Subculture und Otaku – Manga und Anime in Japan als

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Subculture und Otaku – Manga und Anime in Japan als
Subculture und Otaku – Manga und Anime in Japan als Nischenkulturen
Jaqueline BERNDT
Yokohama National University
1. Ein neues Aushängeschild: Die „Subkultur der Manga und Anime“
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts repräsentierten Farbholzschnitte, Kabuki-Theater
und Geisha, Tuschmalerei, Teezeremonie und Haiku-Dichtung im Ausland japanische
Besonderheit. Auch die inländischen Eliten pendelten identitätspolitisch zwischen
alltagsnaher Sinnlichkeit und erhabener Spiritualität. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts
ergänzt man diese Sicht nun um Bilder von „Japan als avancierter Konsum- und
Medienkultur“ oder tauscht gar die älteren, vermeintlich hochkulturellen Modelle gegen
populärkulturelle aus. So wird neuerdings „die Subkultur der Manga und Anime“ 1 als
zeitgemäße Repräsentantin der Nation gepriesen, denn die globale Wirksamkeit einer
bestimmten Spielart japanischer Comics und Zeichentrickfilme hat auf japanische Autoritäten zurückgewirkt.
In welchem Maße Manga und Anime in Japan salonfähig geworden sind, sollen
einleitend drei Beispiele verdeutlichen, um das Kernproblem dieses Beitrags zu umreißen: was man denn eigentlich meint, wenn man in Bezug auf Japan und seine gegenwärtigen Zeichentrickfilme und Comics neuerdings von Subkultur spricht, oder anders
gesagt, für wen es in welchen Zusammenhängen eigentlich sinnvoll ist, mit dem Terminus zu operieren. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Begriff Subkultur und der
neuerlichen japanischen Verballhornung des Lehnworts sabukaruchâ サブカルチャー
als sabukaru サブカル und zeigt auf, welcher Umgang mit welchen Werken darunter
fällt. Das dritte Kapitel unternimmt den Versuch zu beschreiben, was die Subkultur der
so genannten Otaku (etwa: extreme Fans) auszeichnet.
Zuerst eine historische Perspektive. Neuerdings verwenden sogar Wissenschaftler,
die sich mit der Edo-Kultur beschäftigen, das Schlagwort subculture und laden Mangaexperten zur Mitarbeit ein. 2 Von dem edozeitlichen Begriffspaar ga 雅 (etwa: elegant,
raffiniert) und zoku 俗 (etwa: vulgär, trivial) schlagen sie einen Bogen zur modernen
1
2
„Manga“ sind japanische Comics, d.h. Druckerzeugnisse, die aus gezeichneten Geschichten bestehen.
Bei „Anime” handelte es sich ursprünglich um eine Verkürzung des englischen animation, mit dem
man in Japan seit den 1960er Jahren Zeichentrick-Fernsehserien in so genannter limited animation
bezeichnete (im Unterschied zu den aufwendig animierten Kinofilmen des Studios Tôei Dôga u.a.).
Limited animation meint, dass man aus Kosten- und Zeitgründen so wenig wie möglich im Bild selbst
animiert. Diese aus den USA stammende Spielart des Zeichentrickfilms wurde durch Tezuka Osamu
u.a. ausgebaut: z.B. werden für die 24 Filmbilder pro Sekunde nur ca. 8 Bildfolien verwendet,
Bewegungen über Schnitt und Tonebene suggeriert, Bildfolien wiederholt eingesetzt oder gar manuell
hin- und hergeschoben. Seit den 1990er Jahren fand „Anime“ im Ausland als Name für „japanisch“
wirkende Produktionen Verbreitung (Japanimation) und ist als solcher nach Japan reimportiert
worden.
WATANABE Kenji (Hrsg.): „Edo bunka to sabukaruchâ“ (Edo-Kultur und Subkultur), Kokubungaku
kaishaku to kanshô bessatsu. Tôkyô: Shibundô 2005.
Subculture und Otaku – Manga und Anime in Japan als Nischenkulturen
Populärkultur (taishû bunka), die sie mit Subkultur gleichsetzen. 3 Ihre Befragung der
Vergangenheit konzentriert sich im Einzelnen auf „Mädchen“ (shôjo, einschließlich der
damit verbundenen – auch erotischen – Comics), „Manga“ (im Sinne sowohl einer
Tradition unterhaltsamer Lesestoffe als auch in Edo angesiedelter moderner ComicSujets), „Theater“ (vor allem Kabuki) sowie „Sex“ (besonders in Form von pornografischen Bildern und Texten). In dem Bemühen, die Edo-Zeit zu vergegenwärtigen,
bezieht man sich auf aktuelle Forschungsrichtungen (Geschlechterstudien, visuelle
Kultur, Performanz) und suggeriert Kontinuität. 4 Dabei bedient man sich allerdings
eines engen Begriffs von Subkultur, der eine Neigung zur Jugendkultur, zum Spektakulären und zum ästhetischen Normenverstoß verrät. Offenbar bietet sich ein solcher am
ehesten an, wenn man sich gegen moderne Einschränkungen richten möchte, beispielsweise die lange Tabuisierung der so genannten Frühlingsbilder (shunga) durch die akademische Kunstgeschichte oder die Ignoranz der Literaturwissenschaft gegenüber WortBild-Verbindungen.
