des Seins zu verwandeln. Das Paradigma der Selbstbestimmung In den 1980er Jahren erwachte eine Emanzipationsbewegung von Menschen mit Behinderung. Diese bewegten Behinderten lassen sich und ihr Leben nicht länger in Frage stellen, sondern hinterfragen die Norm− und Wertvorstellungen der nichtbehinderten Gesellschaft. Dabei ist die bestehende Distanz zum Normalen nicht zu beschönigen, sondern als Tatsache zu akzeptieren. Dies ist als Akt der Befreiung zu verstehen, weil das Streben nach Gleichheit immer zu Anpassung und damit zu Selbstunterdrückung geführt hat. Menschen mit Behinderung wollen nicht länger so 4 leben, wie es die Nichtbehinderten vorschreiben, sondern selbstbestimmt. Und das verlangt von der nichtbehinderten Gesellschaft ein gänzlich neues Bild vom Menschen mit Behinderung. Zynisch hat die Emanzipationsbewegung der Gesellschaft ihr Bild vom Behinderten gespiegelt: behindert = lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten. Der Kampf, sich aus diesem Unbild zu befreien, dauert an. Ein weiterer Akt ist die Befreiung von der Fürsorge, die Behinderte im Status des Objekts belassen hat, indem weiterhin über sie entschieden wird, was sie dürfen und was nicht. Die Invalidenrente (nur schon, dass wir nach wie vor eine Invaliden−Versicherung haben, wo doch mittlerweile allgemein bekannt sein sollte, dass invalid ‚ungültig‘ heisst) ist nach wie vor zu klein zum Leben und zu gross zum Sterben und wackelt ganz grundsätzlich durch Ressourcenknappheit und durch die gesellschaftlich bedingte Zunahme der Anzahl Menschen, die von der Versicherung abhängig sind. Noch betteln Behinderte nicht mehr auf der Strasse. An ihre Stelle sind Fürsorgeorganisationen getreten, die mit Plakaten im öffentlichen Raum und mit Behinderten als Werbeträger Geld sammeln. Paradoxerweise sind es dann wiederum die Betroffenen, die bei den SozialarbeiterInnen der Fürsorge um finanzielle Mittel bitten müssen, was an der Würde der Betroffenen kratzt. Auf diese Art werden Menschen mit Behinderung im Objektstatus gehalten, und die Fürsorge erhält sich damit selbst am Leben, weil diese Objekthaltung Menschen zu Ohnmacht und Passivität zwingt. Dies setzt eine Zerstörung der Persönlichkeit voraus, die fast jegliche Hoffnung und Neugier auf ein eigenes Leben aufgegeben hat. Die Bewegung von ‚selbstbestimmtem Leben‘ setzt der oben erwähnten Passivität, die früher oder später unweigerlich zur Resignation führen muss, eine klare Kraft entgegen. Sie propagiert eine neue Kultur des Helfens. Betroffene sind Experten in eigener Sache. Selbstbestimmung ist das oberste Prinzip von Empowerment. Es geht darum, den Kern des Guten im Widerstand zum Schlechten (Hoffnung und Neugier auf ein eigenes Leben aufgeben) affektiv gegenzubesetzen, auf dass weder die Kraft noch die Hoffnung verloren gehen können. Betroffene fordern also ihre Kompetenzen ein: Statt Almosen: Finanzkompetenz Behinderte wollen selber über die Mittel für Assistenz und Pflege verfügen. Anstatt irgend welchen Fürsorge−Institutionen, Spitex−Verbänden ect. Gelder für Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, sollen Betroffene die Gelder direkt ausgehändigt bekommen, damit sie nötige Assistenz nach ihren Bedürfnissen und Erwartungen finanzieren und sie flexibel an die – sich auch für sie immer wieder verändernden – Bedürfnisse anpassen können. Statt Bevormundung von Professionellen: Anleitungskompetenz Als Experten in eigener Sache fordern Betroffene die Wahl− und Kontrollmöglichkeiten bezüglich der eigenen Lebensführung. Sie nehmen selbst die führende Position Ihrer Hilfssysteme ein und lassen sich nicht länger fremd bestimmen. Das verlangt AssistentInnen, die sich von ihnen anleiten lassen, und die die Assistenz so leisten, wie die Betroffenen es wollen und brauchen, und nicht, wie es ihren eigenen Vorstellungen und Vorurteilen entspricht. Statt Unfähigkeit: Schulungskompetenz Wenige, die bevormundend sozialisiert wurden, verfügen über Erfahrung in der Führung von Angestellten. Oft wissen sie kaum etwas