museum im kopf - Institut für Wissenschaft und Kunst

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museum im kopf - Institut für Wissenschaft und Kunst
MUSEUM
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MUSEUM IM KOPF
DIE AUTOR/INN/EN:
INHALT:
AGREN, PER-UNO: Museologe, Institutionen
för museologi- Universitet Umea
BOGREN-EKFELDT, BRITT: Kustodin im Nordiska Museet
CEDRENIUS, GUNILLA: ehem. Kustodin in
Nordiska Museet, dzt. freie Mitarbeiterin in Museumsfragen,
Redakteurin
der Zeitschrift
"Svenska Museer"
ENDRÖDI, JULIA: Ägyptologin, Universität/Gesamthochschule Essen und Museum Altenessen für Archäologie und Geschichte
FLIEDL, GOTTFRIED: Museologe, Kiesterneuburg
FURINGSTEN, AGNE: Archäologe, Nordiska
Museet Stockholm und SAMDOK-Projekt
PERSSON, EVA: Kunstwissenschaftlerin, Arbetets-Museum Norrköping
PIRCHER, WOLFGANG: Philosoph, Institut für
Philosophie der Universität Wien
PURITZ, ULRICH: Künstler und Kunstpädagoge, Kunsthochschule Berlin
STURM, EVA: Kunstvermittlerin und Musealegin, Wien
WENK, SILKE: Kunsthistorikerin, Hochschule
der Künste, Berlin
WILHELM, KARIN: Kunsthistorikerin, Institut für
Kunstgeschichte der Technischen Universität
Graz
Roswitha Muttenthaler, Herbert Pasch,
Eva Sturm
VORWORT ........................... .
Julia Endrödi
LESARTEN DES TEDDYBÄREN
Über die Ordnung im Museum . . . . . . . . . . . . . 2
U!rich Puritz
STEELOPOLIS
Fragmente eines Workshops . . . . . . . . . . . . . . 8
Gottfried F!ied/
SEHENSWÜRDIGKEIT .................. 13
Eva Sturm
BILD-TEXT-COLLAGE-MUSEALISIERUNG .. 18
Wolfgang Pircher
KOPF-MUSEEN ........................ 21
Karin Wilhe!m
HALTET DIE MUSEN!
Funktionen des Ver-Deckens und Ent-Deckens
in der Kunst von Frauen .................. 23
Silke Wenk
WARUM IST DIE (KRIEGS-)KUNST
WEIBLICH?- Frauenbilder in der Plastik auf
öffentlichen Plätzen in Berlin .............. 29
Agne Furingsten, Britt Bogren-Ekfeldt,
Gunil/a Cedrenius
GEGENWARTSDOKUMENTATION IN
KULTURGESCHICHTLICHEN MUSEEN .... 39
Agne Furingsten
DIE ROLLE ALS "MUSEUM MIT LANDESUMFASSENDER VERANTWORTUNG"
IM SCHWEDISCHEN MUSEUMSWESEN ... 43
Eva Perssan
DAS ARBEITSMUSEUM IN NORRKÖPING .. 46
Per-Uno Agren
MUSEOLOGIE IN UMEA, SCHWEDEN
Konzept und Struktur eines Lehrganges ..... 50
Abbildungen Umschlag: siehe S. 18 ff.
Linie des Blattes: Verständigung der Öffentlichkeit über
die Arbeit des Instituts für Wissenschaft und Kunst sowie
Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Arbeiten, die
damit im Zusammenhang stehen.
Eigentümer, Herausgeber und Verleger: Institut für Wissenschaft
und Kunst. Für den Inhalt verantwortlich: Dr. Helga Kasch!. Alle
1090 Wien, Berggasse 17/1, Tel. 0 222/34 43 42. Satz: Büro
Hannes Riedinger, 3423 St. Andrä-Wördern, Schloßgasse 7, Tel.
0 663/800 314. Druck: Glanz & Hofbauer Ges.m.b.H., 1200 Wien,
Treustraße 5, Tel. 0 222/330 73 67.
MITTEILUNGEN DES INSTITUTS FÜR WISSENSCHAFT UND KUNST, 47. JG. 1992 I NR. 3, öS 50,-
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\NIEN•·~
KULTLR
IWK-Mittei Iu ngen
VORWORT
Erato, Euterpe, Kalliope, Klio, Melpomene, Polyhymnia, Terpsichore, Uraniaund Thalia- die Namen der
göttlichen Musen, Schützerinnen von Kunst und
Wissenschaft, bezeichnen ihre Domänen: Liebesdichtung, tragische Chöre, epische Dichtung, Geschichtswissenschaft, Lyrik, Leierspiel, Tanz, Sternkunde und Lustspiel.
Das griechisch-lateinische Wort Museum, ursprünglich "Heiligtum der Musen", scheint etwas von
dem bewahren zu wollen, was einst in Bewegung
war. Was von der Vielfalt, Lust und Dynamik, die der
Name verspricht, ist noch vorhanden, permanent,
ephemer, in Ansätzen, nicht mehr?
Museum als Kulttempel, Hort des Sammelns, Ort
der Feier des Vergangenen, Erlebnispark einer
marktorientierten Kultur, Stätte für Erinnerungsarbeit, Verdrängungsorgan der Gesellschaft, Platz
für Kreativität, öffentlicher Raum für Identitätspflege - Schatzhöhle oder Schutthalde. Der anhaltende Museums- und Ausstellungsboom und die daran
anschließenden Diskussionen zeugen neben dem
Bedeutungsanstieg auch von dem in Veränderung begriffenen Verständnis dieses Mediums.
Die Institution Museum, ihre Sinnhaftigkeit und
ihr Aufgabenbereich sind ebenso in Frage gestellt,
wie ihre Verortung in der Kulturlandschaft, ihre
gesellschafts-politischen lmplikationen, ihr Verhältnis zu Wissenschaft und Kunst wie ihre Rolle als
Ort des kulturellen Erbes und als Trägerin des sozialen und kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft.
Um dem Gedankenaustausch im Themenbereich
Museen und Ausstellungen ein Forum zu geben, gründete Gottfried Fliedl 1983 am Institut
für Wissenschaft und Kunst den Arbeitskreis "Museum".
Seit 1990 wird diese Gesprächstradition von dem
Arbeitskreis "Museum im Kopf" fortgesetzt. Er versteht sich als Diskussionsforum, als Möglichkeit,
sich der Thematik Museum und Ausstellung im
weitesten Sinn und aus verschiedensten Perspektiven zu nähern. Vorrangig werden Referentinnen
aus dem Museumsbereich bzw. aus entsprechenden Fachwissenschaften eingeladen, um ihre Überlegungen zu präsentieren und zur Diskussion zu
stellen.
Das vorliegende Heft bietet eine Auswahl aus
dem bisherigen Programm. Die von den Referentinnen dankenswerterweise zur Verfügung gestellten
Beiträge zeugen von einer spannenden Vielfalt an
Thesen, Ideen und Gesichtspunkten.
Dabei konnten aus allen Themenschwerpunktbereichen des Arbeitskreises (Philosophie, Historie,
Ästhetik, Aktuelles, Feministisches) Beiträge gewonnen werden. Die Auswahl reicht von Einzel-Referaten zu bestimmten Themen über eine Buchpräsentation mit Kurzstatements bis zu den gesammelten
Referaten einer Tagung.
Der Dank, den die Arbeitsgruppe "Museum
im Kopf" an dieser Stelle aussprechen will, gilt
nicht nur den Referenten und Referentinnen, welche sich in großartiger Weise cooperativ gezeigt
haben und allen, die sich mit der Arbeitsgruppe
in den Veranstaltungen den Kopf zerbrechen,
sondern auch dem Institut für Wissenschaft
und Kunst für sein Entgegenkommen und dem
Kulturamt der Stadt Wien in Person von Hubert
Christian Ehalt für die immer wieder gewährten
Unterstützungen, welche es möglich machten,
auch Gäste aus weiterer Ferne nach Wien einzuladen.
Roswitha Muttenthaler, Herbert Pasch, Eva Sturm
1
IWK-Mitteilungen
JULIA ENDRÖDI
LESARTEN DES TEDDYBÄREN - Über die Ordnung im Museum
Martin David Tchiba gewidmet
"Was am Teddybären zählt, ist die Zauberkraft, mit
der er Menschen umfängt, ist die magische Wirkung,
die den Teddy für seine Betrachter lebendig macht
und sie eine individuelle, liebevolle Bezeichnung zu
ihm aufnehmen läßt. Die prosaische Ordnung des
Sichtbaren, das ganze Wissen über den materiellen
Gegenstand bleibt demgegenüber trivial, wenngleich
interessant für die Subkultur der Sammler . .. "1
meint Bärenleser und Ausstellungsproduzent Rolf
Kania in seinem Katalogsbeitrag zur Essener Ausstellung "Bärenlese - Zum Wesen des Teddys", die
nach dem Ruhrlandmuseum seit April 1992 für ein
halbes Jahr im Wiener Naturhistorischen Museum zu
sehen war. Die "Bärenlese" war als ein Versuch zu
betrachten, herauszufinden, als was der Teddybär
im Museum ausgestellt und gelesen werden sollte, wollen wir es nicht bei der "trivialen", "prosaischen
Ordnung des Sichtbaren", nur beim "Wissen über
den materiellen Gegenstand" belassen.
Ich nehme diese Bärenausstellung zum willkommenen Anlaß, über die Ordnung im Museum nachzudenken. Ein konkretes Werk - hier eine Ausstellung - zum Ausgangspunkt von theoretischen
Überlegungen zu wählen ist durchaus gerechtfertigt
-werden ja die Kategorien in den Werken generiert
und nicht umgekehrt. 2 Es gilt sie zu erkennen und zu
nutzen. Die hier gewählte Form der Ausstellungsanalyse strebt eine neue Art von Kritik an, die sowohl für die Ausstellungspraxis, als auch für die
theoretische Museelegie in konstruktiven Einsichten
resultieren soll. Ich möchte damit den Anspruch auf
eine noch seltene Textgattung in der Museelegie
verbinden, über die Michel Foucault so schreibt: ",ch
stelle mir einfach gerne eine Kritik vor, die nicht urteilen versuchen würde, sondern ein Werk, ein Buch,
einen Satz, eine Idee zum Leben erwecken würde;
sie würde Feuer anzünden, das Gras wachsen sehen, dem Wind zuhören und den Meeresschaum im
Flug erhaschen und zerstäuben. Sie würde nicht die
Urteile, sondern die Lebenszeichen mehren; sie riefe sie und weckte sie aus ihrem Schlaf. Erfände sie
sie manchmal? Umso besser. "3
Warum sich gerade die Bärenlese zu diesem
Zweck besonders eignet, bedarf vielleicht einer Erklärung. Es handelt sich dabei nicht um (m)eine Vorliebe für Teddys - als Kind hatte ich einen Plüschhund, dessen Hermeneutik eine andere ist, auch
wenn in der Funktion gewisse Ähnlichkeiten feststellbar wären. Die Hermeneutik des Teddybären
führt zu mythischen Vorstellungen, in denen die Auseinandersetzung des Menschen mit einem mächtigbedrohlichen Wesen Gestalt annahm und das Mächtig-Bedrohliche symbolisch in ökologischen und
sozialen Kontexten zum Spender von Macht und
2
Kraft für den Menschen umgewandelt wurde. Haben
Macht und Kraft des Menschen den Bären selbst besiegt- um die Jahrhundertwende war es soweit- so
war die Zeit reif für die Geburt des Teddybären. Haftet(e) zwar die Vorstellung von Macht und Kraft auch
an dem Teddy, doch nur noch in einer defensiven
Projektion: der ökologische Kontext wurde getilgt, im
sozialen Kontext spendet(e) die Macht des Teddys
Schutz und seine Kraft Trost. Daß der Mensch diese
Funktionen von Kind auf braucht, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit der Geburtsstunde des
Teddys gleichzeitig die Aushöhlung seiner eigenen
Hermeneutik einsetzte. Durch seinen modernen Einsatz in Werbung und Design wurden sogar seine sozial realen Kontexte von Schutz und Trost verflüssigt
und verdünnt. So ist der Teddy ein Gegenstand, in
dem, je nach konkretem Einsatz, Reales oder auch
die "Agonie des Realen" zum Ausdruck kommen
kann. Teddys gibt es auf der breiten Skala vom lebendigen Objekt bis zum Simulakrum. 4 So wurde der
Teddy in besonderem Maße befähigt, Abwesendes
heraufzubeschwören oder genausogut zu verdrängen, jeweils in passender, erträglicher Form. Er ist
mit den Worten von Ulrich Borsdorf eine "Piüschige
Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte aller
Art". 5 Bedenkt man, daß alle museal ausgestellten
Objekte durch den Akt der Ausstellung zum Artefakt
der Erinnerung, Verarbeitung und Verdrängung werden, so ist zu erwarten, daß durch die Ausstellung
des Teddybären eine besonders dichte Atmosphäre
von Projektionen und Synthesen "aller Art" geschaffen werden kann. So war es auch in der Bärenlese.
Die durch das Ausgestelltsein gesteigerte Wirkung
der Objekte entfaltete sich in zwei "Fassungen": den
völlig unterschiedlichen Bedingungen in Essen und
in Wien angepaßt.
Und schon stoßen wir an ein logisch-sprachliches
Hindernis, dessen Überwindung erst den Weg für
die Analyse freimacht. Angepaßt wurde die Bärenlese zwar den jeweiligen räumlichen Rahmen, doch
weder in den nicht übermäßig großen, durch die
schwarze Verkleidung (bären)höhlenartig wirkenden
Räumlichkeiten des Essener sozialhistorischen Museums, noch in den majestätischen Dimensionen
des Wiener Naturhistorischen Museums ließen sich
"Naturbär" und "Kulturbär" voneinander trennen. So
wirkte die Anpassung durch ihre Kehrseite, als die
Sprengung der jeweils spezifischen inhaltlichen
Rahmen. Trotz ausgeglichener - in Wien sogar
großzügiger- Raumgestaltung herrschte eine unruhige, ja bedrückende Atmosphäre in den Ausstellungen. Diese Diskonformität zu herkömmlichen fachspezifischen Museumsgattungen nahm in Wien
durch eine Installation provokative Gestalt an. Die
IWK-Mitteilungen
Installation wurde auf dem zur Ausstellung führenden breiten Treppenweg aufgestellt, - die übrigens
mit Wiener Teddys gesäumt war, schön säuberlich,
nach dem Stadtbezirk geordnet. Es handelt sich um
einen Zerrspiegel, vor dem ein Menschen- und ein
Bärenskelett, sowie ein Teddy ausgestellt waren und
in dem sich der Besucher samt der Rückseite der
ausgestellten Objekte verzerrt betrachten konnte.
Die Wiener Fassung ist aber erst das letzte Stadium der Ausstellungsidee Bärenlese. Sie baute auf
Erfahrungen in der Essener Ausstellung, die sich
wiederum schwer durch die noch früher entstandenen Beiträge des Ausstellungskatalogs greifen lassen. Wenden wir uns nun diesen Variationen auf ein
Thema zu, und suchen wir nach Meilen- oder Stolpersteinen auf dem Weg von der Idee zu den Ausstellungen.
Mit einer groß angesetzten Sammelaktion für die
Ausstellung fingen die Mitarbeiter des Ruhrlandmuseums an, ihre Idee in die Tat umzusetzen. Gesammelt wurde alles, was mit dem Teddy zu tun hat: neben den plüschigen (oder stark abgewetzten)
Objekten als auch Fotos, Geschichten, Bekenntnisse, Zitate, Kunstwerke, alte Amulette und neue
Glücksbringer, Zeugnisse über das Leben des Bären
und über die Herstellung des Teddys, Gummibärchen, Werbespots, Bärenmotive im Design usw.
Früh muß die Vermutung aufgekommen sein, daß
sich das Material einer dokumentierenden musealen
Systematik widersetzen wird. Doch scheinen sich
die Aussteller anfangs kräftig dagegen gewährt zu
haben, wie ihre Katalogsbeiträge, die ersten veröffentlichten Dokumente ihrer Auseinandersetzung mit
dem Material, belegen. Bis auf einige Ausnahmen
überwiegt im Katalog der disziplinierte, systematische Zugang zum Thema. Bei näherer Betrachtung
ist aber zu erkennen, daß man mit der Themensetzung, Rechtfertigung und Zielsetzung rang. So lesen
wir im Katalog, daß der Teddy, seriell gefertigt durch
Gebrauchsspuren individuell beseelt "in einen primitiven Kunstgegenstand" in "eine archaische Statuette" verwandelt wird, "die es verdient, im Museum
präsentiert zu werden". 6 Neben dieser etwas unbeholfenen, kunsttheoretisch anmutenden und sicher
nicht reflektierten Rechtfertigung gibt es auch einen
sozial- und kulturhistorischen Ansatz im Katalog,
nach dem der Teddy "als Vermittler zwischen dem
Einzelnen und der Sozietät'" ausgestellt werden soll.
An anderer Steiles wird eine kultur- oder zeichentheoretische Annäherung erkennbar, die den Teddy
als Simulakrum bezeichnet. Doch sind "primitiver
Kunstgegenstand", ,,Vermittler", "Simulakrum" nur
Teilaspekte des Materials, selbst nur Projektionen
auf der plüschigen Fläche, die letztlich zum eigentlichen Gegenstand der Ausstellung geworden ist. Diese nachträgliche Erkenntnis war in der frühen Phase
der Arbeit scheinbar noch nicht zu formulieren. Eine
Struktur bekam die plüschige Fläche erst in der Essener Ausstellung, in Wien gewann die weiterverfeinerte Struktur schließlich Oberhand zur Systematik.
Die Sammler und Forscher dokumentierten mit ihren
Katalogsbeiträgen ihren durchaus legitimen primä-
ren Zugang zum Material. Allein der für die Gestaltung zuständige Volker Geissler nahm mit seinem
poetischen Text die Stimmung und die Synthese in
der Ausstellung vorweg. Sein Text formuliert keine
sachlichen Zielsetzungen, vielmehr bietet er ein
sprachliches Pendant zur Ausstellung.
Auch an diesem Beispiel zeigt sich, daß Katalog
und Ausstellung zwei grundverschiedene Medien
sind. So wäre es also ungerecht, sie aneinander zu
messen. Ihr Verhältnis zueinander verrät aber viel
über die Vergehensweise der Aussteller. Alle drei
der wichtigsten Textgattungen der Ausstellungskataloge kommen im Katalog Bärenlese vor: thematischer Beitrag, also informativer Text, Schilderung
von Objektschicksalen, also dokumentierender Text
und literarischer, also ästhetisch gestalteter Text.
Diese Texte stehen im Vorfeld der Ausstellung und
haben auch die Aufgabe, Wahrnehmungsvarianten
für und Kommunikationsmöglichkeiten mit der später
entstandenen Ausstellung anzubieten. Sie bereichern den Ausstellungsbesuch aber nur, solange sie
nicht drohen, die Ausstellung zu vereinnahmen. Der
letzte Fall tritt ein, wenn die Ausstellung sozusagen
nicht über den Katalog hinausreicht, wenn also in
der Ausstellung keine neue Synthese entsteht. Die
völlige oder weitgehende Übereinstimmung zwischen Katalog und Ausstellung zeugt von Ausgrenzung und Unterdrückung von Überschüssigem. Der
Katalog soll weniger die Ausstellungskonzeption, als
mögliche inhaltliche oder ästhetische Zugangsformen vermitteln. Systematik ist lediglich eine dieser
Formen.
Die Systematik einer siebenfachen Themenumsetzung, die sieben Projektionen auf die plüschige
Fläche gleichkommt, wurde als Skelett mit folgenden
Überschriften für die Ausstellung übernommen: Idylle, Teddy als Ware, Mythos, Alter Ego, Teddy des
Kindes, Bärenfälle, Sammlers Glück. Mit diesem Raster wurde auch die Bemühung transportiert, die
Hermeneutik des Teddybären, eine Dokumentation
auszustellen. Besonders in der Essener Fassung
und darin besonders im Bereich Mythos war das zu
spüren. Doch die Thematisierung scheint der anfangs vom Ausstellungsmacher beschworenen "Zauberkraft" nicht genüge getan zu haben. Diese ließ
sich in keiner Projektion binden, im Gegenteil, sie
wurde in der Ausstellung aktiviert und schwebte unkontrollierbar im Raum. Diese sieben (7!) vorgeschlagenen Lesearten wollten erklären, konnten
aber nicht entzaubern. Die Teddybärenhermeneutik
erhielt einen ätiologischen Zug, die Ausstellung mythische Dimensionen.
Daß mit der Themensetzung zugleich Rahmenbedingungen für eine Ausstellung geschaffen werden,
ist nichts Neues. Daß diese Rahmenbedingungen
regulierend und ordnungsschaffend wirken, ist ebenfalls bekannt und auch notwendig. Auch daß durch
die Themensetzung Überschüssiges ausgegrenzt
und unterdrückt wird, wurde schon längst erkannt und als unumgänglich hingenommen. Das aber ist
nicht notwendig. Wird die Ausstellung als ästhetisch
gestaltetes Medium wahrgenommen, können die
3
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thematischen Rahmenbedingungen und die Ästhetik
der Gestaltung eine neue Synthese eingehen, die
nicht mehr ausgrenzend und unterdrückend ist. Im
Gegenteil, sie fördert die Entstehung von Neuordnungen über die Themengrenzen hinaus, die unkontrollierbaren Verflechtungen in der Rezeption des
Ausgestellten. Während in der Essener Fassung der
Bärenlese noch die Spuren eines Dilemmas zwischen braver Dokumentation und ästhetischer Inszenierung erkennbar gewesen waren, nahm die Wiener Inszenierung das Dokumentarische weitgehend
in sich auf. Durch eine organische Mischästhetik des
Musealen und des Theatralischen hatte der Besucher am Geschehen einer "künstlerischen Realitätssphäre" teil. Dementsprechend mehrten sich die
Freiräume für "Neuinszenierungen des Gedächtnisses", ob individuell oder kollektiv.9 Dies fiel aber
scheinbar nicht überall gleich leicht. Während z. B.
der museal relativ unvorbelastete Bereich "Teddy
des Kindes" frei, ja fast poetisch Gestalt annahm,
drohte der Mythosbereich stellenweise schwer und
düster in das Dokumentarisch-Museale zurückzufallen.1o Als würden die stark museal vorgeprägten
Wahrnehmungsgewohnheiten an den Objekten haften.
Welche Ordnungen gibt es im Museum? - drängt
sich die Frage nach solchen Erfahrungen auf. Fest
steht, daß sichtbare Ordnung und Übersichtlichkeit
einer Ausstellung nicht für klare Inhalte bürgen, nicht
mit einer stringenten Stellungnahme der Aussteller
zu verwechseln sind und auch nicht einladen, die eigenen Gedanken zu ordnen. Ein erschütterndes Beispiel dafür lieferte llya Kabakov mit seiner Ausstellung "Das Leben der Fliegen", die in diesem Jahr u.
a. im Kölner Kunstverein zu erleben war. Die penible, sich selbst als unumstößlich verherrlichende
Ordnung einer Pseudo-Fiiegenhermeneutik mit
Schautafeln, Statistiken, Modellen, Seite für Seite
eingerahmten,
wissenschaftlichen
Erörterungen
breitete sich in tristen, mit Müll besäten, durch kahle
Glühbirnen sehr dürftig beleuchteten Sälen aus. Man
wanderte von der einen Pseudo-Mitteilung zur anderen, wollte in einer Nische die lyrische, hommageartige Hinwendung Kabakovs an die Fliegen (Konzert an die Fliegen) aufnehmen, vergeblich, bis
einem vor Anstrengung der Augen die Tränen flossen und das Funktionieren von totaler Vernebelung
und Unübersichtlichkeit durch Ordnung "einleuchtete".
Nein, diese Ordnung kann sich kein Ausstellungsmacher auf dem Felde der Kulturgeschichte wünschen. Doch die am meisten praktizierten Formen
des Ordnens im Museum werden dem Medium oft
nicht gerecht. Drei Gattungen der Ordnung begegnen wir heutzutage in kulturhistorischen Ausstellungen, wenn auch selten in reiner Form - nennen wir
sie, je nach dem leitenden Ordnungsprinzip "museale Ordnung", "informative Ordnung" und "ästhetisch
strukturierte Ordnung".
Die museale Ordnung steht dem traditionellen
Ordnungsgefüge des Museums am nächsten und
wird durch die Strategie des Forschens und Sam-
4
melns geprägt. Indem die wissenschaftlichen Wahrnehmungsangebete auf die Ausstellung übergreifen,
wird diese im besten Fall zur Studienausstellung,
wobei der Unterschied zu einem aufwendig gestalteten Magazin nicht mehr relevant ist. Diese weder informativ, noch ästhetisch aufnehmbare Form des
Ordnens ist heute immer weniger salonfähig, lauert
aber wach hinter der als didaktisch "fortschrittlich"
empfundenen "informativen Ordnung". 11 Durch "zielgruppengerechte" Aufarbeitung des wissenschaftlich
erforschten Materials sollletztere der ebenfalls traditionellen Aufgabe des Bildens im Museum dienen.
Klare Themensetzungen auf informative Einheiten
aufgeteilt und den Wahrnehmungsgewohnheiten der
Besucher entsprechende "didaktische Maßnahmen"
sollen diesen Auftrag erfüllen. Zielgruppengerecht
und informativ ist aber noch lange nicht museumsspezifisch, zumal das eine auf die Orientierungsstrategien der Konsumgesellschaft zurückgreift und das
andere zur Reduktion des Referenzreichtums der
Objekte führt. So wundert es nicht, wenn das Museum vom Alltag eingeholt wird, in dem "alles kommuniziert, nichts berührt sich. "12 Die Transponierung
von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen in
Informationen erfolgt im Kontext der vorherrschenden öffentlichen Kommunikationsformen, die nach
Baudrillard erst über die Vernichtung der Inhalte optimal funktionieren. 13 Baudrillard diagnostiziert den
Übergang zum Operationeilen in der Kommunikation: "Es handelt sich bei der Kommunikation nicht
um einen einfachen Austausch und bei der Information nicht um ein einfaches Wissen, sondern um eine
Produktion von Austausch oder Wissen. Desgleichen handelt es sich bei der Werbung, Propaganda
usw. nicht um Glauben, sondern um Glaubenmachen. Beteiligung, Anregung und ähnliche Dinge (die
eng mit der Kommunikation zusammenhängen) zielen auf ein Handelnlassen ab. Die Beteiligung als
kollektiver Prozeß ist nicht eine reine und einfache
Aktion, sondern eine mehr oder weniger durch ein
ferngesteuertes Dispositiv vermittelte Aktion (wenn
sie auch als Ausdruck kollektiver Spontaneität, als
Form organischer Geselligkeit gegeben ist, wird sie
immer doch durch ein ,Lassen', durch eine Art Mechanismus oder Maschinerie ausgelöst. '~ 4 Auch das
Instrumentarium der Museumsdidaktik steuert die
Beteiligung, setzt Vermittlung an die Stelle von Mitteilung und produziert durch Sehen- und Wissenlassen engmaschige Netze, "bei denen Kontrolle und
Feedback stets impliziert sind". 15 Was vermittelt
wird, ist eine gebildete Art des Nichtwissens. Wissensinhalte16 dagegen sind nur in komplexeren
Strukturen kommunizierbar. Ob solche im Museum
wachsen können?
Als ein Rettungsanker erscheint die Hoffnung in
die "Subversion der Dinge und Sinne", von denen erwartet wird, daß sie permanent gegen den "Herrschaftsanspruch des Verstandes über Sinnlichkeit,
Wahrnehmung und Natur'~ 7 revoltieren. Dabei handelt es sich eigentlich um die organische Beschaffenheit der Dinge und um die komplexen Strukturen
ästhetischer Wahrnehmung und "retrospektiver Be-
IWK-Mitteilungen
sonnenheit" (A. Warburg) 18 , die nur aus einer Frontstellung heraus als subversiv erscheinen. Wir suchen nach einer Ordnung, in der sie sich produktiv
entfalten können, - und möchten diese als "ästhetisch strukturierte Ordnung" beschwören. Gemeint
ist eine Konfiguration als ästhetische Rahmenbedingung, die den thematischen Rahmen in sich aufnimmt, dazu Stellung bezieht und zugleich Freiräume für Neuordnungen über die Themengrenzen
hinaus bietet. Dadurch wird die wissenschaftliche
Systematik als Erkenntnisweg nicht getilgt, sondern
lediglich mit anderen, sie auch prägenden Produktions- und Wahrnehmungsformen in der GeschichtsKultur in Relation gesetzt. Ihr wird lediglich das Operationeil-Didaktische entzogen, zugunsten einer
Einladung an den Besucher, sich durch Erinnerung
und Auseinandersetzung der Stellungnahme der
Ausstellungsmacher anzuschließen oder eine andere Stellung zu beziehen. Das Museum kann so zum
Ort einer neuen Synthese zwischen Systematik, Ästhetik und "retrospektiver Besonnenheit" werden.
Damit wäre die Vermittlungsebene verlassen und eine Erkenntnisebene betreten. Wichtigster Moment in
diesem Wechsel ist die Gestaltung der Ausstellung
als eine "künstliche Realitätssphäre", in der Überschüssiges, Unerwartetes, Unkontrolliertes entstehen kann, in der Inhalte, Gefühlsmomente, Wünsche, Erinnerungen je nach mitgebrachten Potentialen der Beteiligten auch unkontrollierte Bindungen
eingehen können, in der die produktive Einbildungskraft angeregt wird und tätig werden kann, neue
Synthesen zu schaffen. Als ein Medium der Erkenntnis kann so das Museum als Raum für Neu-Inszenierung "der Ordnung des kollektiven Gedächtnisses"19 und zugleich für die "Differenzierung der
Subjekte"20 funktionieren als Raum für die Freiheit
der Aktion". 21
Daß dies möglich ist, hat die Bärenlese bewiesen.
Daß dies einen schweren Gang der Ausstellungsmacher bedingt, ist der Entstehungsgeschichte der
Ausstellung ebenfalls zu entnehmen. Der Weg führt
von der systematisch gesetzten Rahmenbedingung
der Themensetzung zur ästhetisch strukturierten
Ordnung, die einen ständigen, auch unkontrollierten
Rahmenwechsel zuläßt. Unterwegs muß man auf
die "operationelle Immanenz aller Details'22 verzichten und - viel schwerer noch - auch die in vielen
Jahren beinahe angewachsene Schutzhülle wissenschaftlicher Objektivität endgültig hinterlassen. Intuition und Spürsinn sind unentbehrlich. Gangbar ist
der Weg nur in einer Allianz mit Künstlern, die sich
wiederum nicht nur der ästhetischen Beschaffenheit
der Dinge, sondern auch der Beschaffenheit deren
Erforscher und Rezeptionsgeschichte zuwenden.
Auf diesem Weg werden neue Erkenntnis- und Darstellungsformen ausprobiert und damit neue Berufsbilder geprägt. Deswegen soll neben der fertigen
Ausstellung auch der Weg bis dorthin ins Blickfeld
der analytischen Betrachtung rücken, auch wenn dabei kein Wegweiser für zukünftige Ausstellungsmacher entstehen kann. Die ästhetisch strukturierte
Ordnung im Museum kann/wird im Spiegel der ope-
rationellen Ordnungen als Unordnung, "Zumutung"
dem Besucher gegenüber empfunden werden, obwohl uns allen durch die Operationalisierung viel
mehr Unwürdiges zugemutet wird ...
Die Anwesenheit sowohl der Aussteller wie auch
der Originale erhält eine neue Qualität in der ästhetisch strukturierten musealen Ordnung. Auch dies
läßt sich an den Bären lesen. Benutzen wir jeweils
den operationalisierten musealen Alltag als Folie.
Ausstellungsmacher handeln gewöhnlich in der Bindung zweifacher OpeRationalität: Einerseits sind sie
selbst durch das Museum als Institution operationalisiert, durch die Rolle, die sie ausstellen läßt. Besonders bei Wissenschaftlern wird diese Rolle nicht
verinnerlicht, viel eher als notwendiges Übel wahrgenommen. Andererseits sind sie diejenigen, die die
Besucher operationalisieren, indem sie sie in der
Ausstellung wissen, stehen, hinstellen, bewegen
usw. lassen. in den meisten Ausstellungen wird der
Akt des Ausstellens dissimuliert, seine Mittel auf eine unpersönliche Art verschleiert, indem sich die
Aussteller in "didaktische Maßnahmen" transponieren. Passivität haftet an beiden Polen. Die ästhetisch strukturierte Ordnung setzt dagegen an beiden
Polen eine aktive Haltung voraus. Für die Aussteller
bedeutet dies, daß sie als Subjekte erkennbar bleiben, als diejenigen, die sich selbst der Auseinandersetzung stellen, Standpunkte einnehmen, zum Austausch einladen, Beziehung mit dem Besucher
anstreben und die Berührung nicht scheuen. Dies alles ohne "selbstgerechtfertigte und selbstprophetische Positivität". 23
Die Bärenlese kommt ohne "didaktische Maßnahmen" aus, dafür sind die Aussteller deutlich artikuliert präsent. Nicht nur durch die Machart der Ausstellung, sondern durch ihre gesammelten Zitate, die
sie netzartig über die Ausstellung ausbreiteten. Die
Zitate knüpfen nicht nur einfach am Thema Teddy
an, sondern an Inhalten, die den Ausstellern dazu
einfielen, sie sind Projektionen auf der plüschigen
Fläche, in ihnen sind Wünsche, Sehnsüchte und Ansichten aller Art zu ertappen. Ist doch auch vom literarischen Vertreter des Teddybären, Winnie dem
Bären, bekannt, daß er "Große Dinge über Gar
Nichts'24 zu denken fähig ist. Diese im Raum zerstreuten Zitate ergeben eine achte, sehr anregende
Ebene der Annäherung. Nichts darüber verlautet im
Katalog, lediglich am Türpfosten der Essener Ausstellung erschienen die Quellenangaben. Unter den
längeren Texten fällt alleine der zum Thema Amulette und Glücksbringer- und wieder im Mythosbereich
- aus dem Rahmen: er mutet fast lehrmeisterisch
an. Von dieser Ausnahme abgesehen, haben die
Aussteller durch das zweifache "Sich-Hineinstellen"
eine Kommunikation untereinander sichtbar gemacht und auch den Besucher dazu eingeladen. Die
inhaltliche Tragweite der Installationen und Zitate
läßt die kurze Bemerkung von Ulrich Borsdorf in einem Telefongespräch als einen Kommentar zum
schweren, aber durchaus produktiven Gang der
Aussteller auslegen: "Wir sind dem Teddy erlegen."
Und wie verhielten sich die "Originale" zur Aus-
5
IWK-Mitteilungen
stellung? Bei den bisherigen Überlegungen handelte
es sich um die sichtbare Ordnung der Ausstellung,
die eine neue Entität darstellt und deren ästhetisch
strukturierte Ordnung sich auf einer symbolischen
Ebene konstituiert. Aber nur auf der Wirklichkeitsebene der Ausstellung fallen sichtbar und symbolisch zusammen - und auch hier nur für die Produzenten. in der Zeichenstruktur des aus seinem
ursprünglichen Kontext entnommenen, erforschten,
musealisierten und ausgestellten Originals ist die
Trennung zwischen "sichtbarer" und "verborgener
symbolischer Ordnung" 2 s endgültig vollzogen. Die
Ausstellung kann zwar Bezugnahmen zu einigen ihrer Charakteristika herstellen oder anregen, nie kann
sie aber ihre Struktur wiederbeleben. 26 Die Möglichkeiten für die Bezugnahme in den operationeilen
musealen Ordnungen bewegen sich auf der Skala
zwischen reproduktiv-wissenschaftlich und repräsentativ-informativ. Die ästhetisch strukturierte museale Ordnung kann dem Objekt eine neue inhaltsorientiert-produktive Funktion verleihen, die in der
Anregung der produktiven Einbildungskraft besteht.
Während also der Tod der genuin-organischen Signifikanz des Museumsobjekts nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, besteht die Möglichkeit
seines produktiven Einsatzes. Die Bindungen entstehen in der Wahrnehmung des Ausstellers und
des Besuchers und den Rahmen dafür bietet der Akt
des Ausstellens und des Besuchens. Das Museum
ist für das Objekt in jedem Falle ein "Ort des Todes"27, für die Aussteller und Besucher kann es zum
"Ort der permanenten Konferenz" (J. Beus) werden,
als ein Raum der Synthese(n), in dem Rationalität,
Intuition und Erfahrung ineinanderreichen. Auch
wenn sich also den kulturellen Ritualen von Musealisieren, Ausstellen und Betrachten/Besuchen ein
kreativer Moment abgewinnen läßt, kann die Doppelvalenzigkeit der Rituale nicht aufgehoben werden. Der dünne Faden der Rechtfertigung für das
Ausstellungs- und Museumswesen muß in Theorie
und Praxis erst gesponnen werden.
Die kreative Art des Ausstellens (und hoffentlich
auch manchen Besuchens) soll uns also nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch die Teddys der Bärenlese der, wenn auch liebevoll ausgeübten Verfügungsmacht der Aussteller ausgeliefert waren. Zum
Schluß möchte ich einige Wirkungen beschreiben,
die, wie ich meine, dem Einz"elobjekt durch den Akt
des Ausstellens in der Bärenlese widerfuhr. Vorausgeschickt sei, daß die Sammelbezeichnung "Originale" (auch) im Falle der Bären zu einer Falle wird, zumal sie wenig über die Zeichenstruktur der Objekte
verrät. Letztere ist durch die Entstehung und die AmLeben-Erhaltung oder musealen Entzeitlichung der
Objekte bedingt und fällt bei den Teddys sehr unterschiedlich aus: vom noch benutzten lebendigen Objekt über schon musealisierte Teddys bis zu den Simulakra, wie schon erwähnt. Originalität deutet auf
einen Zustand hin, in den das Objekt im modernen
Kulturbetrieb gebracht wird und in dem die feine,
sich immer erneuernde Spur der Differenz zwischen
Präsenz und Selbstbezug zum Grenzgraben, zu
6
nicht mehr modifizierbarer Trennung wird. Obwohl
Gegenstände zum Thema Teddy alle als "Originale"
ausgestellt waren, trifft diese Bezeichnung auf nicht
alle zu, und das auch aus unterschiedlichen Gründen nicht. Jedoch sind hier weitere Präzisionen wegen dem dazu nötigen theoretischen Aufwand nicht
mehr unterzubringen.
Als ersten durch das Ausstellen zugeführten Objekt-Schicksals-Schlag möchte ich die (temporäre)
Vereinheitlichung der Lebensläufe und die Minimierung der Lebenskräfte der Teddys (falls vorhanden)
anmerken. Ihre Zusammenführung in der Ausstellung war zugleich eine Rückführung in die Serialität,
lange Zeit nach dem Verlassen der Fabrik. Sie traten
(bis auf einige) zusammen die Reise nach Wien an
und werden wohl in den USA weiterreisen. Sie wurden stillgelegt, den Zeitabläufen des Ausstellens
und Besuchens untergeordnet. Zur Aufhebung dieser Entzeitlichung wäre in der Bärenlese eine stärkere Betonung der Fortführung der Objektschicksale
nach der Ausstellung wichtig gewesen. Immerhin
fand es eine der Ausstellungsmacher, Angelika
Wuszow, wichtig, die Gruppe der Bären, die nicht
nach Wien mitfahren durften, ein letztes Mal fotografieren zu lassen.
Zweitens fiel die kumulative Wirkung der Inszenierung auf, die das Objekt in die Installation integrierte, die so die eigentliche Ausstellungseinheit
darstellte. Während also der Mythos des Teddys
freigesetzt, kumulativ wirksam wurde, saß der Einzelteddy gerupft, seiner Zauberkraft beraubt da. Ein
Hauch der Vertrautheit schwebte im Raum, während
das Einzelobjekt aus seiner Sphäre des Vertrauten
gerissen worden ist. Die Steigerung der Gesamtwirkung bewirkte die Minderung der Einzelwirkung. Da
die Teddys (durchaus verständlich) nicht zum anfassen waren, wurde eine ihrer wichtigsten Eigenschaften, ihre Plüschigkeit entfremdet. Dadurch wiederum
entstand ein kumulierter Kuschel- und Schmusebedarf in der Ausstellung, die von den Ausstellungsmachern auch erkannt wurde, und zu deren Milderung
eine Kuscheleauch als einziger Ort für Sinnlichkeit
hin/ausgestellt wurde- zugedeckt, oh Greuel, mit einem echten Bärenfell!
Die auch hier feststellbare Akzentverschiebung
vom Einzelobjekt zur Gesamtwirkung der Ausstellung ist bei inszenierten, ästhetisch strukturierten
Ausstellungen wohl nicht zu vermeiden. Dagegengehalten wurde z. B. in der ebenfalls auf der Achse
Ruhrgebiet - Wien entstandenen Ausstellung "Mittelalter im Ruhrgebiet", in der etliche Objekte durch
die auch inhaltstragenden Behälter-Installationen
förmlich versteckt, nur schwer zugänglich waren.