Als nächstes sei ein Beispiel aus der Gegenwart angeführt. Seit 1991 beteiligt sich
Japan offiziell an der Architektur-Biennale in Venedig. Für die 9. Biennale im Jahre
2004 gab man den nationalen Pavillon in die Hände des jungen Architekturtheoretikers
Morikawa Kaichirô (*1971), der mit einem Buch über die Personalisierung des öffentlichen Raums in Tôkyô auf sich aufmerksam gemacht hatte. 5 Er präsentierte keine weltweit berühmten Architektenstars, sondern erstmals anonyme, gewissermaßen subkulturelle Architektur — „subkulturell“ insofern, als es um das Erscheinungsbild des
Tôkyôter Stadtteils Akihabara ging, der seit 1997 durch die Konsumenten von Videound Computerspielen, Zeichentrickserien und Comics geprägt wird. Hier simuliert der
Stadtraum den virtuellen Raum des Cyberspace; auf den Fassaden prangen Medienfiguren, insbesondere weibliche. Die Ausstellung trug den Titel Otaku: persona = space =
city. 6 Neben dem Zimmer eines Fans und zahllosen Vitrinen mit Sammelfiguren waren
Miniaturmodelle von Akihabaras zentralem Straßenzug und von Comic-Messen zu
sehen. Darauf eingestimmt wurde der Besucher durch drei Tafeln, die die im Ausstellungstitel genannte Otaku-Kultur programmatisch mit der Tee-Ästhetik verbanden:
Neben wabi 侘 (etwa: Schlichtheit) und sabi 寂 (etwa: Patina) – zwei durchaus
schwerwiegenden Wörtern, die u.a. moderne Exotisierungen konnotieren – stand der
Schlüsselbegriff moe 萌え (etwa: Feuer und Flamme sein [für Medienfiguren]).
Ausländische Berichterstatter konnten darin nichts Neues entdecken, und auf Besucher,
3
4
5
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NAKANO Mitsutoshi: „Edo no taishûbunka” (Edos Populärkultur), ebd., S. 12–16.
Stephan Köhn hat gezeigt, dass vormoderne Traditionen des modernen Manga, wenn überhaupt, im
Verlagswesen der Edo-Zeit zu finden sind. Vgl. Stephan KÖHN: „Edo bungaku kara mita gendai
manga no genryû“ (Vorläufer der heutigen Manga aus Sicht der Edo-Literatur), in: Jaqueline BERNDT
(Hrsg.): MANBIKEN. Manga no bigakuteki na jigen e no sekkin (MANBIKEN: Towards an
aesthetics of comics). Kyôto: Daigo shobô 2002, S. 23–52; ders.: Traditionen visuellen Erzählens in
Japan. Eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungslinien vom Faltschirmbild zum
narrativen Manga. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2005.
MORIKAWA Kaichirô: Shuto no tanjô. Moeru toshi Akihabara (Learning from Akihabara: The Birth of
a Personapolis). Tôkyô: Gentôsha 2003.
Vgl.: http://www.jpf.go.jp/venezia-biennale/otaku/j/index.html (am 30.01.2006 nur noch auf
japanisch, aber mit Fotos). Die Ausstellung wurde vom 22.02.–13.03.2005 im Fotografiemuseum
Tôkyô (Tôkyô-to shashin bijutsukan) gezeigt. Vgl. auch Toshio Okada & Kaichirô Morikawa,
moderated by Takashi Murakami: „Otaku Talk“, in: MURAKAMI Takashi (Hrsg.): Little Boy. The Arts
of Japan’s Exploding Subculture. New Haven & London: Yale University Press 2005, S. 165–185.
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die mit „Japan“-Diskursen vertraut sind, wirkte es anachronistisch nationalisierend,
Abbildung 1: Arina Shinyokohama in Akihabara
Arina ist eine Schöpfung von Ôshima Yûki, Akihabara ein Bezirk in Tôkyô, der für
seine Elektro- und Elektronik-Geschäfte berühmt ist.
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Abbildung 2: Ausstellungsplakat
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denn ein kritischer Blick hinter die Fassaden fehlte. Viele Insider hingegen freuten sich
über die öffentliche Anerkennung, und Morikawa selbst zielte auf eine postkoloniale
Kritik: Er interpretierte die obsessive Besiedlung virtueller Welten und die verformende
Aneignung von Medienfiguren als Widerstand gegen die nach dem Zweiten Weltkrieg
überwältigende amerikanische Kultur, zu der u.a. Disney gehört.
Der Name „Disney“ legt nahe, als drittes Beispiel den Animationsfilmer Miyazaki
Hayao (*1941) anzuführen, um die problematische Gemengelage von Sub- und Nationalkultur zu skizzieren. Im Herbst 2005 erhielt Miyazaki den Förderpreis der Japan
Foundation für internationalen Austausch. Die Begründung lautete: „Mit seiner künstlerischen Tätigkeit auf dem Gebiet der Animation hat er die japanische Kultur universal
vermittelt, und seine originären Botschaften haben weltweit bei Jugendlichen Anklang
gefunden.“ 7 Hier taucht das Wort „Subkultur“ nicht auf, und vollkommen zu Recht.
Denn der englische Begriff war ja Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, um Phänomene zu fassen, die sich begrifflichen Filtern wie „Nation“ und „Masse“ entziehen.
Miyazakis Filme aber erreichen, zumindest seit den 1990er Jahren, in Japan landesweit
ein breites Publikum, über alle sonst für Zeichentrickfilme geltenden generations- und
geschmacksspezifischen Unterschiede hinweg. „Subkulturell“ wirken sie eher in
Europa. Weil sie gar nicht alle auf DVD verfügbar sind, haftet ihnen ein in Japan unvorstellbarer Seltenheitswert an. Weil sie sich von Disney-Produktionen unterscheiden,
sehen manche in ihnen das Potenzial eines Widerstands gegen die amerikanisch dominierte Globalisierung. Und schließlich haben sie einem lange Zeit als kindlich eingestuften Medium – dem Zeichentrickfilm – in Europa und Nordamerika zu öffentlicher
Anerkennung verholfen. Unter den japanischen Anime-Fans hatte Miyazakis Popularität
ihren Höhepunkt um 1980 mit Rupan sansei: Kariosutoro no shiro (1979, Lupin III.:
The Castle of Cagliostro) erreicht, war allerdings nach Kaze no tani no Naushikâ (1984,
Nausicäa aus dem Tal des Winds) abgeklungen. Alles, was Otaku mögen, fand sich hier
versammelt: „schöne Mädchen“ (bishôjo) 8 , die manchmal so eifrig sind, dass ihre
Röckchen flattern, und denen unbedingt geholfen werden muss; Roboter und Landschaften von phantastischen Ausmaßen sowie Maschinen (meka), deren Bewegungen
als Zeichentrickspektakel faszinieren. 9 Doch je mehr Miyazakis Filme ihre Eigenart
ausprägten – z.B. durch zunehmende ideologische Ansprüche, die (zu) starke Mädchenfiguren mit sich brachten – und je mehr sie damit die Aufmerksamkeit der Filmkritik
erlangten, desto unattraktiver wurden sie für den subkulturellen Gebrauch.
