Chili, Charme und Schokoküsse

Transcrição

Chili, Charme und Schokoküsse
Susanne Walsleben
Chili, Charme
und Schokoküsse
Roman
Knaur Taschenbuch Verlag
3
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Originalausgabe Dezember 2009
Copyright © 2009 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Dr. Gisela Menza
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Julia Rößle
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50369-0
2
4
4
5
3
1
Für meine wunderbare Familie,
vor allem aber für Angelique
5
6
Montag
b heute bin ich wieder Single. Schade eigentlich. Obwohl der unbemannte Zustand nichts Neues für
mich ist, seit mein Noch-Ehemann versucht seine Midlife-Crisis im Zweizimmerapartment seiner Assistentin zu
bewältigen. Das probiert er nun schon seit dreizehn Monaten, und in dieser Zeit haben wir uns beide ziemlich
verändert. Claus, so heißt der Vater meiner beiden Kinder, hat fünfzehn Pfund abgenommen und verbringt die
Zeit, die er nicht seiner Assistentin widmet, ganz offensichtlich auf der Liege in irgendeinem Turbo-Solarium. Er
ist inzwischen so braun, dass er aussieht wie der Käse auf
meiner Lasagne, wenn mein Backofen mal wieder die
Oberhitze falsch reguliert.
Ich dagegen zeige weiter vornehme Blässe, obwohl ich gerade aus dem Urlaub komme, und die Pfunde, die sich
Claus abtrainiert hat (wobei ich lieber nicht wissen will,
welche Tätigkeit so viele Kalorien verbrennt), sind wie
durch den Fluch einer bösen Fee an meinen Hüften gelandet. Vielleicht nicht alle fünfzehn, aber auf jeden Fall vierzehneinhalb.
Mein fremdküssender Ehemann behauptet allerdings, die
sichtbaren Veränderungen meiner Figur seien nicht das
Resultat seiner Untreue, sondern das meines Berufs. Ich
habe seit kurzem einen Schoko-Laden, was aber nicht bedeutet, dass ich selbst meine beste Kundin bin. Kausale
Zusammenhänge im alltäglichen Leben waren eben noch
nie die Stärke von Claus. Beruflich allerdings hat er es mit
A
7
der Logik. Er ist Informatiker und arbeitet – ziemlich erfolgreich – in einer Computerfirma. Claus mit C, darauf
legt er Wert. Das C ist schließlich die einzige Besonderheit in seinem Namen, hinten heißt er Müller.
Ich nicht. Ich heiße Heinz. Also Bea Heinz. Wie der Ketchup. Schon unsere Nachnamen haben nicht harmonisch
zusammengepasst. Heinz Müller – klingt wie der Hauptdarsteller eines Schwarzweißfilms aus den Sechzigern.
Ich bin neununddreißig Jahre alt und war das erste Mal in
meinem Leben allein im Urlaub. An der Algarve. Meine
Freundin Kristin hat schon mit dem Schlauchboot die
Flüsse Nicaraguas erkundet, ist zu Fuß nach Samarkand
gelaufen (ich weiß nicht einmal, wo das liegt) und mit dem
Fahrrad durch die Pyrenäen geradelt. Alles allein und auf
eigene Faust.
Ich hab’s nicht so mit Insekten groß wie Klodeckel und
schlafe lieber im Bett als auf einer Isomatte im Regenwald
Amazoniens. Außerdem fällt mein Fahrrad weder in die
Kategorie Mountainbike, noch handelt es sich um eine dieser hundert Gramm leichten Rennmaschinen. Mein Modell
stammt aus dem vorigen Jahrhundert, hat mit einem Speichenbruch das Millennium erlebt und besitzt statt fünfundzwanzig nur drei Gänge, von denen einer ständig klemmt.
Eine wie ich ist in Sachen Urlaub schwer vermittelbar.
Langen Flugreisen kann ich nichts abgewinnen. Das ist
einer der Gründe, warum ich noch niemals in New York,
in Phuket oder in Sydney war. Allein die Vorstellung,
zehn Stunden und mehr in einer vollgestopften engen
Flugzeugkabine eingezwängt zu sein, gehört zu meinen
schlimmsten Alpträumen. Ich kann die Beine nicht ausstrecken und komme in Australien mit Thrombose an.
8
Außerdem bin ich diejenige, deren Gepäck erfahrungsgemäß eine ganz eigene, unkonventionelle Route nimmt.
Wenn ich nach Paris fliege, landet mein Koffer in Amsterdam oder in Reykjavík. Oder in Katmandu. Auf jeden
Fall dort, wo ich nicht bin.