Dies ließ bei manchen Besuchern Empörung aufkommen, aber auch generell den Wunsch, die Objekte trotzdem intensiv zu betrachten. Wollen wir also am objektorientierten Museumswesen festhalten
- anders geht es wohl nicht - und dieses mit ästhetisch strukturierten Ordnungen rechtfertigen, die eine aktive, produktive zukunftsweisende2 8 Aus/Einstellung voraussetzen, so muß die Rolle des Objekts
im Museum neu durchdacht, relativiert werden. Die
IWK-Mitteilungen
Hauptrichtung dieses Denkprozesses wäre in jedem
Falle gegenläufig zur akzelerierten Musealisierung,
auch wenn diese am Ende als "Signatur der Zeit"2 9
unverzichtbar hingenommen werden müßte. Auch
darüber nachzudenken, gab es reichlich Anstöße in
der Bärenlese. Alles in allem und mit Bärenlogik ausgedrückt: Je mehr man in diese Ausstellung hineinspähte, desto mehr war darin das Museum nicht zu
Hause.3° Es richtete sich neu ein. Immerhin: ein
Überlebenszeichen.31
ANMERKUNGEN:
1.
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24.
25.
26.
27.
28.
29.
Katalog Bärenlese: 16.
Vgl. Ricoeur 1985: 148.
Foucault 1985: 32.
Vgl. Baudrillard 1978: 8 z. B.
Katalog Bärenlese: 7.
Katalog Bärenlese: 16.
Katalog Bärenlese: 16.
Katalog Bärenlese: 17.
Vgl. Jeudy 1987: 25.
Dieser Effekt wurde in Wien durch die Wahl von kleineren
Vitrinen etwas geschwächt, aber nicht beseitigt.
Vgl. hiezu Endrödi 1988: 125 f.
Baudrillard 1989: 35.
Baudrillard 1989: 13.
Baudrillard 1989: 9.
Baudrillard 1989: 10.
Vgl. Lyotard 1985: 122.
Zacharias 1990: 16.
Vgl. Assmann 1988: 12.
Siehe Anm. 9 oben.
Baudrillard 1989: 23.
Baudrillard 1989: 37.
Baudrillard 1978: 55.
Baudrillard 1989: 24.
Milne 1989: 163.
Zu dieser Unterscheidung vgl. Baudrillard 1978: 20 f.
Vgl. Endrödi 1992: 82 f.
Vgl. Pazzini 1989.
Vgl. Zacharias 1990: 14.
Zacharias 1990: 18.
30. Milne 1989: 165.
31. Ausklang: Eigens zur Ausstellung wurden auch musikalische Klänge komponiert, die jedoch zu den Zeitpunkten
meiner Besuche - sowohl in Essen wie auch in Wien stumm blieben .Erst nach Abschluß dieses Beitrags habe
ich sie in Wien zu Ohren bekommen - zu spät, um sie
hier mittönen zu lassen.
LITERATUR:
Assmann, J., Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität,
in: Kultur und Gedächtnis, hg. von J. Assmann und T. Hölscher, Frankfurt 1988, S. 9-19.
Baudrillard, J., Agonie des Realen, Berlin 1978.
Baudrillard, J., Paradoxe Kommunikation, Bern 1989.
Endrödi, J., Die Zeichen von Geschichte- Zur Konzeption einer Ausstellung im Museum Altenessen für Ar<?.häologie und
Geschichte, in: Geschichte sehen. Beiträge zur Asthetik historischer Museen, hg. von J. Rüsen, W. Ernst und H. Th. Grütter, Pfaffenweiler 1988, S. 124-136.
Endrödi, J., Weisen der Welterzeugung im Museum. Ein Versuch zur Pharaonen-Dämmerung, in: Erzählen, Erinnern,
Veranschaulichen. Theoretisches zur Museums- und Ausstellungskornmunikation, hg. von G. Fliedl, R. Muttenthaler und
H. Posch, Wien 1992, S. 79-116.
Foucault, M., Philosophien, hg. von P. Engelmann, GrazWien 1985, S. 27-40.
Jeudy, H. P., Die Musealisieru~g der Welt oder die Erinnerung des Gegenwärtigen, in: Asthetik und Kommunikation
67/68, 1987,
s. 23-30.
Katalog Bären/ese, Bärenlese. Zum Wesen des Teddys,
Ruhrlandmuseum Essen 1991.
Lyotard, J.-F., Philosophien, hg. von P. Engelmann, GrazWien 1985, S. 115-128.
Mi/ne, A. A., Pu der Bär. Gesamtausgabe, Harnburg 1989.
Pazzini, K. J., Tod im Museum. Über eine gewisse Nähe von
Pädagogik, Museum und Tod, in: Gegenstände der Fremdheit. Museale Grenzgänge, hg. von H. Groppe und F. Jürgensen, Marburg 1989, S. 114-136.
Ricoeur, P., Philosophien, hg. von P. Engelmann, Graz-Wien
1985,
s. 142-155.
Zacharias, W., Zur Einführung. Zeitphänomen Musealisierung, in: Zeitphänomen Musealisierung, hg. von W. Zacharias, Essen 1990, S. 9-30.
IWK-BIBLIOTHEK:
KARL-JOSEF PAZZINI (HG.), WENN EROS KREIDE FRISST
Anmerkungen zu einem fast vergessenem Thema der Erziehungswissenschaft. Klartext Verlag, Essen 1992
------•Klartext
Geschlechtlichkeit ist die Grundlage aller Differenz und Differenzierung. ln prädagogischen Handlungsfeldern geht es um Differenzierung.
Differenzen, Fremdheiten, Uneindeutigkeiten brauchen verbindende
Energien, den Daimon Eros. Ein Element der Subversion, das nach dem
Gesetz ruft und es in der Frage hält. Er steht auf der Kippe zwischen Soveränität und Abhängigkeit, zwischen der Chance der Selbstbestimmung,
dem Finden eines Auswegs, der Neugier und dem Verschlu ß, der Ankettung, der Stillegung des Drangs zu Wissen. Er unterwandert Moralität,
fragt nicht (vorzeitig) nach den Konsequenzen des Handeins und führt
beim Versuch seiner Einsperrung oder Verstümmelung zu gähnender
Langeweile.
7
IWK·Mitteilungen
ULRICH PURITZ
STEELOPOLIS
Fragmente eines Workshops
Dieses Biest. Überall Stiche. Zum x-ten Mal kratze
ich mich aus dem bi ßchen Schlaf. Angestrengt höre
ich, daß ich nichts höre. Bis auf das Atmen, Schnaufen und Wälzen der restlichen Steelopolitaner im
Raum - neun an der Zahl. Massenquartier. Workcamp auf der Hütte.
STEELOPOLIS ist der Arbeitstitel des sechsten, internationalen
Workshops. Er basiert, wie die vorangehenden Workshops, auf
einer Initiative von Gabriele Lanzrath (Landschaftsplanerin) und
lngo Schneider (Architekt) mit Unterstützung des Fachbereichs
Architektur der Hochschule der Künste Berlin sowie des Hochschulpräsidenten. An Planung und Durchführung beteiligt sich
erstmals Ulrich Puritz (Künstler, Autor und Pädagoge) mit Unterstützung des Fachbereichs ,Ästhetische Erziehung, Kunst- und
Kulturwissenschaften' der HdK Berlin. (1)
Eine Nacht wie jede Nacht - Workshopnächte. Gegen zwei Uhr morgens - bisweilen auch später stürze ich in die Bundeswehrmatratzen wie ein gefällter Baum. Meist als erster. Kaum bin ich eingenickt, kommt eine der vielen Stechmücken und zersticht mir den Schlaf. Und ist es keine Mücke, so ist
es z. B. lnes, die noch den ein oder anderen
Schlummertrunk (oder beide?) mitgenommen hat
und jetzt über eine leere Flasche stolpert; oder es ist
Thorsten, der mit Vorliebe nachts sämtliche Hochöfen anbläst - mit seinem zügellosen Saxophon und der nun zwischen all dem Gemöhle ums Bett
herum die Taschenlampe nicht findet ... oder ...
oder ...
Das Stahlwerk ist ein Virus. Wir alle sind infiziert.
Jeder fiebert auf seine Weise. Die Hirne arbeiten in
überhitztem Selbstlaut.
ln einer zweitägigen öffentlichen Veranstaltung treffen sich Hüttenarbeiter, Wissenschaftler, Künstler sowie Politiker und referieren
bzw. diskutieren über die Bedeutung und Erhaltung des stillgelegten Teils der Völklinger Hütte ... Der Workshop wird somit Themen
des Symposions aufnehmen und auf seine Ebenen der interdisziplinären, künstlerisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung transformieren. Die Arbeitsprozesse speisen sich aus der unmittelbaren
Konfrontation mit dem Ort- dies umso mehr, als alle Teilnehmer
während der Workshopzeit dort wohnen und arbeiten. Die Ergebnisse werden alle Genres der Bildenden und der Darstellenden
Kunst umfassen ebenso wie das Repertoire der Architektur, der
Landschaftsplanung und der Ökologie. Angestrebt werden jedoch
experimentelle Kombinationen und Vermischungen. (1)
Ich sitze auf der Bettkante, sortiere Gedanken und
Glieder und weiß nicht recht, wie aufstehen. Der Boden verdreckt, verstaubt - dreiwöchige Ablagerungen von Stiefeln, Zugluft und überquellenden
Aschenbechern. Meine Schuhe außer Reichweite.
Ungern setze ich einen nackten Fuß in diesen
Dreck. Wir wollten nicht ausfegen. Blei, Kadmium
und was noch alles würde sich dabei auf Kleider,
Betten, Eßkram und Lungen verteilen. Ganze
Schlammlawinen hatte Norbert mit Wasserdampf
aus dieser Werkstatt gespült, in der wir nun schla-
8
fen. ,Besser ihr wißt nicht, was alles für'n Scheiß
sich hier abgelagert hat. Ihr würdet die Koffer nehmen und verschwinden.' So seine einführende Ermunterung. Er würde hier nur mit Atemmaske schlafen -und zieht an seiner Zigarette.
Die Übelkeiten der ersten Woche haben sich weitgehend gelegt. Einige sind deswegen abgereist. Ich
angle nach meinen Schuhen. Duschen hat jetzt keinen Sinn. Entweder ist die Dusche gegenüber kalt
oder besetzt oder beides. Es ist neun Uhr. Das Frühstück könnte fertig sein, sofern der Küchendienst
nicht verschlafen hat. Übriggebliebene oder Frühaufsteher- einige sitzen in der Eß- und Treffscheune und blicken ungewiß bis freundlich. Es sind einige von jenen ...
,Zirka 50 Teilnehmer(n) aus unterschiedlichen Disziplinen - Architekten, Künstler, Musiker, Designer, Grafiker, Pädagogen, Landschaftsplaner, Studenten der Visuellen Kommunikation, des Modedesigns und der angewandten Kulturwissenschaften - von
Hochschulen und Akademien aus sechs europäischen Ländern:
Deutschland, England, Norwegen, Dänemark, Italien und Georgien, USSR.'
Ich sitze auf der Bank und betrachte die flüchtigen
Fäden über meiner Kaffeetasse. Dieser scheunenähnliche Raum war unsere ,central hall'. Hier haben
wir uns drei Wochen lang getroffen, besprochen, angeödet und erhitzt, der Reihe nach oder zugleich, je
nach dem. Hier trafen sich die Fremden, von denen
sich einige ins Aufgabenbuch notiert hatten:
, Wir, die Fremden, werden den Ortsansässigen ein Hüttenwerk
zeigen, das sie bislang nicht gesehen haben. Indem wir uns auf
unsere Weise mit Fremden vertraut machen, werden wir dem Betrachter aus der Region ihm Vertrautes als Fremdes vorführen.' (1)
Das ist uns trefflich gelungen. Gestern begann das
,grande finale'. Die ersten Besuchergruppen wurden
unter aufwendigen Sicherheitsvorkehrungen durch
das unsichere Gelände geschleust. Einige der
kunstgeschichtlich Vorbelasteten machten verzückte
Minen angesichts der über das ganze Werk verteilten Arbeiten und symbolischen Eingriffe. Der großen
Mehrheit der Ortsansässigen war unser Tun fremd
und unverständlich. Wie hätten sie auch verstehen
sollen, wo doch unsere Assemblagen, Inszenierungen und Installationen nichts gemein haben mit jenen Berglandschaften oder Postern in den Wohnstuben zum Beispiel. Wie etwa hundert Jahre
Kunstentwicklung in zwei Stunden verständlich machen?
Das Neue, das die Begegnung mit einer ästhetisch aufbereiteten ,lndustrieleiche' erbringen sollte,
läßt auf sich warten. Der angestrebte Austausch, der
Dialog mittels und über die ästhetischen Eingriffe mit
jenen, die das Werk tagtäglich vor sich haben, ist
IWK-Mitteilungen
weitgehend ausgeblieben. Vielleicht läßt sich ein
solcher Dialog durch Ausstellungen und Publikationen nachträglich einfädeln. Ein Stück Kulturarbeit
steht an - als Arbeit an der Kluft zwischen Kulturen.
Einzulösen bleibt die Chance, die in der Presseerklärung zu ,Steelopolis' folgendermaßen umrissen
ist:
,Insofern ist der ,industrielle Leichnam' eine Chance: für den vermittelten, distanzierten Blick der Politiker, Wissenschaftler und
Künstler ebenso wie für den unmittelbaren, erfahrungsgebundenen Blick jener, die mit all ihren Wünschen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten an dieses Werk angeschlossen waren wie an eine
eiserne Lunge, die sie mit dem Lebensnotwendigen versorgte und ihnen vieles vorenthielt. Seide zusammen könnten Neues entdecken bei einer vorsichtigen Sezierarbeit: sich selbst, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Grenzen und Möglichkeiten der
Überschreitung und vielleicht eines jener Pflänzchen, die in der
Lage wären, aus einem verseuchten Industrieboden emporzuwachsen.' (1)
,Unerledigt' muß notiert werden, falls eine solche
Aufgabe jemals als ,erledigt' gelten kann.
Erledigt jedenfalls ist unsere Arbeit hier, der
Workshop, bis auf das Ab- und das Aufräumen. Das
dreiwöchige, emsige, dichte, widerborstige Treibenabgehakt.
Ich trete vor die ,Zentralhalle', die aus Gründen
der internationalen Verständigung auf die englische
Variante dieses Namens hört.
Dort, ihr gegenüber, liegt die Leiche, mit der wir
Tag und Nacht zu tun hatten.
DAS WERK I DER GEGENSTAND:
Leere Spinde, geborstene Fenster, verlassene Werkshallen, ein
unüberschaubares Geflecht von Röhren und Rohren jeglicher
Stärke, rostige Hochöfen, Schrottreste, hier und da ein wenig
Grün, das durch kontaminierten Boden bricht. Was ist ein Eisenwerk? Worin unterscheidet sich ein arbeitendes Werk von einem
stillgelegten? Das Fauchen und Zischen beim Hochofenabstich, kilometerweit - es ist verstummt. Wenn früher frische Hemden
schon abends schmutzige Ränder zeigten, so überstehen sie heute den ersten Tag recht ansehnlich. Früher gehorchte das Kleinstadtleben im industriellen Saartal den Kirchenglocken und Werksirenen. Welchem Takt folgt es heute?
Das Eisenwerk . . . ist tot. Es verbreitet den Geruch verwester
Träume, zersetzter Hoffnungen und trügerischer Befriedigungsstrategien jener, die noch bei Talfahrten gut fahren. Wie läßt sich
eine auf komplexe Weise in Stahlgeschriebene Sozialgeschichte
ausbuchstabieren? Wie läßt sich aus Geschichte und Geschichten
jener Rohstoff bergen, der neues Leben, einen neuen Mut und nach Möglichkeit- auch neu es Geld erbringen könnte? (1)
Haben wir eine Antwort gefunden? Nein. Immerhin
haben wir uns selbst verortet, sind unsere Werkzeuge durchgegangen, haben gesichtet, was brauchbar
scheint, haben neue Werkzeuge entwickelt und sind
erste Schritte gegangen. Mehr nicht. Und mit diesem
Bißehen hatten wir vollauf zu tun. Auf jeden Fall haben wir Denkzeit herausgeschunden, jene Zeit, die
der Eilschritt ministerieller Entscheidungen wesentlich zu knapp kalkulierte.
,Denkzeit auch für jene, deren Existenz als Künstler, als Architekten, als Politiker, z. B. sich auch diesem Teil der gesellschaftlichen
Produktion verdankt und die mittelbar oder unmittelbar an ihrem
Selbstlauf beteiligt sind.
Grund genug für jene Maler, Architekten, Performer, Wissenschaftler ... usw., die am Workshop STEELOPOLIS teilnahmen,
sich an die eigene Nase zu fassen: Der interdisziplinäre Workshop
als Möglichkeit, die Bornierungen, die Gewohnheiten, die Denkund Wahrnehmungsschranken der jeweiligen Profession ein Stück
weit zu überwinden und der eigenen (standes-)politischen Schlafmützigkeit den Wecker zu stellen, um in gemeinsamer Anstrengung an jene kreativen Potentiale heranzukommen, deren es bedarf, um gesellschaftliche Probleme zu erkennen und für sie
Lösungen zu entwickeln. Die Teilnehmenden selbst sind Opfer
UND Täter einer kurzsichtigen gesellschaftlichen Praxis der Arbeitsteilung und ökonomischer wie intellektueller Monokulturen.
Sie selbst sind Glied einer Gesellschaft, die aus Gründen einer
spezifischen Rationalität auf Spezialisierung und Trennung setzt,
um hernach das Getrennte außer Reichweite der produzierenden
Spezialisten unter Kontrolle politischer und ökonomischer Interessen wieder zusammen zu bringen.' (1)
Ja, wir haben uns an die eigene Nase gefaßt. Wir
haben den Wecker gestellt und haben uns erschrokken, als er tatsächlich geläutet hat. So zum Beispiel
anläßlich des Röchlingsfilms von Christian Fuchs.
Stahlwerk- Rüstungsproduktion - Röchling als Intimus der Reichsführung - Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter in der Röchlinger Hütte, das wußten
wir- irgendwie. Der Presse waren die Kontinuitäten
einer solchen Geschichte zu entnehmen: Die Völklinger Hütte beteiligte sich an Lieferungen an den
Irak, welche jenen in die Lage versetzen können,
Atomwaffen zu entwickeln. Der Film zeigte, was jeder wußte oder hätte wissen können, konkret und
UNAUSWEICHLICH. Mancher Gedanke brach ab,
manche künstlerische Idee nahm eine neue Wendung.
So oder ähnlich haben wir uns oft erschrocken.
Anlässe gab es genug und es wird sie weiterhin geben. Auf die zweckdienliche VergeBlichkeit des Zeitgeistes scheint Verlaß. Jene Blicke, die auf die Verhältnisse scharf stellen, werden mit Überraschungen
rechnen müssen. Für die hier engagierte Kunst bedeutet dies: sie muß sich als Möglichkeit des Hinschauens und der Vergegenwärtigung behaupten
gegen eine Kunst des ,Schönen', der Beruhigung
und des Wegschauens. Durchaus keine leichte Angelegenheit.
Ich nehme den gewohnten Weg: von der Handwerkergasse runter auf die ,Null-Ebene', entlang des
dschungelgleichen Strangengewirrs der Sinteranlage zum ehemaligen Schrottplatz jenseits des langen
und schmalen Tunnels, der eine hochaufragende
Produktionsanlage durchstößt. Vorbei an den bunten, gemalten Werksansichten, die an einer Betonwand ausgestellt sind; hier mühte sich eine Studentin ab (ich habe ihren Namen vergessen), um jene
Fertigkeiten zu erwerben, die für die Aufnahme an
eine Akademie gefordert werden. Die Akademien
sollten sich ob ihrer Anforderungen schämen. Vorbei
an den schwarzen Holztruhen unter dem Schrägaufzug - Floor hat sie als Teil ihres ,Paradisgartens'
hier aufgestellt. Vorbei auch an den grellen Buchstabenkörpern auf einer grünüberwucherten Rampe; je
nach Stimmung können sie Pein bereiten oder laden
dazu ein, den Einkaufszettel zu überprüfen - PAIN
bedeutet auf englisch ,Pein' und auf französisch
,Brot'. Brittas gestisch-expressive, blaugelbe Bilder,
die sie in und gegen den rostenden Geist eines Silogestänges montierte, kann ich vom Weg aus nicht
sehen. Auch lnes' ,Tempel der Muße' nicht, ein mit
9
IWK·Mitteilungen
Gras und Baumstämmen umgestalteter Traforaum.
Die fünf Leinwände (ca. 4 x 2 m) im Sintergestänge
hingegen - Ergebnis einer nächtlichen Malaktion
nach simulierten Produktionsgeräuschen - sind
nicht zu übersehen. Der Schrei versinkender (oder
noch einmal aufgetauchter) Lehmköpfe mit aufgerissenen Mäulern ist wiederum still und wendet sich gegen ein Vergessen, daß hier sehr in Eile scheint. Angela und Otfried enthüllten sie gestern nach
Einbruch der Dunkelheit mit Klangcollagen und
Lichtspots, welche die Köpfe aus der dunklen Kulisse schnitten.
Während ich mich zum Tunnel hinwende, der auf
den Platz jenseits der Fabrikanlagen führt, stolpere
ich über einen Sandhaufen mitten im Weg. Ich hätte
wissen müssen; er liegt seit Beginn des Workshops
hier - irgendein Rest aus einem Silo. Doch jetzt
zeigt er Spuren der Bearbeitung, wie viele Haufen,
die im Werksgelände verteilt sind. ,Eiisabeth was
here'. Es sind ihre ,Pyramiden von Sinter'. Im Textheft zum ,grande finale' steht dazu:
. . . das, was als Abfall (Schlacke) das Werk verlassen hat und
sich pyramidenähnlich hinter der Saar aufhäuft, kehrt zurück als
Form, versteckt sich in Nischen oder stellt sich in den Weg, bildet
Sichtachsen und ,vernetzt' mit visuellen Mitteln die unterschiedlichen Freiflächen um die Sinteranlage. (2)
Im Tunnel, auf dem Weg zum alten Schrottplatz,
ereilen mich die Erzengel - Bilder einer eigentümlichen Inszenierung gestern Nacht, die mich nicht loslassen. Auf einer transparenten Leinwand erscheint
der Erzengel Gabriel aus einem religiösen Motiv.
Durch die Leinwand hindurch fällt der Blick in einen
engen, endlosen Schacht. Zur Rechten hängen Loren. Die schwarze Tiefe wird an zwei Stellen von
Scheinwerfern durchtrennt. Aus dem Dunkel kommen Schritte, langsam und müde wirken sie; daneben ein Geräusch, als würde Eisen über Beton gezogen. Plötzlich Stille. Zwei- oder dreimal energisches
Kratzen mit einem metallenen Gegenstand. Nun wieder Schritte und das Schleifgeräusch, ängstlich, zögernd.
Leise setzen Stimmen ein. Der Hall trägt sie durch
den Schacht wie durch eine Kirche. Es sind mehrstimmige Gesänge. Die georgischen Studenten, die
uns mit ihrem Kunst- und Architekturverständnis
recht fremd gegenüberstanden, singen sie, als hätte
man sie eigens- zu Recht- für diese Aktion einfliegen lassen. Dabei ist ihre Beteiligung ein Zufall, besser: es hat sich so ,ergeben'. Sie ist Ausdruck einer
Zusammenarbeit ausgerechnet dort, wo keiner damit
gerechnet hat. Architekten, die im Rahmen eines interdisziplinären Workshops mit ihrer Profession unter sich bleiben, sich aber mit ihren Stimmen und
kulturellen Traditionen voller Neugier an einer für sie
unbekannten und avantgardistischen Arbeitsweise
beteiligen -wer konnte das ahnen?
Schließlich erscheint im ersten Scheinwerferlicht
ein schwarzer Engel mit schweren Flügeln aus Eisen, die ihn nie werden fliegen lassen. Er hält eine
Schippe in der Hand. Müde wirkt er und traurig,
möglicherweise so wie jene Frauen, die zu Kriegszeiten die Erzschiffe entladen mußten und deshalb
10
,Erzengel' genannt wurden. Sie sind verschwunden
ohne jede Spur ebenso wie die weiblichen Zwangsarbeiter, die Röchling hier verheizte - und wie der
Erzengel gestern abend, der auf diese Zusammenhänge verweisen wollte. Er hatte sich noch durch
den Gang gearbeitet, wobei er langsam und mühevoll Erzhaufen und einen Berg schwarzer Federn in
Loren schippte, ohne in seinen Bewegungen auf die
jetzt schrillen und aggressiven Geräusche einzugehen, die die gregorianischen Gesänge ablösten und
sich zunehmend aufdringlicher gebärdeten. Es hörte
sich an wie ein Haufen wütender und kämpfender
Loren, die nach und nach das Gemäuer zum Einsturz bringen.
Thorsten hat dieses Band produziert, wie die meisten Klänge, die im Rahmen des Workshops zu hören waren. Das ganze Werk diente ihm als Klangkörper, der sich beschwören, bespielen oder quälen
läßt. Tag und Nacht war er auf Achse mit seinem
Saxophon, mit Tonband, mit schweren Hämmern,
Ketten, Feilen oder was sich sonst noch auftreiben
ließ, und weckte achaisches Klanggetümmel ein .
Das grelle Licht am Ende des Tunnels wirft meinen Blick aus dem Gestern auf den Platz hinaus.
Hier hat Rainer weithin sichtbar Markierungen gesetzt mit seiner Installation ,Rote Bete'. Ein merkwürdiges Rauschen lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist neu. Links, unter dem
Gleiskörper der Sinteranlage (er befindet sich gewissermaßen im ersten Stock), könnte ein Bergbach
sein. Es ist ein Milchsturz von hoch oben in ein großes Erdmaul, eine versteckte Pumpe sorgt für den
DauerfalL Sibylle hat so den Durst bei der Arbeit am
Hochofen und anderswo verdeutlicht und den Einsatz von Milch thematisiert als angebliches Allheilmittel gegen Vergiftungen. (Zu der Zeit, als die veralteten Produktionsanlagen noch in Betrieb waren,
wurde im Durchschnitt täglich ein Arbeiter mit Vergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert, wie Sibylle von
einem Arzt in Erfahrung brachte. Die tatsächliche
Vergiftungsrate durch geruchloses Gichtgas lag entschieden höher. Als Schutzmaßnahme wurde den
Arbeitern Milch verabreicht.)
Das niedliche Rauschen wird von einer monotonen Stimme zerstört: I make my work - I make my
work- I ... Dieser hausbackene Satz plärrte in endloser Wiederholung aus einem Monitor. Stefan hat
sich zeichnend, tastend, Gegenstände tragend oder
benutzend, durch das Werk gearbeitet, stets die Videokamera auf der Schulter, die alle Bewegungen
und Verrichtungen aufzeichnete. Hierbei wiederholte
er dieses Do-it-yourself-Englisch in der Tonlage eines Marathonläufers, der nicht mehr daran glaubt,
das Ziel zu erreichen. Der Videofilm ist nun geräuschvoller Teil einer ansonsten stummen Versammlung von Zeichnungen und Fundstücken.
Mein Blick, von Neugier getrieben, schwenkt über
den Platz. Wird der Regen gestern nacht die Rostfarben, wie in den Tagen zuvor, neuerlich überarbeitet haben? Zur Rechten ist eine hohe Mauer. Hier
lehnen die Blechbilder, an denen ich die letzten Wochen bewerkelt habe. Es sind lose, in Silikon gefaß-
IWK-Mitteilungen
te Figuren und Zeichen auf rostigen Blechen - gewissermaßen Ein-Drücke des Stahlwerks in mein
Denken und Fühlen. ,Stillgelegtes Mal-Werk'. Die
Zeit, der Rost und das Regenwasser, welches an
den Silikonrändern entlangrinnt und Spuren zieht,
soll daran weiterarbeiten.
Trotz heftigen Wollens ist es mir nicht geglückt
(was Christine zum Beispiel mit ihrem Erzengel auf
die Beine stellte): ein interdisziplinäres Projekt, in
dem sich unterschiedliche Mitstreiter und verschiedene Arbeitsweisen plausibel zusammentun. lnterdisziplinarität entsteht nicht durch Addition unterschiedlicher Verfahren. Jede Arbeitsweise muß sich
öffnen und sich auf andere Ausdrucksebenen, auf
andere Menschen und andere Erfahrungen zubewegen. Dazu gehört, individuelle Sicherheiten, Verliebtheiten und Codes zu verlassen für ein kollektives
Experiment jenseits dessen, was der einzelne überschauen kann. Es bedarf konzeptioneller Anstrengungen und einer integrierenden Idee. Ob eine gewählte Idee tatsächlich die jeweils vorhandenen
Produktionsmöglichkeiten einzelner zusammenführen kann, zeigt sich in der Regel durch ,try and error'. Letzterer ist ein guter Lehrmeister, der es bisweilen liebt, seine Lehren spät und nach langen
Bitten preiszugeben, besonders wenn die Zeit knapp
ist.
Die Fülle der bedenkenswerten Symposionsbeiträge haben meine Gedanken aufgeheizt und zugleich die Möglichkeiten zur Entscheidung für diesen
oder jenen Weg auf Eis gelegt - zunächst. Die vielen Bilder und Eindrücke fegten mich leer für eine
gewisse Zeit. Die Komplexität des Gegenstands
,Hütte' sowie ein innerer und äußerer Erwartungsdruck bewirkten ein Schielen auf das, was möglich
ist. So tat ich, was ich tun konnte und nicht, was ich
hätte tun wollen. Damit stand ich nicht allein; ich befand mich in guter Gesellschaft mit diversen ,Steelopolitanern'.
Ich bin auf den Platz gekommen, um mich von der
,Roten Bete' zu verabschieden. Neben dem ,Erzengel' eines der wenigen Projekte, die einem zuvor
ausgelegten roten Faden folgten und dennoch offen
waren für Entwicklungen, Uberraschungen, Wendungen, für Eingriffe und Mitarbeit durch andere.
Vor mir liegen weit gefächert in geordnetem
Durcheinander Bänke, Eimer, automatische Zeichnungen aus Rote-Bete-Saft, Erdhaufen, in denen
Trichter stecken, freigefegte Steinflächen, umzäuntes Unkraut, eine in Zement gegossene Schippe, geteerte Rote Bete, eine rostige Mundharmonika, erdgefüllte Holzkästen und ein Schienenwagen, in
denen sich erste Blättchen recken.
,Analog zu der industriellen Eisenproduktion habe ich Rote Bete
Beete angelegt'- schreibt Rainer. ,Rote Bete fördert die Eisenproduktion im menschlichen Blutkreislauf.' (2)
Ein von ihm formulierter Gedanke: Stahlwerker leiden unter Eisenmangel; schließlich wird ihnen jenes
Eisen, das sie herstellen, stets weggenommen ...
Der Anbau von Rote Bete als Alternative ...
Hinter einer vordergründigen Besorgnis sitzt es
knüppeldick. Die niedlichen Rote-Bete-Beetchen inmitten des Getümmels an Dingen und Gegenständen und in unmittelbarer Nähe zur hochaufschießenden Kulisse der maroden Sinteranlage - sie wirken
auf geruchlose Weise hinterfotzig. ln den vielen Gerätschaften drumherum glaube ich hierfür Bestätigung zu finden. Von weitem spiegeln sie Sinn vor,
kommt man jedoch näher, gesellt sich ein Ätsch zum
anderen. Die merkwürdigen Materialien -im einzelnen kaum zu benennen - sind hier mit hintersinnigem Un-Sinn zu fiktiven Werkzeugen verknüpft, verbunden, verwickelt oder zusammengeschweißt
worden. Rainernennt sie ,Werk Zeugen'.
Der Gesamteindruck: jede Phase des Näherkommens und jeder einzelne Werk-Zeuge, sie alle
scheuchen die Fantasie in eine andere Richtung,
weisen auf ein anderes Ziel, und jedesmal komme
ich nach nirdgendwo und kehre zurück mit neuen
unterhaltsamen Rätseln. Vor allem die Werk-zeugen
wirken ansteckend. Hier und da mußte ich etwas
hinzumogeln, verändern, bisweilen habe ich mir etwas für eigene Zwecke ausgeborgt. Auch davon
zeugen die Zeugen mit augenzwinkernder Gelassenheit. Alles in allem die Arbeit eines durchtriebenen Jägers und Sammlers, der provozieren will.
Nebenbei entstand eine skurrile Bühne, die sich
auf unterschiedliche Weise nutzen läßt. Man kann
hier die Zeitung lesen, sich sonnen, das Ferienabendbierehen zischen, Skat spielen, zeichnen oder
Aktionen durchführen. Eine Bühnenausstattung, die
man betrachten, erweitern, verändern oder auch benutzen kann. Hier stehen keine heiligen Kühe.
So zum Beispiel gestern abend. Rainer hatte diverse Helfer eingespannt. Jeder Besucher erhielt
beim Betreten des Platzes eine Rote-Bete-Scheibe,
gewissermaßen als Eintrittskarte. Ein drohender
Dauerton aus potenten Boxen dröhnte über den
Platz - wiedermal Thorsten, der sich hier auf seine
Weise ankündigte.
Lichtkanonen hetzten durch den Himmel, fingerten nervös an den Kulissen herum und stachen in
die Besuchermenge. Aus zwei improvisierten Öfen
prasselten Feuerfunken. Süßliche Tongirlanden
webten sich nun über den nachtschwarzen Platz.
Wer Thorsten kennt, weiß, das bedeutet nichts Gutes. Er schob sich mit seinem Saxophon durch die
Menge und bildete eine mobile Tonquelle im weiten
Raum, den er auf diese Weise zum subtilen Mitarbeiter machte. Ins Süßliche schlichen sich Salz- und
Pfefferkörner ein, mehr und mehr und über lange
Zeitbögen, bis hin zu einer rücksichtslosen Trommelfellmassage aus vollen Backen.
Ein mühseliges und seitenfüllendes Geschäft,
derlei Aktionen in angemessene Worte zu kleiden.
Wie all die skurrilen Verläufe, die Gleichzeitigkeiten
und Atmosphären beschreiben, mit denen hier gespielt wird und die sich von nichts weiter entfernen
als von Sprache?
Irgendwann sorgte dann Henk dafür, daß sich der
Zement über seine ungeliebte Meisterin, die Schippe, hermachen konnte und diese aus dem Verkehr
zog, während Rainer in pingeliger Beamtenruhe Ro-
11
IWK-Mitteilungen
te Bete mit Teer bestrich. An allen Ecken und Enden
war emsiges Treiben. Unmöglich, alles zu verfolgen,
unmöglich auch zu entscheiden, was davon geplant
war und was geschah, weil es geschehen mußte.
Schließlich lag allerlei animierendes Zeug umher,
und wie läßt es sich angesichts dieser Geschäftigkeit in Ruhe Gläschen halten und Gaffer sein?
Das Ende vom Lied: Wir- vielleicht siebzig an der
Zahl - standen zu nächtlicher Stunde um den Brunnen auf dem Völklinger Marktplatz, Rainer versenkte
hier ein mobiles Rote-Bete-Beet, Thorsten sorgte für
angemessenes Geräte, andere tanzten umher und
zogen geräuschvoll ein Arsenal von Werk-Zeugen
über die Platten, ein aufgescheuchtes Pärchen trollte sich vom Brunnenrand und äugte aus sicherer
Entfernung, ein Dicker trat mit seiner Bierflasche aus
der Eckkneipe und suchte Streit, ein Polizeiwagen
zog dezente Kreise und ein paar Jugendliche riefen
uns nach, als wir uns wieder auf die Socken machten: Bleibt doch noch ein bißchen ...
Als wir noch unten auf dem Werksplatz standen,
öffnete sich plötzlich das Tor zur Straße. Rainer
krähte im Ton eines Polizeilautsprechers: Bitte verlassen sie sofort den Platz.
Jetzt erst merkten wir, daß die gesamte Menschenmenge von einem Band umfangen war. Es gab
kein Zurück, es sei denn für Ängstliche und Spielverderber. Mit diesem Raussehrniß begann eine lautstarke Demonstration zum Völklinger Marktplatz.
Erst zögerlich, dann zunehmend heiter und ausgelassen. Spätestens jetzt mauserte sich der letzte
verhaltene Zuschauer zum Mitmachen und wirkte
daran mit, die Kunst für kurze Zeit ins (Nacht-)Leben
zu befördern.
sten Morgen- in die Grünanlage, wie es sich für jedwedes Grün gehört. Ein kleiner Junge hielt den
Werk-Zeugen wie eine Angel und führte den Eisenring bedächtig durch's Wasser. Auf Rainers Frage
hin antwortete der Junge: Ich mache den Brunnen
sauber. Rainerzeigte sich uneinsichtig: Wie soll das
gehen mit diesem Ring? Der Junge ließ sich nicht
beirren: Ich fische die Algen raus. Rainer wollte jetzt
wissen, woher er das Gerät habe. Klar, stand eben
hier am Brunnen. Ob er ihm den Saubermacher
schenken würde? Nein, sagte der Junge, aber er
könne ihm zeigen, wie so ein Ding zu bauen sei. Gar
nicht so schwer. Auch er könnte es schaffen.
Was wird bleiben von ,Steelopolis'? Ohne diese
Beobachtung, die ich mir von Rainer stibitzte, hätte
ich nicht gewußt, wie antworten.
NACHTRAG
- Fünfzig Teilnehmer, fünfzig komplexe Ereignisse
und Arbeiten mit ihren Eigenheiten und Differenzen,
darüber mag schreiben, wer Zeit hat und Berge stemmen will. Ich mußte auswählen und habe beschrieben, worüber ich Bescheid weiß und was mir nahe
kommt. Dieser sehr persönliche Blick beansprucht
dennoch, den Workshop repräsentieren zu können.
- Die Liste der vollständigen Namen jener (sofern
nicht schon erwähnt), die hier verhandelt wurden:
Floor Kortbeek, lnes Rei ßing, Thorsten Doll, Britta
Saxer, Angela von Podewils, Otfried Hoppe, Elisabeth Krämer, Christine Schmerse, Rainer Trunk, Sibylle Recke, Stefan Wahner.
WAS WIRD BLEIBEN VON ,STEELOPOLIS'?
LITERATURANGABEN
Neben dem Rote-Bete-Kasten hat Rainer am Brunnen einen Werk-Zeugen hinterlassen. Ein Eisenring,
der per Bindfaden an einer Holztstange baumelt. Der
Kasten war sorgfältig zur Seite geräumt am näch-
(1) Pressemitteilung vom 19. 7. 1990, Gabriele Lanzrath, Ingo Schneider, Ulrich Pu ritz, HdK Berlin.
(2) Steelopolis 1990 - Texte und Projekte, hg. von Frank
Pieperhoff und Floor Kortbeck, Völklingen 1990.
IWK-BIBLIOTHEK:
Frank Jürgensen
Bild und Wunsch=
Bezugsadresse: Arbeitsgruppe für theoretische & angewandte Museologie, c/o Herbert Posch, Ostmarkgasse 20/6,
A-121 0 Wien, Tel. 0 222 I 384 35 42
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IWK·Mitteilungen
GOTTFRIED FLIEDL
SEHENSWÜRDIGKEIT
Robert Musil, aus: Nachlaß zu Lebzeiten, ,Denkma/e':1
Denkmale haben außer der Eigenschaft, daß man nicht weiß, ob
man Denkmale oder Denkmäler sagen soll, noch allerhand Eigenheiten. Die wichtigste davon ist ein wenig widerspruchsvoll; das
Auffallendste an Denkmälern ist nämlich, daß man sie gar nicht
bemerkt. Es gibt nichts auf der Weit, was so unsichtbar wäre wie
Denkmäler. [. . .] Was aber trotzdem immer unverständlicher wird,
je länger man nachdenkt, ist die Frage, weshalb denn, wenn die
Dinge so liegen, gerade großen Männern Denkmale gesetzt werden? Es scheint eine ganz ausgesuchte Bosheit zu sein. Da man
ihnen im Leben nicht mehr schaden kann, stürzt man sie gleichsam mit einem Gedenkstein um den Hals, ins Meer des Vergessens.
Was Robert Musil in seinem Essay über Denkmäler
ironisiert hat, die eigentümliche Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Sichtbarmachen und
Verbergen, ist ein Thema nicht nur des Denkmalkultes sondern auch des Museums- und Ausstellungswesens.
Als Begriff, der Aspekte des Sichtbar- und Unsichtbar-Machens umschreiben hilft, wähle ich den
der Sehenswürdigkeit. Er erlaubt, sowohl mediale
Aspekte- d. h. die des musealen, ,sehenswürdigen',
Objektes - und institutionelle Rahmenbedingungen
- d. h. des Museums und der ,Inszenierung' von
Wahrnehmung- zu beschreiben.