Miyazakis Filme heute pauschal als Subkultur zu preisen, ist nur möglich, wenn
man sich dabei auf die nordamerikanische Trickfilmproduktion bezieht, was im Umkehrschluss leicht in die Nationalisierung führt (Miyazaki als Großmeister des japanischen Zeichentricks) bzw. in die Generalisierung (japanischer Animationsfilm =
Miyazaki). Doch für wie „japanisch“ darf man diese Kinowerke eigentlich halten?
Durch den Einsatz vertrauter Elemente sind sie für ein europäisches und amerikanisches
Publikum ebenso wie für Japaner/innen ohne langjährige Anime-Erfahrung leichter
zugänglich (und somit weniger „japanisch“?) als beispielsweise diejenigen des Regis7
8
9
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Schreiben der Japan Foundation vom 21.09.2005 mit der Ankündigung der Preisverleihung; vgl. auch
http://www.jpf.go.jp/j/info_j/award/05/index.html (30.01.2006).
Vgl. SASAKIBARA Gô: „Bishôjo“ no gendaishi. „Moe“ to kyarakutâ (Geschichte der modernen
„schönen Mädchen“. „Entflammen“ und Medienfiguren). Tôkyô: Kôdansha 2004.
Vgl. TSUGATA Nobuyuki: Nihon animêshon no chikara. 85nen no rekishi o tsuranuku 2tsu no jiku (Die
Stärke japanischer Animation. Zwei Achsen, die deren 85-jährige Geschichte durchziehen). Tôkyô:
NTT shuppan 2004.
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seurs Oshii Mamoru (*1951) – man denke an dessen im gleichen Jahr wie Nausicäa
entstandenen Urusei yatsura 2: Beautiful Dreamer mit all seinen aus der subkulturellen
Tradition schöpfenden Anspielungen, oder an die im Ausland schon früh geschätzte
düstere Adaption des gleichnamigen Science-Fiction-Comic Kôkaku kidôtai (1995,
Ghost in the Shell) mit ihrem stark verschlüsselten Sequel Innocence (2004). Vergleicht
man Miyazaki also nicht in erster Linie mit Produktionen aus dem Hause Disney,
sondern mit anderen Zeichentrickfilmern in Japan, dann stellen sich Zweifel am neuerdings so gern bemühten Kurzschluss von Sub- und Nationalkultur ein. Außerdem zeigt
sich, dass es die Subkultur im Singular nicht gibt. Je nach Subkultur erscheint anderes
als spezifisch japanisch. Die einen loben neben Miyazakis Bildfindungen die nicht in
Schwarz-Weiß-Rastern angelegten Figuren und die gebrochenen Happy-Ends. Die
anderen entdecken in seinen Geschichten aus der Vergangenheit eine oft nostalgische
Hinwendung zum neuzeitlichen Europa und finden vielmehr die Zeichentrickfilme und
Comics mit techno-orientalistisch rezipierbaren, dystopischen Zukunftsvisionen „japanisch“.
2. Subculture und sabukaru
Subkulturen sind Gruppen in modernen Gesellschaften, die aus gemeinsamen Erfahrungen, Stilen und (auch virtuellen) Orten eine Nation und Gesellschaft, Klasse und Masse
unterlaufende Identität beziehen. 10 Bevor Andersartigkeit zur spätkapitalistischen Norm
wurde und das institutionalisierte Wertgefüge (ob nun bildungsbürgerlich oder massenkulturell) seinen Alleinvertretungsanspruch abtreten musste, erschienen Subkulturen
entweder als zu berichtigende Abweichung oder als begrüßenswerte Subversion. Aber
sie definieren sich nicht nur in Bezug auf etwas Übergeordnetes, sondern gleichermaßen
in Bezug auf andere Teilkulturen. Vor allem ein Vergleich mit Gegenkulturen (counter
cultures) rückt ihre Spezifik ins Licht: Subkulturen zeichnen sich durch ambivalente
Einstellungen aus. Sie entziehen sich dem, was dominiert, und affirmieren es zugleich.
Das betrifft sowohl staatliche Institutionen als auch den Markt, beispielsweise den
kommerziellen Mainstream von Comics, gegen den man eine Zeit lang rebelliert, um
schließlich eine andere Hegemonie zu etablieren. Dies lässt sich ebenfalls auf das
Arbeitsleben und den modernen Firmenangestellten beziehen. Subkulturen wird oft
vorgeworfen, dass sich ihre Vertreter unnützen, unverantwortlichen, ja, infantilen Tätigkeiten hingeben, mit anderen Worten, dass sie sich der Arbeits- und Reproduktionsethik
moderner Gesellschaften verweigern. Doch entfalten sie auf ihrem Interessengebiet
Aktivitäten, die nicht selten an Arbeit gemahnen. So versteht beispielsweise Thomas
Lamarre die gegenwärtigen japanischen Otaku als Pioniere einer neuen kommunikativen Arbeit, wie sie in Zeiten des Postfordismus und der kulturellen Ökonomie entsteht,
oder, genauer noch, als Vermittler zwischen herkömmlichen und zukunftsträchtigen
10
Vgl. vor allem Dick HEBDIGE: Subculture. The Meaning of Style. London: Routledge 1990 (11979),
dt.: http://www2.hu-berlin.de/fpm/texte/subcult.htm (aus: Diedrich DIEDERICHSEN, Dick HEBDIGE,
Olaph-Dank MARX, [Hrsg.]: Schocker. Stile und Moden der Subkultur. Hamburg: Rowohlt TB 1986
[11983]; 30.01.2006); Rolf LINDNER: „Jugendkultur und Subkultur als soziologische Konzepte.
Nachwort“, in: Mike BRAKE: Soziologie jugendlicher Subkulturen. Frankfurt/M.: Campus 1981, S.
172–193.