Mit Schrecken erinnere ich mich an unseren zehnten
Hochzeitstag. Claus wollte unbedingt in Venedig feiern,
und da er vorher geschäftlich in München zu tun hatte, ist
er von Bayern aus geflogen. Als ich aus Hamburg ankam,
war Claus schon da. Er mit, ich ohne Koffer. Den ganzen
Abend sind wir durch Venedig gehetzt, um wenigstens
das Nötigste zu kaufen. Selbstverständlich habe ich kein
kleines Schwarzes gefunden, das auch nur im Entferntesten dem glich, das dank der Airline gemeinsam mit meinen neuen Spitzendessous auf dem Weg nach Zentralchina war. Die schwarze Hülle, die ich mir auf die Schnelle in
einem venezianischen Laden gekauft habe, ähnelte dem
Igluzelt unserer Kinder. »Siehst gut aus, ehrlich«, hat
Claus gesagt und seinen eins a sitzenden Smoking zugeknöpft. Und dann sind wir fein essen gegangen – er als
Cary Grant und ich als Hausboot.
Gertenschlank war ich nämlich noch nie. Auch als ich
noch keinen Schoko-Laden hatte und Claus abends sein
Auto im Carport vor unserem Reihenhaus parkte. Aber
es ist natürlich ein Unterschied, ob Heidi Klum vierzehneinhalb Pfund zunimmt oder ich. Heidi Klum ist da eindeutig in der besseren Ausgangsposition, aber ich vermute mal, dass sie noch nie in ihrem Leben ernsthaft Figurprobleme hatte. Auch meine Nachbarin Paula hat mit
fünfzig noch eine Taille wie eine Zwanzigjährige. Und die
verteidigt sie gegen Kalorien und Joules wie eine Bären9
mutter ihr Junges. Während ich mich nicht einmal in die
Nähe einer Waage traue, besitzt Paula das aktuellste Hightech-Glasmodell mit Grammanzeige. Einmal im Jahr fährt
sie zur Schrothkur oder alternativ zum F. X. Mayr-Fasten.
Wahrscheinlich würde sie klaglos auf einem Nagelbrett
schlafen, wenn das die Cellulite vertriebe.
Außerdem ist sie eine besessene Nordic-Walking-Verfechterin. Sport mit Paula gehört zu den Frusterlebnissen,
die ich in meinem Alter nicht mehr haben muss. Beim
Walken wirkt sie wie eines dieser Topfit-Models aus einem Katalog für Designersportbekleidung, und ich sehe
aus wie der verschwitzte menschliche Klon des MichelinMännchens. Paula war früher ziemlich berühmt als Profitänzerin für Tango, Paso doble, Samba und so weiter.
Meine Mutter, der kein Turnier für Standardtänze entgeht, kennt sie noch aus dem Fernsehen. Heute arbeitet
Paula als Jurorin, hat aber immer noch Beine ohne eine
einzige Delle.
Ich weiß es, da sie alle sommerlichen Gartenarbeiten
grundsätzlich im Bikini mit Stringtanga erledigt. So etwas
besitze ich gar nicht, ich trage Einteiler. In Schwarz natürlich und mit passendem Pareo. Mein Dekolleté ist durchaus sehenswert, aber die Oberschenkel bleiben besser mein
Geheimnis. Ich frage mich, warum alle so versessen darauf
sind, sich im Urlaub unablässig auszuziehen? Ich könnte
mir auch vierzehn Tage Grönland vorstellen, schön verpackt in dicken Daunen, die alle Kurven begradigen.
Dass ich trotzdem meinen Jahresurlaub von sieben Tagen
in einem Club an der Algarve verbracht habe, lag an Kristin. Sie arbeitet bei einer Zeitschrift und bekommt überall
Rabatt. »Ich habe dreißig Prozent für dich rausgeschla10
gen, und außerdem bist du dort nicht den ganzen Tag alleine.« Stimmt – ich habe Serge kennengelernt. Särsch – sehr
französisch, sehr gutaussehend, sehr schlank. Und Serge
ist auch der Grund, warum ich ungefähr drei Tage lang
kein Single war, jetzt aber wieder einer bin.
Jeden Morgen um neun (außer sonntags) öffne ich meinen
Laden. Das heißt, ich wuchte ein schwarzes Vorkriegsgittermodell vor dem Eingang nach oben und schließe eine
weißlackierte Jugendstiltür auf. Genau genommen stammt
die Tür aus dem Baumarkt, und ich habe sie dort vor einem drei viertel Jahr gekauft und selbst gestrichen, aber
sie sieht so aus, als wäre sie ein Original aus dem Lieblingscafé von Gustav Klimt.
Ich finde, wenn man etwas macht, sollte man es mit Stil
tun. Mein Laden zum Beispiel heißt Xocolatl, das ist aztekisch.
Bevor ich die Besitzerin von Xocolatl wurde, hatte ich
zwar ein überaus sinnliches Verhältnis zu allem, was süß
schmeckt, und zur Schokolade im Besonderen, doch keine Ahnung, dass sich mit der Leidenschaft für Pralinés
und Konfekt auch Geld verdienen lässt. Leider nicht viel,
zumindest in meinem Fall.
Claus behauptet, der Laden würde besser laufen, wenn die
Kunden seinen Namen aussprechen könnten. Außerdem
müsse er bei der bloßen Erwähnung von Azteken immer
an Montezuma und an dessen sprichwörtliche Rache denken. Auch aus diesem Grund sei der Name alles andere als
verkaufsfördernd. Claus ist – wie gesagt – Informatiker.
