Der heilige Gral der Schulforschung

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Der heilige Gral der Schulforschung
Der heilige Gral der Schulforschung
Kleine Klassen, offene Unterrichtsformen: nicht so wichtig. Entscheidend hingegen: die
Haltung der Lehrer. Das bilanziert der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in
seiner Bestenliste wirkungsvoller Pädagogik: „Visible learning“. Nie gehört? Das könnte
sich ändern.
John Hattie, Neuseeländer, Bildungsforscher, Professor an der Universität Melbourne elektrisiert mit seiner 2009 erschienenen Studie „Visible learning“ die
pädagogische Welt. Die umfangreiste Metaanalyse der weltweite Unterrichtsforschung tritt an, die Grundsatzfrage der
Schulforschung zu beantworten: Was ist
guter Unterricht?“ Grund genug nachzufragen, ob John Hattie tatsächlich den Heiligen Gral (Times Educational Supplement)
gefunden hat.
wirkungsvollsten pädagogischen Konzepte. Hatties Bilanz, unter Experten mit der
großen internationalen Vergleichsstudien
PISA auf eine Stufe gestellt, versammelt,
was sich aus empirischen Studien über die
Bedingungen für den Lernerfolg von Schülern verallgemeinern lasse: „Wir diskutieren leidenschaftlich über die äußeren
Strukturen von Schule und Unterricht,“
kommentiert Hattie. „Sie rangieren aber
ganz unten und sind, was das Lernen betrifft, eher unwichtig.“
Das Material
Das „Hattie Ranking“ um die „Hattie Faktoren“
Sämtliche
englischsprachige
Studien
weltweit zum Unterrichtserfolg wurden
gesichtet, gewichtet und zu einer Synthese
der Unterrichtsforschung verdichtet. Mehr
als 800 Metaanalysen wurden ausgewertet, in die wiederum über 50.000 Einzelstudien mit 250 Millionen beteiligten
Schülerinnen und Schülern eingeflossen
sind. Die verschiedenen Unterrichtsmethoden und Lernbedingungen korreliert
der Statistiker mit Erfolgsfaktoren und
Effektstärken zu einer Art Bestenliste der
Ergebnis der quantitativen Studie („Meinungen gibt es genug, was zählt ist messbare Evidenz“) ist eine Rangliste von 138
Erfolgsfaktoren. An oberster Stelle der
Werteskala stehen Variablen, die sich auf
den Unterricht und das Lehrerverhalten
beziehen: Einflussfaktoren wie Selbstreflexion und klares Lehrerverhalten, methodische Fähigkeiten wie reziprokes Lehren
und Lernen, variantenreiches motivationsförderndes Feedback: sowohl an die Ler-
nenden als auch als Rückmeldung an die
Lehrenden. Maßgebliche Erfolgsfaktoren
auch die gedankliche Auseinandersetzung
der Schüler/innen mit dem eigenen Lernen, meta-kognitive Verfahren sowie die
Lehrer-Schüler Interaktion. Spektakulär,
Aspekte, denen gemeinhin Schlüsselstellungen eingeräumt werden, wie die finanzielle Ausstattung der Schule oder die
Schulform, rangieren in Hattie Ranking
weit unten. Wenig relevant für den Lernerfolg auch die sonst so vielbeschworene
Klassengröße: sie landet an Stelle 106 von
138 Plätzen.
Hatties bahnbrechende Botschaft
Unterschiede im Lernzuwachs resultierten,
Methodenstreit („offener Unterricht“,
„Lerncoaching“) hin, Lernformen („jahrgangsübergreifende Klassen“, „Individualisierung von Lernsettings“) her, kaum zwischen Schulen und Schultypen, sondern
zwischen Klassen und deren Personal. Auf
den Pädagogen und dessen „classroom
management“ käme es an. Ein „guter Lehrer“ sei strukturiert, stringent und fachbezogen, er kommuniziere klar und erkenne
schnell, etwa wann er auf eine Störung mit
Strenge und wann mit Humor reagieren
könne.
Pädagogik der Selbstreflexion und Empathie
Maßgeblich für das Gelingen des Unterrichts seien die personalen und unterrichtsbezogenen Aspekte: das lückenlose
„classroom management“. Allem voran
stünden dabei die Selbstreflexion und der
Perspektivenwechsel: „If the teacher’s lens
can be changed to seeing learning through
the eyes of students, this would be an excellent beginning“. Wie man sich diesen
Prozess vorzustellen hat, darüber schreibt
der Neuseeländer in seinem zweiten Buch:
„Visible Learning for Teachers“ (2011). Die
Quintessenz hier: Nicht die Schüler sind
für ihre mangelnden Lernfortschritte zur
Verantwortung zu ziehen, die Lehrer sind
es! Entscheidende Erfolgsgröße: die evalu-
ative Ausrichtung beim Lehren und Lernen
– Hatties Ideallehrer pflegt den systematischen Selbstzweifel: Er überprüft nicht nur
kontinuierlich den Lernstand seiner Schüler, er lässt sie regelmäßig über den Unterricht urteilen: Kein anderes Instrument
weist in Hatties Ranking eine größere Effektstärke auf, als die Relevanz systematischer Selbsteinschätzung zu eigenem
Lernstand, Lernperspektive, Lernprozess
und Lernerfolg.