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Arbeitsformen, 11 die sich einerseits zwar von der dominanten Unternehmenskultur
distanzieren, andererseits aber erfolgreich Kapitalismus praktizieren. Letzteres demonstrieren Akihabara als Ort einer neuen Branche oder das Interesse eines think tank wie des
Nomura Research Institute am „Otaku Marketing“. 12
In Forschung und Feuilleton hat man sich bislang eher für aufmüpfige und spektakuläre Subkulturen als für regressive, unauffällige oder gar unfreiwillige interessiert.
Die erhoffte Subversion suchte man eher in der Frontstellung gegen eine staatlich sanktionierte Hochkultur als gegen marktförmige Hegemonien. Man verengte außerdem den
Blickwinkel auf subkulturelle Stile, wobei man im Fehlen anderer als symbolischer
Bindemittel auch eine japanische Besonderheit zu entdecken meinte. 13 Um Subkulturen
weder mit zu hoch gesteckten Erwartungen noch mit vorschnellen Abwertungen zu
verfehlen, scheint es sinnvoller, Zwischenpositionen aufzuspüren, also ihre jeweiligen
Leistungen und Grenzen zwischen Minoritärem und Mainstream, Geheimtipp und
allgemeiner Zugänglichkeit, Andersartigkeit und Gleichförmigkeit, Bild und Text,
Affekt und Argument etc. zu suchen.
Das Lehnwort subculture hat sich in Japans Verlagsgewerbe seit Mitte der 1990er
Jahre als Kategorie durchgesetzt. Aber bereits 1991 veröffentlichte die Zeitschrift SPA!
ein Dossier unter dem Titel „Sabukaruchâ – saishû sensô” (Subkultur – das letzte
Gefecht). Dieses Gefecht endete allem Anschein nach mit einer Niederlage. Jedenfalls
suggeriert das der alltägliche Sprachgebrauch: Subculture ist durch das kürzere sabukaru (auch: subcal) abgelöst worden. So wenig wie „Anime“ eine bloße Abkürzung von
animation ist, so wenig handelt es sich bei sabukaru um eine sprachliche Bequemlichkeit. Vielmehr werden damit bestimmte Ansprüche und Ausdrucksweisen als bloßer Stil
markiert. Offenbar in Reaktion auf eine Sondernummer der Zeitschrift EUREKA, die
die Verschiebungen im subkulturellen Feld seit 1991 resümierte 14 , ist seit Oktober 2005
im Internet eine Liste der Erkennungsmerkmale entstanden 15 . Dieser zufolge zeichnen
sich die „subcal-Typen“ u.a. dadurch aus, dass sie keine Hollywood-Filme mögen, als
PC einen Mac benutzen, absonderliche Hüte tragen, seltene Zigarettensorten rauchen,
ganz stolz alleine ins Theater gehen, sich eher in Jinbochô mit seinen Buchhandlungen
als in Akihabara aufhalten (um 1990 hießen sie noch Shibuya-kei – Shibuya-Szene),
möglichst eine Gothic Lolita zur Freundin haben, ihre Lebensauffassung ausbreiten,
auch wenn keiner zuhört, überhaupt anders als alle anderen sein wollen und sich dementsprechend in Szene setzen. Unverkennbar äußert hier eine Subkultur ihr Unbehagen
gegenüber einer anderen und legt aus identitätspolitischen Gründen eine Einseitigkeit an
den Tag, die bei aller Negativität von den im ersten Kapitel vorgestellten positiven
Bezügen auf subculture strukturell gar nicht so weit entfernt ist.
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15
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„Articulation between economies.” Thomas LAMARRE: „An Introduction to Otaku Movement,” in:
EnterText, vol. 4, no. 1, Winter 2004/05, S. 168
(http://people.brunel.ac.uk/~acsrrrm/entertext/home.htr) (2005/12/20).
Nomura sôgô kenkyûsho, otaku shijô yosoku chîmu (NRI, Prognose-Team Otaku-Markt): Otaku shijô
no kenkyû (Studie zum Otaku-Markt). Tôkyô: Tôyô keizai shinpôsha 2005.
NARUMI Hiroshi: „Sabukaruchâ“ (Subkultur), in: YOSHIMI Shun’ya (Hrsg.): Chi no kyôkasho.
Karuchuraru sutadîzu (Lehrbuch des Wissens: Cultural Studies). Tôkyô: Kôdansha 2001, S. 93–122;
bes. S. 97ff.
KANOSE Mitomo & Barbora (Hrsg.): Sôtokushû „Otaku vs. sabukaruchâ 1991–2005 poppukaruchâ
zenshi“ (Dossier: Otaku vs. Subculture. Geschichte der Popkultur 1991–2005), in: EUREKA, vol. 379, Zusatznummer August 2005.