1849 reiste der englische Schriftsteller John Ruskin
in die von den Österreichern eroberte und besetzte
Stadt Venedig. Er startete ein Rettungswerk, mit
dem er sich in einer jahrelangen, beispiellosen privaten Anstrengung zumutete, die Stadt vor einer seiner
Meinung nach dreifachen Bedrohung zu retten: vor
der militärischen durch die Österreicher, die Venedig
in Grund und Boden zu schießen drohten, vor dem
von Wetter und Gezeiten beschleunigten, gleichsam
natürlichen Verfall und vor der vermeintlichen
Gleichgültigkeit der Einwohner gegenüber dem Zustand ihrer Stadt.
Am wissenschaftlich-literarischen Resultat seiner
Arbeit, den Stones of Venice läßt sich exemplarisch
die widersprüchliche Bewegung von Traditionsbewahrung und Traditionszerstörung studieren, beziehungsweise die Ablösung von Tradition durch Geschichtsbewu ßtsein, die Entstehung eines gleichsam musealen Blicks.
Sein historisierender und musealer Blick, den er
sich in jahrelanger akribischer Abarbeitung (Zeichnen, Vermessen, Beschreiben, Katalogisieren, Fotografieren) an den Bauwerken der Lagunenstadt erwirbt, wird schließlich für ihn so selbstverständlich,
daß er traditionale Gebrauchsweisen und Wahrnehmungsgewohnheiten zu überlagern und verdrängen
beginnt. Anläßlich eines Besuches einer Messe in
San Marco glaubt er die Venezianer wegen ihrer
Gleichgültigkeit gegenüber der historischen und ästhetischen Bedeutsamkeit ihrer Stadt und deren
Denkmäler tadeln zu müssen:
.,Keinen Venezianer sah ich ... , der auch nur das geringste Interesse an der Kirche selbst . .. , an der Bedeutung ihrer Architektur
gezeigt hätte ... , d. h. wir haben in San Marco ein Gebäude, das
noch den Zeremonien dient, für die es geschaffen worden war,
das jedoch als Bauwerk für die Gläubigen bedeutungslos geworden ist. Man empfindet nicht die Schönheit, die es besitzt, man hat
die Sprache vergessen, die es spricht . .. ". 2
Ruskin übersieht - und mußte es vielleicht bereits
übersehen -, daß er den modernen Blick des Historikers gegen noch lebendige Tradition ausspielt.
Den Venezianern war weder das Bauwerk noch die
Schönheit seiner Ausstattung gleichgültig geworden.
Für sie existiert offenbar noch jene traditionelle Einheit von Kult und Ästhetik, von Bauwerk und Zweck,
die unter Ruskins Blick auseinanderbricht. Der moderne kunst- und kulturhistorische Blick isoliert die
einzelnen, technischen, ästhetischen, funktionalen
Aspekte denen spezifische Zugangsweisen zugeordnet werden können: der rationale wissenschaftliche Blick, ästhetische Genuß, die zerstreute Wahrnehmung des Touristen und Museumsbesuchers.
Aber Ruskin hat das Auseinanderbrechen der Erfahrung selbst als bedrohlich empfunden: "Ich lege
ein Lager nach dem anderen an, schichte die Dinge
stapelweise, ohne sie wirklich zu ergründen. 'G
Die verdinglichende Bewegung des Sammelns, Vermessens, Ordnens, Rationalisierens verbaut die lebendige Erfahrung: .,Ich bin
hier durch so viele harte, trockene, mechanische Arbeit gegangen,
daß ich das Gefühl für den Reiz des Ortes fast ganz verloren habe
. . . Wenn ich Sie nur einen Moment lang erleben lassen könnte,
was ich erlebe, wenn ich auf dem Kanal fahre und meine Arbeit
tue, wenn sich Venedig mir in der Gestalt so vieler ,Profile' darbietet und jedes Gebäude in mir nur Assoziationen von mehr oder
weniger Provokation, Problemen und Pein auslöst - Pein, wenn
ich mit erfrierenden Fingern und rauhem Hals die Fensterbänke in
der winterkalten Luft zeichnete ... "4
Was Ruskin in Venedig umtreibt, ist seine besondere Erfahrung
der allgemeinen Dialektik von Kontinuität und Bruch, von Tradition
und historischem Bewußtsein. Der Philosoph Joachim Ritter hat in
einem i 963 publizierten Aufsatz dieses Dilemma von Kontinuität
und Bruch im Prozeß der Modernisierung analysiert, das das Vergangene fundamental mit dem Stigma der Verdinglichung bedroht.
Wo der Prozeß der Modernisierung .,einsetzt, ist immer die reale
Bewegung das Erste, in der das alte geschichtliche Gut: Trachten,
Einrichtungen, Gerät aus den Häusern und Orten des Wohnens
und Lebens, verdrängt wird [. . .] Aber dazu gehört, daß das so
aus der gegenwärtigen Wirklichkeit entfernte gleichsam sein Sein
verändert; es wird ,das Historische' und zieht - als dieses sein
r e a I es Ni c h t sein [Hervorhebung G. F.] hinter sich lassend
- nunmehr der Bewahrung würdig in die Museen ein, die für es geschaffen werden."
Die Entwicklung eines historischen Bewußtseins und
sie ausbildender und tragender Institutionen antwortet auf die Zersetzung von Tradition; doch dieselbe
Anstrengung, die die Geltung von Tradition institutionell sichern möchte, zersetzt selbst das Vergangene.
13
IWK-Mitteilungen
"Historie war [in vorbürgerlichen Kulturen; G. F.} immer die den Zusammenhang des eigenen Seins wahrende Mnemosyne, das Erinnern, in dem gegenwärtig bleibt, was zur Gegenwart als ihre eigene Größe und ihr eigenes Geschick gehört. Wo daher kein Band
Gegenwart und Vergangenheit verknüpft und ein Vergangenes
nichts mit dem Gegenwärtigen gemeinsam hat, wird es zum
Gleichgültigen und Toten. '6
An Ruskins Anarbeiten gegen das endgültige Versinken der Tradition- er sprach davon, daß Venedig
dahinschmilzt wie ein Stück Zucker im Tee - läßt
sich beispielhaft studieren, was Ritter theoretisch
formuliert hat: daß sich der ,historische Sinn', den
die Geistes- und Kulturwissenschaften, den das Museum und den die Denkmalpflege ausbilden, notwendig gegen die Geschichtlichkeit des Überlieferten selbst wendet; daß die ,Überreste' unter dem
Zugriff des Museums - oder der Denkmalpflege ,tote Arbeit' werden, an denen sich jede ,Verlebendigung', Geschichts- oder Ausstellungsdidaktik, Museumspädagogik usw.,- vielleicht vergeblich?- abarbeiten.
Lebendigkeit der Tradition entdeckte Ruskin übrigens in der Berufung auf handwerkliche Arbeit und
in ihre mittelalterliche Organisation der Bauhütten
und Werkstätten. Diese historischen Produktionsformen, und nicht etwa nur ästhetische Normen, versuchte er als Bedingung lebendiger Kunst in das
England des 19. Jahrhunderts zu verpflanzen. Damit
scheiterte er letztlich. Dagegen wurde unerwartet
sein dokumentarisch-wissenschaftliches Werk zum
Vademecum des entstehenden Venedig-Tourismus.
Daß er mit seiner Arbeit einem verdinglichenden,
touristischen Blick auf Venedig und seine Architektur
unwillentlich Vorschub geleistet hatte, hat Ruskin
selbst noch erlebt - und bitter beklagt. Die Anstrengung Ruskins, sein wissenschaftliches und denkmalpflegerisches Bemühen, kehren sich gegen seine
Intentionen: er trug zur Ausbildung eines hierarchischen Kanons von bildungsbürgerlichen Trophäen
bei, die später touristisch, ökonomisch, massenmedial, ,verwendbar' werden.
Es war ein Landsmann Ruskins, Thomas Cook, der
das Reisen revolutionierte. Etwa zu der Zeit, da Auskin in Venedig arbeitete, entwickelte Cook6 erstmals
Pauschalreisen, wo Dauer, Ziele und ,Events' der
Reise vorab festgelegt waren. Standardisierung der
Wahrnehmung und Wahrnehmungsangebote war eine der Bedingungen für das Entstehen einer Tourismusindustrie. Das Sehen wurde im Prozeß der Reise auf Stationen beschränkt, wo die subjektive
Wahrnehmung durch Vorgaben eingeschränkt war.
Vorbereitet war dieser gleichsam inszenierte Blick
in der Grand Tour und Kavaliersreise, die dem praktischen Erwerb von Wissen, Bildung und Etikette an
fremden Höfen gewidmet waren. Begleitende Künstler stellten Reisebilder her, ,spots', die spätere touristische Wahrnehmungsmuster antizipierten und
prägten.? Doch der Zweck des Reisens verkehrte
sich, man reiste nicht mehr in die Fremde, um Wissen zu erwerben, sondern, gleichsam ,eskapistisch',
14
um das eigene Land, die Stadt auf Zeit hinter sich
lassen zu können. Während der Grand Tour auf utilitär verwertbarer Erfahrung, insofern also auf Zukunft
gerichtet war, bezieht sich bürgerliches Reisen vergangenheitsorientiert auf Denkmäler der Geschichte.
Die bürgerliche Reiselust wurde aus der adeligen,
eher utilitaristischen Reisegewohnheit und der wissenschaftlich-aufgeklärten Reisetätigkeit gespeist.
Reisen emanzipierte sich aus dem zweckrationalen
Zurücklegen einer Wegstrecke aus ökonomischen
(Handel) oder religiösen (Wallfahrt) Motiven und
macht frei für die Wahrnehmung des Reisens selbst,
vor allem der Landschaft und der Denkmäler. Reisen
wurde nun als Möglichkeit zu authentischem Sehen
propagiert. Aus der Einsicht in die psychologischen,
historischen und sozialen Bedingungen des Sehens
entwickelt sich die Notwendigkeit, eine "wissensgefüllte Wahrnehmung"s zu ermöglichen, also auch die
Notwendigkeit ihrer Lenkung bezüglich der Inhalte
und der Modalitäten.
Reiseführer, Landkarten bzw. Bildproduktionen die z. B. auf Hochkunst des 17. und 18. Jh. zurückgriffen - legten Aussichtspunkte, lohnende Motive
und Reiseziele fest. 1813 versah ein Herr Heinrich
Keller die Landkarte der Schweiz mit einer Sternchenmarkierung, die in die Reiseführer von Bädeker
und Murray (mit einer wertenden Hierarchie der Auszeichnungen) übernommen wurde.
Diese als Bädeker-Stern9 berühmt gewordene
Auszeichnung von Bedeutsamkeit hat Lucius Burckhardt als geniale Erfindung bezeichnet: er verleihe
einem Gegenstand eine Bedeutung, aber man wisse
eigentlich nicht welche - der Bädeker zeichnet aus,
aber erklärt nicht, warum. Die Bedeutung werde scheinbar - ,frei' für Anmutungen, Assoziationen
und Projektionen des Betrachters. Anders als Burckhardt meine ich, daß diese Bedeutungszuweisung
aber stillschweigend auf bereits kodifizierte Bedeutungen zurückgreift, auf Gewohnheiten, wissenschaftliche Paradigmen usw., jedenfalls auf die relative Verbindlichkeit eines kulturellen Gedächtnisses.
Ohne die Existenz solcher - oft unbewu ßter - ,gemeinschaftlicher Bedeutung' wäre ein Gegenstand
nicht einmal eine Kuriosität.1o
Der Bädeker-Stern 11 abstrahiert von dem ihm zugrundeliegenden kulturellen Muster, von den Wertvorstellungen, denen er seine distinkte Kraft verdankt. Er gestattet mit der Wahrnehmung eines
Kunstwerkes, einer Architektur, an den verschwiegenen, gleichsam zur zweiten Natur der Dinge gewordenen, kulturellen Mustern und Bedeutungen zu
partizipieren und sich so zur Sphäre der Kultur zugehörig fühlen zu können. Ohne daß diese Muster und
Bedeutungen im Einzelnen noch zu vergegenwärtigen wären, erspart die Etikettierung des Sehenswürdigen die intersubjektive und diskursive Überprüfung
von Wertvorstellungen aber auch, sich der Mühen
der Selbstreflexion des subjektiven Zugangs zu den
kulturellen Artefakten stellen zu müssen.
Jedenfalls bedeutet eine solche Auszeichnung
von Sehenswürdigkeiten, ihnen einen konjunkturfe-
T
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sten Wert beizumessen. Das ist ja auch eine Strategie beim musealen Erben: wo die Verbindlichkeit eines Sinns (des musealen Objektes, des Prozesses
der Musealisierung) nicht so ohne weiteres einsichtig zu machen ist, tritt die Metapher des Werts in ihre
Rechte. Das Reden vom ,Erbe', vom ,kulturellen
Reichtum', von den ,unerme Blichen Schätzen' - der
gigantische aber fiktive Tauschwert von Kunstwerk
ist ein großer Anreiz bei Ausstellungen- tendiert dazu, die kulturelle durch materielle Bedeutung zu substituieren.
Die mediale Werbesprache der Ausstellungsankündigungen,
Vernissagebesprechungen
oder
Kunstkritiken bedient sich, ähnlich der Technik des
Bädeker-Sternes - eines verdinglichten kulturellen
Codes und suggeriert Sehenswertigkeit, bei der allein schon die symbolische Teilhabe- etwa als Lektüre der Kulturseiten eines ,lntelligenzblattes' - mit
der Illusion der Zugehörigkeit zu kulturellen Eliten
honoriert wird.
Horst Rumpf hat die von ihm so genannte ,Gebärde
der Besichtigung' folgendermaßen charakterisiert:
sie schafft und bevorzugt einen hierarchisierten Kanon von approbierten Kulturgütern, die mit Besichtigungs-, Wahrnehmungs- und Einschätzungspflicht
ausgestattet werden. Von Sehenswürdigkeiten geht
ein Verhaltensdruck aus, der einerseits bestimmte
Weisen der Wahrnehmung und sprachlichen Äußerung provoziert- Würdigung, Huldigung, Verklärung,
Affirmation-, andererseits gegen Reflexion, Einwände, Widerspruch, Zweifel gefeit macht und "inoffiziellen Hinsichten" amputiert. 12 Dem wäre hinzuzufügen,
daß dieser Blick auch von allem abstrahieren muß,
was an durchaus nicht immer von Zweifeln freier
wissenschaftlicher Diskursivität in die ,Kodifizierung'
eines kulturellen Objekts eingegangen ist, welchen
oft umstrittenen Weg die Bedeutungszuweisung an
Überlieferung gegangen ist. Wir werden mit dem fertigen Resultat eines langen Prozesses der Bedeutungszuweisung und -produktion konfrontiert ohne in
ihn je involviert zu werden, etwa im Museum, wo die
Verdinglichung der Musealien gleichsam jede Frage
nach ihrer Daseinsberechtigung an diesem und keinem anderen Ort erstickt.
Der Besichtigungsblick ist ein Zuschauerblick, frei
von Handlungsdruck und Verstrickung, vor allem:
leiblicher Verstrickung in die Sache. Zivilisatorisch
bedeutet das, daß der Blick uns versichert, daß uns
die Gegenstände nichts mehr tun können. "Das Auge ist unterwegs zu einem neutralen Instrument, gelöst von leiblicher Verfangenheit".1 3 Der Gesichtssinn läßt, da er den Leib nicht involviert, vergessen,
daß er ein Sinn ist, das Sehen erlaubt die Abstraktion von Eigenem und Anderem. Das Ideal des ,reinen Auges' ist der männliche, sich nicht ins Sinnliche verstrickende, kontrollierende, objektivierende
und entsubjektivierende Blick, der die visuelle Kontrolle über die Dinge - als eine Form der Naturbeherrschung- hat und behält.
Die abstrakteste Form dieses Blicks ist die intel-
lektuelle Anschauung, der subjektlose Blick, dem eine objektlose Vorstellung korrespondiert, und der in
Museen häufig als normative Grundlage der Ausstellungspräsentation, sozusagen als verborgene Didaktik, vorherrscht. Dieser subjektive Blick wird im technischen, instrumentenbewehrten Blick gesteigert,
nicht nur in dem der wissenschaftlichen Apparaturen, sondern auch im mit Fotoapparat oder Videokamera bewaffneten Auge des Touristen.14
Das Ideal des ,reinen Auges' kennt noch eine
Ebene der Verschleierung der sozialen Bedingungen der Wahrnehmung. Die Ideologie des ,reinen
Auges' beruht auf der Leugnung des sozialen Zusammenhangs von Kunst- und Kulturkompetenz und
Erziehung, Bildung. Da Kunstkompetenz "das Produkt einer unmerklichen Übung und einer automatischen Übertragung von Fähigkeiten ist, neigen die
Angehörigen der privilegierten Klassen auf ,natürliche Weise' dazu, eine kulturelle Erbschaft {. . .} für
ein Geschenk der Natur zu halten. "15
Den Privilegierten erscheint Bildung als ein nicht artifizieller, als ein nicht durch Lernen und Arbeit erworbener Prozeß, sondern als ein Zur-Natur-Werden, als
ein Habitus, eine zweite Natur." ... das Verschweigen
der sozialen Bedingungen der Appropriation des Bildungskapitals oder, genauer, des Erwerbs ästhetischer Kompetenz als Beherrschung aller zur Appropriation des Kunstwerkes erforderlichen Mittel ist ein
in t e r e s s i e r t e s Schweigen, da es erlaubt, ein
soziales Privileg zu rechtfertigen, indem man es in eine Gabe der Natur verwandelt. ·~ 6
Hinter der Bildungsbeflissenheit gibt es eine verborgene soziale Antriebsfeder - die Legitimation eines sozialen Privilegs. Bildung, kultivierte Natur, legitimiert ihn, den Bourgeois, auch als Klasse, da er
sich weder auf die aristokratische Legitimität des
Blutes berufen kann, noch auf die demokratische
Ideologie der ,Natur', in der ja alle Distinktionen aufgehoben wären. Die Unterschiede, die der Besitz
materieller Güter erzeugt, wird auf den Besitz symbolischer Güter (wie Kunstwerke) verschobenY
Der Begriff des Erbes bringt dieses Syndrom: auf
den Begriff das Erbe ist das, was sich durch Begnadung, Begabung, von Natur aus (und nicht durch erworbenes Verdienst) rechtfertigt- als Idee, einer mit
Geburt gegebenen Kultur, was der französische
Ausdruck patrimoine, d. h., das von Vater und Mutter Überlieferte, direkter ausdrückt.
Diese ,Blindheit' gegenüber den sozialen Bedingungen des Erwerbs von Bildung geht einher mit der Blindheit gegenüber der
Funktion bildungsvermittelnder Institutionen. Museen verraten, so
Bourdieu, "schon in den geringsten Details ihrer Morphologie und
Organisation ihre wahre Funktion", nämlich, "bei den einen das
Gefühl der Zugehörigkeit, bei den anderen das Gefühl der Ausgeschlossenheit zu verstärken. ·~8
Der Modus der Sehenswürdigkeit erlaubt die würdigende Wahrnehmung des kulturellen Erbes und zugleich das Absehen von den sozialen Bedingungen
der Produktion und Wahrnehmungen von Sehenswürdigkeiten und den mit ihnen verknüpften Wertvorstellungen. Besichtigen von Sehenswürdigkeiten
15
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ist eine Art Liturgie der Besichtigung der Trophäen
unseres kulturellen Besitzes. Gegen diese Liturgie
erscheint Widerstand zwecklos, nichts scheint sich
ihr entziehen zu können und da der Bestand des Besichtigungswürdigen ständig zunimmt, scheint sie
tatsächlich die Welt zum Museum werden zu lassen.
Der jüngst entdeckte Führerbunker in Berlin, Schuberts Brille, die stillgelegte Stahlhütte im aufgegebenen Jndustrierevier, ein Stück Schweizer Alpenwelt
unter nationalem Schutz, das Konzentrationslager
Mauthausen - alles wird in die museophile Welt eingemeindet.
Zur Liturgie der Besichtigung gehört die Wiederholbarkeil des Ereignisses. Sehenswürdigkeit zieht ihre Faszination aus der "wiederholte[n] Bevorzugung bestimmter Erfahrungsbereiche und Erfahrungsaspekte", was zur Folge hat, daß "das wiederkehrende
Sehen ... allzu schnell bereit [ist], zu vertrauten Ansichten und
Hantierungen zurückzukehren und sich einer Ordnung des Sichtbaren zu überlassen, als sei sie unabänderlich. ·~ 9
Allerdings vermag das Museum eine solche Wiederholung nicht von sich aus zu organisieren. Die
Reproduktion eines Erfahrungsvorganges, überhaupt Aufmerksamkeit, kann das Museum nicht erzwingen. Besuche bleiben in der Regel zufällig, vereinzelt. Auch in dieser Hinsicht ist das Museum kein
Lernort. Eher können Ausstellungen den Besuch ritualisieren und die Jubiläumsausstellung greifen vermeintlich identitätsstiftend- auf die kultische Praxis der kollektiven VergewisserunQ gemeinsam geteilter Vergangenheit zurück. Und gerade bei diesen
und den (österreichischen) Landesausstellungen ist
der Organisationsgrad korporativer Besuche besonders hoch. Bei vielen derartiger Ausstellungen bilden
die - relativ zwangsrekrutierten - Besucher einen
hohen Prozentsatz der Gesamtbesucherzahl (und
damit die Legitimationsbasis für die Kulturpolitik).
Wenn es wahr ist, daß Aufmerksamkeit eine immer knappere Ressource wird, daß also das Museum -wie oft behauptet wird - tendenziell in Konkurrenz gerät zu anderen visuellen Medien, dann
hieße das, daß das Museum unter stärkeren Legitimationsdruck gerät. Zu den Groß- und Jubiläumsausstellungen besteht offensichtlich schon ein solcher Konkurrenzdruck.
Doch gerade bezüglich der Ausstellungen hat sich
eine Wahrnehmungshaltung des zerstreuten Blicks
herausgebildet, der von der empirischen Soziologie
als ,cultural window shopping' karikiert werden kann
und der sich kaum von der beschriebenen Gebärde
der Besichtigung unterscheidet. Die Bedeutung der
massenmedialen Rezeption von musealisierten Kulturgütern liegt nicht nur in der Ausbeutung von Nostalgiereserven, sondern auch darin, daß sie die Eingemeindung der Besucher und Betrachter unter die
Eingeborenen der Bildungselite verbürgt.
Die Gebärde der Besichtigung hat mit ihrer Distanzierung aber auch einen emanzipativen Aspekt.
Ruskins zitierte Beschreibung der Messe in San
Marco ist auch die Beschreibung eines Stückes
Emanzipationsgeschichte: die der Ablösung von religiösen Zwäng.en, von blinder Ehrfurcht, von Aberglauben, von Angsten.
16
Museen können in dieser Hinsicht Orte der Sichtbarmachung sein,
"Oasen des Sehens", Orte des "öffentlichen Blicks, [. . .] Schaustätten, [. . .] die den Rahmen sonstiger theoretischer, praktischer
oder technischer Interessen auf bestimmte Weise überschreiten. •eo Um den Preis ihrer gefahrlosen Präsenz verweilen [wir] bei
der Darbietung, von Sichtbarem, das sich selbst sichtbar macht
und uns d i e W e I t a n d e r s s e h e n I ä ß t, in gesteigerter, zugespitzter oder verfremdeter Form, ohne unsere Wett gegen
eine andere zu vertauschen. •<2 1
Mit der Gebärde der Besichtigung soll vermieden
und verdrängt werden, "was uns aus der Weft der Toten,
der versunkenen Zeiten, des versunkenen Lebens anweht;
die Hinfälligkeit, Verfall.'e 2 in den Objekten sedimentier-
te Spuren vergangener Arbeit, von vergangener Alltäglichkeit, von Genuß und Leiden erhalten darum
im Museum eine ,gefahrlose Präsenz', Der vergleichgültigende Ausstellungsblick bewahrt uns vor
dem in der Erfahrung der Aura beschlossenen
Schock, ,mit dem ein Augenblick als schon gelebt in
unser Bewußtsein treten' kann [Walter Benjamin], so
wie die Verdinglichung und Stillstellung der Objekte
im Museum, uns vor der Erfahrung der Zeitverfallenheit der Dinge bewahren möchte.
"Die bürgerliche Gesellschaft hat mehrere Institutionen der gefahrlosen Präsenz geschaffen. Ohne Anspruch auf Vollzähligkeit: Für
die Pflanzen den englischen Garten und die Bundesgartenschau,
für die Tiere und Triebe den Zoo und den Zirkus, für die Kriminellen das Gefängnis, für die Verrückten die Psychiatrie. Und für die
gegenständlichen Reste des Zivilisationsprozesses ... jeweils eine besondere Sorte von Museum als Zwischen- und End/ager. Die
mit der Errichtung der Institutionen notwendig verbundene Gewaltanwendung unterliegt der Scham. •<2 3
Vielleicht läßt sich der- über das Museum bekanntlich weit hinausweisende - Prozeß der Musealisierung insgesamt als gefahrlose Besichtigbarmachung
von immer größeren Geschichts- und Naturbezirken
interpretieren, die von einer Besichtigungsindustrie
(Fremdenverkehr, Freizeit- und Reiseindustrie) und
von Besichtigungshelfern (Fremden- und Stadtführer; Betreuer von Geschichtslehrpfaden; Museumspädagogen und -didaktikern) unterstützt wird.
ANMERKUNGEN
1. Robert Musil: Denkmale, in: Nachlaß zu Lebzeiten
(1936). Reinbek bei Harnburg 1989, S. 62 ff.
2. Zit. n. Wolfgang Kemp: John Ruskin. Leben und Werk.
Frankfurt 1987, S. 168.
3. ebenda, S. 141.
4. ebenda, S. 152.
5. Joachim Ritter: Die Aufgaben der Geisteswissenschaften
in der modernen Gesellschaft. in: ders.: Subjektivität.
Frankfurt 1974, S. 127-129. Fortsetzung des Zitats:
"Wenn die Götter gestorben sind und der Glaube, der sie
ehrte, nichts mehr ist, dann werden auch die Tempel, die
ihnen gehörten, aus einem denkwürdigen Schönen zu
bloßem Gestein und Gemäuer. Eine andere geschichtliche Weft vermag sie nur als das Ding zu nehmen, dem
kein Geist mehr einwohnt. Durch die Jahrhunderte hin
sind so in Kleinasien wie in Europa die Säulen der griechischen und römischen Tempel, Bildwerke, Grabmäler
in die Kalköfen gewandert, als Füllmaterial für Stadtmauern verwendet oder als Baustücke verbaut worden. in
den verlassenen Felskirchen und Klöstern von Ürgüpf
IWK-Mitteilungen
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und Göreme hat die islamische Bevölkerung auf den in
der trockenen Luft unverändert erhaltenen Fresken die
Gesichter der Engel, Heiligen, Propheten ausgelöscht.
Was aber dem modernen historischen Sinn als barbarische Zerstörung erscheint, hat in Wahrheit das Recht
und die Legitimität der fortgehenden Geschichte für sich.
Der Glaube, dem jedes Abbild des Göttlichen ein Frevel
ist, befreit das auch ihm Ehrwürdige von der Schmach
des Sakrilegischen; er stellt es zu einer ihm zurnutbaren
Gegenwart wieder her. Noch im 18. Jahrhundert hat man
ohne Sinn für das ,Historische' romanische und gotische
Kirchen umgebaut; dies hat den realen geschichtlichen
Sinn, sie in das lebendige Gegenwärtige umzuformen.
Dazu gehört, daß alles, was an sich vergangen ist und
nicht der gegenwärtigen Weft zugehört, auch keinen Anspruch auf historische Bewahrung hat. Sein Nicht-Sein
ist legitim und der an die Kontinuität des erinnernden Daseins gebundenen Geschichte angemessen. Demgegenüber läßt sich der moderne ,historische' Sinn ... gerade
dadurch kennzeichnen, daß er aus solcher unmittelbar
zum geschichtlichen Dasein gehörigen Einheit von Geschichte und Historie herausgetreten ist. ... Der wirkliche Vorgang wird erst faßbar, wenn man davon ausgeht,
daß die Ausbildung der Wissenschaften von der Geschichte und der geschichtlichen, geistigen Weit des
Menschen zu dem realen Prozeß gehört, in dem sich die
moderne Gesellschaft in Europa, jetzt überall auf der Erde in der Emanzipation aus den ihr vorgegebenen geschichtlichen Herkunsftswelten konstituiert. Die Geisteswissenschaften und die historischen Institutionen, wie
das Museum und die Denkmalpflege, "übernehmen [es],
... das Vergangenen wie das vom Vergehen Bedrohte
aufzusuchen, einzubringen, zu erschließen, zu schützen
und zu erhalten, es in Sammlungen und Editionen zugänglich zu machen."
Peter Märker, Monika Wagner: Bildungsreise und Reisebild. Einführende Bemerkungen zum Verhältnis von Reisen und Sehen. ln: Mit dem Auge des Touristen. Zur Geschichte des Reisebildes. Ausstellungskatalog. Tübingen
1981's. 11.
ebenda, S. 7 f.
ebenda, S. 8.
Bädeker, Buchhändler in Essen, 1801-1859, entwickelte
nach dem Vorbild Murrays Reiseliteratur.
Lucius Burckhardt:Wie kommt der Müll ins Museum?, in:
Tradition und Experiment. Das Österreichische Museum
für angewandte Kunst. Wien 1988, S. 272 ff., zit. n. S.
273 f.
Kodifizierung der Bedeutung und des Blicks gibt es in
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vielen Formen: in nationalen Denkmälerlisten, also in
hierarchisierten Wertordnungen des ,Erbes' wie z. B. im
UNESCO-Kulturgüterverzeichnis, im Kulturgüterschutz,
der im Prinzip das schützenswerte Erbe von dem trennt,
was preisgegeben werden kann. Denkmalpflegerische
(Dehio) bzw. touristische (Michelin; Bädeker) Leitfäden,
die die Wahrnehmung sanktionieren und selektieren, Besichtigungshelfer wie Reiseführer und Museumspädagogen.
Horst Rumpf: Die Gebärde der Besichtigung. Vortrag auf
dem Symposion Die Zukunft des Erinnerns. Hüttenberg
1988, hier zitiert aus: Ab ins Museum! Materialien zur
Museumspädagogik. Wien 1990, vgl. S. 20 f. und S. 23.
ebenda, S. 15 f., S. 18 bzw. auf S. 26: "Der körperlose
Besichtigungsblick ist gefräßig."
Vgl.: Gisela Schneider, Klaus Laermann: Augen-Blicke.
Über einige Vorurteile und Einschränkungen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung, ln: Olav Münzberg
und Lorenz Wilkens (Hg.): Aufmerksamkeit. Klaus Heinrich zum 50. Geburtstag, Berlin 1979, S. 442 ff.
Pierre Bourdieu: Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: ders.: Zur Soziologie der
symbolischen Formen, Frankfurt 1970, S. 193 f.
ebenda, S. 194 f., Hervorhebung von P. B.
Bourdieu sieht das Wesen der Distinktion in der Unterscheidung in Zivilisierte (die sich die Bedingungen ihrer
Privilegierung selbst verschleiern) und Barbaren - einer
Distinktion in der der Besitz und der Nicht-Besitz von Bildung als natürlicher Zustand erscheint.
ebenda, S. 196 und S. 198. Bourdieu beobachtet, daß
Besucher sich durch Esoterik, Fehlen von Hinweisen,
Orientierungshilfen, Darbietung der Werke usw., ausgeschlossen fühlen und daß pädagogische Hilfsmittel zwar
nicht Ersatz für fehlende Schulbildung wäre, wohl aber
das Recht verkündete, nichts zu wissen, "das Recht da
zu sein, ohne etwas zu wissen ... ". Ebenda, Anmerkung.
Bernhard Wa/denfels: Der herausgeforderte Blick. Zur
Orts- und Zeitbestimmung des Museums; in: ders.: Der
Stachel des Fremden. Frankfurt 1990, S. 226 und S.
234.
ebenda, S. 227 f., ZitatS. 228.
ebenda, S. 233. Hervorhebung von Waldenfels.
Rumpf, S. 30.
Kar/ Josef Pazzini: Tod im Museum. Über eine gewisse
Nähe von Pädagogik, Museum und Tod. ln: Wolfgang
Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das
Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der
Erinnerung. Essen 1990.
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IWK·Mitteilungen
EVA STURM
BILD-TEXT -COLLAGE-MUSEALISIERUNG*
Vor etwa zehn Jahren wurden Geschichtswissenschaft und Philosophie vermehrt auf ein scheinbar
infektiöses Phänomen aufmerksam, welches sich in
der deutschen Sprache zum Namen Musealisierung
verdichtet hatte.
Musealisierendes Vorgehen, mitunter auch unter
dem Begriff Museifizierung oder Musealisation zu finden, ist eine eigentlich uralte Verhaltensweise nicht
nur des westlichen Menschen, Bezeichnung für eine
spezifische Umgangsform mit Dingen, mit Natur, mit
anderen Menschen, mit Zuständen, mit Weit. Musealisierung tanzt aus dem Rahmen Museum, löst sich
so von seiner semantischen und ethymologischen
Wurzel, breitet sich aus in Raum und Zeit.
Der musealisierende Mensch, in der beobachteten Form historisch beispiellos, setzt folgende Handlungsschritte:
Er löst etwas aus seinem symbolischen, funktionalen, lebendigem Zusammenhang oder rettet es
vor dem entgültigen Verschwinden als Abfall,
entzeitlicht das so Entkontextualisierte,
enträumlicht es zumeist,
fügt es ein in eine von ihm geschaffene, neue
Ordnung und
verhält sich ihm gegenüber von nun an in der von
Horst Rumpf als "Gebärde der Besichtigung" 1 beschriebenen inneren undäußeren Haltung.
Musealisierung bedeutet deklarierte Zustandsveränderung, real und symbolisch und ist - so scheint
es- nahezu umkehrbar. Das Ding, die Fabriksruine,
der entdeckte lndianerstamm, die unter Naturschutz
gestellte Landschaft, das Dorf, das Tier dürfen sich
ab nun nicht oder kaum mehr verändern, sollen
nicht sterben, wenn möglich, nicht altern, nicht mehr
abgenutzt, gebraucht werden, sind zu konservieren,
werden künstlich tot am Leben erhalten. Sinn ihres
(Nicht-)Seins ist ab nun, Zeugenschaft abzulegen.
in ihrer Materialität und Anwesenheit sind sie Zeichen eines Abwesenden, verweisen - auf eine abgeschlossene Geschichte, - eine Ganzheit, - einen
Zustand, - auf etwas Fremdes, - Vertrautes, Überwältigtes, -Geliebtes usw.
Und da sie ihre Geschichte nicht selbst erzählen
können, wird der museophile Mensch zum Hüter der
Bedeutungen, welche ebenfalls aufbewahrt und immer wieder erzählt werden müssen.
in der Theorie gab es, wie nicht anders zu erwarten, von vornherein verschiedene Einschätzungen
zu Ursachen, Ausmaß, Manifestation und Auswirkungen des zu beobachtenden Zeit-Phänomens.
Manche der Theoretiker halten es für ein bedrohli(* Vorgetragen anläßlich der Buchpräsentation von: Konservierte Weit. Museum und Musealisierung. Dietrich
Reimer Verlag, Berlin 1991.)
18
ches, zerstörerisches, mittlerweile längst unkontrollierbares Syndrom. Andere begreifen es als Chance
oder sehen zumindest in ihm schlummernde bzw.
mit ihm einhergehende konstruktive Momente. Die
Meinungen reichen von der zustimmenden Bejahung, über Skepsis, Distanzierung, Abwertung bis
zur kritischen Akzeptanz.
Dem vorgestellten Buch Konservierte Welt. Museum und Musealisierung liegt die Idee zugrunde,
die unterschiedlichen Positionen auseinanderzufilzen und einander gegenüberzustellen. Was sich ergibt, ist ein Bild in welchem Museum und Musealisierung in verschiedenem Licht auftreten. Teilweise
fast unvereinbar scheinende Sichtweisen berühren
sich an manchen Stellen und beginnen in der Konfrontation miteinander zu arbeiten.
Hier jedoch soll nicht Systematik betrieben werden, sondern versucht werden, in einer Art Collage
in Stichworten und Bildern ein paar Blitzlichter auf
das vorliegende Thema und in das vorliegende
Buch zu werfen.
Die Bilder zu den Worten finden sich auf dem Cover der vorliegenden Zeitschrift.
Abbildung 1/Stichwort 1:
ERBE SCHÜTZEN
Das Senckenbergmuseum in Frankfurt informiert
seine Besucher und Besucherinnen gleich am Eingang, worum es eigentlich geht. Es erinnert an die
vor den Objekten einzunehmende innere und äu Bere Haltung: die erwähnte "Gebärde der Besichtigung".
Die älteste These zur Musealisierung ist die Kompensationsthese: Wenn der Anschluß an Vergangenheit und Tradition verloren gegangen ist, errichtet die Gesellschaft "Erinnerungsorgane", die über
den Bruch hinweg verhelfen sollen, historischen
Sinn zu finden.2
Abbildung 21Stichwort 2:
DAS ORIGINAL
Gisela, der älteste original Raddampfer, vom Traunsee in OÖ ist das letzte wiederhergestellte Original
seiner Art. Vor dem Untergang gerettet, ist es zum
"historischen Objekt" avanciert, dessen unersetzlicher ideeller Wert sich auch finanziell und lukullisch
nutzen läßt.
Die Sichtbarkeit des Vergangenen, seine materielle Konstanz tröstet, so lautet eine andere These,
über den "änderungstempobedingten Vertrautheitsschwund"3 mit Weit hinweg.
IWK·Mitteilungen
Schon an dieser Stelle verfließt der Übergang
zwischen Bewahrung und Neukonstruktion: Gisela
ist ein wiederhergestelltes Original.
Abbildung 31Stichwort 3:
METAMORPHOSE DER ZEICHEN
Wenn eine Epoche abgeschlossen, ein Feind besiegt, überwunden wurde, müssen auch die Symbole
und Götter weichen. Sie zu vernichten, ist eine Möglichkeit, sie zu musealisieren und dadurch ihre magischen Bedeutungsaufladungen zu bannen, die anderen. Seit der französischen Revolution anerkannte das
aufgeklärte Bürgertum letztere als effizienter.
Der historische, d. h. realpolitische Wert des Zeichens wird durch seine Metamorphose zum Relikt,
zum historischen Objekt, welches auf eine ganze
Epoche zu verweisen vermag, abgelöst.
Abbildung 41Stichwort 4:
RESTE
Jedem Sprengversuch trotzend, haben sich die
1940 von Friedrich Tamms erbauten sechs Wiener
Fliegerabwehrkanonentürme sozusagen selbst musealisiert. Nun stehen sie als architektonische Kriegsüberreste nach dem denkmalpflegerischen Fundamentalprinzip "Ohne Nutzen ist ein Baudenkmal verloren"4 anderen Funktionen zur Verfügung.
Im Leitturm Esterhazygasse, 6. Bezirk, ist das
Haus des Meeres untergebracht. Jan Tabor kommentiert: "Die Wiener mögen ihre Luftwabwehrbunker ... Die Türme für unantastbar zu erklären mit
dem Argument, sie seien Mahnmal gegen den Krieg,
ist eine Wunschvorstellung. ln Wirklichkeit ist die
mentale Wirkung der Türme genau die, wofür sie
konzipiert wurden: Heldentempel, Ehrenmahle, Totenburgen. Kenotaphe. Riesige Sarkophage. Die
Sinngebung dem Sinnlosen." 5
Musealisierung, so lautet eine andere These, als
Technik der Entschärfung und Ausgrenzung von Erinnerung. Das Objekt wird zur Projektionsfläche,
welche sich an spezifische Orte bannen läßt. Museum und Mausoleum, Grab der Geschichte und Ort
domestizierter Inhalte, unvergängliche Müllhalden
der Kultur.
Gerade diese Eigenschaft der Musealisierung
kann aber auch als Schutzfunktion gedeutet werden, als Voraussetzung für die Aufarbeitung von
Gattungsgeschichte und die Begegnung mit fremden, unbegreiflichen und bedrohlichen lnhalten.6
Abbildung 51Stichwort 5:
TOD UND TROST
Museen und Musealisierung, so lautet eine andere
These, als Möglichkeit der Angstbewältigung, der
Verleugnung des Todes und des Trostes.?
Bei diesem Objekt handelt es sich um den Kopf
eines französischen Offiziers, wahrscheinlich namens d'Arcourt. Im Dreißigjährigen Krieg wurde er
wegen einer Kopfverletzung von einem Feldscher
trepaniert und verstarb trotz oder infolge dieser
Trepanation (=operative Schädelöffnung mit einem
Trepan = spezielles Bohrgerät zur Öffnung). Der
Feldscher trennte daraufhin den Kopf vom Rumpf
und mumifizierte ihn, um seine ärztliche Geschicklichkeit an dem Objekt demonstrieren zu können.