Feedback statt Lob und Tadel
Hattie predigt eine Lernkultur des „Feedbacks“. Kein Begriff fällt häufiger in seinem Buch. Von Lob hält er wenig, von
Strafe dagegen gar nichts. Rückmeldungen
sollten neutral erfolgen, Fehler seien die
produktiven Treiber des Unterrichts, für
den es keine „magic bullets“, kein Patentrezepte gäbe. Kerntugenden des evidenzbasierten Methodenmixes guten Unterrichtes seien die Liebe zum Fach, Respekt,
Wertschätzung, Fürsorge und Vertrauen.
Die Botschaft
a) Es gibt eine Verkettung zwischen dem
Handeln der Lehrperson und dem Lernen
der Schüler/innen. Veränderungen im Lehrerhandeln führen auch zu Veränderungen
im Lernen.
b) Investiert in fachspezifische, fachliche,
fachdidaktische
und
pädagogischpsychologische Lehrerfortbildung. Sie zähle zu den wirkungsvollsten positiven Einflussfaktoren im Lernprozess.
c) Habt den Mut, Lehr- und Lernprozesse
sichtbar zu machen; übernehmt die Verantwortung für ein anspruchsvolles, formatives Assessment, das Voraussetzung
ist für ein anregendes, reflexives, offenes
Lernklima sowie eine produktive Beziehungsgestaltung zwischen Lehrern und
Schülern..
Die Kritik an Hatties Forschungsdesign
John Hattie ist ein Verfechter der evidenzbasierten, quantitativen Forschungsmethoden. Aus der unüberschaubaren Detail-
fülle von Einzelstudien destilliert er mittels
Metaanalyse die „Wirkungsfaktoren“ von
Lernsituationen auf Schülerleistungen.
Sein Ziel ist es, unterschiedlichste Daten
und deren statistische Effekte in höherer
Potenz zu verrechnen, also mittels einer
höheren Datenbasis belastbarere Vergleichs-Daten zu gewinnen. So weit, so
gut.
Die entscheidende Kritik richtet sich gegen
die Methode der Meta-Analyse selbst, da
in jedem Metaverfahren höchst unterschiedliche Datenqualitäten miteinander
korreliert werden. Besonders problematisch werde dies, wenn, wie in „Visible
learning“, die zugrundeliegenden empirischen Einzelanalysen weder auf ihre Qualität, noch auf ihre Validität geprüft würden.
Moniert wird darüber hinaus die Engführung schulischen Lernens/ Lernerfolgs als
messbares kognitives Lernergebnis: „Effekte“ würden verabsolutiert, ohne Abschätzung von Kosten und Ertrag.
Und schließlich mahnt die Kritik, fielen die
unterschiedlichen strukturellen Bedingungen, nationalen und kulturellen Kontexte
(Bildungssysteme, Kulturen, Sprachen) des
Untersuchten unter den Tisch. Der Beleg
für die Übertragbarkeit und Verallgemeinerbarkeit der Erkenntnisse sei in keinster
Weise erbracht.
Das Fazit der Kritik: Hatties Modell des
Lehrens und Lernens blende die Kontextund Konzeptabhängigkeit der Einflussfaktoren auf gelingende Schülerleistungen
komplett aus. Die Verallgemeinerbarkeit
sei nicht belegt.
Die Quintessenz
Mit dem hohen Gral gewinnt die Didaktik
den großen Forschungsüberblick, sie gewinnt jedoch auch an Fallhöhe. Die bildungspolitisch relevante, verdienstvolle
Datenverdichtung auf der Meta-MetaEbene nimmt durch die Ablösung von den
konkreten Kontexten der Empirie ihren
Bedeutungsverlust für die Praxis in Kauf.
Der Neuseeländer fasziniert vor allem
deshalb, weil er den Blick zurück, auf den
eigentlichen Kern von Schule richtet: das
Lernen, den Unterricht, auf die Beziehung
und das klassische Verhältnis von Lehrern
und Schülern. Keine „magic bullets“, eine
Handvoll beeinflussbarer Komponenten –
das Feedback, aktivierende Lernstrategien,
die evaluative Ausrichtung – machen den
Erfolg.
John Hattie: "Visible Learning", deutsch:
"Lernen sichtbar machen" (2009)
Ders.: "Visible Learning for Teachers",
deutsch "Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen" (2014)

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