http://human5.2ch.net/test/read.cgi/subcal/1130315786/ (30.01.2006)
Subculture und Otaku – Manga und Anime in Japan als Nischenkulturen
Aus der Sicht der Abgekanzelten, als deren Kristallisationspunkt z.B. die Zeitschrift Quick Japan seit 1993 fungiert, verbindet sich das Distinktionsstreben mit einer
kritischen (eher mikro- als makropolitisch orientierten) Haltung gegenüber Staat und
Markt, die für Otaku ebenso irrelevant oder obsolet ist, wie sie es für den Pop der
1980er Jahre war. Während Otaku am Mainstream der Massenprodukte und deren
Anverwandlungen hängen, bevorzugen die heute sabukaru Genannten Unikate und
Kleinserien. Zu ihrer Kritikfreudigkeit gehört, dass sie sich tendenziell für Kunst und
für Dinge interessieren, die sich dagegen sperren, schnell konsumiert zu werden, also
Raum für Interpretationen lassen und individuelle Entdeckungen ermöglichen. Das
schließt bestimmte Werke von Anime und Manga ein. Für den Bereich des Zeichentrickfilms lässt sich – neben dem Pro und Kontra um das Ende der Fernsehserie Shinseiki Evangerion (1995; Regie: Anno Hideaki, Neon Genesis Evangelion) – das
Gundam-Universum anführen. Welche nachhaltige Wirkung es seit der ersten TVStaffel 1979/80 hatte, belegt beispielsweise der erstaunliche Erfolg der 2005 veranstalteten, von Azumaya Takashi kuratierten Ausstellung. 16 Für den Bereich der Comics
mag man an eine Zeichnerin wie Okazaki Kyôko (*1963) denken. Bevor sie 1996 nach
einem schweren Autounfall in ein jahrelanges Koma fiel, hatte sie eine Reihe von
Mangaserien publiziert, die sich nicht nur über die etablierten Genres hinwegsetzten,
sondern auch auf postmoderne Weise offen für konsumtive wie für alternative Lesarten
waren. 17 „Alternativ“ kommt der hier gemeinten Subkultur als Übersetzung wohl am
nächsten – in Anlehnung an Comics im europäischen und nordamerikanischen Raum,
die jenseits des Mainstreams entstehen, aber nicht allein deshalb schon unbedingt
„künstlerisch“ oder „subversiv“ sein wollen. In Japan verbindet man solche Manga mit
kommerziell eher marginalen Magazinen, z.B. dem legendären Garo (1964–2002) und
seinem Nachfolger AX (seit 1998). Oft kursieren sie auch in Buchform, wie die Kurzgeschichten der Zeichnerin Takano Fumiko (*1957) 18 oder die Underground-Alpträume
von Maruo Suehiro (*1956). 19
Solche Comics sehen kaum „japanisch“ aus; zumindest entsprechen sie selten den
Erwartungen europäischer Manga-Fans (sprich: Otaku). Japanische Otaku wie Okada
Toshio betonen schon seit einer Weile, dass der Subculture-Bereich zu stark auf das
europäische und amerikanische Ausland fixiert sei. In Abgrenzung davon verstehen sie
sich selbst als die eigentlichen Erben einer eminent japanischen Kultur. 20 Wer ihnen
glaubt, übersieht nicht nur, dass es auf alternativer Seite eine weitaus größere Bereitschaft zum Dialog mit dem Ausland als bei ihnen gibt, sondern auch, dass die vermeintlich rein japanische Kultur von Manga und Anime ihrerseits einen interkulturellen
Austausch zur Voraussetzung hatte. Im Kleinen mag man u.a. auf Spuren nordamerikanischer Science-Fiction-Literatur sowie der Star-Wars-Filme stoßen; im Großen trifft
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Kidô senshi Gandamu (1979, Mobile Suit Gundam), Regie: Tomino Yoshiyuki; Ausstellung Gandamu
kitaru beki mirai no tame ni (Gundam Generating Futures), Suntory Museum Tempôzan (Ôsaka) und
The Ueno Royal Museum (Tôkyô), 2005.
Das erste ihrer Werke, das in einer europäischen Sprache erschien, war Helter Skelter (Hamburg:
Carlsen 2005).
Ihr erster ins Deutsche übersetzter Manga ist Als Tomoko krank war (Byôki ni natta Tomoko), in:
STRAPAZIN, Nr. 81, Dezember 2005, S. 36–50; in der Zeitschrift ist auch ein Artikel über Garo
abgedruckt. Außerdem auf Französisch Le livre jaune: un ami nommé Jacques Thibault (Kiiroi hon:
Jakku Chibô to iu yûjin), Paris: Casterman 2004. Der Verlag Casterman hat ein neues Label für solche
Manga etabliert: Sakka (dt.: Autor, wie in Autorencomic).
Auf Deutsch vorliegend Der lachende Vampir (Warau kyûketsuki). Berlin: Reprodukt 2003.
Vgl. OKADA Toshio: Otaku-gaku nyûmon (Einführung in die Otakuologie). Tôkyô: Ôta shuppan 1996.
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man auf ein transnationales Japan, wie Thomas Lamarre es nennt. Jenen japanischen
Otaku, die die globale Verbreitung ihrer Kultur begrüßen und zugleich von den Ausländern „richtige“ Lesarten fordern, hält er entgegen, dass die Grenzüberschreitung weniger mit einem Verlust an kultureller Bedeutung als mit einer Multiplikation von Bedeutungen einhergehe, die implizit im Original bereits angelegt sind oder aber durch dessen
Mehrschichtigkeit ermöglicht werden. 21
3. Otaku
Anders als der Japanologe Lamarre führt der Medienwissenschaftler Michael Manfé
den so genannten Otakismus auf japanische Besonderheiten zurück: „Die Entstehungsbedingungen des Otakismus liegen primär in der japanischen Gesellschaftsstruktur“, 22
schreibt er und weiter, dass manche sich in virtuelle Räume flüchteten, weil „sich in der
japanischen Gesellschaft niemand die Zeit nimmt, um auf die Probleme von Jugendlichen einzugehen …“ 23 Verallgemeinernd wird festgehalten: „Die Faktoren Bildung,
Information und Konsumation nehmen in keinem Land der Welt eine derartig zentrale
Rolle ein, wie in Japan. Zu ergänzen ist diese Liste noch um die Aspekte der Tradition
bzw. des Konformitätsdrucks.“ 24 Mit der „Tradition“, gegen die diese Subkultur angetreten sei, meint Manfé allerdings nicht das vormoderne Japan, sondern das vortelematische des 20. Jahrhunderts. Otaku sind für ihn eine Lebensform in der – nach Vilém
Flusser – „telematischen“ bzw. Informationsgesellschaft, eine Spezies von exzessiven
Mediennutzern, die sich in einem technischen Universum angesiedelt hat. Es gebe sie
schon länger als die Informationsgesellschaft und neuerdings auch im Ausland, doch
innerhalb Japans bildeten sie nach wie vor eine Subkultur, da die Art, wie sie ihr Leben
virtualisieren, infantil und gesellschaftlich inakzeptabel wirke. Letzteres traf wohl bis
Mitte der 1990er Jahre zu und hat beispielsweise Okada Toshios auf Anerkennung
zielende Publikationen provoziert, doch die eingangs erwähnte Architektur-Biennale
und die Blüte Akihabaras zeugen von einer Verschiebung im Kräftefeld: Otaku sind
mittlerweile ökonomisch und kulturell von Belang. Im Gefolge der Liebesgeschichte
Densha otoko (The Train Man) 25 finden nun sogar junge office ladies verhuschte OtakuMänner, die allerdings Computerexperten sind und damit kein schlechtes Gehalt
vorweisen können, attraktiv. Der Verlag Biblos hat im Sommer 2005 zum ersten Mal
eine Otaku-Zertifikatsprüfung ausgerichtet und zum Jahreswechsel die Zeitschrift Otaku
erîto (Otaku Elite, Nr. 1, 28.12.2005) auf den Markt gebracht. Wer mit „Subkultur“
21
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25
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Thomas LAMARRE, a.a.O. (s. Fußnote 11), S. 182.