Nachdem man später den geräucherten Kopf vergeblich u. a. der Geliebten des Grafen - für einen
entsprechenden Preis - angeboten hatte, landete er
zunächst im Heeresgeschichtlichen Museum/Wien
und schließlich in der Anthropologischen Abteilung
des Naturhistorischen Museums/Wien.
Museum als letzte Ruhestätte.
Aber auch: Museum als einer der letzten Orte, an
dem der notwendigen Todesverdrängung immer
wieder neue Energie zugeführt werden kann.
Musealisierung als einzigartiger tröstender Kompromiß, beweisend, daß etwas sterben kann und
doch bleibt.
Abbildung 6/Stichwort 6:
REINHEIT
Man kann in diesem Sinn Museum und Musealisierung begreifen als historisch gewachsene Kristallisationspunkte für bestimmte gesellschaftliche und
individuelle Leiden. Sie vermögen z. B. dem Bedürfnis analneurotischer Charakterstruktur nach Festhalten, nach Reinlichkeit, Ordnung und Überschaubarkeit entsprechen:
Hier z. B. reinigt ein Schweizernationalbewußt das
Denkmal von Wilhelm Teil, denn so heißt es im zugehörigen Zeitungsartikel: "Wilhelm Teil und auch das
Ansehen der Schweiz verdienen es, wieder einmal
gründlich gewaschen, geputzt und gepflegt zu werden."8
Abbildung 7/Stichwort 7:
ORDNUNG UND DAUER
Museen können aber ebenso Kristallisationspunkte
sein für zwangsneurotische Charakterstruktur, indem sie den Bedürfnissen nach Vollständigkeit ritueller Reihenfolge und Dauer Genüge leisten.
Dies meint nur nicht, alle Sammler, Kategorisierer, Ordner oder Putzmänner wären anal- oder
zwangsneurotisch.
Das Museum als Institution einer Gesellschaft mit
bestimmten Persönlichkeitsstrukturen, so die These
des Psychoanalytikers Pazzini, antwortet derselben
Gesellschaft lediglich mit ihren eigenen Strukturen. 9
Abbildung, 8/Stichwort 8:
RITUALHOHLE
Das Museum muß heute alle Funktionen übern eh-
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IWK·Mitteilungen
men, die früher verschiedene gesellschaftliche Institutionen überhatten. Es ist Ritualhöhle, Kathedrale
und Palast zugleich: die Kuppelhalle des Naturhistorischen Museums/Wien.
sches Dorf, welches von etwa 100 Menschen bewohnt und bespielt wird. Auf dem Programm stehen
die Unabhängigkeitskriege, exakt rekonstruiert nach
historischem Vorbild.
Das Maß an Künstlichkeit steigt mit dem Grad an
simulierter Wirklichkeitsnähe.
Abbildung 9/Stichwort 9:
NATÜRLICH KÜNSTLICH
In einer theatralischen Szene treffen hier auf engstem Raum Zeugen aufeinander, wie sie sich in
Wirklichkeit niemals hätten begegnen können.
Auf der Rückseite dieser Ansichtskarte aus der
Naturschau Dornbirn steht zu lesen: "Neben den in
historischer Zeit ausgerotteten Tierarten Elch und
Wildkatze (Bild) sind hier auch Wolf und Bär, Luchs
und Biber in natürlicher Umgebung ausgestellt."
Der Versuch, Realitäten möglichst original zu inszenieren bewirkt nicht, wie manches Museum
meint, Authentizität oder Naturnähe, sondern läßt
die Szene ins Künstliche kippen. Die Tiere feiern als
Simulakren (=Trugbilder) einer Welt, die nicht existiert, ihre Wiederauferstehung.10
Abbildungen 10 und 11/Stichwort 10:
GARTEN
Die Natur, wandelt sich von einer erhaltenden in eine zu erhaltende.
Sie wird zum Bild, zum Diorama, zum ParadiesGarten, dessen Überleben wir in unserer Hand zu
meinen glauben.
Um ihren ursprünglichen Kreislauf wieder in Gang
zu bringen, scheut man mitunter nicht davor zurück,
Rückzüchtungen von für den ökologischen Kreislauf
nötigen Teilen der Natur vorzunehmen (z. B. Vieh)
oder alte, längst dem Fortschritt zum Opfer gefallene Kulturtechniken wiedereinzuführen.
Zerstörung und Musealisierung sind die Kehrseiten einer Münze.
Abbildung 12/Stichwort 11:
GLASGLOCKE
Musealisierung eines Volkes, eines Dorfes, eines
Raumes etc., so lautet eine andere These, schützt
keineswegs vor Vernichtung.
Dabei ist zunächst noch gar nicht an die Ausrottung in der hier vorliegenden Art durch Vermarktung
und Tourismus gedacht.
Es genügt, etwas unter die Glasglocke der Unberührbarkeit zu stellen, um es zum Objekt zu machen.
Vereinnahmungen in dieser Form berauben die Dinge,
Naturvölker, Dörfer etc. ihrer bisherigen Realität.1 1
Abbildung 13/Stichwort 12:
GESCHICHTE 1 : 1
Old Sturbridge (USA, Massachusetts) ist ein histori-
20
Abbildung 14/Stichwort 13:
KEIN MUSEUM
Kein Museum, aber professionelle Künstlichkeitskonstruktionen kann man in Disneyland (USA, Las
Vegas) erleben. Hier: Cecars Pa/ace. Geschichte
wird zum dreidimensionalen Märchen.
Zur absoluten Konstruktion, die von der historischen Realität kaum mehr zu unterscheiden ist, liegt
nur mehr ein kleiner Schritt.
Wo sich, so ließe sich vorläufig resümieren, Museum und musealisierende Vorgangsweisen darstellen als reine Wirklichkeits- und Wahrheitsgarantien,
sind sie doch eigentlich viel mehr: Kulminationspunkte von Sehnsüchten, Versuche der Beherrschung von Welt und Realität, Strategien gegen
Verluste und Traditionsbrüche, gegen das Verschwinden, gegen Fremdheit, Beschleunigung und
Fortschrittsdynamik, unternommene Orientierungsund Ordnungsversuche von Materie in einer immer
stärker von lmmaterialien dominierten Welt.
Die inszenierte Authentizität der musealisierten Objekte läßt das Subjekt, welches sich nach den Regeln
der Gebärde der Besichtigung verhält, vergessen, daß
es sich viel mehr in einem von ihm und seinesgleichen
immer wieder re-produzierten Theater der Gegenwart
befindet, denn in einer Umgebung des Wahren und
Echten, Historischen und Natürlichen.
Museen waren immer Orte künstlicher Weltenund Realitätsproduktion. Und als solche sind sie
hervorragend geeignet für eine Begegnung und
Auseinandersetzung mit Welt, allerdings nur unter
dem Vorzeichen von Selbstreflexivität
BIBLIOGRAPHIE UND ABBILDUNGSNACHWEIS:
(alle Zitate und ein Teil der Abbildungen sind dem
hier vorgestellten Buch - Sturm, Eva: Konservierte
Welt. Museum und Musealisierung. Verlag Dietrich
Reimer, Berlin: 1991 -entnommen)
1. Vgl. Rumpf, Horst: Die Gebärde der Besichtigung. ln:
Land Kärnten-Kulturreferat (Hg.): Die Brücke. Kärntner
Kulturzeitschrift Sonderbeilage 14. Jg. Klagenfurt
4/1988.
2. Vgl. Ritter, Joachim: Subjektivität. Aufsatz Nr. 5. Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft (1963). Frankfurt a. M.: 1974.
3. Vgl. Lübbe, Hermann: Der Fortschritt und das Museum.
Über den Grund unseres Vergnügens an historischen
Gegenständen. London: 1982.
4. Vgl. ebenda.
5. Tabor, Jan: Die Stereometrie der Sinnlosigkeit. Wiener
Kriegsbauten 1938-1945. ln: Gerhard Fischer u. a. (Hg.):
IWK·Mitteilungen
6.
7.
8.
9.
10.
11.
deadalus. Die Erfindung der Gegenwart. Basel, Frankfurt
a. M.: 1990. S. 204 ff.
Vgl. Fliedl, Gottfried: Musealisierung und Kompensation.
ln: Wolfgang Zacharias (Hg.). Texte und Dokumente
zum Zeitphänomen Musealisierung. München: 1988.
S. 21 ff.
und vgl. Pazzini, Kari-Josef: Tod im Museum. Über eine
gewisse Nähe von Pädagogik, Museum und Tod. ln:
Hans-Hermann Groppe, Frank Jürgensen (Hg.): Gegenstände der Fremdheit. Harnburg: 1989. S. 124 ff.
Vgl. a. a. 0. Pazzini.
Siehe Abbildungs nachweis, Abb. 6.
Vgl. a. a. 0. Pazzini.
Vgl. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: 1978.
Vgl. ebenda.
Abb. 1: Senckenbergmuseum Frankfurt, Eingangsbereich.
Abb. 2: Ansichtskarte Raddampfer Gisela, A-481 0 Gmunden, OÖ.
Abb. 3: AP I Ein Mitarbeiter des Ost-Berliner Museums für
Deutsche Geschichte trägt das Hammer- und ZirkelEmblem, das bisher das Haus des Ministers zierte, in
die Aservatenkammer. I September 1990.
Abb. 4: FLAK-Turm (Fiiegerabwehrkanonenturm)ILeitturm,
Esterhazypark, 6. Bezirk, Wien; Das Haus des Meeres.
Abb. 5: (Angeblich) Kopf des Grafen D'Arcourt aus dem Depot des Naturhistorischen Museums Wien.
Abb. 6: coopiWochenmagazin der Coop-Gruppe AZ 4002
Basel. Nr. 52127. Dezember 1990.
Abb. 7: private Käfersammlung.
Abb. 8: Ansichtskarte Kuppelhalle des Naturhistorischen Museums Wien.
Abb. 9: Ansichtskarte Vorarlberger Naturschau.
Abb. 10 Postwurfsendung Salzburger Land Tourismus Ge+ 11 :
sellschaft
Abb. 12:Anzeige Reisebüro Kuoni Wien.
Abb. 13:01d Sturbridge, Massachusetts USA.
Abb. 14:Las Vegas, Nevada USA.
WOLFGANG PIRCHER
KOPF-MUSEEN*
Ich möchte ein paar Bemerkungen beisteuern zu jenem Thema des Buches, das mich als Nicht-Fachmann in Museumssachen naturgemäß am meisten interessiert: zur Schnittstelle Museum I Gesellschaft,
oder in den Termini der gegenwärtigen Diskussion: zur
Musealisierung bzw. Museifizierung. Dergleichen beruht auf der Behauptung, daß es eigenartige gesellschaftliche Kräfte gibt, welche auf Vermehrung der
Museen drängen. Nicht nur Vermehrung, auch Verbreitung dessen, was ,Erhaltungswürdig' sein soll. Die
Weit also der Tendenz nach ein Museum.
Probehalber möchte ich, auch nicht sehr ernst im
philosophisch strengen Sinn, eine Orientierung versuchen mit den Begriffen ,Museum an sich' und ,Museum für uns'. Ich möchte diese Begriffe als Extreme verstehen, wobei das ,Museum an sich' den
höchsten Grad an Verallgemeinerung hätte, so wie
das ,Museum für uns' im Extrem ein ,Museum für
mich' wäre, also den höchsten Grad an Individualität
repräsentieren würde. Beide sind natürlich real ausführbar, sind also Museen im Kopf. Reale Museen
können aber als Punkte oder Skalierungsräume auf
einer entsprechenden Verbindungslinie zwischen
diesen Extremen auftauchen. Jedes Museum kann
zum Kreuzungspunkt von Kräften werden, die von
diesen Extremen her bestimmt sind.
Ich möchte dies mit Beispielen aus der Literatur illustrieren. Bei Vladimir Nabokov 1 kreuzen sich diese
Tendenzen auf merkwürdige Weise: während in der
Erzählung ,Ein Museumsbesuch' dieser zu einer paranoiden traumhaften Flucht durch ein fast unendlich sich aufblähendes Museum wird, das nur den
Ausweg in den (sozialen) Tod kennt, erzählt Nabokov in seiner Autobiographie von diversen Museen
in Petersburg, die er als Treffpunkte mit seinen Geliebten genutzt hat. ln dem einen Sinn ist das Museum Versammlungsort geschichtlicher Kräfte, ja es
wird geradezu zum Ort des sozialen Krieges, im anderen Fall ist es Ort höchster Intimität.
ln der Erzählung ,Der Eisenfisch' von Kono Taeko2, läßt sich eine Frau in einem Museum einschließen, welches "rauhe, grausame Ausstellungsstücke"
enthält, "welche die Männer hinterlassen hatten".
Zwischen ihnen fanden sich auch gepreßte Blüten
und Blätter sowie Fotos von jungen Frauen, die sie
mit mühevoller Fingerarbeit hergestellt hatten und
die den seltsamen Tod, der durch Fernsteuerung
bewirkt wurde, gestorben sind. Was suchte nun die
über Nacht eingeschlossene Frau in diesem Kriegsmuseum? Vielleicht dieses: sie sucht das Rätsel des
anderen zu lösen. "lrgendwann, irgendwo hatte sich
ihr erster Mann von einigen Kameraden zum letztenmal verabschiedet, war in den Leib eines Eisenfisches gestiegen und unter den Blicken der Zurückbleibenden im Meer verschwunden. Sie hatte nichts
davon geahnt. Der Eisenfisch hatte sich gegen den
unter Wasser befindlichen Rumpf eines Riesenfisches geschleudert, dessen oberer Teil am fernen
Horizont wie eine eiserne Insel emporragte. Sein
Körper wurde zusammen mit dem Eisenfisch zerfetzt. Sein Fleisch, das, in viele Stücke zerrissen,
auf den Meeresboden sank, mochte wohl echte Fische angelockt haben." Sie war kaum zwei Jahre mit
ihm verheiratet gewesen und blieb mit dem Rätsel
21
IWK·Mitteilungen
zurück, warum er den Tod mehr als sie geliebt hatte.
Man sagte ihr, daß ihr Mann zum Gott geworden,
sei, und er in einem Tempel zusammen mit anderen
ähnlich so zu Göttern geworden verehrt werde - in
eben diesem Kriegsmuseum. Sie hatte lange gezögert diesen Ort zu besuchen. Denn zunächst war
dies ein Museum des allgemeinen Todes, was ihr
nicht gestattete, ihren Mann hier "persönlich zu
empfinden", kurzum seiner Verwandlung durch eine
Rückverwandlung zu begegnen. Der Ort der Erinnerung so zum sakralen Ort geworden, hebt diese ins
Allgemeine einer Nation, welche sich in die Geschichte der Gattung eingeschrieben hatte. Was als
Erinnerung möglich war, war eine Epiphanie, nicht
die individualisierte Erinnerung einer Begegnung, einer Begegnung auch mit dem Abgrund des anderen
Lebens. Nach einem Vierteljahrhundert endlich besucht sie diesen Ort und läßt sich hier einschließen.
ln diesem Tempel-Museum befindet sich ein Objekt,
welches sie zum Gefährt einer imaginierten Begegnung machen möchte. Sie ging "als erstes zum Eisenfisch und legte beide Hände auf seine Haut. ... "
dann legte sie ihren Körper an den Eisenfisch und
umarmte ihn. Aber es ist weniger die Imagination
der Szenerie, in der sich ihr erster Mann befunden
haben möge, als er seinem Ende entgegenfuhr, als
die Rekapitulation des Einschnitts, den er in ihrem
Leben verursacht hatte. Eine Begegnung kann explosiv oder Anfang einer ruhigen Dauer sein. Die
Kraft des Allgemeinen kann eine andere Richtung
einschlagen, wodurch die Individuen Raum gewinnen, nochmals ihr Leben zu orientieren. Es kann ein
buchstäbliches Vergessen davon geben, was das
Begehren dieser anderen war, die aus irgendeinem
Grund dem Tod-Feind entgegenfuhren. Auch die Erinnerung am Ort ihrer Vergöttlichung wird dieses
Vergessen nicht überwältigen können. So würde also im Museum an sich, das Museum der Erinnerungsmacht, ein Ort des individuellen Lebens eröffnet, welches auf dem Vergessen beruht.
Abgesunken auf den Meeresboden, dient das gehabte Leben des anderen als abgrundtiefer Grund.
Was uns in Erinnerung bringt, daß wir uns wo anders befinden. Somit wäre ein Museum denkbar, ein
Museum für uns, welches das andere Sein, unser
Andersein, in die Vorstellung bringt. Dort wo Vladimir Tamara trifft.
ANMERKUNGEN
1.
2.
Nabokov, Vladimir: Der Museumsbesuch. ln: Erzählungen 2 (1935-1951).
Taeko, Kono: Der Eisenfisch. ln: Donath Margarethe
(Hg.), Japan erzählt. Frankfurt 1990, S. 193 ff.
IWK-BIBLIOTHEK:
EVA STURM: Konservierte Weit. Museum und Musealisierung. Reimer Verlag/Berlin, 1991, 120 Seiten, öS 294,-.
Was ist der Reiz des ausgestopften Vogels, der alten Industrieanlage, der
Wachsfigur von Helmuth Kohl? Warum läßt man Vergangenes nicht verschwinden, sammelt, konserviert? Vom Ort Museum ausgehend, breitet sich
eine Umgangsform mit der Weit aus - eine "Musealisierung" -, in der man
sich zunehmend in der "Gebärde der Besichtigung" einrichtet. Die Gegenüberstellung der teilweise grundverschiedenen Beobachtungen und Kommentare zu diesem Phänomen ergibt ein reizvolles Bild dessen, was Museum war, ist und sein kann. Eva Sturm ortet und differenziert die
unterschiedlichen Positionen zur Einschätzung von Museen und Musealisierung und zeigt Ursachen, Chancen und Gefahren auf.
GOTTFRIED FLIEDL: Museumsraum. Museumszeit Zur Geschichte des
Österreichischen Museums und Ausstellungswesens, Picus Verlag/Wien,
1992, 220 Seiten, öS 294,Der vorliegende Sammelband bietet als ein erster Schritt zu einer umfassenden kulturgeschichtlichen Darstellung des Österreichischen Museumsund Ausstellungswesens sowohl eine Zusammenschau als auch fachspezifische Einblicke in die Kulturgeschichte(n) des "Museums als kollektives
Gedächtnis". Darüberhinaus versteht sich die Publikation als Beitrag zur Reflexion des Status quo der Österreichischen Museums- und Ausstellungslandschaft und beleuchtet Fragen des Mediums Museum im gesellschaftsund kulturpolitischen Kontext.
22
IWK-Mitteilungen
KARIN WILHELM
HALTET DIE MUSEN!
Funktionen des Ver-deckens und Ent-deckens in der Kunst von Frauen*
Den Frauen des "Veborgenen Museum e.V. Berlin" gewidmet
Die Revolution der Olympier gegen das Geschlecht
der Titanen war siegreich verlaufen. Aus dem wogenden, unkonturierten Dunst der gewaltigen Naturgottheiten konturierte Zeus seine Herrschaft "mit
dem Erscheinen seines männlichen Gesichtes."1
Nun erst wird aus der griechischen Mythologie "unsere Mythologie", wie sie Karl Kerenyi in seiner Mythologie der Griechen bezeichnet und es wird diese
Fassung der Mythenerzählung sein, "die man später
immer als die griechische kannte. "2 Sie war, so ist
zu ergänzen, eine ausgeformte patriarchale Mythologie.
Jede Herrschaft, gerade die neu behauptete, muß
um ihre Legitimität und Beständigkeit bemüht sein.
So wird auch Zeus die neu gewonnene Macht mit
dem Willen zur Dauer verknüpfen. Aber ganz anders
als der vor ihm roh waltende, um seine Vatergottheit
vergebens wütende Kronos, der die mütterlichen
Mächte erzürnte, als er dem ihm geweissagten Vatermord durch Einverleibung seiner Kinder, durch
Kinderfraß zu entrinnen trachtete, wird sich der zum
"Herrn" 3 gewordene Zeus, den alten Muttergottheiten verbinden - zum Bestand und Ruhme seiner
selbst und seines eigenen Geschlechtes der Olympier. Durch eine Serie von Hochzeiten, die Zeus mit
einem Teil der besiegten weiblichen Gottheiten vollzieht, gibt er der Olympierfamilie in seinen daraus
hervorragenden Töchtern jene Gaben, die sie sanft
stimmen mögen: die "Freude" in Gestalt der Euphrosyne, die "Zierde", die Aglaia verkörpert und auch
die "Fülle", die in der Person Thalias heranwächst.
Und während die Götter die zierende Fülle und die
füllige Freude als Lohn nach gewonnener Schlacht
zu genießen beginnen, schließt Zeus ein neues
Ehebündnis mit Mnemosyne, Tochter jener Urgottheiten Gaia und Uranos, die als Göttin des Gedächtnisses oder der Erinnerung, wissend Kenntnis hat
von jenen Dingen, die zwischen Himmel und Erde
einst geschahen und die das Welten-Werden der
Göttergeschlechter mit schweigendem Wissen begleitet hat. Aber, wie so häufig im zänkischen
Olymp, sind die Götter mit sprachloser Gewißheit allein nicht zufrieden, sie wollen deren Offenbarung.
Von Zeus bei seinem Hochzeitsfeste also gefragt,
was ihnen fehle, antworten sie: Die Rühmenden.
"Darauf zeugte Zeus die Musen."4 So vermerkt Kerenyi lapidar den Vollzug der Vereinigung von Herrschaft und Erinnerung. Seitdem ziehen zwischen
den olympischen und irdischen Gefilden die in neun
(* Dieser Artikel wurde für die feministische Kulturzeitschrift "Eva & Co" geschrieben.
Nächten gezeugten, nach neun Monaten geborenen
Neun umher: Kleio, die Rühmende, Enterpe, die Erfreuende, Thaleia, die Festliche, Lepomene, die Singende, Terpsichore, die den Tanz genießende, Erato, die Sehnsucht erweckende, Polymnia, die
Hymnenreiche, Urania, die Himmlische, schließlich
Kaliope, die mit der schönen Stimme. "Wen sie liebten", lesen wir bei Kerenyi, "aus dessen Mund floß
süß die Rede und süß der Gesang." 5 Und wie sie
selbst dem "Vater Zeus ... durch ihr Singen den hohen Sinn erfreuen", so Hesiod in seiner 700 v. Chr.
entstandenen Theogonie, so wird der, dem sie ihre
Gunst gewähren rühmend verkünden von dem "...
was ist, was sein wird und was vorher war." 6
Wem immer die Musen seither begegnet sein mögen, wen immer sie durch ihre Gunst zur historischen Dichtung, zur Poesie auch zu Gesang und
Tanz, schließlich zum Bildentwurf animiert haben
mögen, viele Frauen können offensichtlich nicht darunter gewesen sein. Diesen Eindruck jedenfalls
muß man gewinnen, blättert man in der Unmenge
von Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichten, die wir
vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der
Entfaltung der historischen Geschichtswissenschaft
kennen. Inzwischen sind wir allerdings eines besseren belehrt worden, wenngleich diese Lehre in der
ästhetischen Wertschätzung der Kunst von Frauen
kaum einen Niederschlag gefunden hat, sieht man
einmal davon ab, daß auf der documenta in Kassel
1988 von ungefähr 120 präsentierten bildenden
Künstlern achtzehn Künstlerinnen waren, eine Zahl,
die einem Prozentsatz von fünfzehn entspricht und
immerhin als Gewinn zu betrachten ist, vergleicht
man diese Zahl mit denen früherer Jahre. Seit geraumer Zeit also wissen wir, daß die Musen nicht
nur mit wehendem Chiton ihren Weg an den Frauen
vorbei genommen haben, um schnurstracks dem
Manne Inspiration und künstlerische Selbstwerdung
zu gewähren, ja durch einen legendären Kuß sogar
Genialität zu schenken. Wir wissen vielmehr, daß es
ähnliche Kontakte auch zwischen Musen und Frauen gegeben hat, wenngleich diese äußerst konspirativ gehandhabt worden zu sein scheinen. Denn warum war es fast immer mühsam, solche Beziehungen
aufzuspüren und dann nachzuweisen? Warum mußten die Namen von Künstlerinnen, ihre Werke und
Schriften mit detektivischem Spürsinn den Archiven
und Magazinen erst entlockt werden? Und ärger
noch: warum gab es so viel Widerstand bei den Versuchen, sie, die man nun endlich entdeckt hatte,
dem historischen Dunkel und der sozialräumlichen
Verborgenheit durch das Licht der Veröffentlichung
zu entreißen?
23
IWK-Mitteilungen
Sucht man auf diese Frage eine Antwort, so steht
man vor dem Problem, daß sich aus diesen zunächst erst einmal weitere ergeben. War der Umgang zwischen den Rühmenden und ihren Klientinnen wirklich so klandestin und selten, wie es uns
heute oftmals erscheint? Oder waren diese Treffen
durchaus alltäglich und die neun Rühmenden umschmeichelten auch feminine Genialität, nur eben
anders als es die Geschichte vom Musenkuß, der
die auserwählte männliche Phantasie bezeugt, berichtet? Wer aber hatte und hat ein Interesse daran,
solchen Fragen aus dem Weg zu gehen, eine Geschichte der Kunst und Kultur zu verfassen, in denen kreative und gebildete Frauen nur am Rande zu
finden sind? Schlußendlich, selbst das wäre immerhin denkbar, haben Frauen etwa keine berichtenswerte Geschichte als Produzentinnen im allgemeinen und Künstlerinnen im besonderen? Vor allem
aber, wer befindet darüber, was berichtenswert ist
und was nicht? Mir scheint eine mögliche Antwort
auf einige dieser Fragen bereits im Musenmythos
aufzuscheinen, der erklären mag, warum das Charakteristikum des Verborgenen dem, was wir vorerst
unhinterfragt Weiblich nennen wollen, als Signatur
zugehörig ist.
Von dem "was ist, was sein wird und was einmal
war", so hatte Hesiod berichtet, sollten die Musen
künden. Durch ihre Mutter Mnemosyne besaßen sie
das Band zum Gewesenen. Ihr Vater aber forderte
von ihnen das Sprechen über das Vergangene, damit das Gegenwärtige, sogar das Zukünftige, zur
Sprache käme. Wir wissen nicht, ob Mnemosyne mit
dieser neuen Regelung einverstanden gewesen ist.
Vielleicht dürfen wir davon ausgehen, daß sie es
war; immerhin hat sie die Rühmenden geboren, und
daß Zeus Mnemosyne gegen ihren Willen einfach
nahm, wollen wir, ob ihrer göttlichen Abkunft freundlich und feministisch bezweifeln. Aber haben Zeus
und mit ihm die Olympier mit der den unterworfenen
Geschlechtern Zugehörigen je darüber diskutiert,
was fortan zur Sprache kommen möge? Wer und
was zu rühmen sei?
Verfolgt man Hesiods Theogonie, so wird man
feststellen, daß er, durch dessen Mund die Götter
ihre Ruhmanstaten rühmen ließen, aus der Sicht
des herrschenden Geschlechts fabulierte und mit
den Augen jenes männlichen Gesichtes Zeus auf
das Gewesene zurückgeschaut hat. Bereits in den
ersten Zeilen dieses ältesten bekannten Lehrgedichtes der Antike offenbart sich, zu wessen Ruhme die
Musen vorgeblich geschaffen wurden, für wen und
wo ihr Ruhmesdienst erfüllt wird: "Mit den Helikonischen Musen laßt uns beginnen zu singen, die den
großen und gotterfüllten Helikonberg bewohnt und
um die dunkelfarbige Quelle mit leichtem Fuß tanzen und um den Altar des allgewaltigen Kronossohns."7 Etwas später erfahren wir, daß die Musen
stets zu Beginn und am Ende ihres Gesanges
"Zeus, den Vater der Götter und Menschen" rühmen, um zu erzählen, wie Hesiods schreibt: "... wie
sehr er der mächtigste der Götter ist und an Stärke
der Größte."B Die Vermählung von Herrschaft und
24
Erinnerung offenbart in diesem Musengesang des
Hesiod die patriarchale Enteignung Mnemosynes.
Sie, die schweigend Wissende, die in ihren Töchtern
zu sprechen anhub, wird ihrer Erzählung beraubt.
Der geöffnete Mund scheint tonlos und ohne Bewegung, die Göttin des Gedächtnisses kommt nicht zur
Sprache, denn sie wird lautstark übertölpelt von ihr
entfremdeten Kindern, die vom Vater schwärmen,
von seinem Werden und Wirken in der Geschichte,
in einer, die die Erinnerung fortan nur nutzt, um sich
darin als Herrschaft zu setzen. Die Göttin als Spiegel des Gottes, ein Mißverhältnis und Betrug, den
es zu überdecken galt, durch permanente Rede,
durch Offenbarung, die dem Gott allein nun vorbehalten ist. Zum Thema des Steirischen Herbstes
"Entdecken/Verdecken" hat Vilem Flusser deutlich
vermerkt: "Der Ewige hat auf dem Berge Sinai die
IHN verhüllenden Schleier gelüftet und ER hat diese
Seine Offenbarung in zwei Steintafeln eingegraben."9 Von der Sprache zur Schrift, von der sinnlichen Erscheinung zum abstrakten Begriff, diese Bewegung der beredten Enteignungsgeschichte wird
noch die Hegeische Geschichtsphilosophie durchziehen, die in der Selbstentfaltung des Begriffes das
Sprach- und damit Begriffslose überdeckt und letztlich ausschließt, es ver-deckt, um sich in neuer Rede selber zu ent-decken (in des Wortes doppelter
Bedeutung). Mit dem Ausschluß der Natur aus der
Entwicklung von Geschichte, die in Hegel kulminierte, mit der im 18. Jahrhundert neu definierten Zusammenbindung von Natur (die unterworfen ist) und
Weiblichkeit wird das Andere, Natur und Weiblichkeit, nun in tausendfacher Rede konstruiert. Historischer Ruhm kommt seit jenem fatalen Betrug an der
Göttin des Gedächtnisses in archaischer Zeit vornehmlich der männlichen Gottheit zu. Bei IHM ist
seither die Tat, bei IHM finden sich angeblich die zur
Sprache bringenden Musen, die doch nur gekidnappt wurden, damit die Erinnerungen Mnemosynes
nicht rühmend angesprochen, aufgeschrieben, gezeichnet und geformt würden.
"Erinnerungen sind geschmeidig, und wir müssen
zu begreifen suchen, wie und von wem sie geformt
werden", schreibt Peter Burke in seinem knappen,
aber ungeheuer erhellenden Aufsatz: "Geschichte
als soziales Gedächtnis" 10 Und etwas später:
"Schon oft hieß es, die Sieger hätten die Geschichte
geschrieben. Und doch könnte man auch sagen: die
Sieger haben die Geschichte vergessen. Sie können sich's leisten, während es den Verlierern unmöglich ist, das Geschehene hinzunehmen; diese
sind dazu verdammt, über das Geschehene nachzugrübeln, es wiederzubeleben und Alternativen zu reflektieren. "11
Bis heute bemüht sich die ästhetische und kunsthistorische Debatte jene List aus grauer Vorzeit zu
verwischen, deren Spuren zu tilgen, damit der betrügerische Akt nicht enttarnt werde. Es ist, wenn man
so will, dieser patriarchale Sündenfall, dessen Entdeckung gefürchtet wird und der die Erzählung einer
anderen Geschichte als Geschichte des Anderen im
Verborgenen belassen möchte. Um aber dem Ver-
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gessen zu entreißen, was wiederbelebt werden
muß, bedarf es vor allem der Entwirrung jener Weiblichkeitskonstruktionen, die begriffsgeschichtlich mit
der Entwicklung unserer westeuropäischen bürgerlichen Gesellschaften entwickelt worden sind. Nur so
auch lassen sich die kruden Schlußfolgerungen Otto
Weiningers in "Geschlecht und Charakter" begreifen, der die mangelnde Begabung, das fehlende
künstlerische Talent, die Unerreichbarkeit des Genialen bei Frauen mit ihrem mangelnden sozialhistorischen Gedächtnis gar nicht unsensibel in Zusammenhang gebracht hat, als er schrieb: "ln der
Heldenverehrung des Mannes kommt abermals zum
Ausdruck, daß Genialität an die Männlichkeit geknüpft ist, daß sie eine ideale, potenzierte Männlichkeit vorstellt; denn das Weib hat kein originelles,
sondern ein ihr vom Manne verliehenes Bewußtsein,
sie lebt unbewußt, der Mann bewußt: am bewußtasten aber der Genius." 12 An diesem Bild der unbegabten, denn gedächtnislosen Frau arbeiten sich
schriftstellernde, malende, auch Wissenschaft treibende Frauen bis heute ab, um 1900 waren solche
Anschauungen, man möchte sagen, Allgemeingut.
Die Perfidie aber bestand ja gerade darin, den Frauen Geschichte zu nehmen, indem man die Rede darüber frühzeitig enteignete.
Das Bild von Weiblichkeit, mit dem noch Weiniger
arbeitete aber ist vorzugsweise mit dem Namen Jean
Jacques Rousseaus verbunden, mit seiner Konzeption eines naturimmanenten Geschlechtscharakters.
Im Emile, jenem Erziehungsroman, den Rousseau
1762 erscheinen ließ, wird das Bild einer tugendhaften Frau für den neuen Mann, eben den jungen, heiratsfähig gewordenen Emile entworfen. Sophie, so
der Name des weiblichen Geschöpfes, erfährt durch
ihren Mentor Jean Jacques vom Erziehungsideal der
Frauen, das als Abhängigkeit von Emiles Bedürfnissen bereits durch die Einführung ihrer Person im letzten Drittel des Romans, unmißverständlich formuliert, sichtbar wird. Wir lesen dort: "Indem wir so die
Zeit verbringen, suchen wir immer nur Sophie und
finden sie nicht." 13 Und etwas weiter: "Es ist nicht gut,
wenn der Mensch allein ist. Emile ist ein Mann, wir
haben ihm eine Gefährtin versprochen. Jetzt müssen
wir sie ihm geben. Wo ist sie?" 14 Da sie offenbar unter den verfügbaren Frauen nicht zu finden ist, wird
sie dem Idealmann Emile idealiter geformt. Es soll
nicht verschwiegen werden, daß Rousseau die Vorstellung einer natürlichen Gleichberechtigung mitgedacht hat, aber stets unter besonderer Berücksichtigung der naturbedingten Unterschiede, die sich dann
so lesen: "ln der Vereinigung der Geschlechter tragen beide gleichmäßig zum gemeinsamen Zweck
bei, aber nicht auf die gleiche Weise. Daraus ergibt
sich der erste bestimmbare Unterschied in ihren gegenseitigen moralischen Beziehungen. Der einemuß
aktiv und stark sein, der andere passiv und schwach:
notwendigerweise muß der eine wollen und können;
es genügt, wenn der andere wenig Widerstand leistet. Steht dieser Grundsatz fest, so folgt daraus, daß
die Frau eigens geschaffen ist, um dem Mann zu gefallen ... Wenn die Frau dazu geschaffen ist, zu ge-
fallen, dann muß sie sich dem Mann liebenswert zeigen, statt ihn herauszufordern. Ihre Macht liegt in ihren Reizen ... ".1 5 Von dieser Konstruktion einer naturgemäßen Weiblichkeit bis zu den sozialen Konsequenzen, die sich für die Frau als "neuer Helloise"16
daraus ergeben, ist der Weg klar. Mit Anspielung auf
die Mädchenerziehung bei den Griechen lesen wir
folglich bei Rousseau: "Sobald die Mädchen verheiratet waren, sah man sie nicht mehr in der Öffentlichkeit. Auf ihr Haus beschränkt kümmerten sie sich nurmehr um ihre Wirtschaft und ihre Familie. Das ist die
Lebensweise, die die Natur und Vernunft ihrem Geschlecht vorschreibt." 17 Nachdem die neue Frau dem
öffentlichen, repräsentativen Leben im bürgerlichen
Heim nun erfolgreich entzogen worden ist, was, das
sei nur am Rande bemerkt, ihrer weiteren Entmachtung gleichkam, denn die höfische Schwester war
dem sozialen Feld der öffentlichen Repräsentation
durchaus integriert gewesen, sobald also der Rückzug aus der öffentlich sichtbaren Gesellschaft in den
privaten Raum des Verborgenen proklamiert wird,
werden auch die Fähigkeiten der Frauen als jene typisch bürgerlichen Frauentugenden bestimmt, die ihnen Kreativität und Phantasie, das Recht auf Kunstausübung nehmen. Es wird mithin das Geschöpf entwickelt, dem Weininger die Kraft zur Kunst später mit
dem Hinweis auf ihren Geschlechtscharakter, das
Ewigweibliche eben, absprechen kann. Denn wir lesen zur Erziehung Sophies: "Ist der Anfang gemacht,
so kommt man leichter weiter: Nähen, Sticken, Klöppeln kommen von allein ... Diese Fortschritte lassen
sich leicht bis auf das Zeichnen ausdehnen, denn
diese Kunst ist jener verwandt, sich geschmackvoll
zu kleiden. Aber ich möchte nicht, daß man sie zum
Landschafts- oder Porträtzeichnen verwendet. Blätter, Blumen, Früchte, Faltenwürfe, alles was zu einer
eleganten Kleidung dienen und womit man sich
selbst ein Stickmuster entwerfen kann, wenn man
keines findet, das einem gefällt."1s
Rousseaus Idealtypik der bürgerlichen Frau war
ein weiterer Meilenstein von ungeheurer Wirkung in
der Geschichte des Vergessens einer tatkräftigen
originären weiblichen Kultur. Daß sie trotzdem nicht
aus dem Gedächtnis verschwände, dafür sorgten erstaunlicherweise die Musen, die sich, ihrerseits listig
- und wir wollen die Geschichte der Rühmenden
nun auf unsere Art vervollständigen - dem Zugriff
des Vaters durch äußerliche Wohlanständigkeit immer wieder zu entziehen wußten. Mit ihrem üppigen
Gesang, mit dem sie ihn und seine schmeichelnden
künstlerisch tätigen Verehrer verwöhnten, verdeckten sie und lenkten ab von den anderen Gewohnheiten, die sie pflegten. Denn immer, wenn der tätige
Vater zu Heldentaten aufbrach und neuerlich Helden zeugend nicht im Hause war, schlichen sie zur
Mutter, die ihnen dann in aller Heimlichkeit und zuweilen im verborgensten Winkel des Olymp von der
anderen Erinnerung und von der vergessenen Geschichte flüsterte. Mit diesem konspirativen Wissen
begaben sie sich viel häufiger als wir heute wissen
zu ihren begabten Menschenschwestern.
Durch die Malerin Angelika Kaufmann, die 1741
25
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IWK-Mitteilungen
im schweizerischen Chur geboren wurde und 1807
in Rom verstarb, von der wir etwa 650 Gemälde,
mehrere al fresco Malereien sowie über 600 Kupferstiche und Radierungen kennen. Durch diese so außerordentlich produktive und in ihrer Zeit geschätzte
Malerin ist uns überliefert, daß die Musenkontakte
durchaus nicht nur im Untergrund gepflegt wurden.
Mehrfach hat sie das Thema der Museninspiration
gemalt, hier eine Fassung von 1782 "Die Künstlerin
als Verkörperung der Zeichenkunst lauscht den Eingebungen der Poesie". Angelika Kaufmann hat sich
auf diesem Gemälde, wie so häufig, selbst als Muse
der Malerei dargestellt, ihre Freundin, die englische
Schriftstellerin Maria Cosway gibt das Vorbild für die
Allegorie der Poesie, die, wie einst in der Antike, als
rühmender Gesang gedeutet ist. Kaufmanns Darstellung ist in vielfacher Hinsicht aufschlußreich,
denn sie versucht eine eigenständige, höchst gegenwärtige Interpretation jener Eingebung, die der
Begabung den Hauch von Außergewöhnlichkeit verleiht. Jan Vermeer hatte in seinem um 1665 entstandenen Gemälde "Der Maler in seinem Atelier oder
Die Allegorie der Malerei", (das sich in Wien befindet) die Quelle seiner Inspiration in der Darstellung
eines jungen Mädchens als Klio, der Muse der Geschichte und des Ruhms, ganz direkt und ohne metaphorisches Beiwerk benannt. Unverkennbar waren
die Musen vom fernen Helikon in das häusliche Milieu eines niederländischen Malers herabgestiegen,
sie hatten sich für ihn materialisiert. Immer wieder
ist auf die große Meisterschaft Vermeers hingewiesen worden, fiktionale Elemente mit realistischen zu
verknüpfen, und so finden wir in seiner Muse eine
jener Frauen, die, wie Marina Warner geschrieben
hat, "... Vermeer in seinem Werk beständig in für
sie alltäglichen Situationen beobachtete, versunken
in irgendeine Beschäftigung - einen Brief lesend,
ein Instrument spielend,- auch, wenn der Mann anwesend ist- so wie hier der Maler."19 Vermeer hat
seiner Muse durch Distanz den Eigenwert einer bei
sich seienden, lebendigen Frau belassen. Angelika
Kaufmann pointiert diesen Respekt vor der Wirklichkeit, indem sie den Wert ihrer Arbeit aus sich selbst,
aus ihrer eigenen Inspiration betont, die im Dialog
mit der befreundeten Schriftstellerin aktiviert wird.