über ihre Rechte und wie sie ihre Interessen vertreten können. In Peer−Gruppen sollen diese Lücken gefüllt werden und BeraterInnen (selber auch 5 behindert) speziell für ihre Tätigkeit ausgebildet werden. Statt verwaltet: Organisationkompetenz Der Tagesablauf vor allem von Menschen, die in Institutionen leben, ist fremdbestimmt organisiert. Heimregeln geben Aufsteh−, Nachtruhe− und Essenszeiten vor. Selbst die Freizeitgestaltung ist zum größten Teil durchorganisiert (in manchen Fällen ist auch genau das Gegenteil der Fall: mangels Personal verwahrlosen die Leute in ihrer Freizeit) und persönliche Bedürfnisse müssen oft dem Gruppendruck weichen. Es geht darum, Menschen zu befähigen, dass sie sich ihren Alltag selbstbestimmt gestalten können, und das ist in Institutionen nur bedingt lösbar. Daher gibt es nur eines: Statt Zwangsunterbringung: Wohnkompetenz Menschen sollen trotz besonderer Bedürfnisse selber ihre Wohnung und ihren Wohnort wählen und dort alleine oder mit anderen Menschen nach freier Wahl leben können. Das ist nur möglich auf der Basis der persönlichen Assistenz. Diese Kompetenzen werden nicht nur für eine Elite von ein paar wenigen Körperbehinderten gefordert, sondern für alle Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Von nicht Behinderten, insbesondere auch von Professionellen verlangt dieser Paradigmenwechsel, folgende Prinzipien zu verinnerlichen: Bedingungslose Annahme der behinderten Menschen in ihrem So−Sein Verzicht auf etikettierende, entmündigende und denunzierende ExpertInnenurteile Respekt vor der Selbstverantwortung der auf Assistenz Angewiesenen Respekt vor der Sicht der Andern und ihren Entscheidungen Vertrauen in die Fähigkeiten der Einzelnen, ihr Leben in eigener Regie zu gestalten Vertrauen in die Fähigkeit der Einzelnen, Krisen zu meistern ernst nehmen und umsetzen der Rechte, die für alle Menschen gelten Selbstbestimmung ist als Mindeststandard auf jeden Fall erforderlich. Dass wir in der Schweiz meilenweit davon entfernt sind, hat das Abstimmungsresultat vom 17. Mai zum Gleichstellungsgesetz schonungslos deutlich gezeigt. Dieses Resultat fiel nicht nur wegen der masslos übertrieben dargestellten Kostenexplosion so haarsträubend aus, sondern auch wegen des immer noch herrschenden Menschenbildes in diesem Lande: Wer auf Hilfe angewiesen ist, bekommt aufgrund fremdbestimmter Urteile Almosen. Selbstverständliche Rechte werden weitgehend vergessen, oder neu zu schaffende Rechte verwässert, bis sie nicht mehr taugen, weil sie nicht einklagbar sind. Vor allem im Norden Europas könnte die Schweiz sehen, dass selbstbestimmtes Leben für Behinderte möglich und letztlich billiger ist als das fremdbestimmte. Selbstbestimmung, wie sie von Betroffenen gefordert wird, meint nicht eine inhaltslose Terminologie des Neoliberalismus, die sich wunderbar in den Individualisierungszug dieses Zeitgeistes einordnen lässt. Es ist klar, dass Selbstbestimmung im Zusammenhang mit behindertem Leben nicht denkbar ist ausserhalb der Beziehungsdimension. Selbstbestimmung ist nur lebbar in einem gemeinsam geteilten, intersubjektiven Lebenszusammenhang, in dem Vielfalt geschätzt wird und Grenzen 6 akzeptiert sind. Nur so können letztere erweitert werden, nur so kann die Würde des Menschseins garantiert werden. Selbstbestimmtes Leben ist für Menschen mit Behinderung ohne Solidarität nicht denkbar. Das verlangt, dass die ausschliessende Umwelt zur humanen Mitwelt wird. Zur Autorin: Aiha Zemp, Dr. phil. I, ist Psychotherapeutin, bis 1997 mit eigener Praxis. Im Auftrag der österreichischen Frauenministerin hat sie die weltweit ersten Studien zum Thema 'Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung' gemacht. Sie doziert regelmässig an verschiedenen europäischen Universitäten und Fachhochschulen, gibt Weiterbildungen für Professionelle in Institutionen und bietet Supervisionen in Institutionen an, vor allem zum Thema der strukturellen Gewalt. Sie lebt, schreibt und forscht seit Herbst 1997 in Ecuador und Basel. www.avenirsocial.ch 7