Michael MANFÉ: Otakismus. Mediale Subkultur und neue Lebensform – eine Spurensuche. Bielefeld:
transcript Verlag 2005, S. 62. Die Monographie stützt sich stark auf Gedanken von Volker Grassmuck;
vgl. Volker GRASSMUCK: Geschlossene Gesellschaft: Mediale und diskursive Aspekte der „drei
Öffnungen“ Japans. München: Iudicium 2002.
http://waste.informatik.hu-berlin.de/Grassmuck/texts.html#texts (30.01.2006).
Ebd., S. 46.
Ebd., S. 27. Die Monographie weist leider eine Fülle unredigierter Fehler im Deutschen auf, was die
Lektüre erheblich beeinträchtigt.
Ursprünglich ein auf einem blog beruhendes Buch von NAKANO Hitori, aus welchem 2005 zuerst eine
Fernsehserie (Fuji TV — mit einigen Gundam-Parodien) und dann ein Spielfilm (R.: MURAKAMI
Masanori) entstanden.
Subculture und Otaku – Manga und Anime in Japan als Nischenkulturen
etwas Minoritäres und Randständiges meint, kann also die Otaku-Kultur nicht mehr
dazu zählen.
Die Legende besagt, dass das Wort „Otaku“ auf eine Artikelserie von Nakamori
Akio zurückgehe, die dieser 1983/84 in dem subkulturellen Mangamagazin Manga
burikko veröffentlichte, als Ôtsuka Eiji (*1958) dieses herausgab und die ersten Manga
der Zeichnerin Okazaki Kyôko dort abdruckte. 26 Gemeint war eine bestimmte Gruppe
von „Stubenhockern“, die sich vor den Anforderungen der realen Welt, einschließlich
des Umgangs mit dem anderen Geschlecht, gern in die zweidimensionalen Universen
von Manga und Anime zurückzogen. Einerseits assoziierte man mit „Otaku“ also das
„Zuhause“ (お宅), andererseits griff man für den Sammelbegriff die formale Anrede
auf, die sie untereinander gebrauchten: „Otaku“ als Pendant zum deutschen „Sie“.
Erschien das Wort anfänglich in hiragana-Silbenzeichen (おたく), so hat es sich seit
den 1990er Jahren in der katakana-Form (オタク) verbreitet. Mit letzterer, die eher
abstrakte Begriffe als Eigennamen suggeriert, versuchten sich Otaku des schlechten
Rufs zu entledigen, der ihnen nach den Mädchenmorden durch Miyazaki Tsutomu
1988/89 von den Massenmedien angehängt worden war. 27 Seither verstand die Öffentlichkeit Otaku im Zeichen des Mangels: des Mangels an sozialer Kompetenz, an
erwachsener Distanz zu den Objekten ihrer Begierde, an befriedigenden Lebensumständen. Bewusst übersehen wurde dabei, dass Otaku unter ihresgleichen hochgradig
vernetzt sind, dass sie die Hingabe an bestimmte Bilder mit einem analytischen, datenbankorientierten Abstand verbinden und dass ihre Betätigung keine Ersatzfunktionen
erfüllt. Letzteres theoretisch begründet zu haben, ist die eigentliche Leistung von
Manfés erwähnter Monographie. Er plädiert für mehr Medientheorie und weniger
Psychoanalyse in den Kulturwissenschaften.
Otaku fielen seit den 1970er Jahren nicht nur durch die scheinbar kindlichen
Gegenstände auf, für die sie sich interessierten, sondern auch durch den Eifer, mit dem
sie vermeintlich nebensächliche Aspekte verfolgten: Bei Anime waren ihnen nicht nur
die Regisseure und Sprecher wichtig, sondern im gleichen Maße diejenigen Animatoren, die Teilbereiche wie z.B. die Ausgestaltung von Explosionen verantworteten. Dabei
handelte es sich im Prinzip um einen unhierarchischen Zugang. Doch anders als die von
ihnen heute denunzierten sabukaru-Vertreter, die ein breites, für Zusammenhänge offenes, vorrangig auf die Gegenwartsebene gerichtetes Problembewusstsein an den Tag
legen, sind Otaku stets punktuell bei ihren Recherchen vorgegangen und haben gewissermaßen vertikal gebohrt, um die Abfolge von technischen, medialen, stilistischen
Neuerungen zu verfolgen. Diese „Grabungen“ enthalten sich kritischer Selektion, sehen
von Gesellschaft ab und vermeiden bereits damit, als „historisch“ missverstanden zu
werden. In neueren Anime wie Hoshi no koe (R.: Shinkai Makoto, 2002, Voices of a
Distant Star) oder Saishû heiki kanojo (R.: Kase Mitsuko, 2002, SHE, the Ultimate
Weapon) rückt die für Otaku typische Ausblendung von Gesellschaft ins Zentrum. Die
Geschichten bringen jugendliche Paare mit der Welt an sich zusammen, deren Fortbe-
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27
http://www.burikko.net/people/otaku.html (20.12.2005). Ôtsuka ist einer der wenigen, die sich in den
letzten Jahren kritisch mit der Otaku-Kultur auseinandergesetzt haben, vgl. z.B. ÔTSUKA Eiji: „Otaku“
no seishinshi. 1980nendai-ron (Mentalitätsgeschichte der „Otaku“. Die 1980er Jahre). Tôkyô:
Kôdansha 2004; ders.: „Japanimêshon“ wa naze yabureru ka (Warum „Japanimation“ auf die Dauer
keinen Erfolg haben wird). Tôkyô: Kadokawa 2005.