Sie zeigt ihre Musen in der Pose einer selbstbewu ßten wirklichen Frauenfreundschaft, die im Kostüm
der Zeit im Sehnsuchtsland der Sinne, in Italien, und
in einem architektonischen Ambiente residieren, das
mit seiner kolossalen Säulenordnung, der bedeutendsten Würdeform, die die Architektur kennt, die
Großartigkeit des Geschehens unmißverständlich
unterstreicht. War es bei Vermeer die Distanz zur inspirierenden Frau und die Achtung vor ihr, die eine
funktionalisierende Verdinglichung und dem Musenthema jede Form eines ausbeutenden Voyeurismus
ersparte -ein Blick, der sich mit dem musenverliebten 19. Jahrhundert entwickeln wird - so ist es bei
Angelika Kaufmann die Nähe einer Freundschaft.
Das Geben und Nehmen ist in ihrem Bild kein heterosexuell definierter Musenkuß, der erotisierend
flüchtig inspiriert, es ist vielmehr eine umarmende
26
Nähe, die aus der Kontinuität der Freundschaft entsteht und diese neuerlich behauptet. Die Muse ist
weiblich, die Muse ist wirklich, sie triumphiert im
Atelier des Malers wie im schönen Italien, sie kommt
zu jenen in anmutiger Grazie, die sie als weiblich respektieren. Dann erzählt sie- und ich schaue durch
Vermeer und Kaufmann in ein goldenes Zeitalter die vergessene, verborgene Geschichte der nicht
enteigneten Weiblichkeit.
Der große historische Einwand gegen diesen
freundschaftlichen Umgang der Musen mit ihren
Dienerinnen erfolgte im Zuge der Durchsetzung bürgerlicher Weiblichkeitsanschauungen und parallel
zur Eliminierung der Frauen aus dem öffentlichen
Raum im Gefolge der französischen Revolution. Mit
dem Versuch, sich dieser radikalen politischen, juristischen, sozialen und kulturellen Persönlichkeitsenteignung zu widersetzen, entwickelte sich jene
Bewegung, die wir Frauenbewegung nennen. Von
Anfang an hat man sie heftig politisch bekämpft, eine Situation, die auch heute nicht viel anders ist.
Vor allem aber überzog man mit beißendem Hohn
und Spott all jene Frauen, die ihre Musenkontakte,
wenn schon nicht in aller Öffentlichkeit, so doch wenigstens im Hause pflegen wollten. Die Auswüchse
solchen Begehrens hat Honore Daumier mit seiner
spitzen Feder und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Talent in der Lithoserie "Les Bas-Bieus", Die
Blaustrümpfe 1844, festgehalten. Das Blatt 7 dieser
Serie zeigt die schreibende Mutter, deren Kind derweil ersäuft; das erste - die Programmatik dieser
Serie insgesamt -: Der Anspruch von Frauen auf
künstlerische Außergewöhnlichkeit ist lächerlich
und: Frauen, die dem Schönheitsideal nicht entsprechen sind unweiblich, deshalb greifen sie- kompensatorisch gewissermaßen - zur Feder, zum Pinsel
und zum Meißel.
Daumiers Komik ist durchaus bestehend, aber eine mitleidlose Denunziation künstlerisch tätiger
Frauen. Ein Tatbestand, der mich immer traurig gemacht hat, denn seine kritischen Blätter über die
miefig-biedere französische Bourgeoisie zur Zeit
des Bürgerkönigs Loius-Philippe waren für mich immer eine Augenweide. Die Bas-Bieus aber düpieren
den Blick. Sie sind gönnerhaft in ihrer künstlerischen Meisterschaft, weil die patriarchale Bemächtigung der Künste in Schrift und Bild gerechtfertigt
wird.
Daumiers Darstellung der um künstlerische Eigenständigkeit ringenden Frau, die darin ihrer Natur
zuwider handelt, hat sich im 19. Jahrhundert zum
allgemeingültigen Bild der zur großen Kunst unbefähigten Frau verhärtet. Ein folgerichtiger Triumph
Rousseaus. Nun beginnt die Zeit der unumschränkenden Herrschaft jener Herren, die nicht nur die
Zusammenkunft der Musen und ihrer weiblichen
Klienten zu verhindern trachten- Frauen durften bekanntermaßen keine staatlichen Kunstakademien
besuchen - sondern durch schwallartige Redereien
und eine Unmenge von schriftlichen Ergüssen, Geschichten der Künste entwerfen, wie sie durch ihre
beschlagene Brille gesehen angeblich wirklich war,
IWK·Mitteilungen
um so, und wie wir wissen sehr erfolgreich, die ehemaligen Musenkontakte der Frauen schlicht zu unterschlagen. Da man beizeiten dafür gesorgt hatte,
daß Frauen einen anderen Blick auf diese Geschichte hätten werfen können, Studien aller Art waren ihnen nicht gestattet, hatten sie leichtes Spiel.
Das Tuch des Vergessens wurde breiter über den
weiblichen Kosmos der Erinnerung gelegt. Damals
wurde den Frauen die Erzählung über das, was
wirklich geschah, was geschieht und was geschehen wird perfektioniert entzogen.
Der deutsche Soziologe Georg Simmel bemerkte
in seinem zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Essay über die "Weibliche Kultur": "Man hat
nicht nur sehr früh, aus einem metaphysischen Entwicklungsbegriff heraus, die Frau als die ,Möglichkeit' bezeichnet, zu der erst der Mann die ,Wirklichkeit' sei; sondern, in der psychologischen Linie der
Frau selbst, scheint ihr Wesen soviel unverwirklichte
Möglichkeiten, uneingelöste Versprechungen, gebundene Spannkräfte zu enthalten, daß mit deren
Entwicklung zur Aktivität erst dieses Wesen zu seiner Bestimmung käme ... ". 20 Simmel war kein Frauenfeind, er meinte aus der Entfaltung weiblicher
Möglichkeiten eine weibliche Kultur, der männlichen
durchaus überlegen, entwerfen zu können. Daß das
Wesen des Weiblichen, wie er es als gegeben voraussetzte, aber unverkennbar die Züge jener frühbürgerlichen Weiblichkeitskonstruktion trug, mithin
ein Homunculus war, blieb ihm verschlossen. Immerhin hat er mit der Fassung der Frau als Möglichkeit und des Mannes als Wirklichkeit die tatsächliche Verfügung über die soziale und individuelle
Existenz beider präzise bezeichnet. ln Sirnone de
Beauvoirs 1949 erschienenem Buch "Das andere
Geschlecht" wird sich dieser Sachverhalt so lesen:
"(Die Frau) ist das Unwesentliche angesichts des
Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere."21 Die mexikanische Malerin
Frida Kahlo hat in ihrem 1943 entstandenen Bild
"Diego in meinen Gedanken" ihren Selbstentwurf
wie ein gedankliches Vexierbild zu dieser und Sirnmeis Aussage angelegt: Sich selbst als Braut, die in
ihrem geistigen Zentrum das Bild des geliebten
Mannes trägt, des Malers Diego Rivera. Von hier
aus ziehen sich feine Tentakeln in die wirkliche
Weit. Zugleich aber ist das eigene realistische Porträt, der umhüllte Körper und die Dominanz des eigenen Gesichtes eine unbedingte Realitätsbehauptung IHRES Gesichtsfeldes, dem der Gedanke an
Diegoals Möglichkeit integriert ist.
Dieses emanzipatorische Spiel zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit ist in der Kunst von Frauen,
die sich ernst um das wirklich werden und das wirkliche Werden der eigenen Möglichkeiten bemühen
seltener geworden. ln den Tagen impressionistischer und expressionistischer Farbentaumel hat es
eine Reihe von wunderbaren Malerinnen gegeben,
deren Lust am Farb- und Formexperiment zu freudigen Manifestationen des eigenen Aufbruchs in der
Weit der Wirklichkeit gelten können. Sie nutzten die
neuen Möglichkeiten, die sich in der Atmosphäre
des epater le bourgeois der Avantgarden nach 1900
artikulieren durften. Daß ihre künstlerischen Leistungen, deren Grundlagen zumeist auf Privatinstituten
oder autodidaktisch erworben worden waren, bis
heute nur unzureichend gewürdigt wurden, bleibt
der Anlaß dafür, daß Künstlerinnen heute die Realisation des Möglichen von der Seite des historischen
Vergessens, von der der Weiblichkeitsbeschädigungen an Geist und Körper aus betrachten. 1919 aber
regt sich in Europa vielfach Widerspruchsgeist gegen Gesellschaften, die Macht und männliche Privilegien in Massenvernichtungsschlachten zu organisieren begonnen hatten, darunter waren selbstverständlich auch die Frauen. ln diesem Jahr malte
eine junge, aus Bielefeld stammende in Dresden
und Berlin, selbstverständlich privat ausgebildete
Malerin ein Stilleben. Darin zeigt sich begeistert von
der Macht der Farbe, die die Form ausfüllt und definiert, sie kennt die Expressionisten Dresdens,
die Künstler, deren Bilder wir heute in allen renommierten Museen finden: Schmitt-Rottluff, Nolde,
Kirchner, und sie weiß vom Kreis des "Blauen Reiter". Sie ist jung und fühlt sich frei, sie setzt wie viele
auf die Zeitenwende, in der das Bild der emanzipierten Frau aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit entlassen werden soll. ln diesem ersten Jahr der deutschen REPUBLIK zeichnet Eise Lohmann ihre
Fassung einer solchen Frau und setzt sie in einem
großformatigen Ölbild, das im selben Jahr entsteht,
in die Weit der selbstgewissen Frauenporträts. Alle
Werke, das Stilleben mit einer Gegenstandstruktur,
die aus einer lichten, kontrastgenauen Farbbehandlung entwickelt ist, "Die Dame mit dem Hut" und ihre
gezeichnete Schwester, zeigen die Brillanz der Ausführung und die Aktualität eines Themas, wie es
nicht anders bei Schmitt-Rottluff oder Kirchner zu
finden ist. Ein Unterschied allerdings ist zu bemerken, Eise Lohmanns Bilder sind nicht so lautstark in
der Farbe und im Ausdruck intimer als wir es von
den genannten Malerkollegen kennen. Ein Zug von
fremdbestimmter Weiblichkeit? Ein Rückschluß, der
als unzulässig zu verwerfen ist.
Als eine ausgewählte Werkschau der Bilder Eise
Lohmanns im Oktober 1991 im Verborgenen Museum in Berlin gezeigt wurde, hörte ich manchen
Kenner der Szene anerkennend feststellen, daß
Lohmann den Vergleich zur Malerei ihrer Kollegen
ganz und gar nicht zu scheuen brauche. Das Ergebnis dieser Ausstellung aber sah völlig anders aus:
eine eher desinteressierte Presse, daher wenig Besucher, kein Ankauf eines entsprechenden Berliner
Museums -dabei ist zu erwähnen, daß Kunstwerke
aus dem Umkreis der Expressionisten sehr gefragt
sind und hoch gehandelt werden - eine unglaublich
qualitätsvolle Malerin also, die nicht interessiert.
Das ist kein Zufall, dahinter wird Strategie, die
des Vergessen-Machens offensichtlich. Ein Phänomen, das am Beispiel an einer anderen Künstlerin
gezeigt werden soll. Eise Meidner, Ehefrau des
hochgeschätzten Expressionisten Ludwig Meidner,
einst seine Schülerin und eine außerordentlich begabte, wie die nur spärlich bekannt gewordenen Ar-
27
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beiten von ihr zeigen. Als Frau, Malerin, Jüdin stirbt
sie Ende der 70er Jahre vollkommen vergessen,
denn in den Augen der kunstrezensierenden Öffentlichkeit ist sie nie mehr gewesen als die begabte
Gattin ihres berühmten Mannes. Ludwig Meidner
und seine Frau Eise Meidner repräsentieren damit
eines jener Künstlerpaare, die Renate Berger in ihrem Buch "Malerinnen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert"22 bereits mit der bekannten Rollenverteilung in einer Künstlerehe beschrieben hat. Als Josef
Hodin Eise Meidner kurz vor ihrem Tode in London
besuchte, betrat er ein unscheinbares Haus. Hodin
hat es später beschrieben: "ln Leeside Crescent, einer stillen Gasse im Nordwesten Londons lebt seit
Jahren die deutsche Malerin Eise Meidner in einer
Wohnung des ersten Stockwerkes ... Das Wohnzimmer geradeaus, nicht allzu groß, spärlich möbliert, rechts eine enge Küche, dazwischen der
Raum, der als Schlafraum benutzt wird." Und dann:
"Bilder unter Tüchern haufenweise aufgeschichtet,
Mappen und Stöße von Zeichnungen." 23 Und an anderer Stelle: "Sie will uns begreifen lehren, daß ihr
Leben nicht sinnlos war und vergeudet. Spricht
denn ihr Werk nicht für sie, wenn es auch jetzt mit
Tüchern bedeckt, in ihren kärglichen Räumen steht,
dicht aneinander gestapelt, um es vor dem Staub
des feindlichen Alltags zu schützen; ihr Lebensatem, hundertevon Ölgemälden, Aquarellen, Zeichnungen, die sie, wie der Pelikan seine Jungen mit
ihrem eigenen Blut genährt hat."24
ln Eise Meidners autobiografischen Erinnerungen
begegnen uns die Verletzungen einer Künstlerin, die
gewohnt war mit den Tüchern des Vergessens ganz
unmittelbar, also nicht nur metaphorisch, im eigenen
Lebensraum zu hantieren. ln der Federzeichnung
"Eise Meidner Selbstbildnis, Karikatur" betitelt, stellte die Künstlerin 1962 zwar trotzig die Frage: "Warum soll eine Malerin denn bescheiden sein, können
Sie mir bitte sagen warum?" Dennoch ist ihr Künstlerinnenleben im bescheidenen Hintergrund verlaufen, zu dem sich, wie sie 1929 in einer Zeichnung
festgehalten hat, mit den froh singenden Musen immer häufiger Dämonen und böse Geister Zutritt verschafften.
Die wunderbare Berliner Malerin Gisela Breitling
hat einige Jahrzehnte nach Eise Meidners Bildern
eine offensive Haltung solchen Verzweitlungen gegenüber mit großer Kraft ins Bild gesetzt, wenn das
auch auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag.
Gisela Breitling, das muß zum Verständnis angemerkt werden, gehört zu jenen Künstlerinnen, die
mit einer unglaublichen Intensität nach den Frauen
in der Geschichte der bildenden Künste gefahndet
hat. Wir verdanken ihr nicht nur eine Fülle erstaunlicher Funde künstlerisch tätiger Frauen, vielmehr die
außerordentlich beredte Kunde über Ruhmes- und
Verzweiflungstaten, die mit den Namen jener Frauen verknüpft sind. Breitlings Offenbarungen in dieser Sache, das muß mit Bedauern festgestellt werden, sind erst durch die eigenen schmerzlichen
Erfahrungen im Kunstbetrieb möglich geworden.2s
Sie hat darüber ebenso eindringlich geschrieben,
28
wie gemalt. Es würde sich lohnen, ausschließlich in
ihren Werken zu wandern und mit immerwährendem
Erstaunen den Bilderfindungen, die dem Vergessen
entrissen sind, zu folgen. Es soll hier jedoch allein
auf eine Thematik hingewiesen werden, die in vielen
ihrer Arbeiten als Metaphorik der Suche zu finden
ist. "Die Wäsche", so heißt der Titel eines Bildes,
der, würde man ihn nur wörtlich nehmen, die Bildgattung des Stillebens auf altmeisterliche Weise
fortzuführen scheint. Das Wäschestück, weiß und
Draperie in früheren Malerateliers allzeit verfügbar
und genutzt, wird in ihren Bildern, nahezu beiläufig
zum Text, zu Poesie, zur Prosa, es wird narrativ. Mit
geradezu selbstverständlicher Anwesenheit finden
wir das Tuch im 1974 entstandenen Bild "Der Beginn der Zeit im Atelier", in aller dichterischen Kürze
in "Die Wäsche" ebenso in "Das rote Tuch", als Episode dann 1973 im "Palast der Daphne in
heroischer Landschaft", und als Hinweis auf den
entdeckenden Blick, der wie beiläufig der Entdekkung Daphnes abgelauscht ist. Schließlich die große Erzählung über das Vergessen und Entdecken in
der Federzeichnung "Fata Morgana über die alte
Weit". Es ist nur folgerichtig, daß dieser Diskurs mit
dem Verborgenen zum "Denkmal der vergessenen
Titanin" führt, zur Mutter Mnemosyne, so möchte
man meinen, die ihre Töchter auch nach Berlin gesandt hat, um über den uralten Verrat und seine Geschichte berichten zu lassen, durch eine ihrer Auserwählten.
Gisela Breitling hat sich der notwendigen feministischen Rede unterzogen. Sie berichtet über Leid,
aber doch mit jener unendlichen Kraft, die der Kunst
Wahrhaftigkeit und den Frauen Wirklichkeit zumutet.
Gisela Breitling hat die Musen festgehalten und sie
zur Rede verführt. Für mich ist diese, ihre Erzählung, eine Ent-deckung, eine Offenbarung dessen:
WAS WAR; WAS IST UND WAS SEIN KÖNNTE.
ANMERKUNGEN
1. Kar! Kerenyi, Die Mythologie der Griechen. Die Götter
und Menschheitsgeschichten, Bd. 1, München 1966, S.
74.
2. op. cit. Anm.: 1.
3. Bedeutsam ist, daß Hesiod Zeus nicht mehr als König,
sondern als Herr bezeichnet. Kerenyi schreibt dazu: " ...
- Hesiod nennt ihn (Zeus, K. W.) nicht b a s i I e u s ,
König, sondern a n a x , Herr, wie unsere Götter seit der
neuen Herrschaft angeredet werden- ... ", op. cit. Anm.:
1, s. 25.
4. op. cit. Anm.: 1, S. 83.
5. op. cit. Anm.: 1, S. 84.
6. Hesiod, Theogonie. Texte zur Philosophie Bd. 1, Sankt
Augustin 1983, S. 45.
7. op. cit. Anm.: 6, S. 41.
8. op. cit. Anm.: 6. S. 47.
9. Vifern Flusser, Entdecken/Verdecken, in: Entdecken Verdecken. Eine Nomadologie der Neunziger, Graz
1991,8.7.
10. Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in:
Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 291 f.
IWK·Mitteilungen
11. op. cit. Anm.: 10, S. 297.
12. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, München 1980, S. 144.
13. Jean Jaques Rousseau, Emil oder über die Erziehung,
Paderborn - München - Wien - Zürich - Schöningh
1991, S. 184. Zu diesem Themenkomplex siehe auch:
Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und
literarischen , Präsentationsformen des Weiblichen,
Frankfurt a. M. 1979.
14. op. cit. Anm.: 13, S. 385.
15. op. cit. Anm.: 13, S. 386.
16. Jean Jaques Rousseau entwickelt diesen neuen Frauentyp auch in: Julie oder die neue Heloise. Briefe zweier
Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen.
Berlin 1922.
17. op. cit. Anm.: 13, S. 396.
18. op. cit. Anm.: 13, S. 398.
19. Marina Warner, ln weiblicher Gestalt. Die Verkörperung
20.
21.
22.
23.
24.
25.
des Wahren, Guten und Schönen, Reinbek b. H. 1989,
s. 322.
Georg Simmel, Zur Philosophie der Kultur. Weibliche
Kultur, in: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer,
die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin
1983, S. 213.
Sirnone de Bauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und
Sexus der Frau, Reinbek b. H. 1989, S. 11.
Renate Berger, Malerinnen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Kunstgeschichte als Sozialgeschichte, Köln
1982.
Josef Paul Hodin, Aus den Erinnerungen von Eise Meidner, Darmstadt 1979, S. 12.
op. cit. Anm.: 23, S. 15.
Gisela Breitling, Die Spuren des Schiffs in den Wellen.
Eine autobiographische Suche nach den Frauen in der
Kunstgeschichte, Frankfurt a. M. 1986; dieselbe, Der verborgene Eros. Weiblichkeit und Männlichkeit im Zerrspiegel der Künste, Frankfurt a. M. 1990.
SILKEWENK
WARUM IST DIE (KRIEGS-)KUNST WEIBLICH?
Frauenbilder in der Plastik auf öffentlichen Plätzen in Berlin*
"Es gibt nichts in der Weit, was so unsichtbar wäre
wie Denkmäler", meinte Robert Musil. Daß man sie
nicht bemerke, sei an ihnen vielleicht das Auffälligste (Unfreundliche Betrachtungen, zit. nach Damus
u. Rogge 1979, S. 28). Daß ich mich dennoch mit
Denkmälern befassen will, heißt nicht, daß ich Musils Einschätzung für falsch halte. Sie bezeichnet
genau das Problem. Ich will es noch weiter zuspitzen: Man "sieht" sie doch, die Denkmäler, auch
wenn man sie nicht mehr sieht. Vielleicht gibt es so
etwas wie ein "Optisches Unbewußtes". Dort scheinen auch die öffentlich ausgestellten Skulpturen ihren Platz zu haben.
Bei meinen Recherchen in Berlin konnte ich immer wieder diese Erfahrung machen: Fragen nach
der ein oder anderen Plastik oder auch nach Frauenskulpturen riefen zunächst kaum mehr als ein
Achselzucken hervor, aber dann wurde doch meist
ein Stück Erinnerung mobilisiert. Nicht selten war es
verknüpft mit Erlebnissen aus der Kindheit, in der
solche Objekte noch beeindrucken können. Was
man nicht mehr sieht, was man übersieht, muß nicht
ohne Wirkung sein. Das bewußte Sehen geht meist
einher mit einem Sehen-Wollen. Man geht ins Museum, um "Kunst" zu sehen.
Plastiken auf öffentlichen Plätzen unterscheiden
sich vor allem durch Funktion und Wirkungsweise
von der Kunst, die in Museen und Galerien ausgestellt wird. Denkmäler sind prinzipiell jedermann und
jedertrau zugänglich. Sie sind unabhängig von Be"
sitz- und Bildungsstand sichtbar und "lesbar", wenn
auch in unterschiedlicher Weise. Die bewußte
Wahrnehmung einer Skulptur im öffentlichen Raum
als "Kunst" mag dem Bildungsbürger oder dem Touristen vorbehalten sein. Aber die öffentliche Plastik
hat noch eine weitere Funktion: Sie setzt "Zeichen"
für alle und sie bestimmt auf diese Weise das alltägliche Leben in einer Stadt mit. Ihre "staatstragende"
Funktion wird einem bisweilen bewußt (gemacht),
wenn die Zeitungen von nächtlichen Aktionen von
Sprayern zur "Verunstaltung" eines Denkmals berichten.
Die öffentliche Plastik gibt den Plätzen in einer
Stadt Bedeutung. Sie markiert urbane Funktionen
ebenso wie die "Bedeutung" von Personen. Denkmäler für Herrscher oder Staatsmänner zeigen gewöhnlich an, daß der Sitz staatlicher Macht nicht
sehr weit sein kann. Statuen für Dichter und Denker
im Park halten dazu an, über "Natur" die "Kultur"
nicht zu vergessen.
Größe und Monumentalität einer in Stein gehauenen Person lassen einen fühlen, wie klein und "unbedeutend" man selbst ist. Die Distanz, die der Sokkel zur Person errichtet, zeigt, daß der Abstand zur
"bedeutenden Person" noch weit ist. Die Art und
(* Dieser Aufsatz entstand im Zusammenhang eines Seminars an der Hochschule der Künste Berlin, das ich zusammen mit der Bildhauerin Erika Schewski-Rühling veranstaltet habe. Ich danke ihr und den Studentinnen für Kritik und
anregende Diskussionen. Erstveröffentlichung in:
KUNST+ UNTERRICHT 101/1986).
29
IWK·Mitteilungen
Weise, wie diese öffentlich aufgestellten Skulpturen
sich einprägen, ohne daß wir dessen unbedingt und
jederzeit gewahr werden müssen, wäre selbst ein
lohnender Untersuchungsgegenstand. Ich will mich
nun darauf beschränken, das "Unsichtbarste" sichtbar zu machen: die Frauenbilder an den Denkmälern. Ihrer Wirkung will ich ein Stück weit auf die
Spur kommen, indem ich ihre Struktur und ihre
Funktion untersuche.
FRAUENBILDER-EIN ÜBERBLICK
Denkmäler für Frauen sind in Berlin - und diese
Stadt ist da wohl keine Ausnahme- kaum zu finden.
Es gibt hier keine Emmeline Pankhurst wie etwa in
London unmittelbar neben dem Parlamentsgebäude; es gibt auch kein Reiterinnen-Denkmal wie die
für Jeanne d'Arc auf zentralen Plätzen nordfranzösischer Städte. Die Kunstführer verzeichnen für Berlin
insgesamt drei Denkmäler für Frauen mit Namen:
Königin Luise im Westberliner Tiergarten (von E.
Encke, aufgestellt 1880), Sophie Charlotte an der
Charlottenburger Brücke gegenüber dem Standbild
ihres Mannes Friedrich 111. (von H. Baucke, 1909)
und schließlich ein einziges Denkmal für eine Künstlerin, nämlich für Käthe Kaliwitz im Ostberliner
Stadtteil Prenzlauer Berg, auf einem Spielplatz an
der Straße, in der sie gewohnt hat (G. Seitz, 1958;
in unmittelbarer Nähe steht eine "Mutter" von Kaliwitz [1951]). ln den Stadtführern nicht erwähnt ist
ein Gedenkstein von 1907 für Johanna Steegen,
das "Heldenmädchen von Lüneburg", auf dem Sophienkirchhof (Ostberlin). Johanna Steegen lieferte
1813 bei der Besatzung Lüneburgs durch französische Truppen den Befreiern Patronen und ermöglichte damit ihren Sieg (vgl. dazu Bisehoff 1977, S.
261 ff.).
Diese wenigen Denkmäler sind verglichen mit denen für "bedeutende Männer'', für Kurfürsten, Könige, Dichter, Denker, Komponisten und Politiker
kaum der Rede Wert: Baedekers Reiseführer nennt
insgesamt 59.
Soll man sich darüber wundern? Die große Zahl
der Denkmäler stammt aus dem 19. Jahrhundert,
und zu dieser Zeit hatten die Frauen bekanntlich
keine Rechte in der Öffentlichkeit. Politische Rechte
wurden ihnen erst nach 1918 zugestanden, und da
war die große Zeit der Denkmäler vorbei. Die Ausschließung der Frauen aus Öffentlichkeit und Politik
scheint sich so in der Kunst auf öffentlichen Plätzen
widerzuspiegeln. Aber so einfach ist es mit der ,,Widerspiegelung" nicht. Das zeigt ein anderes Phänomen: Neben den wenigen Frauen mit Namen sind
enorm viele Frauen ohne Namen zu finden.
Da gibt es etliche weibliche Akte: Die "Liegende"
von H. Moore (1958) vor der Akademie der Künste
dürfte das prominenteste Beispiel sein; andere stehen und liegen schon seit längerer Zeit vor
Schwimmbädern und in Parks. Die Akte stammen
aus dem 20. Jahrhundert, aus der Zeit also, in der
Frauen politische Rechte endlich erkämpft hatten.
Aber auch diese Gruppe ist klein, verglichen mit
30
einem weiteren Typus von "Frauen". Sie haben keine Namen, sind aber bezeichnet - z. B. mit dem,
was Preußen lieb und teuer war: "Viktoria". Dem
Berlin-Kundigen wird sie längst in den Sinn gekommen sein, die preußische Viktoria auf der Siegessäule (F. Drake, 1873). Eine große Zahl von Frauenbildern findet man aber auch dort, wo sie zunächst
kaum vermutet werden: an den Denkmälern für die
"großen Männer'', genauer: an ihren Sockeln (Vgl.
Abb. 1). Da sieht man Vertreterinnen der "Kriegskunst", Athena und Minerva als Kriegsgöttinen;
weibliche Genien, die ein Schild mit dem Namen
desjenigen tragen, der auf dem Sockel steht oder
mit dem Namen einer Schlacht, die der preu Bischen
Geschichtsschreibung wichtig war (z. B. Genius von
Paris von Ch. D. Rauch am Kreuzberg-Denkmal von
1824/25), viele Nikes bzw. Viktorias (ich zähle mindestens 18, die zerstörten Denkmäler wie etwa das
Kaiser-Wilhelm-Denkmal nicht mit eingerechnet);
schließlich "Borussia", die weibliche Personifikation
Preußens. Diese Krieg, Sieg und Preußen bezeichnenden Allegorien habe ich 28 mal gefunden (dazu
eine weibliche Allegorie des "Friedens"). Dann gibt
es weibliche Allegorien, die die "Staatstugenden" repräsentieren, wie die Staatsweisheit, Vaterlandsliebe, Stärke, Temperantia (Mäßigkeit), ich habe sieben gezählt.
Abb.1: Schiller Denkmal von R. Begas (1862-71); Abguß
von 1941 im Volkspark Berlin-Wedding). Sockelfiguren:
Allegorien der Lyrik (links) und der Tragögie (rechts).
IWK·Mitteilungen
Für Philosophie, Wahrheit stehen vier Frauen, für
Wissenschaft und Geschichtsschreibung fünf und
schließlich für die Künste (z. B. Poesie, Lyrik, Tragödie) (vgl. Abb. 1) mindestens vier; nicht vergessen
will ich Justitia und schließlich die technischen Künste (Mathematik, Pyrotechnik u. a.). All diese im Alltag den Männern vorbehaltenen Künste und Wissenschaften sind durch über 20 weibliche Allegorien
vertreten; die meisten findet man an Denkmälern
des 19. Jahrhunderts. Insgesamt bin ich also auf
fast 50 weibliche Allegorien in Berlin gestoßen (und
ich bin sicher, daß es noch nicht alle sind). Zähle ich
noch die Nymphen, Sphinxen und Amazonen, ferner
die große Gruppe der weiblichen Personifikationen
deutscher Flüsse hinzu (vgl. dazu Uhlitz 1981 ), so
liegt die Summe eindeutig über der der Männer auf
den Sockeln.
Die Geschichte der Frauen-Bilder in den öffentlichen Plastiken muß so vor allem als "Geschichte
vom Sockel" geschrieben werden. ln eine solche
Geschichte gehören auch die Bilder von Müttern,
Ehefrauen (Soldatenfrauen) und Krankenschwestern. Sie sind vor allem an den National- und
Kriegsdenkmälern der siebzigerund achtziger Jahre
des letzten Jahrhunderts zu sehen. Solche Bilder
haben schlie Blich auch der "bürgerlichen Frau" an
den Sockel verholfen (z. B. bei den Reliefs von C.
Keil und A. Wolff am Unterbau der Siegessäule von
1873, aber auch beim Denkmal von Friedrich 111. im
Tiergarten von F. Drake 1849, dem Denkmal von
Königin Luise (s.o.) und schließlich auch beim
Denkmal für den Augenarzt Graefe von R. Siemering in Ostberlin, in der Nähe der Charite, 1882). Die
Mutter auf dem Sockel findet man vermehrt seit den
90er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Insgesamt
habe ich 25 Mütter-Bilder in der öffentlichen Plastik
gezählt; hinzu kommen fünf Krankenschwestern.
Von einem nur kurzen Kapitel deutscher Geschichte erzählen die "Trümmerfrauen" (von Katharina
Singer in der Westberliner Hasenheide 1955 und
von F. Cremer vorm Roten Rathaus in Ostberlin
1958).
Ich möchte mich im folgenden mit den Allegorien
und den Müttern beschäftigen. Das Phänomen, das
am schwersten zu verstehen ist, sind die vielen
weiblichen Allegorien. Warum repräsentieren gerade "Frauen" die Bereiche, in denen sie am wenigsten vertreten sind: Politik, Militär bzw. die "Kriegskunst" und die "schönen Künste"? Wie ist der
Widerspruch zu erklären zwischen der Anwesenheit
weiblicher Allegorien in der öffentlichen Plastik des
19. Jahrhunderts und dem faktischen Ausschluß
von Frauen aus der Öffentlichkeit?
ZUR GESCHICHTE UND FUNKTION
VON ALLEGORIEN
Es gibt drei Versuche, die Frage: "warum sind so
viele Allegorien weiblich" zu beantworten. Cäcilie
Rentmeister hat das Verdienst, diese Frage zum ersten Mal so formuliert zu haben. Sie vermutet mit E.
Bornemann, daß die Allegorien eine im Patriarchat
notwendige "Besänftigungsfunktion" übernehmen,
und fordert ein "Berufsverbot für die Musen" (1976).
Die These von der besänftigenden Rolle der Allegorien - als "Rechtfertigung für die Unterdrückung der
Frau"- ist meines Erachtens so nicht haltbar. Diese
öffentlichen Plastiken waren nicht für Frauen gemacht. Warum sollten ausgerechnet diejenigen, die
die Macht haben, "besänftigt" werden müssen? Diese Kritik teile ich mit Brigitte Wartmann. Sie fragt,
"warum ist Amerika eine Frau" (1985). Sie sieht in
der weiblichen Allegorie ein "Symbol einer schönen
Utopie" und vermutet, daß die "patriarchale Gesellschaft'' dies braucht, weil sie durch ihre eigenen
Prinzipien zu erhärten und zu erstarren droht. Frauen und weibliche Allegorien verkörperten "das strukturelle Chaos einer ungeordneten Lebenswelt"; die
Allegorie sei als "Utopie eines ,fremden', ,neuen'
Aufbruchs" zu verstehen. Ich bin in meinen Untersuchungen zu einem anderen Ergebnis gekommen,
wie im folgenden deutlich werden wird. H. E. Mittig formulierte die Frage anders. Er fragt
nach der Funktion "erotischer Motive" in der Denkmalsplastik (1981 ). Er meint, daß "erotische Motive"
die Aufgabe hatten, Aufmerksamkeit und anhaltende Erinnerung zu schaffen. Diese eingeschränkte
Fragestellung umgeht, warum "Erotisches" und
"Weibliches" so notwendig und ausschließlich verbunden sind. Und schlie Blich vermeidet Mittig
(1981) die übergreifende Frage, warum die Allegorien überhaupt durch Frauenbilder dargestellt sind.
Um die Funktion der Allegorien zu verstehen, ist
es nützlich, ihre Geschichte und ihre Begründungen
zu besehen, auch wenn sie uns erst einmal vom 19.
Jahrhundert wegführen. "Allegorie" kommt vom griechischen "allegorein", das heißt so viel wie: etwas
auf andere Weise ausdrücken. Die Quellen der Allegorie liegen in der Antike, und zwar in einer bestimmten Technik der Dichtererklärung, der sogenannten Allegorese. ln der antiken Allegorese ging
es darum, aus den homerischen Mythen allgemeine
Prinzipien und zu befolgende Normen herauszufiltern. Ziel dieser Interpretationstechnik war es, die
"anstößigen" Mythen mit ihren ehebrecherischen
und prassenden Göttern und Göttinnen zu "heilen".
Gezeigt werden sollte etwa, daß der Dichter den
Ehebruch nicht "wörtlich" gemeint habe, sondern eines "tieferliegenden" oder ein bestimmtes höheres
Prinzip "auf andere Weise" habe ausdrücken wollen.
Die Figur der Allegorie tritt auf im Zusammenhang
mit der Konstitution des Staates. Sie wirkt mit an der
Begründung von "Moral" und hat so staatsbildende
Funktion. Sie richtet sich gegen überlieferte Mythen
und auch gegen die sie tradierenden Volkskulturen.
Allegorische Darstellungen sind also von mythologischen zu unterscheiden, insofern es in den allegorischen Darstellungen nicht um überlieferte Geschichten geht, sondern um Allgemeingültigkeit
beanspruchende Prinzipien, nach denen die Weit
gedeutet und um Normen, nach denen gehandelt
werden soll.
Eine große Zahl der bildliehen Allegorien beginnt
Ende des 15. Jahrhunderts. Einige mythologische
31
IWK·Mitteilungen
Themen, die für die Herausbildung des bürgerlichen, sich als autonom verstehenden (männlichen)
Subjekts offenbar wichtig waren, wurden allegorisiert. Besonders bezeichnend scheint mir dabei ein
Thema zu sein, das zwar aus der Antike überliefert
ist, aber vor dem 15. Jahrhundert offenbar nicht der
bildliehen Umsetzung für wert befunden wurde,
nämlich "Herakles am Scheideweg": es geht um die
Entscheidung des Mannes zwischen Virtus (Tugend) und Voluptas (Lust) (Vgl. dazu Panofsky
1930). Ich will dies hier nicht weiter ausführen, nur
so viel festhalten: Allegorien sind historisch verknüpft mit der Herausbildung des antiken und des
bürgerlichen Staates, der sich über die Gesellschaft
erhebt. Sie stehen im Zusammenhang mit Bemühungen, ein (männliches) moralisches Subjekt hervorzubringen, das sich in diesen staatlichen Rahmen "freiwillig" einfügt.
DER BLICK DES BILDUNGSBÜRGERS
Im 19. Jahrhundert sind "weibliche" Allegorien an
verschiedenen Denkmalstypen zu finden: an Herrscher- und Feldherren-, Reiter- und Standbildern, an
Künstler- bzw. Dichter-Denkmälern und an sogenannten Nationaldenkmälern (etwa auf der Siegessäule oder am Kaiser-Wilhelm 1.-Denkmal von R.
Begas [1897], ehemals vorm Berliner Schloß.
Für die Herrscher-Denkmäler sind solche Allegorien keineswegs immer üblich gewesen. Am Sockel
des Schlüterschen "Großen Kurfürsten" (1698) vorm
Charlottenburger Schloß sind es vielmehr Sklaven,
die durch ihre Ketten die Macht des Herrschers demonstrieren. Dieser Darstellungstyp wird beim Herrscher-Denkmal seit dem 18. Jahrhundert zusehends
von allegorischen abgelöst. An die Stelle "imponierender Verbildlichungen von Herrschaft" treten, wie
Mittig es nennt, die "gewinnenden Verbildlichungen"
(1981, S. 25). (Siehe dazu etwa das Denkmal für
Friedrich II. von Ch. D. Rauch, 1840-51, Ostberlin,
Unter den Linden; vgl. auch Abb. 4.) Aus zeitgenössischen Erörterungen geht hervor, daß die allegorischen Darstellungen zunächst vor allem an den "gebildeten Bürger" gerichtet waren, der sie zu
entziffern verstand. Für das Denkmal für Friedrich
Wilhelm IV. im Westberliner Tiergarten (1849) hatte
der Bildhauer F. Drake zunächst eine aus weiblichen Gestalten gebildete Gruppe auf den Sockel
stellen wollen, die die drei für den Park schönsten
Jahreszeiten versinnbildlichen sollten. Dies wurde
als nicht "verständlich" genug beanstandet, und so
rückte statt dessen die Figur des Königs auf den
Sockel, und die allegorischen Frauendarstellungen
wanderten nach unten, an den Sockel. Die Denkmäler wurden also nicht selten für zwei Klassen konzipiert: den Sockel für das Bürgertum, die bestimmende Figur oben auf dem Sockel für die anderen (vgl.
dazu Mittig 1985, S. 66). Der Kunstkritiker K. SeheHIer unterschied explizit zwischen zwei Adressatengruppen: der auf dem Sockel stehende Held spreche zum Handwerker, Soldaten und gewöhnlichen
Zeitungsleser, und "am Sockel liebt es dann die Bil-
32
dung, wenn oben die Alltagslogik befriedigt ist, ideale Allegorien zu entziffern" (zit. bei Mittig 1985, S.
67). Man kann also das Denkmal dieser Zeit in seiner Zweigliedrigkeit als ein "Zweiklassendenkmal"
charakterisieren. Der Blick, der auf die weiblichen
Allegorien führt, scheint vor allem der des (männlichen) Bildungsbürgers zu sein. Und es ist dies ein
Blick, in dem er sich, gerade bei den Herrscherdenkmälern, unterscheiden kann: vom gemeinen Volk.
Daß dies nicht die einzige Lesweise sein mußte,
kann man aus W. Benjamins Erinnerungen an die
"Berliner Kindheit" entnehmen. Über die Denkmäler
von Friedrich Wilhelm 111. und von Königin Luise im
Tiergarten schreibt er: "Lieber als an die Herrscher
wandte ich mich aber an ihre Sockel, weil, was darauf vorging, wenn auch undeutlich im Zusammenhange, näher im Raum war." (1962, S. 10)
WEIBLICHE ALLEGORIE ALS BILD NICHTPARTIKULÄRER MÄNNLICHKEIT
Eine markante Stellung nehmen die "weiblichen" Allegorien - als überlebensgroße Sockelfiguren - an
den Denkmälern für Dichter seit der 2. Hälfte des
19. Jahrhunderts ein (vgl. das Schiller-Denkmal von
R. Begas, 1862-71, Abb. 1, ursprünglich am Gedarmenmarkt vorm Schauspielhaus aufgestellt, ein Abguß, der übrigens aus der eingeschmolzenen Bronze des Rathenau-Denkmals hergestellt wurde, steht
Abb.2: "Nike lehrt den Knaben Heldengeschichten",
Schlo ßbrückengruppe, E. Wolff ( 1853-57).
IWK·Mitteilungen
seit 1941 im Volkspark Wedding; ferner das GoetheDenkmal von F. Schaper, 1871-1880, ehemals im
Tiergarten).
Um den neuen Typus des Künstlers- bzw. Dichter-Denkmals wird noch in der ersten Hätte des 19.
Jahrhunderts gestritten. Es geht um dessen Form
und vor allem um das Recht zur Aufstellung auf zentralen Plätzen. Der öffentliche Platz war bis ins 19.
Jahrhundert hinein den Denkmälern von absolutistischen Herrschern und ihren Feldherren vorbehalten.
Zwar hatte es schon früher Denkmäler für Dichter
und Denker gegeben, doch ihr Ort war in einer exklusiven "Öffentlichkeit" (etwa in den Schloßgärten)
gewesen. (Vgl. dazu Gamper 1972). Darüber hinaus
bekamen sie keine Standbilder, sondern höchstens
Büsten. An den Auseinandersetzungen um die Aufstellung von Denkmälern für bürgerliche Männer unter freiem Himmel ist nicht nur zu verfolgen, welche
Bedeutung der "öffentliche" Raum hatte, sondern
auch die Bedeutung der öffentlichen Ausstellung
des plastisch nachgebildeten "ganzen" Körpers (siehe dazu auch Mittig 1985, S. 72 f.).
An der Geschichte und Durchsetzung der DichterDenkmäler - als Standbilder - zeigt sich die Umstrukturierung im gesellschaftlichen und politischen
Gefüge des 19. Jahrhunderts sehr deutlich. Diese
Denkmäler haben eine wichtige Funktion in der Ausbildung einer nationalen kulturellen Identität und in
der Organisierung einer neuen Form des ideologischen Zusammenhalts der Gesellschaft. An die Stelle der Macht des absolutistischen Herrschers, der
die Unterwerfung verlangt, tritt der Bürger, der sich
als "mündiger Mensch", dem Staat unterstellt. Damit
ist der Rahmen abgesteckt, in dem die "weiblichen"
Allegorien eine neue und gewichtige Funktion bekommen: in der Herstellung von Zustimmung des
Bürgertums - und später auch der unteren Klassen
-zum "Nationalstaat".
Warum die Denkmäler großer Männer mit allegorischen Figuren ausgestattet werden mußten, beschäftigte auch die Zeitgenossen. Immer wieder war
seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Frage
nach dem Sinn oder Unsinn allegorischer Darstellung formuliert worden. J. J. Winckelmann hatte sich
gegen die überlieferte allegorische Kunst gewandt,
die oft ausgedacht, "unanständig" und nicht ohne
zusätzliche Beischrift zu verstehen sei und hatte
versucht, eine davon gereinigte Alternative zu entwerfen, der allerdings keine große Resonanz beschieden war (1766). G. W. F. Hegels Kritik war von
noch radikalerem Zweifel durchzogen. Er problematisierte, ob "das Allgemeine" überhaupt so dargestellt werden könne. Die Allegorie sei eine "im Inhalt
wie in der Form untergeordnete, dem Begriff der
Kunst nur unvollkommen entsprechende Darstellungsweise" (1970, S. 513). Diese Kritik bildete wohl
den Hintergrund der in den achtziger Jahren geführten Diskussion um die Allegorien bei den Denkmälern.
Ein Befürworter formulierte nun ihre Notwendigkeit in folgender Weise: Im Unterschied zur Darstellung eines Kriegerhelden, die "immer packend und
verständlich" sein werde und bei der es deshalb
"keiner weiteren allegorischen Hinweisungen" bedürfe, sei bei den "Rittern vom Geiste" - wie Schiller, Goethe - die allegorische Erläuterung erforderlich. Als Problem benennt er die "zufällige,
körperliche Maske" der gewürdigten Männer. Durch
die beigeordnete allegorische Gestalt könne diese
mehr in den Hintergrund des Interesses rücken. Das
"innere Wesen" der Dichter und Denker müsse
"durchaus einen gedanklichen Ausdruck in der bildenden Kunst finden ... , für den wir kein anderes
Mittel besitzen als die Allegorie" (Ebe 1886/87, S.
181 ). Auffällig ist zunächst, daß die Frage nach der
Allegorie unabhängig vom Geschlecht formuliert
wird. Es geht um die Allegorie überhaupt, und dabei
scheint fast als selbstverständlich unterstellt, daß
diese "weiblich" sein muß. Das wirkliche Problem
liegt für den zitierten Autor interessanterweise in einem Mangel der mit einem Denkmal zu ehrenden
Person: in seiner "zufälligen körperlichen Maske",
die dem "inneren Wesen" nicht gerecht werde. Ein
Mangel an Idealität der konkreten körperlichen Gestalt des Denkers?
Bereits Hegel hatte in seiner grundsätzlichen Kritik an den Allegorien einen Kompromiß für möglich
gehalten, nämlich bei plastischen Denkmälern. Diese könnten nicht überall ohne die Allegorien fertig
werden: "hauptsächlich die Moderne, welche das
Portraithafte vielfach zuläßt und nun zu näheren Bezeichnungen der mannigfaltigen Beziehungen, in
welchen das dargestellte Individuum steht, sich allegorischer Figuren bedienen muß (a. a. 0., S. 514).
Als Beispiel nennt er das Blücher-Denkmal von Ch.
D. Rauch (1826, Ostberlin, Unter den Linden). Und
in bezug auf die "mittelalterliche romantische Kunst"
merkte er an, daß bei ihrer "partikulären Individualität mit ihren subjektiven Zwecken ... " die allegorische Darstellung nötig sei, wo "das Allgemeine"
nicht in "zufällige" Formen gekleidet werden solle
(ebd.). Ich erwähne dies, weil deutlich wird, daß
nicht nur die Individualität ein Problem zu sein
scheint, sondern darüber hinaus das "Partikuläre",
das mit "subjektiven" Zwecken verbundene- im Gegensatz zum Verallgemeinerbaren, zum Allgemeingültigen.
Mittig hat als These aufgestellt, die Darstellung
von allgemeinen Begriffen durch weibliche Allegorien sei nötig gewesen, um den "Hinweis auf die Individualität eines unverwechselbaren Menschen",
eines anderen Mannes mit Namen und Gesicht zu
vermeiden (1985, S. 62). Aus den dargelegten zeitgenössischen Erörterungen muß ich einen anderen
Schluß ziehen: Offenbar war der Mann so mit Partikularität behaftet, daß er das "Allgemeine" nicht
mehr repräsentieren konnte. Der Körper des Mannes ist der eines Privatmannes, der sich in der Konkurrenz zu anderen behaupten muß. Das Problem
ist offenbar die sich abgrenzende Persönlichkeit,
wie sie auf der Ebene der kapitalistischen Ökonomie
existiert - und auf der staatlichen Ebene: im Militär,
wo Krieger gegen Krieger stehen. Die Frauen stehen außerhalb dieser Konkurrenzen, und so schei-
33
IWK-Mitteilungen
nen sie allein tauglich für die Repräsentation einer
nicht-antagonistischen Gemeinschaftlichkeit.
ln der zeitgenössischen Redeweise werden entgegengesetzt: "zufällige, körperliche Maske" und
"inneres Wesen". Diese Redeweise dürfte das Denken und Handeln der männlichen Kunsttheoretiker
und -macher bestimmt haben. Um sie genauer zu
verstehen, will ich das darin nicht explizierte, aber
unterstellte Gegenteilige und mit zu Konnotierende
ergänzen (im folgenden kursiv):
konkreter Leib:
zufällig
körperlich
sterblich
verletzbar
Maske
(nur)scheinen
Allegorie:
notwendig
geistig
ewig
unverletzbar
das dahinterliegende "Wirkliche"
Sein
Sehen wir uns die Bestimmungen der Allegorie an,
so scheint verständlich, warum Ebe nicht von einer
"weiblichen" Allegorie sprechen konnte: Was die Allegorie zu repräsentieren hat, sind Prinzipien, Bestimmungen, die als "männlich" reklamiert wurden.
Das "Geistige" stand lange schon in Opposition zum
"Körperlichen", "Kultur" zur "Natur". Das "Körperliche" und die "Natur" aber waren und sind in der Philosophie, in der Religion, in der Literatur, in der gesamten abendländischen Geschlechterideologie mit
"dem Weiblichen" verknüpft.
Wird nun mit der "weiblichen" Allegorie die männliche, die patriarchale Ordnung auf den Kopf gestellt? Richtiger scheint mir, zu folgern, was sich
vielleicht bereits als Verdacht aufdrängte: die "weibliche Allegorie" repräsentiert das Gegenteil des
"Weiblichen", das Herrschende - soweit es selbst
den "großen Männern" mangelt und über sie hinausweist. Die männlich-patriarchale Ordnung verlangt
von ihren Männern mehr als was sie sind und tun.
Für den Zusammenhalt der Ordnung wird ein anderes Bild benötigt. Männerbilder waren offenbar nicht
(mehr?) dazu geeignet, das imaginäre Gemeinwesen zu vertreten, als das der Staat über der Gesellschaft begriffen werden kann (Vgl. dazu Projekt
Ideologietheorie 1980). Zusammenfassend will ich
als erste These formulieren: die Allegorien sind
"weiblich", weil nur Bilder von Frauen - außerhalb
der (ökonomischen und staatlichen) Konkurrenz stehend - geeignet waren, die imaginäre Gemeinschaftlichkeit zu repräsentieren.
befinden. Ihre Unterstellung unter das "Höhere" ist
ohne Umschweife in Szene gesetzt, selbst dies, daß
sie auch das Leben kosten kann. Das ist vielleicht
das "unmittelbar Verständliche", das diese Art Denkmäler den Dichter-Denkmälern voraushaben, wie
Ebe meinte.
Wir sehen den Krieger in Uniform: sie ersetzt vielleicht den idealen Körper und bringt das "Partikuläre" zum Verschwinden. Wir sehen den Krieger in der
soldatischen Gemeinschaft, kämpfend und unterliegend, während die anderen Mitglieder dieser Gemeinschaft "die Sache des Vaterlandes" weiter verfolgen. Verblüffend ist nun folgendes: ln allen vier
Typen von Szenen kommen wieder Frauenbilder
vor: die abschiednehmenden Krieger sind zusammen mit ihrer Familie, mit Ehefrau und Kind dargestellt, ebenso die heimkehrenden (siehe Abb. 3).
Sogar unter den Kriegern auf dem Schlachtfeld können wir Frauen finden, nämlich Krankenschwestern
(so auf dem Relief von C. Keil mit "Szenen aus dem
Krieg 1870/71" am Unterbau der Siegessäule von
1873 und auch am Sockel des Königin Luise-Denkmals in "Szenen aus den Freiheitskriegen"). Bei Verletzten und Sterbenden findet man nicht nur den
"Kameraden", sondern auch die Ehefrau oder Mutter
(so bei einer der Kriegergruppen im Tiergarten, der
"Pflege des Verwundeten" von L. Brodwolf, ca.
1870). Am häufigsten stoßen wir auf die Ehefrau
und Mutter, in stereotypen Konfigurationen: beim
Abschied trägt sie das Kleinkind auf dem Arm, blickt
dem Abschiednehmenden ein letztes Mal noch in
die Augen (siehe Abb. 3); bei seiner Rückkehr präsentiert sie ihm den Sohn, der das Erbe des Vaters:
das Gewehr, übernimmt.
Vor der Zeit der Errichtung der Siegessäule und
der Aufstellung der Kriegergruppen gibt es kaum
Skulpturen von Müttern (dies gilt nicht nur für die öffentlich ausgestellten Plastiken; eine der frühen plastischen Darstellungen von "Mutterliebe" stammen
von R. Begas aus dem Jahr 1860; vgl. Block und
Grzimek 1979, Taf. 251 ). Aber es gibt einen Typus
MÜTTER UND BRÄUTE: DER STOFF, AUS DEM
DIE ALLEGORIEN SIND
ln den Krieger-Darstellungen aus der Berliner Denkmalsplastikdes letzten Drittels des 19. Jahrhunderts
sind vier immer wiederkehrende Themen zu finden:
der Abschied, die Schlacht (Angriff oder Verteidigung), Verletzung und Sterben, die Heimkehr. Vorgeführt bekommen wir also Männer, die sich unmittelbar im Dienst des "Höheren", des "Vaterlandes"
34
Abb.3: Abschied. Ausschnitt aus Relief "Einmarsch in
Paris 1871" von C. Keil, am Unterbau der Siegessäule
Berlin, 1873.
IWK-Mitteilungen
allegorischer Frauen, der in unserem Zusammenhang von Interesse ist, weil er in vergleichbaren
Konfigurationen auftritt: Minerva bzw. Athena,
Kriegsgöttinen, die in allegorischer Funktion bei einigen berühmten Denkmälern zu finden sind. So
zum Beispiel auf einem oberen Relief des Denkmals
für Friedrich II. (Abb. 4). Dort sehen wir eine "weibliche" Allegorie, die den zukünftigen König in die Weit
des (männlichen) Wissens einführt und eine Athena-Figur, die dem kleinen Soldaten das Schwert
übergibt und ihn in die Weit des Krieges entläßt. Durchgehendes Thema der von F. Schinkel konzipierten, dann in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts von verschiedenen Bildhauern ausgeführten Skulpturen der Schloßbrückengruppe (Ostberlin,
1857) ist die Entwicklung eines Knaben zum Mann,
das heißt hier: zum Krieger - schließlich zum Tod
als Krieger. Weibliche Gestalten, einmal Nike!Viktoria, einmal Athena darstellend, führen ihn dort hin
(siehe Abb. 2; zu der Geschichte und Diskussionen
um diese Gruppe vgl. auch Springer 1979).
Ich denke, es gibt genü.gend Grund davon auszugehen, daß es über die Ahnlichkeit der Konfiguration gegenseitige Verweisungen gibt: die Allegorie
der "Kriegskunst" verweist auf die Mutter und umgekehrt.
Aber nicht nur diese Allegorie und die Mutter
scheinen sich gegenseitig zu interpretieren, auffällig
direkte Verbindungen gibt es auch zwischen dem
Bild der Braut und der Viktoria. Auf dem Relief von
A. Wolff über den "Truppeneinzug in Berlin 1871"
am Unterbau der Siegessäule wird eine Gruppe
heimkehrender Soldaten von einer Gruppe junger
Frauen empfangen, die als eigenständige Gruppe
neben der der Stadtväter gekennzeichnet wird. Vielleicht sind es Ehrenjungfrauen. Interessant ist ihre
Haltung: Wie Viktoria oben auf der Spitze der Siegessäule strecken sie den Heimkehrenden die Siegeskränze entgegen. Die Braut als Viktoria - oder
die Viktoria als Braut? Jedenfalls legt dies der ästhetische Kontext des Denkmals unmittelbar nahe.
Diesen Bildtypus gibt es auch an früheren Denkmälern, so z. B. in einem Relief des Blücher-Denkmals
von Ch. D. Rauch (Unter den Linden, 1822-26).
Dort allerdings in einer Abschiedsszene, und die
Frau ist mit einem Kind zur Seite als Ehefrau zu
identifizieren.
Aus der Literatur kann man entnehmen, daß die
Verweisung von Braut/Geliebte auf Viktoria und umgekehrt auch direkt ausgesprochen wurde. ln einer
Erzählung aus dem Jahr 1914, in der es nicht um
Viktoria, sondern um "Germania" geht, was in diesem Zusammenhang keinen großen Unterschied
macht) werden sie sogar unmittelbar gleichgesetzt.
ln dieser Erzählung "Germania", veröffentlicht in
einer völkischen Frauenzeitschrift mit dem bemerkenswerten Titel "Frauenkapital" malt sich ein Soldat die Heimkehr aus dem Kriege aus und denkt an
seine Braut: "Und wenn ich heimkehre, wirst du
mich erwarten. Noch kenne ich dich nicht. Und weiß
doch, wer du bist. Denn Du warst, ehe denn ich das
Licht dieser Erde sah, Mutter Germania- Geliebte-
gütige, strenge Herrin." Er will ein Denkmal für Germania bauen" ... Riesenmaße, überlebensgroß ...
ein Götterbild, ein Hauch der Ewigkeit umwittert,
dräuend in Herrlichkeit gegen den Feind, aber den
Sohn der Heimat mit der unsterblichen Barmherzigkeit des Weibes umfangend." Und dies will er für die
Braut tun: "Für dich, für dich. Denn Du bist mehr als
anderer Soldaten Lieb- du bist Germania, des heiligen Vaterlandsgedanken sichtbar gewordenes Unterpfand." (zit. nach Janssen-Jurreit 1976, S. 83).
Hier haben wir sie alle beisammen: Germania, Geliebte, Mutter, Herrin, "das Weib", Heimat - und
schließlich das Denkmal für Germania.
Ich kann hier ein vorläufiges Resümee ziehen
und über die Funktion der "weiblichen" Allegorien
meine zweite These formulieren: Die "weiblichen"
Allegorien verweisen auf das Bild der Mutter und
der Geliebten. Mutter und Geliebte: das ist der
"Stoff", aus dem die Allegorien gemacht sind.
ln den Allegorien wird- wie in den Kriegerdarstellungen - die Unterstellung unter den Staat "bedeutet" durch die Beziehung zwischen Mann und Fraudurch die Beziehung zu einer imaginären Frau,
wohlgemerkt. Diese Bilder fügen sich in die Familienideologie des 19. Jahrhunderts ein - und sie
konnten gleichzeitig als Vor-Bilder an die nur in
Stein aufs Denkmal gesetzten Frauen "zurück" gegeben werden.
Daß die Mutter und die Geliebte auch in den Kriegerdarstellungen wichtig sind, zeigt, daß das Bild
"des Weiblichen" wesentlich ist für die Organisierung der Selbst-Unterstellung der Männer unter das
höhere Gesetz ihrer Ordnung. Damit werden wir
aber auch auf einen weiteren Problemzusammenhang verwiesen. Offenbar dürfen die Bilder "des
Weiblichen" auch dort nicht fehlen, wo die Unterstellung unter den Staat besagt, daß es sich für ihn
nicht nur zu leben, sondern notfalls auch zu sterben
lohnt. ln die Bilder "des Weiblichen" kann offenbar
nicht nur eine imaginäre Gemeinschaftlichkeit projiziert werden, sondern auch die Verfolgung ,des Höheren" bis in den Tod. Das ist die höchste Form der
Unterstellung unter den Staat. Wie ist es zu begreifen, daß Frauen auch diese repräsentieren können?
SIE LACHT DEM TODE ZU UND TROTZT DER
UNZUCHT"
Die Allegorien und die Bilder von Braut und Mutter
verweisen aufeinander, aber sie sind nicht identisch. Die Bilder des "Weiblichen" unterscheiden
sich. Die Mutter und die Braut tragen zeitgenössische Kleidung, sie sind "sittsam" bedeckt, ihre Haare sind meist hochgebunden. Anders die "weiblichen" Allegorien: sie zeigen häufig eine nackte
Brust, manchmal sind beide nackt, ihre Haare sind
geöffnet, ihre Kleidung ist "unzeitgemäß", an klassischen Vorbildern orientiert und entspricht nicht den
Regeln des 19. Jahrhunderts (vgl. Abb. 3). Unzüchtige Gestalten? Objekte erotischer Schaulust? Liest
man die zeitgenössischen Beschreibungen nach, so
findet man kaum Spuren einer unmittelbar sexuali-
35
IWK-Mitteilungen
sierenden Lesweise der Allegorien. Da ist die Rede
von "ungewöhnlicher Formenschöne", von "entzükkenden Wohlgestalten", von "hoheitsvollen, weiblichen Idealgestalten" und ähnliches mehr (alle Zitate
aus Müller-Bohn 1897). Mittig, der zu Recht betont,
daß man die Frage, ob erotische Motive an den
Denkmälern des 19. Jahrhunderts zu finden sind
oder nicht, nur historisch, d. h. nicht über unsere
heutige Wahrnehmung erschließen kann, bringt einige Beispiele aus der zeitgenössischen Kritik. Aus ihnen kann entnommen werden, daß es sehr wohl
Grenzen der "Schicklichkeit" gab, die eingehalten
werden mußten (Mittig 1981, S. 20 f.). Interessanterweise aber habe ich keinen Hinweis darauf finden
können, daß zum Beispiel die entblößte Brust als
problematisch galt. Was dagegen kritisiert wurde,
war etwa die "unanständige Pose" der "Philosophie"
am Schillerdenkmal: die übereinandergeschlagenen
Beine und der dem Betrachter sich darbietende
nackte Fuß (Meyer 1872; Vgl. auch Mittig ebd.).
(Der Blick der "Philosophie", ihr "Entgegenstarren",
war zwar Thema, offenbar eine Herausforderung,
aber nicht direkt unter dem Blickwinkel der "Schicklichkeit" - Vgl. ebd.) Adolf Menzel, seinerzeit Mitglied in der Jury, die über das Schiller-Denkmal zu
entscheiden hatte, äußerte sich über die vier weiblichen Allegorien an Begas Ausführung in einer Weise, die wiederum vermuten läßt, daß offenbar stets
die Gefahr einer "falschen" Lesweise immer von
Neuem gebannt werden mußte. "Diese vier weibli-
chen Figuren sind von so hoher Schönheit, und ihre
allegorische Bedeutung so tief empfunden, so überzeugend, daß niemand, selbst der Ungebildete
nicht, zweifeln wird, was der Künstler in ihnen hat
aussprechen wollen" (zit. nach Müller-Bohn 1897,
S. 46).
Mittig meint, daß die "Artikulation erotischer Wünsche mit dem Mittel der Allegorie" erlaubte, diese
von der Alltagswirklichkeit zu entfernen (1981, S.
21 ). Sicherlich können wir heute schwer entscheiden, ob neben der ausgesprochenen allegorischen
"Übersetzung" in eine andere Weit noch weitere Lesearten praktiziert wurden. Es ist auch nicht zu bestreiten, daß Kunstkritiker und Kunsthistoriker ihre
Worte zügeln. Sie bemühen sich noch heute, ihre
erotischen Empfindungen nicht auf das Papier zu
bringen. Dennoch will ich betonen, daß die dargestellten "weiblichen" Körper ja nicht einfach als Abbilder wirklicher Frauenkörper zu begreifen sind. Zudem: ihre Entblößung ist nur partiell (und darüber,
wo sie stattfindet, wird nicht gesprochen). Was dem
Blick wohlgeformt angeboten wird, sind Brüste,
idealisierte Brüste, die man in der Wirklichkeit vergeblich suchen wird.
Es ist offensichtlich, daß es sich bei diesen Allegorien-Körpern um konstruierte Körper handelt, um
männliche Konstrukte, die die konkreten Körper von
Frauen verdrängten. Vermutlich hat das die Wahrnehmung der Männer nicht unbeeinflußt gelassen.
Dieser konstruierte Körper hat eine längere Vor-
Abb. 4: Allegorie der Wissenschaft und der Kriegskunst Ausschnitt aus dem Relief am Denkmal Friedrich II. von Ch.
D. Rauch (1840-51 ).
36
IWK-Mitteilungen
geschichte. Seit dem 16. Jahrhundert läßt sich eine
Spaltung der Frauenkörper in der bildenden Kunst
feststellen. Es gibt einige Hinweise darauf, daß dem
"Hexenkörper" der Frauen ein allegorischer "Weiblicher" Körper entgegengesetzt wird. (Ich knüpfe hier
an Sigrid Schades Untersuchung [1983] über die
"Magie" des Körpers in den Hexenbildern der frühen
Neuzeit, insbesondere denen von Hans Baidung
Grien an.) Schließlich ist in Tizians berühmtem Bild
der - bekleideten! - "Irdischen Liebe" die - nackte!
- "Himmlische Liebe" entgegengesetzt worden. Der
"Akt" schlie Blich hat aus den wirklichen konkreten
Körpern den ,.weiblichen" Idealkörper konstruiert,
dem - wenn man zum Beispiel Tizians Bild selbst
ernst nimmt - alle "niedrigen" Leidenschaften ausgetrieben wurden. (Vgl. dazu Wind 1984, S. 165 ff.
und Panofsky 1980, S. 219 f.)
"Der Liebe Krallen, des Freudenhauses Gifte, alles gleitet und stumpft sich ab in ihrer Haut Granit."
So heißt es bei Charles Baudelaire in seinem Gedicht über die Allegorie. "Sie lacht dem Tode zu und
trotzt der Unzucht, jenen Ungeheuern, deren Hand,
die immer kratzt und mäht, in ihren verwüstenden
Spielen dennoch dieses festen, aufrechten Leibes
derbe Hoheit stets verschont hat." Aus diesem Gedicht, das der "Allegorie" schlechthin zu gelten
scheint, läßt sich viel über die Wirksamkeit der Allegorie lernen: Erotik/Sexualität ist stets präsent; sie
wird angereizt, zugleich jedoch in einer Weise, die
sie stets als bewältigte sehen läßt: als Überwindung
eines Niedrigen (verknüpft werden Freudenhaus,
Unzucht, Ungeheuer, verwüstende Spiele, Gift, Krallen der Liebe). Dabei hat ihre Gestalt wie das Material, aus dem sie gemacht ist, der Marmor, eine
wichtige Funktion: Die Gestalt ist fest, aufrecht, und
ihre Haut ist eine Art Panzer, der jeden lüsternen
Zugriff abgleiten läßt. Die Allegorie erscheint als das
"weibliche" Bild männlicher Erhöhung gegenüber allem Körperlichen/Sinnlichen/Weiblichen. Die Allegorie ist gegen alles "Irdische" gefeit: Vergänglichkeit
und sinnliche Leidenschaft, die beiden Bedrohungen patriarchaler Männlichkeit, sind ihr fremd, noch
mehr: sie hat sie überwunden. Sie hat sie überwunden, weil sie nicht lebt: sie ist zugleich unvergänglich und unanfechtbar. Oder, wie es bei Baudelaire heißt: "Sie weiß von keiner Hölle, keinem
Fegefeuer, und kommt die Stunde, einzutreten in
die schwarze Nacht, wird sie dem Tod ins Antlitz
schauen wie ein Neugeborenes - ohne Haß und
Reue."
Die Allegorie ist nicht nur auf Ewigkeit in Marmor
gehauene Imagination von Gemeinschaftlichkeit, sie
ist zugleich unzugänglich. Sie ist fern von Sünde,
von Schuld, fern von Leidenschaften, von Liebe und
Haß, die mit Schuld verknüpft scheinen. Ich kann
als dritte These formulieren: Weiblichkeit wird in der
Allegorie transformiert zu etwas Unzugänglichem,
das immer begehrt wird, das aber zugleich außerhalb der Ordnung, außerhalb der Moral steht: Sie
muß den Gesetzen der Ordnung nicht gehorchen,
sie steht eher auf der Seite derer, die über die Gesetze entscheiden.
DIE HEIMKEHR ZUR IDEAL-FRAU IM TOD FÜR
DEN STAAT
ln den von mir behandelten Krieger-Darstellungen
gibt es nicht nur die Verbindung zwischen Frau als
Mutter oder Frau als Braut und Mann, es gibt darin
noch ein anderes Thema, das mir zunächst als nebensächlich erschien: die Trennung von der Frau.
ln den Abschiedsszenen trennt sich der Krieger
von der Ehefrau, die das Kind auf dem Arm trägt.
Bei der Rückkehr des Kriegers präsentiert die Mutter dem Vater den Sohn. Er übernimmt das Gewehr.
Der Sohn übernimmt das "väterliche Erbe", das mit
militärischer Macht verknüpft ist, und trennt sich von
der Mutter, tritt neben sie - die Fortsetzung kann
man leicht ergänzen: er kann der nächste sein, der
als Krieger "Abschied nimmt".
ln der Vergesellschaftung der männlichen Kinder
zum Mann spielt bekanntlich die Trennung von der
Mutter als Repräsentantin des dem "Männlichen"
untergeordneten "Weiblichen" eine entscheidende
Rolle. Die Identifikation mit der "Männlichkeit", mit
dem mit Macht verknüpften väterlichen Gesetz bedeutet Abgrenzung von der Mutter, das heißt auch
von der Weit der Frauen, in der die ersten Lebensjahre noch angesiedelt sind. Die Psychoanalyse
sieht in diesem Wechsel, von ihr als Odipus-Komplex begriffen, die entscheidende Schaltstelle für die
Ausbildung von Geschlechtsidentität Sie untersuchte die Verkopplung vom Verbot der Liebe zur Mutter
und Tod (Kastration): die Liebe zur Mutter ist mit der
Todesdrohung verknüpft.
Die Todesdrohung läßt sich auch als sozialer Mechanismus begreifen: es geht darin nicht nur um den
Verlust des männlichen Geschlechts, es geht darin
auch um die - in der patriarchal organisierten kapitalistischen Gesellschaft- faktisch damit verknüpfte
Macht. Verlust von "Männlichkeit" ist einem Verlust
an Kompetenz, einem Eintrittsverbot in die männliche Weit, in die Weit von Gesetz und Ordnung
gleichzusetzen. Das Realistische an diesen Kriegerdarstellungen ist das, was mir zunächst als zeitgeschichtliches nebensächliches Schnörkel erschien.
Realistisch ist die Darstellung der wirklichen Dramatik in der Sozialisation zur "Männlichkeit". Diese
"ödipale Krise" wird in der Psychoanalyse auch als
ein Hintergrund für die Herausbildung von Idealen
gesehen. Aus dem "Scheintod des Begehrens nach
der Mutter" geht das "Über-Ich" hervor, das verantwortlich ist für Ideal-Bildungen (lrigaray 1980, S.
101 ). Die "Ideal-Frau-Mutter" wäre damit das Produkt männlicher Abwendung von der Frau, von
männlichem Liebesverzicht unter dem Gesetz der
Männlichkeit. So müßte ich präzisieren: nicht die
Mutter ist der Stoff für die Bildung der Allegorien,
sondern das "Mutter-Ideal"; eine verjenseitigte Mutter. Und von dieser wären die Brücken zu schlagen
zu Germania und Viktoria.
ln der bereits oben erwähnten Schloßbrückengruppe führen "weibliche" Allegorien den Knaben
zur Männlichkeit. ln der ersten Skulptur dieser Gruppe ("Nike lehrt den Knaben Heldengeschichte" von
37
IWK·Mitteilungen
E. Wolff) weist Nike!Viktoria den Knaben -von sich
weg? - auf die Namen der großen Väter, deren Gesetz er zu befolgen hat: Alexander, Caesar, Friedrich (Abb. 2). ln der letzten Gruppe ("Nike führt den
gefallenen Krieger zum Olymp" von A. Wredow) liegt
der tote Krieger in ihren Armen. Vergeblich sucht
man eine tödliche Wunde. Verblüffend ist das sanfte
Lächeln des tödlich getroffenen Kriegers. Durch den
Tod, so kann ich folgen, hat er in die Arme "der
Frau" zurückgefunden? Die Liebe zur "Frau" wäre
somit nur jenseits der männlichen Ordnung, das hieße dann auch jenseits des durch sie bestimmten Lebens- durch den Tod- wiederzugewinnen.
Ich will zusammenfassen und meine letzte These
formulieren: Die Allegorie ist zu verstehen als Repräsentantin des Unerreichbaren und unendlich Begehrten. Die Allegorie ist die in Marmor gehauene
,,Weiblichkeit". Sie ist zugleich anziehend und abstoßend; sie ist unnahbar, wie es das Ideal an sich hat
und provoziert zugleich die Liebe zum "Weib". ln der
Allegorie wird das Begehren ins Jenseits verschoben. Dieses Jenseits steht außerhalb der männlichen Ordnung, außerhalb der Konkurrenz und außerhalb des männlichen Abgrenzungszwanges.
Dieses Jenseits scheint nur über den Tod des
"Männlichen" erreichbar.
Im 20. Jahrhundert sind die Allegorien weitgehend aus der öffentlichen Plastik verschwunden.
Nach 1919, der Gründung der Weimarer Republik,
war auch die große Zeit der nationalen Denkmäler
vorbei. Was vermehrt in den Parkanlagen und vor
öffentlichen, von staatlichen Institutionen aufgestellt
wurde, waren Akte. Aus dem Dargelegten könnte
ich den Schluß ziehen, der "weibliche Körper" ist
selbst zur Allegorie geworden. Vielleicht lebt die Allegorie fort im "Akt" auf den öffentlichen Plätzen.
LITERATUR
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1962.
Benjamin, Wa!ter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert.
Frankfurt/M. 1962.
Bischoff, Ulrich: Denkmäler der Befreiungskriege in Deutschland 1813-1815. Dissertation an der FU Berlin 1977.
Bloch, Peter und Waldemar Grzimek: Das klassische Berlin.
38
Die Berliner Bildhauerschule im neunzehnten Jahrhundert. Frankfurt- Berlin- Wien 1978.
Damus, Martin und Henning Rogge: Fuchs im Busch und
Bronzeflamme. Zeitgenössische Plastik in Berlin-West.
München 1979.
Ebe, Gustav: Historisches Portrait und Allegorie in der modernen Monumentalskulptur. ln: Kunst für allem 2. Jg.,
1886/87, S. 177 ff.
Gamer, Jörg: Goethe-Denkmäler- Schiller-Denkmäler. ln: H.
E. Mittig und V. Plagemann (Hrsg.): Denkmäler im 19.
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Hege/, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I. ln Werke 13, Frankfurt/M. 1970.
lrigaray, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts.
Fran kfu rt!M. 1980.
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der Frauenfrage. München- Wien 1976.
Meyer, B.: Das Schiller-Denkmal von R. Begas. ln: Zeitschrift
für bildende Kunst, 7. Jg. 1872, S. 98 ff.
Mittig, Hans-Ernst: Zur Funktion erotischer Motive im Denkmal des 19. Jahrhunderts. ln: Kritische Berichte, 9. Jh.,
1981, Heft 1/2, S. 20-34.
Ders.: Das Denkmal. Funkkolleg Kunst, Studienbegleitbrief 8.
Weinheim und Basel1985.
Müller-Bahn, H.: Die Denkmäler Berlins. Berlin 1897.
Panofsky, Erwin: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance. Köln 1980.
Ders.: Hercules am Scheideweg und andere antike Bildstoffe
inderneueren Kunst. Leipzig- Berlin 1930.
Projekt ldeo/ogietheorie: Theorien über Ideologie. ArgumentSonderband AS 40. Berlin 1979.
Plagemann, Volker: Bismarck-Denkmäler. ln: H.-E. Mittig u.
V. Plagemann: Denkmäler im 19. Jahrhundert, 1972, S.
217 ff.
Rentmeister, Caecilie: Berufsverbot für die Musen. ln: Ästhetik und Kommunikation 25, Sept. 1976, S. 92-113.
Schade, Sigrid: Schadenzauber und die Magie des Körpers.
Hexenbilder der frühen Neuzeit. Worms 1983.
Springer, Peter: Berlin gegen die Antike. Antikenrezeption
und Antikenkritik in der Nachfolge Schinkels. ln: W. Arenhövel und Ch. Schreiber (Hrsg.): Berlin und die Antike
(Aufsätze). Berlin 1979, S. 431-453.
Uhlitz, Otto: Zur Geschichte des Neptunbrunnens in Berlin.
ln: Der Bär von Berlin. Jahrbuch 1981, S. 29-53.
Wincke/mann, Johann J.: Versuch einer Allegorie besonders
für die bildende Kunst. Dresden 1766.
Wind, Edgar: Heidnische Mysterien in der Renaissance.
Frankfurt 1981.
Wartmann, Brigitte: Warum ist "Amerika" eine Frau? Zur Kolonisierung eines Wunsch(t)raums. ln: A. Dinnebier u. B.
Pechan (Hrsg.): Ökologie und alternative Wissenschaft.
Berlin 1985 (= Schriftenreihe Landschaftsentwicklung
und Umweltforschung, Bd. 33).
IWK-Mitteilungen
AGNE FÜRINGSTEN, BRITI BOGREN-EKFELDT, GUNHILLA CEDRENIUS
GEGENWARTSDOKUMENTATION
IN KULTURGESCHICHTLICHEN MUSEEN
Das Sammeln von Gegenständen wurde Anfang der
siebziger Jahre von den kulturgeschichtlichen Museen in Schweden eingehend diskutiert. Einer der
Anlässe war, daß Nordiska Museet Richtlinien für
seine Sammeltätigkeit veröffentlicht hatte. ln diesen
wurde nicht nur eine Darstellung der zukünftigen
Ausrichtung der Arbeit des Museums gegeben, sondern auch eine Analyse der Sammlungen, die in den
letzten hundert Jahren angesammelt worden waren.
Die Schrift behandelte die Verteilung der Sammlungen nach Themengruppen, Zeiträumen, geographischen Gebieten und sozialer Zugehörigkeit.
Zum ersten Mal konnte ein weiterer Kreis außerhalb des Museums einen Überblick über die Sammlungen eines großen Museums gewinnen. Lücken
und Überrepräsentation wurden deutlich, was die
Diskussion einer bewußteren und aktiven Sammelpolitik ermöglichte.
Drei Jahre später wurde eine ähnliche Analyse
des Sammelns von Gegenständen bei einer Reihe
von Museen im ganzen Land - sowohl Zentralmuseen wie regionalen und kommunalen Museen veröffentlicht. Im großen und ganzen konnte man
aus dieser Untersuchung die gleichen Resultate
herauslesen, nämlich ein gewisses Ungleichgewicht
beim Sammeln hinsichtlich der zeitlichen Repräsentation, der Themenwahl und der sozialen Gruppierung. ln zeitlicher Hinsicht war das 19. Jahrhundert
verhältnismäßig gut gedeckt, während die Zahl der
Gegenstände abnahm, je mehr man sich der Gegenwart näherte. Bestimmte Themen und Themengruppen waren gut vertreten, z. B. Textilien und
Volkskunst, während andere völlig fehlten. Unter
den sozialen Schichten waren - soweit man den sozialen Ursprung der Gegenstände feststellen konnte
- die Oberschicht und die Mittelschicht vorherrschend. Der größte Teil der erworbenen Gegenstände war gestiftet worden.
Die Kenntnisse über die Mängel und die Verdienste der Sammlungen ermöglichten es den Museen,
ihre Dokumentation und Sammeltätigkeit zielbewu ßter zu planen. Man gab der Auffassung Ausdruck,
daß ein aktives und von den Museen selbst in Gang
gebrachtes Sammeln eine bessere Deckung von
verschiedenen Gebieten der Gesellschaft ergeben
könne, als die passive Entgegennahme es vermocht
hatte.
Die Massenproduktion unserer heutigen Zeit und
der große Umsatz von Erzeugnissen stellen völlig
neue Anforderungen an die Museen. Deshalb war
eine Entwicklung der Auswahl - und Dokumentationsmethoden nötig. Es war klar, daß die einzige
Möglichkeit für die Museen, die Sammeltätigkeit fortzusetzen und sie auch die eigene Zeit umfassen zu
lassen, darin bestand, daß die kulturgeschiehtlichten Museen sich zusammenschlossen und versuchten, die Frage zu lösen.
Die Museen beschlossen daher, einen Teil ihrer
Sammet- und Dokumentationsressourcen folgendermaßen zu disponieren:
- für aktive Gegenwartsdokumentation statt passivem Sammeln im Nachhinein,
- für die Koordination der Dokumentations- und
Sammettätigkeit zwischen den Museen, um Doppelarbeit zu vermeiden,
- für die Aufteilung der Zuständigkeit für das
Sammeln, so daß die vorhandenen Ressourcen
ausreichen.
Ein Einsatz dieser Art würde für die Museen eine
Umverteilung der Prioritäten sowohl hinsichtlich der
Arbeit wie in bezug auf ihre Ressourcen bedeuten.
Die Verwirklichung der Zielsetzung erforderte auch
eine neue Organisationsform und die Entwicklung
der Dokumentationsmethoden. Seit der Veröffentlichung des Sammelprogramms im Jahre 1973 hat
Nordiska Museet eine Reihe von Konferenzen mit
dem Schwerpunkt bei verschiedenen Dokumentationsmedien, d. h. Gegenstände, Bilder und Daten,
veranstaltet. Zeitlich parallel zu diesen Konferenzen
arbeiteten drei Arbeitsgruppen an Fragen wie der
Verteilung der Zuständigkeit, dem Kontakt mit den
Herstellern von Gegenständen und den Auswahlprinzipien. Das Material dieser Arbeitsgruppen bildete den Grundstock für den Schlußbericht über die
Gegenwartsdokumentation, der auf einer landesweiten Konferenz im Oktober 1977 fertiggestellt wurde.