Miyazaki (nicht zu verwechseln mit dem weiter oben genannten Miyazaki Hayao) wurde 1997 zum
Tode verurteilt, das Urteil wurde 2006 endgültig bestätigt.
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Jaqueline BERNDT
Abbildung 3: Sabukaru Otaku
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Subculture und Otaku – Manga und Anime in Japan als Nischenkulturen
stand wiederum unmittelbar vom Handeln der ganz gewöhnlichen, unbescholtenen
Protagonisten abhängt.
Otaku sind exzessive Sammler. Ihr Eifer soll u.a. dadurch befördert worden sein,
dass das, was am Rande der offiziellen Kultur wucherte, für gewöhnlich nicht mehrfach
genossen werden konnte, bis die ersten Medien der Archivierung, z.B. Video, auftauchten. Anime-Serien wurden nur einmal ausgestrahlt, die Wegwerflektüre Manga
erlebte keine Neuauflagen, und das Internet stand als Informationsquelle noch nicht zur
Verfügung. Umso wichtiger waren Annoncen und Tauschbörsen. Dass Details so
aufmerksam untersucht wurden, muss auch an der geringen Qualität der Anime gelegen
haben, wodurch Fans sich herausgefordert fühlten, das Verschwommene zu klären und
Lücken zu füllen. Doch heute gibt es so unüberschaubar viele Produkte und Informationen, dass Otaku allein mit dem Abarbeiten der Neuerscheinungen mehr als genug
beschäftigt sind (Akihabara-Kataloge leisten dabei unschätzbare Dienste). Für das
Bohren in der Vergangenheit oder das kreative Überschreiten herkömmlicher Genres
bleibt schlicht und einfach keine Zeit.
Um die wichtigsten Charakteristika zusammenzufassen: Otaku ignorieren herkömmliche Hierarchien, indem sie sich weigern, vermeintlich Zentrales und Peripheres
voneinander zu scheiden (d.h. sie verhalten sich unkritisch). Sie sind nicht einfach nur
passive Konsumenten, wie das Schlagwort von den Stubenhockern nahe legen mag,
sondern produktive Rezipienten, die sich virtuelle Universen schaffen und darin neuartige Realitäten entwerfen. Und sie unterscheiden sich von den so genannten mania
dadurch, dass sie nicht Dinge sammeln sondern Daten. Das Nomura Research Institute
teilte in seiner Marketing-Studie die Otaku nach ihren Lieblingsgegenständen ein. 28
Ihrer Marktrelevanz gemäß rangierten 1. Comics, 2. Anime, 3. Unterhaltungskünstler
und 4. Games auf den ersten Plätzen. Allerdings fanden sich in der Liste auch PKW
(Nr. 6), Mode (Nr. 10) und Eisenbahnen (Nr. 12). Damit ignorierte man einen der
herkömmlichen Diskriminierungsgründe: Gerade das, was sich dinglich nicht greifen
lässt, galt lange als suspekt oder minderwertig, und heute noch wecken die Kategorien
auf den ersten Plätzen Argwohn aufgrund ihrer geringen Quantifizierbarkeit. Doch
zugleich verweist die Zusammenstellung darauf, dass Otaku sich weniger durch ihre
Gegenstände (und seien es Daten) als durch ihre Konsumtionsweisen auszeichnen. Die
Anhänger der Parodie-Richtung sind bekannt dafür, dass sie sich aus den Erzählungen
populärer Mädchenmanga weibliche Figuren herausgreifen und sie in selbst gezeichneten Situationen entsprechend ihren eigenen Gelüsten sexuell agieren lassen. Im Gegenzug haben Frauen das Flaggschiff des Jungenmanga Shônen Jump gegen den Strich
gelesen und männlich-sportliche Action sexualisierend parodiert. Lange Zeit sehr
zurückhaltend und in der Otaku-Ökonomie kaum präsent, treten sie nun selbstbewusst
als „verderbte Girls“ (fujoshi 腐女子) an die Öffentlichkeit. 29
Die gerade prominenteste männliche Konsumtionsweise heißt moe. Abgeleitet
von dem Verb moeru (燃える, glühen, lodern, anhimmeln), hat sich aufgrund einer
Verwechslung das Zeichen 萌え (eigentlich: sprießen, knospen) dafür eingebürgert.
Was tatsächlich angebetet wird, ist in der Diskussion, doch im Allgemeinen versteht
man unter moe eine emotional aufgeladene Interaktion mit Medienfiguren, vornehmlich
28
29
Nomura sôgô kenkyûsho, otaku shijô yosoku chîmu (NRI, Prognose-Team Otaku-Markt), a.a.O. (s.
Fußnote 12).
Vgl. z.B. KANEMAKI Tomoko: „Joshi ota 30 nen sensô“ (Der 30-jährige Krieg der weiblichen Otaku),
in: EUREKA 11/2005 (Tokushû: Bunka kei joshi katarogu/ Dossier: Katalog der kulturell orientierten
Mädchen), S. 144–153.