MUSEEN ALS EINE
GEMEINSAME RESSOURCE
Damals wurde der Begriff SAMDOK geprägt- eine
Verkürzung von "samtidsdokumentation vid kulturhistoriska museer" (Gegenwartsdokumentation an
kulturgeschichtlichen Museen). SAMDOK wurde zu
einem neuen koordinierenden Faktor in der schwedischen Museumsarbeit und erhielt Sitz und Sekretariat bei Nordiska Museet.
Die Arbeit wird vom SAMDOK-Rat geleitet, der
als koordinierendes Leitungsorgan für das ganze
Land umfassende Dokumentationsarbeit dient. Fünf
ordentliche Mitglieder und fünf Stellvertreter vertreten verschiedene Typen von Museen. Die wichtigste
Aufgabe des Rates ist, Richtlinien für die Tätigkeit
auszuarbeiten und für die Erarbeitung von Sammelund Dokumentationsmethoden zu sorgen. Das
SAMDOK-Sekretariat soll die Beschlüsse des Rates
durchführen und über die Arbeit informieren.
1981 wurde in der Schrift Spread the Responsibi-
39
IWK·Mitteilungen
Wohnen, Arbeit im Hause genannt. ln ihm arbeiten
sechs Museen und untersuchen Familien verschiedener Zusammensetzungen und deren Familienmilieu. ln diesem Bereich wird nicht nur das Wohnmilieu studiert, sondern auch die Lebensweise der
Familie - die Arbeitsbedingungen, die Konsumgewohnheiten, der Dienstleistungsbedarf, die Nutzung
des Angebots des öffentlichen Sektors, z. B. Kindertagesheime, Schulen und Krankenhäuser.
fity for Museum Documentation ein Vorschlag unterbreitet. Im Schlußbericht von 1977 hatte man vorgeschlagen, daß verschiedene Museen die Zuständigkeit für die Deckung des ganzen Landes in
bestimmten Themenkreisen übernehmen könnten.
Diese Aufgabenverteilung erwies sich jedoch als
schwer durchführbar, da außer den Zentral- und
Spezialmuseen kein Museum das Sammeln jenseits
der eigenen Provinz- oder Gemeindegrenzen übernehmen konnte.
Statt dessen wurde eine Organisation ausgearbeitet, die aus 11 Arbeitsgruppen für verschiedene
Wirtschaftsbereiche besteht, die wir hier Bereiche
nennen. Diesen Bereichen konnten sich die Museen
anschließen.
Die ersten sechs Bereiche befassen sich mit dem
herstellenden Gewerbe. Die Bereiche 7 bis 10 dekken den Dienstleistungssektor. Diese Einteilung
gründet sich auf eine vollständige Bestandsaufnahme aller Wirtschaftszweige, in denen heute irgendeine Form von wirtschaftlicher Tätigkeit ausgeübt
wird, die sogenannte SNI (Svensk standard för näringsindelning = Schwedische Norm für die Einteilung in Wirtschaftszweige), die vom Statistischen
Zentralamt herausgegeben wird. Die SNI folgt dem
internationalen Klassifikationssystem ISIC (International Standard lndustrial Classification of all Economic Activities), der von den Vereinten Nationen ausgearbeitet worden ist. Nach dieser Einteilung wird
die gesamte öffentliche Statistik in Schweden herausgegeben. Der 11. Bereich wird Bereich Leben,
SAMMELARBEIT ALS FORSCHUNGSPROJEKT,
PROBLEME DER DURCHFÜHRUNG
ln einem Untersuchungsbericht äußern Gunilla Cedrenius und Bengt Nyström sich zur Vorgehensweise:
Es ist wichtig, daß die Dokumentation in der Praxis nicht zu theoretisch gehalten wird, sondern bewußt dazu führt, bestimmte Zielsetzungen, Themen oder eine bestimmte Problematik zu beleuchten. Die Dokumentation soll Antwort auf interessante und wichtige
Fragen geben, kann aber dennoch breit angelegt und detailliert
durchgeführt werden.
Man sollte nicht vergessen, daß die Dokumentation einer Erscheinung als eine grundlegende Forschungsaufgabe, als ein wichtiges
Vorstadium für die Sammlung von Quellenmaterial für spätere
Auswertungen und Forschungen zu betrachten ist.
Die Wahl der Themen und Fragestellungen sollte in den Arbeitsgruppen von der direkten Dokumentationsarbeit diskutiert werden.
Es sollten Fragestellungen formuliert werden, die für die Betrachtung des Wirtschaftszweiges oder der Branche, die man dokumentieren will, wichtig sind. Die Arbeit muß als eine Aufgabe in einem Forschungsprojekt betrachtet werden, an dem verschiedene
Museen teilhaben. Es sollte eine forschungsorientierte Dokumen-
SAMDOKs ORGANISATION
DAS SAMDOK-SEKRETARIAT
2
4
3
5
7
6
8
10
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40
IWK-Mitteilungen
tation angestrebt werden, bei der die Zusammenarbeit mit Universitätseinrichtungen oder anderen gleichwertigen Institutionen eine
selbstverständliche Entwicklung darstellt.
Die Untersuchungen über einzelne Arbeitsplätze, die von den verschiedenen Museen durchgeführt werden, können als Fallstudien
zu einzelnen Erscheinungen betrachtet werden; sie geben gute
Beispiele und sind repräsentativ für ein umfangreiches Material.
Eine Serie solcher Fallstudien ergibt zusammen ein treffendes Bild
von der beruflichen Tätigkeit und den Arbeitsbedingungen in unterschiedlichen Gebieten. Diese Ergebnisse sollten in größere,
stärker übergreifende Analysen aufgenommen werden, z. B. in
solche zum augenblicklichen Erscheinungsbild eines bestimmten
Wirtschaftszweiges und dessen Struktur in der heutigen Gesellschaft (oder während eines begrenzten Zeitraums). ln einen
Schlußbericht sollten solche Analysen und Berichte eingehen. Auf
diese Weise wird der Schlußbericht einer Arbeitsgemeinschaft eine bedeutsame und gründliche Dokumentation mit eingehenden
tiefgreifenden Untersuchungen gemischt mit übersichtlichen Beschreibungen.
Bei der Arbeit mit der Gegenwartsdokumentation in
Schweden ist ein interessantes Phänomen zu beobachten: Von Anfang an zeigten viele Museen starken
Enthusiasmus für diese neue und spannende Arbeit
- die Dokumentation der eigenen Zeit -, und in den
Arbeitsgruppen waren viele Museumsdirektoren vertreten. Nach ein paar Jahren jedoch ließ die Begeisterung für das Dokumentieren nach; es gab zwar
Pläne und Ideen, jedoch keine Mittel -weder finanzielle noch personelle.
Für eine sogenannte große Dokumentation, die
Feldstudien mit Interviews, Fotografieren, Materialauswertungen, Sammeln von Gegenständen und
das Verfassen eines Berichts umfaßt, wurden ca.
drei Monate veranschlagt. Die Realität zeigte dann
jedoch, daß für eine umfassende Dokumentation der
Gegenwart die Zeit fehlte und auch keine zusätzlichen Gelder bewilligt wurden. Für einen Museumsbeamten, der drei Monate lang an einem ganz anderen Projekt arbeitet, ist eine Vertretung erforderlich,
und dafür fehlten die Mittel. Die Museumsverwaltungen, die das Budget genehmigen sollten, gaben der
traditionellen Museumsarbeit oft den Vorzug und
meinten, die Dokumentation der Gegenwart könne
warten.
Aber der Zahn der Zeit nagt an allem, und so sahen die meisten Museumsverwaltungen zuletzt ein,
daß man mit der Zeit gehen muß und daß die Zeit
drängt. Auf allen Gebieten schreitet die Entwicklung
außerordentlich schnell voran. Immer mehr Museen
ist es gelungen, einen Teil ihres Budgets fest für die
Arbeit der SAMDOK zu veranschlagen. Manchmal
ist der Betrag nicht allzu groß, aber in einigen Fällen
erteilen die Träger der Museen die Genehmigung,
das Geld über mehrere Jahre zu akkumulieren, so
daß auf diese Weise jedes zweite oder dritte Jahr
ein größeres Projekt durchgeführt werden kann. Mit
den Geldern kann man eine Vertretung für einen Angestellten oder Beamten einstellen oder einen Angestellten bezahlen, der die Dokumentationsarbeit für
das Projekt leitet. Weiters werden Gelder benötigt
für das Drucken eines eventuellen Berichts oder die
Herstellung von Filmen/Videofilmen, vor allem aber
für den Kauf von Gegenständen, die in die Dokumentation der heutigen Zeit gehören: in unserer Welt
nicht gerade geringe Summen.
Dieser Erwerb von Objekten ist von größter Bedeutung. Viele Arbeiten zur Gegenwartsdokumentation - mit Ausnahme derer, die in der Arbeitsgruppe
über das Leben zu Hause (Hempoolen) gemacht
werden -haben zu keiner größeren Bestandszunahme an Museumsstücken geführt. Die Dokumentation
wird zwar erbracht, d. h. man führt Interviews, macht
Notizen bei den Feldstudien, fotografiert, sammelt
Reklamematerial, Bedienungsanleitungen, Zeichnungen und dergleichen, aber das Sammeln von
Gegenständen ist oft ein Problem, das u. a. auf den
verschiedenen Arbeitssitzungen und Konferenzen
ständig diskutiert wird. Denn es stellt sich die Frage,
was von einer Zellstoffabrik, einem Sägewerk oder
von der metallverarbeitenden Industrie zusammengetragen werden soll. Die Maschinen sind viel zu
kostspielig, als daß sie von einem Museum aufgekauft werden könnten. Was soll man mit einer großen, schweren Maschine in den Lagerräumen eines
kulturhistorischen Museums anfangen? Man diskutiert über die Anfertigung von Modellen und von sehr
guten Fotos, die später vergrößert und an Ort und
Stelle aufbewahrt werden können usw., und zuletzt
wird ein wenig Arbeitskleidung zusammengetragen.
Gute Fotos, Modelle, Geräuschaufnahmen, Arbeitskleidung samt sorgfältig erarbeiteten Daten können
in zukünftigen Ausstellungen einen Teil des Arbeitsmilieus widerspiegeln oder als Material für zukünftige Untersuchungen dienen. Eine sehr große Hilfe
sind dabei auch die Filme oder Videofilme, die von
einigen Museen manchmal als Hauptteil, manchmal
als Ergänzung einer Dokumentation angefertigt werden. Aber zu einer generellen Lösung der Frage,
welche Museumsstücke beschafft werden sollen,
sind wir bisher nicht gelangt. Könnten wir wie Superman in die Zukunft fliegen und erfahren, was künftige Generationen über uns wissen wollen, wäre das
Problem gelöst.
REGELMÄSSIGE ARBEITSTREFFEN,
GEMEINSAME DATENBANK
Heute beteiligen sich viele schwedische Museen engagiert an der Gegenwartsdokumentation; das Interesse und die finanziellen Mittel nehmen ständig zu.
Es sind auch schon einige Projekte aus der Zusammenarbeit mehrerer Museen entstanden. Für einige
von ihnen bemüht man sich sogar um externe Mittel
zur Finanzierung. Wie vorhin erwähnt, kommen viele
Arbeitsgruppen jährlich zu einem zweitägigen Treffen zusammen, bei dem man gemeinsam einen Arbeitsplatz, der dokumentiert werden soll, besichtigt.
Auf diese Art und Weise ist den Mitgliedern der Arbeitsgruppe eine ausgezeichnete Möglichkeit gegeben, vor Ort verschiedene Problemstellungen aufzugreifen sowie zusammen über die Ziele der
geplanten Dokumentation zu diskutieren. ln einem
Fall haben bisher die Mitglieder einer Arbeitsgruppe
(Kommunikationspools) gemeinsam eine Minidokumentation erstellt, anstatt einen Tag lang am runden
Tisch zu sitzen und zu sprechen. Das staatliche
Seehistorische Museum in Stockholm hat "neue
41
IWK-Mitteilungen
Technik an Bord einer Finnlandfähre" dokumentiert.
24 Stunden lang fuhren alle zwölf Mitglieder der Arbeitsgruppe auf dem Schiff mit und führten Interviews mit Besatzungsmitgliedern in unterschiedlichen Rängen. Das wurde zu einer praktischen
Lektion in Feldforschung und lnterviewtechnik, die
zu vielen kürzeren Diskussionen Anlaß gab. Die
Protokolle der Interviews wurden dem federführenden Museum übergeben, das auf diese Weise sein
eigenes Material vervollständigen konnte. Diese Untersuchung erwies sich als äußerst gelungene Feldforschung und war sogleich ein Test für die Zusammenarbeit unter den Museen.
Um eine Übersicht über alle von den schwedischen Museen durchgeführten Dokumentationsarbeiten zu erhalten, werden die entsprechenden Daten in einer Datenbank des SAMDOK-Sekretariats
gespeichert. Jedes Museum macht dem Sekretariat
einmal im Jahr auf einem speziellen Vordruck Angaben über durchgeführte oder geplante Arbeiten zur
Gegenwartsdokumentation. Diese sind im Computer
unter verschiedenen Stichworten und Codes leicht
zugänglich. Ein Museum, das mit der Planung einer
Dokumentation beginnt oder plötzlich aufgefordert
wird, einen von der Stillegung bedrohten Arbeitsplatz zu dokumentieren oder eine Ausstellung machen soll, dieses Museum kann in kürzester Zeit
über die Datenbank oder über ein Telefonat mit dem
SAMDOK-Sekretariat prüfen, ob bereits eine ähnliche Gegenwartsdokumentation von einem anderen
Museum vorliegt und ob diese Art von Gegenständen irgendwo anders zusammengetragen ist. So
kann doppelte Arbeit vermieden werden.
VORDRUCK ERLEICHTERT ERSTELLEN EINES
KURZBERICHTS
Wie sieht in diesem Zusammenhang die Realität in
einem Museum aus? Ein Mitarbeiter des Museums
stellt eine Gegenwartsdokumentation zusammen.
Es werden Interviews geführt, auf Band aufgenommen, oder schriftlich festgehalten, sie werden ausformuliert, Fotografien werden aufgenommen und
Texte zu den Fotos geschrieben. Das gesamte Material wird vielleicht fertiggestellt, nur die Auswertung und das Abfassen des Berichts fehlen noch.
Dann tauchen plötzlich andere Aufgaben auf, die
vorrangig erledigt werden müssen. Das gesammelte
Material wird unsortiert zur Seite gelegt, und man
sieht vor, einen Bericht zu schreiben, "sobald man
Zeit hat". Im schlimmsten Fall hat man nie die Zeit
dafür, und das Material bleibt ein Jahr ums andere
liegen, weil ständig neue Aufgaben hinzukommen.
Leider bleibt auf diese Weise viel Gegenwartsmaterial unregistriert und unauffindbar.
Um das zu verhindern, haben wir im SAMDOKSekretariat einen Vordruck ausgearbeitet, den wir
als obligatorischen Bericht bezeichnen. Fünf Seiten
werden unmittelbar, noch am selben Tag, an dem
eine Untersuchung abschließt, ausgefüllt. Die ersten
vier Seiten enthalten Fragen wie z. B.:
1. Präsentation des Dokumentationsgegenstandes,
42
2. Hintergrund, Motive der Dokumentation,
3. Arbeitsverlauf von der Planung bis zum Abschluß
der Dokumentation,
4. Spezielle Fragen und Probleme im Zusammenhang mit der Dokumentation,
5. Gesammelte Gegenstände,
6. Anzahl, Art und Motive der Fotos,
7. Sonstige (persönliche) Kommentare usw.
Die fünfte Seite ist eine Zusammenfassung der
Fakten. Zum Ausfüllen dieses Vordrucks benötigt
man zwischen einer Stunde und einem halben Tag,
wenn dies geschieht, solange die Dokumentation
noch ganz aktuell ist. Dieser obligatorische Bericht
wird an das SAMDOK-Sekretariat in Stockholm geschickt, das die Angaben in die Datenbank eingibt,
Fotokopien anfertigt und diese den anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe, die an der Dokumentation
beteiligt sind, zusendet. So wird das Material bekannt und ist leicht auffindbar. Für SAMDOK ist es
am wichtigsten, daß die Gegenwartsdokumentation
bekannt und das Material für zukünftige Zwecke verfügbar ist, unabhängig davon, ob ein ausführlicher
Bericht vom Museum angefertigt wird oder nicht.
Im Zusammenhang damit sind auch Richtlinien
für Archivierungsprinzipien ausgearbeitet worden,
damit die Museen soweit wie möglich dasselbe Archivierungssystem für ihr Material zur Gegenwartsdokumentation anwenden. Es würde die Materialsuche in Zukunft zweifellos erleichtern, wenn alle
Museen dieselben oder zumindest ähnliche Archivierungsprinzipien verwendeten. Dies ist jedoch
schwer zu verwirklichen, da die meisten Museen bereits über fest etablierte- unterschiedliche - Systeme verfügen. Diese Anweisungen sind jedoch nützlich für diejenigen, die an eine Veränderung denken
oder sich nicht sicher sind, nach welchem System
sie arbeiten wollen. So können auf lange Sicht sicher gute Resultate erzielt werden.
Ganz kurz sollte erwähnt werden, daß 1988 ein
weiteres Tätigkeitsfeld zur Arbeit des SAMDOK-Sekretariats hinzukam. Im Sekretariat wurde ein Projektleiter angestellt, der das Projekt Schweden - ein
Einwanderungsland starten sollte. Die Einwanderer
werden zu einem Teil des schwedischen Volks und
dürfen bei der Museumsarbeit nicht vergessen werden. Das Projekt wird mit besonderen staatlichen
Mitteln auf eine Dauer von drei Jahren verfolgt, um
dann in die normale Aufgabenstellung der Museen
integriert zu werden. Während der ersten drei Jahre
jedoch versucht der Projektleiter ein Zusammenwirken von Organisationen der Einwanderer auf der einen und den Museen, Archiven und Bibliotheken auf
der anderen Seite zu erreichen. Ziel ist es, die Gruppe der Einwanderer dazu zu bewegen, ihr Leben
seit ihrer Ankunft in Schweden selbst zu dokumentieren. Diese erste Phase wird, so hoffen wir, in einer großen Anzahl von Ausstellungen munden, bei
denen die Organisationen der Einwanderer mit den
Museen im ganzen Land zusammenarbeiten werden. Fünfzehn Projekte mit unterschiedlichen Einwanderergruppen in verschiedenen Teilen des Landes laufen gegenwärtig. Noch ist es zu früh zu
IWK-Mitteilungen
sagen, ob zukünftig eine eigene Arbeitsgruppe zur
Frage der Einwanderer gebildet oder das Projekt in
einer anderen Gruppe integriert wird.
Zur Zeit arbeiten die meisten der elf Pools oder
Gruppen sehr gut, und alle Mitglieder in den verschiedenen Teilen des Landes sammeln Material
zur Dokumentation der Gegenwart. Von Zeit zu Zeit
wird in den Museen nachgefragt, wie die bisherige
Zusammenarbeit und die Koordination der Gegenwartsdokumentation in den Museen beurteilt wird.
Diese Umfragen werden an die Museumsverwaltungen sowie an Museumsdirektoren und Vertretern
der Arbeitsgruppen verschickt, um somit die Meinungen aller Beteiligten einzuholen. Die Resultate
werden in allen Arbeitsgruppen diskutiert sowie dem
SAMDOK-Rat vorgelegt. Mit diesen Informationen
als Basis können Vorschläge für die zukünftige
SAMDOK-Arbeit präsentiert werden. Gleichzeitig erhalten wir auch eine Antwort auf die Frage, welche
Resultate die Arbeit der vergangenen Jahre erbracht hat.
Jeder Bereich ist beauftragt, sein Zuständigkeitsgebiet zu analysieren und zu durchdringen sowie
die Ausrichtung der Arbeit und die Auswahl der Dokumentationsobjekte zu diskutieren. Die Museen lösen einander jeweils mit der Durchführung einer be-
stimmten Untersuchung ab, sodaß wenigstens eine
Gegenwartsuntersuchung im Jahr fertiggestellt wird.
Ein in allen Bereichen durchgehend auftauchendes
Thema ist die Veränderung der Arbeit - sowohl in
bezug auf die Produktion wie auf den Inhalt der Arbeit.
Das enorme Angebot unserer heutigen Zeit und
die schnelle Umlaufzeit der Erzeugnisse erschweren
es, die Museen zu überblicken, was für kommende
Generationen gesammelt werden sollte. Die Erfahrung zeigt, daß die Museen schon heute Schwierigkeiten haben, Gegenstände von kulturgeschichtlichem Interesse, beispielsweise aus den fünfziger
Jahren, zu erwerben.
Wenn man etwa 20% der Dokumentationsressourcen für die Gegenwartsdokumentation reserviert, würden die Museen das Ziel zeitmäßig erreichen können. Die restlichen 80% der Mittel könnten
dann für die Dokumentation der ersten sieben Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts aufgewendet werden.
Innerhalb der SAMDOK-Arbeit gelten deshalb folgende Prioritäten:
- das Zeitgenössische vor dem Historischen
- das Alltägliche vor dem Merkwürdigen
- das Repräsentative vor dem Einzigartigen
- das Lebenskräftige vor dem Aussterbenden.
AGNE FURINGSTEN
DIE ROLLE ALS "MUSEUM MIT LANDESUMFASSENDER
VERANTWORTUNG IM SCHWEDISCHEN MUSEUMSWESEN"
Das schwedische Museumswesen besteht aus drei
Gruppen von Museen: örtlichen, regionalen und zentralen/staatlichen Museen. ln großen Zügen enthält
das System eine gut entwickelte Wechselwirkung zwischen den Museen. Diese Wechselwirkung gründet
sich auf gegenseitigen Respekt für die Eigenart des
anderen, und grundsätzlich, sehrwenig Konkurrenz.
Der Mangel an Konkurrenz besteht hauptsächlich
darin, daß die finanzielle Verantwortung der Museen
auf mehrere Träger verteilt ist, nämlich: die Gemeinde für die örtlichen, der Landtag (am häufigsten
aber nicht immer) zusammen mit der Gemeinde für
die regionalen und der Staat für die Zentralen.
Politisch ist Schweden in 24 Provinzen eingeteilt
und besteht insgesamt aus 284 Gemeinden/Städten. ln jeder Provinz gibt es eine regionale Museumsorganisation, die zwar verschieden organisiert sein kann, aber hauptsächlich eine sehr
einheitliche Betriebsform hat. Die regionalen Museen sind allgemeine Museen, das heißt, sie behandeln Geschichte/Kulturgeschi<?,hte, Kunst/Kunstgewerbe und Naturgeschichte/Okologie und bilden
damit die homogenste Museumsgruppe in Schweden, mit einer seit vielen Jahren gut entwickelten
Zusammenarbeit, die teils aus einem gemeinsamen
Organ, dem "Rat der Zusammenarbeit der regionalen Museen", besteht und teils aus einem Kollegium
der Museumsdirektoren, dem ,,Verein der regionalen
Museumsdirektoren", wo gemeinsam Fragen und
Strategien entwickelt und diskutiert werden.
Außer den sogenannten regionalen Museen
(länsmuseer), gibt es in ungefähr einem Drittel der
284 schwedischen Gemeinden ein örtliches Museum. Diese sind wesentlich heterogener in Charakter, Größe und Einrichtung. Hier gibt es sowohl reine Kunstmuseen oder andere Spezialmuseen, zum
Beispiel für Geschichte der Technik, Naturwissenschaftliche Geschichte usw., als auch traditionelle
kulturgeschichtliche/lokalgeschichtliche Museen.
DieGröße schwankt dabei zwischen einer Handvoll
und ungefähr hundert Angestellten. Seit April 1992
haben auch die örtlichen Museen ein Kooperationsorgan eingerichtet, den "Rat der lokalen Museen", der
aber erst am Anfang seiner Tätigkeit steht.
43
IWK-Mitteilungen
(Die Heimatmuseen und die ziemlich wenigen Privatmuseen werde ich in diesem Zusammenhang
nicht berühren.)
Die dritte Gruppe sind die 11 staatlichen/zentralen Museen. Einige von ihnen sind "Museumskonzerne" mit mehreren Museen in der Organisation,
das heißt, wenn alle einzelnen Museen gerechnet
werden, sind es 21. Dazu kommt noch das Zentralamt für Denkmalpflege, "Riksantikvarieämbetet".
Politisch gesehen sind die Museumsangelegenheiten seit der letzten Wahl, die eine veränderte politische Majorität brachte, dem neu eingerichteten
Kulturministerium unterstellt. Früher gehörten die
kulturellen und musealen Fragen zum Ausbildungsministerium, wo außerdem Ausbildungs- und Forschungsfragen behandelt wurden.
Als freistehende Kulturbehörde außerhalb dem
Kulturministerium gibt es ein kulturverwaltendes Organ, den sogenannten "Staatlichen schwedischen
Kulturrat", u. a. mit vorbereitenden und geldbewilligenden Aufgaben und mit der Möglichkeit, Anstoß
zu öffentlichen Untersuchungen und zu Entwicklungsarbeit zu geben.
GESCHICHTLICHE ÜBERSICHT
Die Geschichte der schwedischen Museen beginnt
schon im 17. Jahrhundert. Die bedeutungsvolle Entwicklung geschah jedoch während des 19. Jahrhunderts, als mehrere große nationale Museen, sowie
viele regionale Museen gegründet und aufgebaut
wurden. Der Schwerpunkt während dieser Periode
bis in die 1970er Jahre hinein, lag darin, die Museen
und kulturellen Institutionen zu entwickeln. Ab dieser Zeit bemühte man sich sehr zielbewußt darum,
die Kultur zu dezentralisieren und starke und vielseitige regionale Museen aufzubauen, die sogenannten "Länsmuseer".
Die regionalen Museen haben dabei eine finanzielle Unterstützung direkt vom Staat erhalten, den
sogenannten Grundbetrag (zur Zeit ungefähr
110.000 SEK), die im Verhältnis zu den eigenen Anlagen der kommunalen und regionalen politischen
Instanzen verteilt wird. Zur Zeit wechselt die Anzahl
dieser Museen je nach Provinz zwischen 15 und 26.
Das Ergebnis dieser Entwicklung war, daß die nationalen Museen zurückstehen und mit immer kleineren staatlichen Zuschüssen haus halten mußten.
DIE ENTSTEHUNG DER MUSEEN MIT LANDESUMFASSENDER VERANTWORTUNG
ln der Mitte der 1980er Jahre wurde man sich dieses Problems so sehr bewußt, daß auch manche
Politiker der Meinung waren, daß etwas getan werden müßte, um die Situation der nationalen Museen
zu verbessern. Gleichzeitig hatte auch die schnelle
Entwicklung bei den regionalen Musseen zum Erheben von Ansprüchen auf Spezialkenntnisse und hohe Kompetenz in den nationalen Museen geführt.
ln einer öffentlichen Untersuchung von 1987 mit
dem Titel "Museiförslag", wird vorgeschlagen, daß
44
die großen nationalen Museen sogenannte "verantwortliche Museen" (Ansvarsmuseer) sein sollten.
Hinter diesem Vorschlag steckte der Gedanke, daß
diese Museen, die viele Angestellte mit hoher Kompetenz hatten, als aktive Museumsinstitutionen
innerhalb der folgenden Sektoren funktionieren sollten: Kulturgeschichte/Geschichte; Kunst; Archäologie; Naturgeschichte/Ökologie und Völkerkunde/Anthropologie. Diese Sektoren sollten dabei durch
folgende fünf Museen repräsentiert sein: Nordiska
Museet; Statens Konstmuseer/Nationalmuseum;
Statens Historiska Museum; Naturhistoriska Riksmuseet und Folkens Museum/Etnografiska.
Die erwähnten Museen sollten gemäß dem Vorschlag sowohl hinsichtlich des Inhalts als der Form
der Tätigkeit die Initiative zur Entwicklung in sämtlichen schwedischen Museen innerhalb ihrer Themenbereiche ergreifen. Sie sollten führend in der
Forschung sein und dafür sorgen, daß die Arbeit in
den schwedischen Museen koordiniert würde. Sie
sollten weiterhin den Museen im ganzen Land als
"Bank des Wissens" (",nformationspool") zur Verfügung stehen, in den Bereichen "sammeln - pflegen/aufbewahren- ausstellen".
Die Tatsache, daß die Regierung und der schwedische Reichstag dann auf Grundlage dieses Vorschlages den Entschluß faßten, die sogenannten verantwortlichen Museen einzurichten, war auch ein Signal
dafür, daß die Politiker weniger "speaking partners" innerhalb des kulturellen Sektors haben wollten, besonders in Hinsicht auf strategische Fragen.
DIE ROLLE ALS "MUSEUM MIT LANDESUMFASSENDER VERANTWORTUNG"
Wie ist es denn mit dieser Idee in der schwedischen
Museumslandschaft gegangen? Hier könnte man
sagen, daß wir sowohl positive als negative Erfahrungen gemacht haben.
Eine wichtige Aufgabe war, den Inhalt dieser verantwortungsvollen Rolle zu definieren. Was bedeutet sie eigentlich? Ein Problem war, daß die politischen Behörden nicht deutlich ausgesprochen oder
definiert haben, was sie meinen. Außerdem ist die
Rolle auch von einigen zentralen staatlichen Museen in Frage gestellt worden, so wie vom Zentralamt der Denkmalpflege und in gewisser Hinsicht
auch vom Staatlichen schwedischen Kulturrat
Das Nordiska Museet seinerseits hat die Verantwortung folgendermaßen definiert: Das Nordiska
Museet soll das vornehmste kulturgeschichtliche
und historische Museun des Landes sein. Das bedeutet eine breite Kompetenz im Fachgebiet: ungefähr ein Drittel der Sachbearbeiter (handläggere),
die Abteilungsleiter inbegriffen, haben promoviert
und einige unter ihnen sind außerdem Dozenten.
Das entspricht ungefähr 10% der Mitarbeiter.
Die Kompetenz gilt nicht nur für die Akademiker.
Wir bemühen uns auch um hohe Qualifikation in den
übrigen Kategorien: Sekretärinnen, Techniker, Büroangestellten, Handwerker usw.
Gleichzeitig ist es uns bewußt, daß wir nicht im-
IWK·Mitteilungen
mer die besten Experten des Landes sein können.
ln den Gebieten, wo wir nicht diese Kompetenz besitzen, halten wir uns doch auf dem laufenden über
Experten in anderen Museen, Universitäten oder
Hochschulen, damit wir immer auf die richtige lnstanz hinweisen können.
Neben der Sachverständigenkompetenz, ein Museum mit landesumfassender Verantwortung soll
nicht nur für Dokumentation und Sammlung sorgen,
wird auch die Forschungsaufgabe forciert. Daher
haben wir teils im Rahmen der Organisation einen
Professor der Volkskunde, der gleichzeitig zur Universität in Stockholm gehört, zum Institut für Volkskunde, zusammen mit seinen Assistenten. Teils
wurde im Zusammenhang mit einer Neuordnung vor
ein paar Jahren eine Forschungsgruppe eingerichtet, die aus drei Dozenten besteht (zwei in Volkskunde und einer in Kunstgeschichte). Die Forschung
wird teilweise aus eigenen Mittel finanziert, teilweise
aus zusätzlichen staatlichen Forschungsmitteln, die
noch nicht sehr groß sind. Diese Mitteln ermöglichen, daß ein paar Mitarbeiter sich jedes Jahr ganz
einer Forschungsaufgabe widmen können.
Das ist wichtig, weil die schwedischen Universitäten sich nur selten mit museumsbezogener Forschung beschäftigen, wie etwa der Erforschung der
Gegenstände in ihrem gesellschaftlichen Kontext.
Eine andere wichtige Rolle der verantwortlichen
Museen ist, die Initiative zu ergreifen und die Aufgaben zu koordinieren. So ist zum Beispiel SAMDOK
entstanden. Der Begriff SAMDOK hat gleichzeitig
zwei Bedeutungen: koordinierte Dokumentation und
Gegenwartsdokumentation (Näheres dazu im Beitrag auf Seite 39).
Die Rolle der verantwortlichen Museen besteht
auch darin, den Anstoß zu Aktivitäten, die entweder
vernachlässigt wurden oder ganz neu sind, zu geben.
ln Schweden gilt das unter anderem für die Folkloristik
oder die Sammlung von Lebensbeschreibungen; aber
auch für vernachlässigte Dokumentations- und Sammelprojekte, wie "Das Auto und das Autofahren als gesellschafts-historisches Phänomen". Diese Dokumentation wird zur Zeit in Form größerer und kleinerer Projekte im ganzen Lande durchgeführt. Ein großes, aktuelles Ausstellungsprojekt ist "Die Schwedische Geschichte", mit der Zielsetzung, dem schwedischen
Volk ihre Geschichte zurückzugeben, wie auch den
Einwanderern die in den letzten Jahren in dieses Land
gekommen sind.
Einen Anstoß bietet die Veranstaltung von Kursen für verschiedene Gruppen von Museumsangestellten. Die Kurse behandeln zum Beispiel Vertiefungen im Fachgebiet, wie Volkskunde oder
Geschichte, oder methodische Fragen wie Dokumentationstechnik. Wir haben auch Kurse für Ausstellungsaufbau und Lichttechnik veranstaltet.
Außer SAMDOK gibt es im Nordiska Museet zwei
andere koordinierende Funktionen, die besonders
deutlich durch politische Beschlüsse formuliert worden sind, INSAM und das Sekretariat der Photographie. Das letzte hat erst 1992 seine Tätigkeit begonnen. Die Aufgabe INSAM's besteht darin, das Compu-
tersystem in den schwedischen Museen zu koordinieren und weiterzuentwickeln. Das Sekretariat der Photographie hat dieselbe Aufgabe auf dem Photogebiet
Wie hat es denn funktioniert? Meiner Ansicht
nach (ich war bis vor ungefähr einem halben Jahr
Direktor an einem regionalen Museum, dem Värmlands Museum) haben die Museen mit landesumfassender Verantwortung im großen und ganzen gut
funktioniert. Die Probleme, die vorhanden sind, hängen damit zusammen, daß die Forderungen der Politiker an die schwedischen Museen zu hoch und die
Ressourcen zu klein sind.
Ein anderes Problem habe ich schon erwähnt: unterschiedliche Meinungen von der Rolle der verantwortlichen Museen. Ein drittes Problem, das auch
mit dem Mangel an Ressourcen zusammenhängt,
ist die ziemlich beschränkte Möglichkeit, als ein gutes Beispiel zu agieren. Unsere Forschungen, unsere Möglichkeiten, ein Vorbild auf verschiedenen
Gebieten, wie der Pflege der Objekte und Konservierung, Registrierung, Katalogisierung usw. zu
sein, sind auch ziemlich begrenzt.
Wenn man Selbstkritik üben sollte, könnte man
sagen, daß es wahrscheinlich daran liegt, daß wir
unsere Politiker nicht deutlich genug über Mängel
und Bedürfnisse informiert haben.
DIE ZUKUNFT
Wie wird es in der Zukunft werden? Ich bin ein unheilbarer Optimist, bis man mir das Gegenteil beweisen kann! Das wichtigste für die verantwortlichen
Museen ist, die neue Rolle deutlich zu machen, sowohl für uns selbst wie für unsere Kollegen in anderen Museen, für Politiker und die Umwelt. Es ist notwendig, den Begriff ganz genau zu definieren und
dadurch auch die Möglichkeit zu größeren finanziellen Ressourcen zu schaffen.
Zweitens müssen wir mehrere konkrete Gebiete
der Koordination betonen (wie SAMDOK, INSAM
und Photo) zum Beispiel Gegenständepflege, Konservierung, Registrierung, Katalogisierung und Ausstellungen.
Drittens müssen wir die Kontakte mit anderen kulturellen Institutionen erweitern: Archive, Bibliotheken, Theater, Musik usw., um neue Arbeitsformen in
unserem Gebiet zu finden. Dadurch wird die Zugänglichkeit für unsere Besucher und "Konsumenten" verbessert.
Viertens müssen wir die Zusammenarbeit mit den
Universitäten und Hochschulen vertiefen, hauptsächlich auf dem Forschungsgebiet, und der Ent-wicklung des Wissens.
Fünftens, aber nicht zuletzt, müssen wir unsere
internationalen Verbindungen und Erfahrungen erweitern, damit die Museen mit landesumfassender
Verantwortung bereichert werden.
Zusammenfassend bin ich also der Meinung, daß
die "Verantwortungsmuseen" gekommen sind um zu
bleiben, auch in einem Europa, das sowohl mehr
vereinigt als auch mehr auf Regionen eingestellt
sein wird.
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IWK-Mitteilungen
EVA PERSSON
DAS ARBEITSMUSEUM IN NORRKÖPING
Im folgenden möchte ich die neueste Errungenschaft innerhalb der schwedischen Museumsszene,
das Arbeitsmuseum in Norrköping, vorstellen. Ich
erinnere mich noch an die erste Sitzung, 1979 oder
1980, jedenfalls vor mehr als zehn Jahren, als dieses Projekt erstmals auf offizieller Ebene besprochen wurde.
Die Sitzung war deshalb so interessant, weil die
Teilnehmerinnen eine gemischte und dennoch heterogene Gruppe bildeten. Abgesehen von den Museumskuratorlnnen und -direktorlnnen aus ganz
Schweden, nahmen auch Vertreterinnen der schwedischen Arbeiterbewegung, der Gewerkschaften,
der Sozialdemokratischen Partei und deren Bildungsstelle sowie des ABF, des Arbeiterbildungsvereins, daran teil.
Die ursprüngliche Idee für ein solches Museum
stammte von einem Norrköpinger Sozialdemokraten, es waren aber auch Mitglieder der Stockholmer
Gewerkschaftsbewegung bei der Sitzung anwesend, zumal dieses Museum auch nationale Bedeutung erlangen sollte. Man stimmte überein, daß es
wichtig sei, ein Nationalmuseum in Schweden zu errichten, das die Geschichte der Arbeiterbewegung
und die schwedische Industrialisierung aus der Sicht
der Arbeiterinnen darstellen würde.
Ich war dagegen. Nicht etwa, weil ich gegen ein
Museum bin, das die Zustände im schwedischen
Proletariat darstellt, sondern weil ich die Einrichtung
eines neuen Spezialmuseums für falsch hielt. Wir
haben eine Museumsstruktur, die ein akademisches
Konzept der Weit reflektiert, einer Weit, in der alles
in separate Abteilungen und Themenbereiche aufgeteilt ist. Ebenso wie in der akademischen Weit
gibt es in der Museenweit separate Institutionen
- für die visuellen Künste (Kunstgalerien)
- für unsere Kulturgeschichte (volkskundliche Museen)
- für die Kulturgeschichte außerhalb Europas (anthropologische oder ethnographische Museen)
- für die Entwicklung der Technologie (Museen für
Wissenschaft und Technologie)
- für die Evolution der Natur (naturhistorische Museen).
Außerdem gibt es spezialisierte Museen für allgemeine Geschichte, für Kunsthandwerk, für Tanz
oder etwa die Geschichte des Postdienstes etc., etc.
Die Frage war, ob unser Projekt bloß ein weiteres
Spezialmuseum werden würde, eines, das sich
eben auf die Geschichte der Arbeiterbewegung spezialisierte.
Nein, damit stimmte ich nicht überein. Die Arbeitnehmerlnnen und ihre Geschichte sollten Teil von allen Museen sein. Die Arbeit der Menschheit sollte
zum Beispiel in den naturhistorischen Museen ge-
46
zeigt werden, um die wechselseitige Beziehung zwischen Natur und Kultur verständlicher zu machen.
Um die Geschichte der Arbeiterbewegung in Schweden zu verstehen, muß man sie in ihrem geschichtlichen Kontext begreifen. Man muß sich nur ihre Ursprünge ansehen, um etwa zu begreifen, warum die
Menschen vom Land und den Bauernhöfen in die
Städte und Fabriken abwanderten. Es sollte deshalb
auch die Aufgabe kulturhistorischer und ethnologischer Museen sein, Material zu sammeln und Ausstellungen über die Geschichte der Arbeiterinnen zu
zeigen. Sogar in technologischen oder wissenschaftlichen Museen sollten die Arbeitsbedingungen der
Arbeiterinnen ihren rechtmäßigen Platz einnehmen.
Bis jetzt waren diese Museen ein Forum für Kapitalisten, Arbeitgeber, Fabriksbesitzer und andere Industrielle. Aber vielleicht könnte die Geschichte der Industrialisierung besser verstanden werden, wenn
beide Seiten, die des Kapitals und die des Proletariats im gleichen Museum erforscht würden. Jedenfalls
nicht in separierten, spezialisierten Museen.