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Jaqueline BERNDT
Mädchengestalten aus Manga, Anime und Games. Aus gesellschaftskritischer, insbesondere geschlechterpolitischer Sicht erscheint das zuallererst als Kompensation:
Otaku-Männer entledigen sich über die manipulierbaren virtuellen Gestalten eines sozialen Erwartungsdrucks, den sie mit erwachsenen Frauen identifizieren, und dabei reduzieren sie Gesellschaft auf eine konservativ interpretierte Heterosexualität. 30 Aus
medienwissenschaftlichem Blickwinkel rückt hingegen die Sehnsucht nach einer Welt
der reinen Signifikanten ins Zentrum, einer Welt frei flottierender und als solches
unverbindlicher Zeichen, wo man allein, aber nicht einsam ist, wo man sich vor sozialen
Verletzungen schützen kann, wo Körperlichkeit und also auch menschliche Endlichkeit
keine Rolle mehr spielen. So gesehen, erscheinen die Medienfiguren nicht mehr als
Imitationen realer Mädchen, die ersatzweise sexuell ausgebeutet werden, sondern vielmehr als artifizielle Kreationen in einer Parallelwelt. Der Mangaexperte Itô Gô (*1967)
hat sie – ganz im Einklang mit der bereits angesprochenen Vorliebe für bedeutungsverschiebende Abkürzungen – als kyara im Unterschied zu kyarakutâ (beide abgeleitet von
character) definiert. 31
Während es sich bei letzteren um moderne Charaktere handelt, die auf den Menschen beziehbar bleiben, weil sie dem Rezipienten als gleichberechtigte Partner, die ein
unkontrollierbares Eigenleben zu führen scheinen, entgegentreten und weil sie einen
verletzbaren, sterblichen Körper haben, existieren kyara nur als Liniengeflecht auf der
Druckseite oder dem Monitor. Der Rezipient ist sich ihrer gewissermaßen posthumanen
Künstlichkeit bewusst und bezieht sie daher auch nicht in realistischer Weise auf eine
Außenwelt. Er fühlt sich von ihrer Präsenz angezogen, sie sind persönlich ansprechbar
(mit Eigennamen und Endungen wie -chan), und sie bieten sich als willkürlich
beschreibbare Projektionsflächen an. Die Mangaserie Chobits des Zeichnerinnenteams
CLAMP ist ein gutes Beispiel dafür, denn sie dreht sich um einen PC in Mädchengestalt, dessen Festplatte zu Beginn noch fast leer ist. Mit dem männlichen Protagonisten wird auch der Leser aktiv, und nicht nur lesend. Viele Figuren der derzeit global
florierenden Manga eignen sich zum Nach- und Verzeichnen, allein schon aufgrund
ihres vereinfachten Erscheinungsbildes. Erfolgreiche kyara halten die sekundärverwertenden Eingriffe der Fans (niji sôsaku) aus, ebenso wie den Wechsel ihrer Trägermedien. Ob sie in Manga, Anime oder Games auftauchen – entscheidend ist nicht ihre
Verbundenheit mit einem ganz bestimmten Kontext, sondern ihre Wiedererkennbarkeit
über verschiedene Texte und Kontexte hinweg.
Itô führt das auf die Besonderheit visueller Erzählungen zurück. Anders als die
Literatur muss beispielsweise der Comic seine Figuren wiederholt ins Bild setzen, um
ihre Identität für den Leser zu sichern. An der Wende zum 21. Jahrhundert sei das in
Japan so weit getrieben worden, dass sich die Figur als kyara von der konkreten Erzählung gelöst habe. Anders gesagt, man habe die Manga-Moderne hinter sich gelassen und
den kyara als Grundlage jeder noch so realistisch angelegten Figur wiederentdeckt. Itô
leitet das von einem Genre ab, welches er Gangan-Comics nennt. Dieses stützt sich auf
die Welt der Video- und Computerspiele, mit denen viele Kinder – neben Anime –
inzwischen sehr viel eher in Berührung kommen als mit Manga. Das Namen gebende,
1991 gegründete Wochenmagazin Shûkan Gangan hat z.B. mit der Serie Hagane no
30
31
40
Thomas LAMARRE, a.a.O. (s. Fußnote 11), S. 175.
ITÔ Gô: Tezuka izu deddo. Hirakareta manga hyôgenron e (Tezuka is Dead. Postmodernist und
Modernist Approaches to Japanese Manga). Tôkyô: NTT shuppan 2005; bes. Kapitel 3 „Kyarakutâ to
wa nani ka“, S. 81–142.
Subculture und Otaku – Manga und Anime in Japan als Nischenkulturen
renkinjutsu shi von Arakawa Hiroshi (Full Metal Alchemist) seit 2004 einen globalen
Hit im Angebot, der es allein in der japanischen Buchausgabe pro Band auf ca. 1 Mio.
Exemplare bringt. Dennoch gelten Comics wie diese bei den Wortführern des Mangadiskurses als schlecht gemachte, ästhetisch irrelevante, mithin subkulturelle Produkte,
dient ihnen doch der klassische Jungenmanga (shônen manga) als Messlatte für Qualität: Gute Manga sind solche, deren Erzählungen mitreißen, und zwar auf eine nur
diesem Ausdrucksmedium mögliche Weise. Davon aber gebe es immer weniger. Nicht
einmal dem führenden Magazin Shônen Jump, das um 1990 mit seinen wöchentlich
6 Millionen Exemplaren weltweit Aufmerksamkeit erregt hatte, sei es gelungen, einer
Verringerung seiner Auflage auf gut die Hälfte in der zweiten Hälfte der neunziger
Jahre etwas entgegenzusetzen, obwohl es solche erfolgreichen Langserien wie One
Piece (von Oda Eiichirô, dt. seit 2001) und Naruto (von Kishimoto Masashi, dt. seit
2003) publizierte. Itô sieht darin keinen Grund zum Klagen, sondern einen Wandel des
Marktes: vom Primat der Erzählung zum Primat des kyara, vom Mythos des Autors zur
Datenbank der moe-Elemente. Der Manga sei eben eine Medienfiguren generierende
Form neben anderen.
In den 1970/80er Jahren brauchte der Manga (als erzählendes visuelles Medium)
noch kulturelle Legitimation. Mittlerweile wirkt es angesichts seines Verbreitungsgrades eher anachronistisch, ihn pauschal als Subkultur zu loben. Das einstige Wechselspiel von minor und major hat mit der Sättigung des Marktes während der 1990er Jahre
seine Produktivität eingebüßt. Was bleibt sind Nischen, in denen Leser nicht Manga an
sich, sondern entsprechend ihren Geschmacksgemeinschaften nur jeweils ganz
bestimmte Comics konsumieren. Sogar selbstreflexiv wirkende Werke – z.B. solche mit
Figuren, deren Name schlicht kyara lautet – werden von Stammlesern unaufgeregt
konsumiert, und nicht etwa, weil sie die Ironie verkennen. Historische Vergewisserung
spielt eine immer geringere Rolle. Wer sich allerdings mit der Gegenüberstellung von
kyara-zentrierten und realistischen Manga nicht zufrieden geben und das Spektrum von
Comics nicht auf diese beiden Varianten beschränkt sehen mag, wird nach neuen
subkulturellen Formen Ausschau halten.
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