1989, zehn Jahre nach der ersten Sitzung, in der
ich meinen Widerstand gegen ein Spezialmuseum
für die Geschichte der Arbeiterbewegung geäußert
hatte, wurde mir der Job der künstlerischen Ausstellungsdirektorin an eben diesem Museum angeboten. Ohne zu zögern, akzeptierte ich!
Was war geschehen? Hatte ich meine Meinung
geändert? Oder brachte mich das relativ hohe Gehalt dazu, den Job doch anzunehmen?
Das Gehalt und mein Wunsch nach einem Jobwechsel sowie nach einer Ortsveränderung (zu jenem Zeitpunkt hatte ich bereits zwanzig Jahre im
Referat "Schwedische Wanderausstellungen" in
Stockholm gearbeitet) mag dazu beigetragen haben. Aber der entscheidende Faktor, warum ich das
Angebot annahm, war, daß das Museum seine Meinung geändert hatte, nicht ich.
1989 hatte man sich nämlich entschlossen, nicht
nur ein Museum der Arbeiterbewegung, sondern
auch der Arbeit zu bauen. Die Idee zu diesem Museum kam von Seiten der traditionellen Arbeiterlnnenbewegung, den Gewerkschaften der lndustriearbeiterlnnen, und lag auch primär in ihrem Interesse.
Ich glaube, ein Grund für diese Ausweitung war eine
breitere finanzielle Basis. Mit der Zeit wurden auch
andere Organisationen, wie etwa die Gewerkschaft
TCO, die die Angestellten vertritt, und auch deren Bildungsstelle TBV in das Projekt einbezogen. Die
schwedische Genossenschaftsbewegung, eine Organisation, die in Schweden sowohl Produzenten als
auch Konsumenten vertritt, war ein weiterer Mitbegründer.
Mit der Zunahme und Verbreitung der ideologischen und finanziellen Unterstützung entwickelte
IWK·Mitteilungen
sich die Idee zu einem umfassenderen und differenzierteren Konzept eines Museums der Arbeit.
Zukünftig wird sich unser Museum in Forschung
und Ausstellung auf die Geschichte der letzten hundert oder zweihundert Jahre konzentrieren. Aber
nichts wird uns daran hindern, die heutigen Arbeiternehmerlnnen und ihre Arbeit sowie die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, mit den Zuständen in
der vorindustriellen Gesellschaft, etwa mit Arbeit in
der Landwirtschaft oder mit der Sklavenarbeit im alten Griechenland oder gar mit der unbezahlten
Hausarbeit von Frauen zu vergleichen. Wir glauben,
damit die Probleme der schwedischen Industrialisierung besser erforschen und erklären zu können.
*
Warum liegt unser Museum in Norrköping und nicht
in unserer Hauptstadt Stockholm? Dafür gibt es einige
Gründe. Die ursprüngliche Idee -ein Museum für die
Geschichte der Arbeiterbewegung zu schaffen- kam,
wie ich bereits erwähnte, von einem Lokalpolitiker aus
Norrköping. Das war kein Zufall. Seit hunderten von
Jahren war Norrköping eine Stadt der Arbeiterklasse;
es wurde sogar das Manchester von Schweden genannt. Textilarbeiterinnen dominierten in der Stadt.
Heute existieren die Spinnerei- und Weberbetriebe
längst nicht mehr, aber die leeren Fabriksgebäude
stehen noch immer. Sie bilden eine imposante Industrielandschaft entlang des Motala-Fiusses, der auch
ursprünglich als Energiequelle diente.
Die schönste dieser Fabriken war das heutige Museumsgebäude. Wegen seiner architektonischen
Form wird es Strykjärnet, bzw. das Bügeleisen, genannt. Das Haus wurde während der Textilperiode
dieser Stadt gebaut, genauer genommen im Jahr
1917. 1964 endete die Textilarbeit in diesem Gebäude. ln der Dunkelheit des Winters, im Dezember 1991,
wurde das Museum für Arbeit im "Strykjärnet" eröffnet.
Das Museum liegt auf einer kleinen, spitzen Insel.
Man erreicht es über schmale Brücken. Der Haupteingang, beflaggt mit unseren eigenen Fahnen, ist
klein und unbedeutend. Der Architekt, der die Fabrik
zu einem Museum umbaute, hat das Gebäude sorgfältig restauriert. Durch diesen Eingang sind täglich
hunderte von Textilarbeiterinnen auf ihrem Weg zur
Arbeit vorbeigezogen - lange vor den Museumsbesucherlnnen.
ln der Empfangshalle des Museums begrüßen wir
die Besucherlnnen. Es gibt keine Eintrittsgebühr,
der Besuch ist kostenlos. Strykjärnet hat sieben
Stockwerke, sieben Seiten, beinahe siebenhundert
Fenster und ist sieben Tage in der Woche geöffnet.
Alle Etagen sind der Öffentlichkeit zugänglich - sogar jene, in denen sich unsere Büros befinden.
Denn dort ist unsere Bibliothek, die wochentags von
Museumsbesucherinnen benutzt werden kann.
Ich werde Sie durch das Gebäude führen. Wir beginnen ganz unten- in einem Raum, in dem sich die
Besucherinnen teilweise unter der Wasseroberfläche befinden. Früher war dies der Lagerraum der
Fabrik. Als die Wände nach der Reinigung ausge-
malt wurden, entstand der Eindruck vom Inneren einer ägyptischen Grabkammer. Diesen Raum stellten
wir jenen Künstlerinnen zur Verfügung, die eine
Aussage zum Thema Arbeit machen wollten. Was
ist Arbeit? Warum arbeiten wir? Was wollen wir tun
und wozu werden wir gezwungen? Wann beginnen
wir zu arbeiten? Vielleicht schon als Kinder in der
Sandkiste? Diese Idee wird von einem Künstler in
seiner Arbeit "Sandkiste" aufgegriffen. Um uns anzuregen, über die zeitlosen Fragen der Arbeit nachzudenken, wirft er einen Blick in die Vergangenheit.
Inspiriert wurde er dabei vom Turmbau zu Babel und
dem Labyrinth des Daidalus, zwei der am längsten
überlebenden Mythen von Mensch und Arbeit.
Beim Eingang gibt es zwei kleine Ausstellungsflächen. Hier werden die Ausstellungen relativ oft ausgetauscht.
Eine Fläche heißt "Das Arbeitsplatz-Museum des
Monats". Hier präsentieren wir kleine Lokalmuseen,
die von Arbeiterinnen von ihrer jeweiligen Arbeitsstätte inspiriert (sowohl manuell als auch intellektuell),
selbst geschaffen wurden. Überraschenderweise gibt
es siebenhundert solcher Arbeits- platzmuseen in
Schweden! (Wenn irgendetwas in die neu schwedische Museenlandschaft hineingehört, dann das!) lndem wir diese Museen der breiten Öffentlichkeit vor-
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Sandbank-Installation
Eingangsbereich (Information, Museums-Shop,
"Brännpunkten", Arbeitsplatzmuseum des Monats)
"Mellanrummet"- Zwischenbereich (Wechselausstellungen, Werkstätten)
Bibliothek, Archiv, Büros
Ausstellung "Der sechste Sinn"
Gate, Seminarraum, Konferenzsaal
Arbeitswelt-Fotoausstellung
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IWK·Mitteilungen
stellen, beweisen wir, wie die Geschichte der Arbeit lebendig erhalten werden kann: nicht nur durch professionelle Historikerinnen und Museumsfachleute, sondern auch durch die Menschen selbst, und zwar dort,
wo sie leben und arbeiten.
Die andere Fläche heißt "Brännpunkten"- Brennpunkt. Hier wollen wir das Heute widerspiegeln. Was
geschieht heute am Arbeitsplatz? Was macht Arbeiterinnen glücklich? Was ist die Ursache ihrer Probleme? Existieren die althergebrachten gewerkschaftlichen Kampfmittel noch? Oder gibt es eine andere
Methode, wie Arbeiterinnen ihre Unzufriedenheit
ausdrücken können? Die erste Ausstellung war eine
künstlerische: "Frauen und Brot". Sechs Künstlerinnen besuchten sechs Industriebäckereien und interpretierten ihre Eindrücke, wobei sie Applikations-,
Webe- und Sticktechniken verwendeten. Eine neue
Ausstellung wird vorbereitet, die sich mit der Arbeit
von Reinigungs-Personal beschäftigt. Das Nordische
Museum und das Arbeitsmuseum legten 1991 eine
Sammlung von "Erinnerungen von Putzfrauen" an.
121 Personen schrieben und erzählten über ihr Leben. Viervon diesen Lebensgeschichten wurden vom
Arbeitsmuseum ausgewählt. Vier Frauen, deren Beruf es war, zu putzen oder- wie eine Frau sagte, "den
Dreck der anderen wegzuräumen ... ".
Die Ausstellung heißt "Im Stiegenhaus" - denn
die meisten Putzfrauen empfanden das Stiegenwaschen als den anstrengendsten Teil ihrer Arbeit.
Wir sind ein offenes Museum. Nichts und vor allem auch nicht unsere eigene Arbeit soll unseren
Besucherinnen vorenthalten werden. Sie können
auch Einblick in die Museumswerkstätte nehmen,
die nach drei Richtungen hin verglast ist und an den
"Mellanrummet", den "Dazwischen-Raum" angrenzt.
Im "Dazwischen-Raum" wird eine etwas ungewöhnliche Ausstellung vorbereitet. Lehrerinnen und Schülerinnen einer außerhalb von Norrköping gelegenen
Schule beschreiben, wie es sich in einer Wohngegend
des modernen Proletariats lebt. ln dieser spezifische;,
Gegend leben siebendundzwanzig verschiedene Nationalitäten. Erwachsene und Kinder aus siebenundzwanzig verschiedenen Ländern- wie werden sie damit fertig? Na gut, manchmal werden sie ausgezeichnet damit fertig und manchmal bricht die Hölle los. Das
zeigen die Kinder und die Lehrerinnen in ihrer Ausstellung. Die Schülerinnen und ihre Lehrerinnen haben
die meiste Arbeit geleistet. Unsere Mitarbeiterinnen im
Museum halfen ihnen, die Ausstellung aufzubauen,
sich finanzielle Hilfe für die Ausstellung zu besorgen
und Seminare zur Ausstellung zu organisieren. Die
Seminare wurden in den modernen Konferenzräumen
abgehalten und landesweit besucht. Im gleichen
Stock wie die Seminarräume und der Konferenzsaal
gibt es übrigens auch ein beliebtes Restaurant. Die Bibliothek befindet sich auf demselben Stockwerk wie
unsere Büros und ist werktags öffentlich zugänglich.
Das bedeutet, daß wir täglich mit unseren Besucherinnen in Kontakt stehen. Natürlich sehen oder sprechen
wir sie nicht nur an, wenn sie sich auf unserem Stockwerk befinden, sondern auch, wenn wir ihnen die Ausstellung zeigen. Bis jetzt haben wir Ausstellungsfüh-
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rungenselbst übernommen. Ich habe manchmal drei
bis vier Führungen pro Woche geleitet; das ist zwar ermüdend, aber ich habe auch sehr viel über unser Publikum und für meine Arbeit im Museum lernen können.
SJÄTTE SINNET- DER SECHSTE SINN
Die größte Ausstellung bei der Eröffnung im Jahr
1991 hieß "Der sechste Sinn". J. J. Rousseau, der
Philosoph der Aufklärung, diente als Inspiration für
diesen Titel. Rousseau schrieb, daß der sechste Sinn
der gesunde Menschenverstand sei. Nicht, weil wir
ihn alle besitzen, sondern weil jeder, der seine fünf
Sinne anwendet, in der Lage ist, auch den sechsten
zu entwickeln. Rousseau nennt den sechsten Sinn
auch den Vernunftssinn. ln dieser Ausstellung fragten wir, ob Arbeit die Menschen dazu bringt, ihre Sinne zu entwickeln, ob Arbeit so organisiert ist, daß der
Vernunftssinn jeder Person entwickelt wird.
"Manchmal möchte man seine ganze Seele in die
Arbeit stecken". Dieses Geständnis einer jungen
Putzfrau ist die erste Aussage, der Bessucherlnnen
von "Der sechste Sinn" begegnen. Wer hat denn
heute schon Zeit, seine ganze Seele in seine Arbeit
zu stecken? Diese Ausstellung beschäftigt sich aber
nicht mit der Seele, sondern mit dem arbeitenden
Körper, oder besser, den Bindegliedern des Körpers
mit der Umwelt: den Sinnen.
Die zweitausend Jahre alten Symbole der fünf
Sinne des Menschen - die Glocke, der Spiegel, die
Lyra, die Furcht und die Blume - führen die Besucherinnen in die Ausstellung.
DAS OHR EINES AUTOMECHANIKERS
Ist unser Hörsinn jener Sinn, der am meisten von allen bedroht ist? Das ist zumindest die Meinung manches Menschen. Das große Gemälde eines Wilderers ist von den Symbolen zweihundert moderner
Berufssparten umgeben, in denen das Tragen von
Ohrenschützern empfohlen wird. Üben Sie einen
solchen Beruf aus? Oder ist Ihr Hörsinn ein wichtiger Bestandteil Ihres Berufes? Möglicherweise ist
die Antwort auf beide Fragen "Ja" - wie es etwa auf
den modernen Automechaniker zutrifft. Hören Sie
auf seine berufliche Begabung!
IM AUGE EINES RENTIER-HIRTEN
Der visuelle Sinn wird in unserer Kultur am höchsten
eingeschätzt. Wir empfangen heute mehr Impulse
über den Sehsinn als je zuvor- auf Kosten von Impulsen, die wir durch unsere anderen Sinne empfangen könnten. Das trifft sowohl für unsere Freizeit als
auch für unsere Arbeit zu.
Rentier-Hirten wurden niemals kurzsichtig. Es
war jedoch von äußerster Wichtigkeit, daß ihr visueller Sinn gemeinsam mit ihrem Hörsinn funktionierte, ebenso wie mit dem Geruchssinn und dem Tastsinn, um die richtigen Entscheidungen für ihre
Herden treffen zu können.
IWK-Mitteilungen
IM AUGE EINES DREHERS
Ein Dreher führte gewöhnlich die Vorlagen, die ihm
vom Büro gegeben wurden, in der Werkstätte aus.
Seine Arbeit wurde automatisiert, wobei die Drehbank eine große Rolle spielte. Die schwedische
Industrie mit ihrem internationalen Markt erfordert
eine neue Geschicklichkeit. Immer strengere Erfordernisse für Genauigkeit machten das menschliche
Auge abhängig von Mikrometern und feinen Meßgeräten. Der Arbeiter an der Drehbank beschreibt
seine Spezialarbeit als Kombination von "Tasten,
Sehen und Erfahren".
IM AUGE EINER KASSIERERIN
"Sie müssen gut sehen können, ansonsten können
sie ruhig taubstumm sein", sagte 1990 der Informationsdirektor einer Fabrik in Norrköping, in der die
Angestellten einen Großteil ihrer Arbeit auf Kommissionsbasis ausübten. Diese Art von Arbeitsverhältis
ist inzwischen auch außerhalb von Fabriken weitverbreitet, auch bei den Kassen in den Supermärkten.
Als Folge davon entwickeln Kassiere oft ernsthafte
arbeitsbezogene Krankheiten. Das Amt zum Schutze des Arbeitsplatzes hat Regeln ausgegeben, welches Design etwa Kassen im Supermarkt haben
sollten. Diese Direktiven wurden dermaßen befolgt,
daß Kassiere heute das Gefühl haben, ihre Augen
kaum mehr verwenden zu müssen.
aufheben und von einem Ort zum anderen bringen
könnten. Sie geben zu, daß die lokalen Gesundheitsbehörden niemals Investitionen in neue Technologien ablehnen, für Ausflüge der Patienten aber
nicht sehr empfänglich sind.
INNERHALB DES MUNDES- 1867 UND 1991
Hier müssen wir mindestens fünf Generationen zurückgehen, zur großen Hungersnot des Jahres
1867. Die meisten Schweden lebten am und nährten
sich vom Land. ln einigen Städten, darunter auch
Norrköping, gab es eine kleine Gruppe von Industriearbeitern. Die Menschen ohne Grundbesitz,
die am Land lebten und diejenigen ohne Arbeit
in den Städten, reagierten gänzlich unterschiedlich auf die Hungersnot. Am Land steckte man
einfach mehr Baumrinde ins Brot; in den Städten
gab es organisierte Rebellion gegen die Weizenhändler.
Sowohl die Mehlproduktion als auch die Verteilung von Brot wurzeln in der damaligen Zeit.
"Einheit!" "Bessere Preise für Roggen!" "Nieder
mit dem Bürgermeister!" "Arbeit für die Arbeitslosen!" riefen die Menschen während des Brotkrieges
von 1867. Was rufen die entlassenen Arbeiter
1991?
ERINNERUNGEN AN GERÜCHE
Carl von Linne, der Naturwissenschaftler, ist die
Inspiration für die mit großen Nasen versehenen
Geschöpfe, die in "Erinnerungen an Gerüche" auf
DIE HAND EINES BILDHAUERS UND
DIE PFLEGENDE HAND
"Die eigene Sprache zu finden, ist das Schwierigste. Es ist eine Fragen von Pausen, von Atmen. Ich
spüre es in meinem Handgelenk, wenn ich etwas
Gutes geschrieben habe. ln diesen Dingen verlasse
ich mich auf mein Gehirn", sagte der Schriftsteller
lvar Lo-Johansson kurz bevor er starb. Der Tastsinn
ist über den ganzen Körper ausgebreitet. Möglicherweise hängen wir mehr von den Informationen ab,
die der Tastsinn überträgt, als es tatsächlich als
ökonomisch machbar ist.
ln diesem Bereich der Ausstellung gibt es Werke
eines Künstlers, der das Eisen seiner Skulpturen mit
motorisierten Werkzeugen bearbeitet hatte. Er entschloß sich zu einer langsameren Methode zurückzukehren, um zusätzliche Möglichkeiten des Materials, mit dem er arbeitete, zu erforschen.
Können solche technologischen Schritte nur von
Individualisten, Künstlerinnen und anderen Forscherinnen von Körpern und Seele gesetzt werden?
"Die pflegende Hand" ist eine Reihe von Fotos
aus einem Pflegeheim, wo besondere Sorgfalt darauf verwendet wird, das Leben der Patienten mit
körperlichen Erfahrungen zu bereichern. Den
Schwestern droht keine unmittelbare Gefahr, daß ihre Muskelarbeit von technischen Geräten übernommen würde, die die älteren Patienten zum Beispiel
Im Auge einer Kassiererin
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IWK-Mitteilungen
die Bühne stampfen. Es sind insgesamt sieben,
denn Linne teilte den Geruch in sieben grundlegende Kategorien ein, die die Besucherinnen alle ausprobieren können. "Hätten wir keinen Geruchssinn,
wären wir oft einer großen Gefahr von den Substanzen, die uns umgeben, ausgesetzt, obwohl sie nicht
einmal in unser Verdauungssystem eindringen",
schrieb Linne 1752.
Riechen Sie das Stück rohen Gummis und
die Gummi-Chemikalien, die ausgestellt sind. Nein,
das ist nicht möglich! Sie sind isoliert, weil sie so giftig sind. Aber auf dem Fabriks-Boden werden sie
durch Rauch, Gas und Dampf durch die Luft befördert. Niemand weiß genau, wieviel von diesem GiftGummi Arbeiterinnen inhalieren. Diese Information
wäre nur dann erhältlich, wenn sich auf jedem Arbeitsplatz qualifizierte Chemikerinnen und die dazugehörigen teuren chemischen Geräte befänden. Die
Zeit ist längst vorbei, als uns der Geruchssinn geschützt und gewarnt hat.
siebenundzwanzigjährige Kristina über ihre Arbeit.
Sie ist nicht unter jenen Frauen, die hier unter dem
"Sechsten Sinn" porträtiert werden, weil sie die Fabrik nach neun Jahren Arbeit verlassen hat. Als Erinnerung trägt sie in der Arbeit erworbene Schmerzen mit sich herum, die sie manchmal buchstäblich
zu Boden werfen; sie muß damit rechnen, ihr ganzes Leben von diesen Schmerzen begleitet zu werden.
Aber Arbeitsplätze, selbst jene, die "verboten"
werden sollten, sind auch Plätze des Humors, des
Selbstvertrauens und der großartigen Träume. ln
diesen kleinen Nischen innerhalb der Arbeitsorganisation wächst die Individualität. Würde dieser sechste Sinn auch am Arbeitsplatz verwendet werden,
was würde geschehen? Gäbe es dann eine Kulturrevolution?
DER SECHSTE SINN
lrgendwo zwischen der Vergangenheit und der
Zukunft, zwischen Natur und Kultur, verlassen die
Besucherinnen die Ausstellung durch ein Tor mit der
Aufschrift "Die Erweiterung der Sinne".
"Sie sollte nicht einmal existieren. Sie sollte verboten werden. Es sollte Maschinen geben", sagt die
DIE ERWEITERUNG DER SINNE
PER UNO ÄGREN
MUSEOLOGIE IN UMEA, SCHWEDEN
Konzept und Struktur eines Lehrganges
EINLEITUNG
"Museologie" bedeutet "Museumskunde", d. h. das
wissenschaftliche Studium von musealen Tätigkeiten. Erstmals erschien das Wort im Titel der Zeitschrift "Museologie und Antiquitätenkunde", die seit
1977 von J. G. T. Graesse in Dresden veröffentlicht
wurde. Museologie als Begriff wurde von Graesse in
seinem Aufsatz "Die Museologie als Fachwissenschaft" (1883) behandelt, wo er für die Begründung
eines wahren Museumsberufes plädiert. Graesse
betont, daß theoretische Universitätsstudien notwendig sind, namentlich eine universelle philosophische Bildung, die einen geschickten Umgang mit
den verschiedensten Museumsobjekten erlauben
würde.
Museologie oder Museumskunde wurde allmählich in der europäischen Museumskultur in einer Reihe von Spezialgebieten gegliedert. So definierte Sune Ambrosian, Kustos am Nordischen Museum in
Stockholm, 1912 die Museologie als die Wissenschaft von allem, was zur Museumstätigkeit gehört,
das Sammeln, das Katalogisieren, die Konservierung, das Bewahren und das Ausstellen. ln allen diesen Gebieten hatten sich bereits Regeln und Metho-
50
den für die Handhabung von Musealia entwickelt und
verfeinert.
ln den 70er und 80er Jahren haben, besonders in
Verbindung mit der Arbeit der ICOFOM (International
Committee for Museology), die theoretischen Erwägungen ihre Richtung geändert und zu einer Erweiterung des Museologie-Begriffs geführt- u. a. durch die
Beiträge von Tomislav Sola, Z. Stransky oder Peter
van Mensch. Der Aufbau eines materiellen Kulturerbes durch das Museum (verantwortlich für die mobilen
Objekte) und des Denkmalschutzes (verantwortlich
für die immobilen Objekte) wird als ein Gesellschaftsphänomen angesehen und problematisiert.
Man könnte Museologie kurz als die Lehre vom
materiellen Kulturerbe definieren (im Museologie-Komitee hat Tomislav Sola "heritology" vorgeschlagen).
Über die Unzulänglichkeit der innermusealen Definition wie sie überall von ICOM und verschiedenen anderen Museumsorganisationen propagiert werden,
hat Stephan Weil einen amüsanten Aufsatz "The proper business of museums: ideas and things?", geschrieben. Er unterscheidet zwischen "purpose"
(Zweck) und "goa/"(Ziel) und findet, daß die Definitionen wenig über den gesellschaftlichen Zweck, umso
mehr aber über die begrenzte Zielsetzung aussagen.
IWK·Mitteilungen
DAS INSTITUT
Schweden hat ungefähr 6 Millionen Einwohnerlnnen. Zu deren Verfügung stehen 250 Museen mit regelmäßigen Öffnungszeiten, Sammlungsbeständen
und festem Personal. Man berechnet, daß ungefähr
3.500 Personen in den Museen beschäftigt sind, davon 1 .500 Arbeitslose, denen von den staatlichen
Arbeitsmarktbehörden eine Beschäftigung in den
Museen zugewiesen wurde. Ungefähr 1.000 Personen sind in technischen oder administrativen Funktionen tätig, und die übrigen sind Museumsbeamte
mit Universitätsbildung. Die Hälfte dieser 3.500 Personen arbeitet in den Stockholmer Museen. Außer
den 250 öffentlichen Museen gibt es in Schweden
etwa 1.300 Heimatmuseen, die fast alle Sammlungen und Gebäude besitzen und pflegen. Vor 10 Jahren wurde berechnet, daß die 150 Museen, die vom
Staat ökonomisch unterstützt wurden, 12 Millionen
Besucher hatten. Die schwedische Museumslandschaft ist hierarchisch strukturiert: Zentralmuseen alle staatlich und alle in Stockholm - an der Spitze,
25 regionale Museen, die staatliche Unterstützung
erhalten, und lokale Museen, die meistens im kommunalen Besitz sind, und von denen nur eine geringe Zahl Staatsbeiträge erhält. Diese Struktur und
die staatliche Beitragsordnung werden immer wieder in Frage gestellt; und Veränderungen sind zu erwarten. Über eine Neuerung, die "Verantwortlichen
Museen", berichtet Agne Furingsten in seinem Beitrag.
Dies ist - kurz skizziert - der Hintergrund, vor
dem unsere musealogischen Bemühungen angesiedelt sind.
An der Universität von Umeä wurde 1981 ein Studiengang eingeführt, den wir musealogisch nennen.
Die naheliegende Frage: Warum in Umeä, 700 Kilometer von Stockholm, wo sich nur ein - nunmehr
auch ein zweites - Museum befindet, fern von
Stockholm, wo die bedeutendsten Sammlungen und
die meisten der Museumsfachleute zu finden sind?
Es waren natürlich Zufälle, und ich werde auf zwei
oder drei näher eingehen. Die Universität ist sehr
jung -vor zwei Jahren hat sie ihr 25jähriges Dasein
gefeiert. Sie wurde also in den 60ern geboren. Der
damalige Museumsleiter von Umeä war bei den Vorarbeiten einer der führenden Akteure. Im Museum
wurden Forschungsinitiativen in Angriff genommen,
die später von der Universität übernommen wurden.
Akademische Filialkurse der Universität von Uppsala wurden am Museum organisiert, in Norwegen
wurden vergleichbare Beispiele studiert, in Trendheim und in Tromeo hatten sich Universitätsgründungen entwickelt. Der Museumsleiter war auch
sehr erfolgreich auf der museumspolitischen Bühne
und konnte sehr günstige Bedingungen zum Ausbau
des Museums in Umeä schaffen. Später wurde er
nach Stockholm berufen, um die Leitung des damals
als Pilotprojekt gegründeten "Instituts für nationale
Wanderausstellungen"zu übernehmen.
ln den 70er Jahren wurden wichtige kulturpolitische
Entscheidungen im Reichstag getroffen, die u. a. zur
Folge hatten, daß an allen schwedischen Universitäten Studiengänge eingerichtet wurden, die eine prognostizierte Nachfrage nach Kulturbürokraten befriedigen sollten. Aber die Nachfrage blieb aus, und nur
wenige Studierende wurden von den Angeboten angezogen. Da man aber an den Universitäten die
Staatsgelder nicht wieder verlieren wollte, überprüfte
man in Umeä die Zielsetzungen und beschloß, den
Studiengang zu spezialisieren und gegen Museen und
Denkmalpflege zu richten, ein Beschluß, der durch die
schon bestehenden Kontakte zum Regionalmuseum
und durch die zu dieser Zeit ziemlich erfolgreiche Erneuerungsarbeit im Museum nahelag.
Es wurde in der Diskussion natürlich auch gesagt,
daß Museologie nicht nötig sei. Aber wie die Schulen einst ein Nachdenken über Lehren und Lernen,
die Pädagogik, schufen, die Kirchen die Theologie
und das Rechtswesen die Jura, war nicht zu vermeiden, daß ein Nachdenken über Museen und Denkmalpflege Museologie erzeugen würde. Auch in
England gibt es Widerstand gegen den MuseologieBegriff, sodaß an der Universität von Leicester eine
Abteilung für "Museum-Studies" zu finden ist, nicht
aber für Museology.
Als Museology 1981 an der Universität von Umeä
eingeführt wurde, war es klar, diesen erweiterten
Begriff anzunehmen, weil sich im 20. Jahrhundert in
Schweden tatsächlich eine enge Verknüpfung zwischen Museum und Denkmalschutz in den Regionalmuseen etabliert hatte. Den Museumsdirektoren
wurde ab den 40er Jahren ein staatlicher Auftrag als
Hüter und Vertreter der Gesetzgebung in Bezug auf
vorgeschichtliche Stätten sowie Baudenkmäler gegeben. Diese "beamtete" Kombination von Museumsleiter und Denkmalpfleger war die Grundlage
der staatlichen Subvention der regionalen Museen
und der staatlichen Kompetenzprüfung stellungssuchender Museumsbeamten. Man sprach von "Innenschutz" und "Au ßenschutz" der Kulturgüter.
Infolgedessen hat sich das Institut in Umeä entschieden, sich diesem erweiterten MuseologieBegriff anzuschließen, d. h. Museologie als ein Studium von der Beziehung zwischen Mensch, Gesellschaft und materiellem Kulturerbe; wie kulturelles
Erbe in verschiedenen Epochen von der Alltagsweit
abgesondert und gewartet wurde, welche strukturellen Maßnahmen für die Auswahl, Sicherung und Bewahrung in einer Gesellschaft entwickelt wurden,
wie schließlich Wertschätzung und Bedeutung des
Kulturerbes vermittelt wurden und werden. Der Museologe kann also paradoxerweise auch Gesellschaften und Kulturen ohne Museen von diesem
Gesichtspunkt aus sein Studium widmen. Mit dieser
Sehweise kann natürlich auch die moderne sogenannte "Neue Museologie" oder "Öko-Museologie"
in das Studium aufgenommen werden.
Drei Gebiete der Forschung - und das bedeutet,
daß die Museologie ein querfachliches Studium bietet- treten hervor:
e ein geschichtliches Gebiet, wo die Abgrenzung
des Kulturerbes zu verschiedenen Zeiten und in
verschiedenen Kulturen studiert wird;
51
IWK·Mitteilungen
•
ein gesellschaftliches oder soziologisches
Gebiet, wo es um die Funktion des Kulturerbes
und der Geschichte im Leben der Gesellschaft
geht, und wo Institutionen und Tätigkeiten, die
dafür entwickelt wurden, studiert werden;
• ein kommunikationstheoretisches Gebiet, wo
die Überführung gesellschaftlicher Wertschätzungen von Kulturerbe und Gesellschaft fokussiert
wird.
Es gibt natürlich keine scharfen Grenzen zwischen den Gebieten und sie werden auch des öfteren überschritten. Konkret bedeutet es auch, daß
Untersuchungen über musealogische Probleme in
vielen verschiedenen Fächern gemacht werden; so
erschienen in den letzten Jahren Dissertationen in
Archäologie über museale Präsentationspraxis
(1987), in Kunstwissenschaft über Kunstpädagogik
(1990) oder in Ethnologie über die Entstehung von
Regionalmuseen und Heimatvereinen, um nur einige zu nennen.
DER STUDIENGANG
Den Studierenden wird ein Studiengang von 8 1/2 Jahren (7 Semester) angeboten. Normalerweise studieren sie das erste und sechste Semester an unserem
Institut. Für die fünf weiteren können sie als Hauptstudium eines von fünf Fächern wählen und zwar Archäologie, Ethnologie (Volkskunde), Kunstwissenschaft, Geschichte oder Ideengeschichte. Ihr Hauptfach beansprucht drei Semester, für die beiden übrigen können sie ein zweites oder zwei andere Fächer
frei wählen. Wenn sie diese nicht aus den oben genannten Fächern wählen, kommen z. B. auch Literaturgeschichte, Kulturgeographie, Soziologie, Pädagogik, Informatik oder eine Fremdsprache in Frage.
ln ihrem Hauptfach können sie, wenn sie wollen,
nach Abschluß ihres Studienganges das Studium
wieder aufnehmen, um den Doktor zu machen.
Unsere Absicht ist vor allem ein Angebot für solche Studierenden zu bieten, die eine Stellung in einem regionalen oder lokalen Museum anstreben.
Studierende, die sich um eine Stellung in einem
staatlichen Zentralmuseum bewerben wollen, müssen üblicherweise den Doktor gemacht haben und
kommen nicht nach Umea. Von ihnen wird auch kein
musealogisches Studium verlangt!
Diese Zielsetzung, zusammen mit unserem Museologie-Begriff, prägt den Studiengang.
Das erste Semester bietet drei Kurse:
- "Geschichte verstehen": Historiographische Probleme, Quellenkunde, Quellenkritik, materielle und
immaterielle Geschichte, ein Themastudium mit
Technikgeschichte und Lokalgeschichte als Schwerpunkt.
- "Humanökologie": eine Einführung in ökologische Bedingungen für Kulturentwicklung
52
- "Gesellschaftliche Aufgaben für Museen und
Denkmalpflege": Geschichte von Museen und Denkmalpflege, Gesetzgebung, Kulturpolitik, die Rolle
der Museologie im gesellschaftlichen Planungsprozeß.
Das sechste Semester bietet eine spezifische
berufliche Orientierung und ist auch dreiteilig angelegt. Als Leitfaden durch die zwei ersten Teile "Denkmalpflege" und "Museumskunde"- dient der
Begriff der "Musealisierung"; die Phasen von Auswahl, Dokumentation, Bewahren/Konservieren, Vermittlung werden der Reihe nach studiert. Dazu kommen natürlich organisatorische und administrative
Verhältnisse und auch z. B. ethische Aspekte der
Museumsarbeit Am Unterricht dieses Semesters nehmen Praktikerinnen aus vielen Museen
und Institutionen aus ganz Schweden teil. Der dritte Teil des Semesters ist ein fünfwöchiges Praktikum an einem Regionalmuseum. Als eine durchlaufende Leiste in der Studienzeit wird jedes Semester
für alle Studierenden des Studienganges eine Tagung veranstaltet, zu der Gäste eingeladen werden,
um über aktuelle Museums- oder Denkmalsprobleme zu referieren und mit den Studierenden zu diskutieren.
Dieser Studiengang wurde 1981 etabliert, das Institut für Museologie erst 1986. Seither ist der Studiengang diesem Institut angeschlossen. Jedes Jahr
werden 30 Studierende aufgenommen. Vorstand
und Leiter des Kurses ist mein Kollege Eric
Hedqvist, ich selbst bin als Forscher mit teilweiser
Unterrichtspflicht an das Institut gebunden; weiters
gibt es noch eine Halbtagesstelle für eine Sekretärin. Es ist also eine ganz kleine Abteilung. Nunmehr
gibt es auch Museumskunde an der Universität in
Göteborg (der Konservatoren-Ausbildung angeschlossen) und in Stockholm an der Abteilung für
Geschichte der Universität.
DIE FORTBILDUNGSKURSE
Die Musealisierung hat zwei Berührungsflächen
mit Umwelt und Gesellschaft- die Einleitungsphase
mit Selektion, Erwerb oder Schutz und die Endphase mit Ausstellung und Vermittlung. ln beiden sind
antiquarische Schätzungen im Spiel. Es ist notwendig, diese beiden Aspekte der Museumsarbeit immer fortlaufend zu studieren und diskutieren. Um
diese Zielsetzung zu erreichen und eine lebendige
Beziehung zur Museumsarbeit zu behalten, organisiert das Institut auch Kurse von kurzer Dauer, die
für Berufstätige ausgerichtet sind und vor allem
Wertschätzungsprobleme und Vermittlungsprobleme behandeln. Besonders gefragt sind die museumspädagogischen Kurse, sowie Kurse die
Gestaltungsprobleme in kulturgeschichtlichen Ausstellungen behandeln.
MichelangelD als Reisebegleiter
Wer heute seine Reisen auf den Spuren der Geschichte plant, benötigt mehr als nur ein Reisebüro oder
einen Reclams-Kunstführer. Als Insider-Tip hat sich daher in den letzten Jahren ein Spezial-Veranstalter
gleich beim Stephansplatz etabliert: Dr. Maiers Studienreisen in der Goldschmiedgasse 10, 1010 Wien.
Natürlich wäre es für den Kunstinteressierten das höchste der Gefühle, würde Michelangelo selbst durch die Sixtinische Kapelle
führen, jedoch ist dieses Kunststück noch keinem ambitionierten
Reiseveranstalter gelungen.
Machbar jedoch ist der andere Weg: erfahrene Reiseführer, deren
Stärke und Ausbildung in Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie, Orientalistik, Ethnologie, Kunst und Kultur liegen. So findet
man bei Dr. Maicrs Studienreisen eine Abordnung der Österreichischen Geisteswissenschaften: vom Magister der Klassischen Archäologie bis hin zum Univ.-Prof. der Alten Geschichte und Philologie. Alle als Leiter einer Studienreise, die Geschichte zum spannenden Erlebnis gestalten und auf fast jede Frage eine fundierte
Antwort wissen.
ren Schwerpunkt dieses sehr umfangreichen Programmes dar, das
man jedem Studienreisenelen nur wärmstens empfehlen kann.
Die genauen Reisebeschreibungen im Katalog sind ein Genuß zum
Lesen für den Kulturinteressierten-eine detaillierte Vorinformation über die Kultur des Landes -und könnten so manchen Reiseführer in Taschenbuchformat ersetzen.
Studienreisen benötigen mehr als nur Erfahrung
Dr. Maierist in der Branche kein Unbekannter. Langjährig als Geschäftsführer in Reisebüros und bei Reiseveranstaltern aktiv, gibt
ihm heute die selbständige Tätigkeit mit einem relativ kleinen,
Geistige Erholung wirkt langfristig
Aktivurlaub muß nicht unbedingt mit Sonne, Sand, Meer und
Sport zusammenhängen. Für viele heißt Aktivurlaub aktiv im
Geist, rege in der Weiterbildung.
Kultur- und Studienreisen in andere Länder, zu anderen Kulturen
sind längst nicht mehr ein exklusives Terrain für Individualisten,
sonelern werden zunehmend von aktiv im Leben stehenden Menschen als geistige Erholung erlebt. Somit steht das ganze Jahr über
dann schöpferisches Potential für die Bewältigung des Alltags zur
Verfügung.
Und hier zeigt sich, ob der Kultur-Urlaub auch langti·istig Früchte
trägt. Denn nur dem erfahrenen Leiter einer Kulturreise gelingt es
durch Aufzeigen von Querverbindungen, Jahrtausende zurückliegende Ereignisse so lebendig zu machen, daß diese für den Reisenden eine Bereicherung der Gegenwart darstellen und oft einen
B Iiek in die Zukunft ermöglichen.
Das Schlagwort "Aus der Geschichte lernen" ist für Dr. Maicrs
Studienreisen eine Unternehmens-Philosophie geworden, die als
Garant eines gelungenen Aktivurlaubs fungiert.
Die Kultur der Welt
Europa - Afrika - Asien - Amerika
Der neue Katalog von Dr. Maicrs Studienreisen bringt auf 124 Seiten eine detaillierte Beschreibung der geplanten Kunst- und Kulturreisen 1993.
Angefangen vom "Stillen Venedig" wird kaum eine Kulturregion
Europas ausgelassen. Ein Schwerpunkt dieses Reisekataloges liegt
im abendländischen und morgenländischen Kulturkreis.
Fern-Studienreisen zu den Zentren des Buddhismus und Hinduismus in Asien sowie zu den Kulturen Amerikas stellen einen weiteDie Mitarbeiter des Büros (v. I. n. r.): Dr. Johannes Maier, Claudia Schandl,
Brigitte Zelezny, Dipl.-lng. llse Maier, Mag. Johannes Grumet
dafür aber hochspezialisierten Team mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Freude an der Arbeit.
Die Kundennähe und vor allem der für Studienreisen typische Interessentenkrcis sind für Dr. Maier Motivation und Anregung zugleich, diese Art von Reisen jährlich auf noch höherem Niveau zu
organisieren.
Apropos Organisieren: Wer im Katalog keine passende Reise findet, hat in Dr. Maier einen kongenialen Partner: auch schon für
kleine Gruppen werden exakt nach den Vorstellungen des Kunden
individuelle Studienreisen ausgearbeitet. Eine Idee, die immer
mehr Anhänger findet und für Dr. Maier gleichzeitig auch Anregung fürs nächste Programm ist.
Fiir weitere Informationen bzw. Zusendung des Kataloges 1993
wenden Sie sich bitte direkt an:
Dr. Jobamtes Maier, Tel. 0222/535 06 15. Adresse: Dr. Maicrs Studienreisen, Goldschmiedg. 10, 1010 Wien, Fax: 0222/533 87 96.
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