Und obwohl ich dieser Berufsgruppe nicht zu nahe treten
will, scheinen mir doch Menschen, die sich den ganzen Tag
mit Betriebssystemen von Computern beschäftigen, nicht
11
gerade Experten für süße Träume zu sein. Also haben sie
auch keine Ahnung von Schokolade. Jedenfalls gilt das
ganz sicher für meinen Noch-Ehemann.
Seit ich Xocolatl habe, hat mein Leben wieder einen Sinn.
Selbstverständlich liebe ich meine Kinder, aber entscheidend für mein Selbstbewusstsein sind die Pralinés auf meinen Glasetageren. Nicht weil ich sie esse, sondern weil ich
sie verkaufe. Um den Laden zu eröffnen, habe ich mein
Sparbuch aufgelöst, und ich hätte Xocolatl niemals sieben
Tage allein gelassen, um in Urlaub zu fahren, wenn mich
nicht meine Freundin Hille vertreten hätte. Hille ist über
sechzig und deshalb im Ruhestand, doch da sie zu den
Frauen gehört, die niemals die Beine hochlegen und einfach nur die Zeit verstreichen lassen können, ist meine umtriebige Freundin in allen möglichen Hilfsprojekten engagiert. Ehrenamtlich natürlich. Hille sammelt Brillen für
Sehbehinderte in Burkina Faso – habe ich erwähnt, dass ich
ebenfalls eine Sehhilfe brauche? Auf jeden Fall hat sie neulich mit Freudentränen in den Augen alle meine abgelegten
Modelle aus besseren Dioptrien-Zeiten eingesammelt. Außerdem kümmert sie sich um Straßenhunde in Moldawien,
für die sie alte Hundekörbe und Futterspenden organisiert.
Sie sorgt dafür, dass auf griechischen Inseln Katzen fachgerecht vom Tierarzt kastriert werden, damit sich keine
Überpopulation bildet und die armen Viecher im Winter
nicht verhungern (im Sommer werden sie ja bekanntlich
von den Touristen gefüttert). Hille gibt jedem, der sie am
Hamburger Hauptbahnhof um einen Euro anbettelt,
gleich zwei, damit er sich was Anständiges zu essen kaufen
kann, und hat aus diesem Grund ständig Kleingeld in ihren
Manteltaschen. Eigentlich ist Hille zu gut für diese Welt,
12
aber andererseits sind viele Menschen froh, dass sie ein so
großes Herz hat. Genau genommen wäre mein Traum von
einem eigenen Laden ohne Hille niemals Wirklichkeit geworden, denn von allen meinen Freundinnen ist sie tatsächlich die Einzige, die zuverlässig einspringt, wenn ich
mal wieder kurzfristig Hilfe brauche.
Und als Urlaubsvertretung für Xocolatl ist Hille sowieso
unschlagbar. Neben ihrer karitativen Ader hat sie ganz klar
das Verkaufstalent ihres verstorbenen Vaters geerbt. Er
hatte vor zig Jahren damit begonnen, Marmeladen und
Gelees, die Hilles Mutter einkochte, mit seinem mobilen
Marktstand den Großstadtfrauen in Hamburg-Eppendorf
anzubieten, die ganz verzückt von selbstgemachter Kirschmarmelade aus dem Alten Land waren. Als er starb, besaß
er eine gutgehende Konfitürefabrik, die Hilles Mutter an
einen internationalen Lebensmittelkonzern verkauft hat
und mit ihrem Erbe wiederum ihren Kindern ein sorgenfreies Leben verschaffte. Wenn Hille hinter dem Tresen
steht, ist der Tagesumsatz von Xocolatl jedes Mal überdurchschnittlich hoch. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sie das macht. Vielleicht liegt es daran, dass die
Leute Nougat und Konfekt eher einer zierlichen, schlanken grauhaarigen Dame abkaufen als einer pummeligen
fast Vierzigjährigen. Vielleicht bin ich ja für manche eine
Art abschreckendes Beispiel für zu viel Schokolade. Darüber sollte ich mal nachdenken.
Trotzdem, wenn ich morgens das Konfekt neu dekoriere,
habe ich immer das Gefühl, dass mir heute nichts Übles
passieren kann. In einem Raum mit ungefähr drei Millionen Kalorien fühle ich mich einfach geborgen. »Schlimmer geht immer«, sagt mein Vater seit Menschengeden13
ken, und jahrelang habe ich ihm das geglaubt. Aber das
lag in der Zeitrechnung vor Xocolatl.
Um meine beiden Kinder Ben und Nele sowie um unseren Labrador Lucy musste ich mir an der Algarve ebenfalls keine Sorgen machen, schließlich habe ich ja einen
Noch-Ehemann, der Tochter, Sohn, Hund und Haus hüten kann und dem ein Urlaub von der Assistentin meiner
Ansicht nach nur guttut.
Mein Handy klingelt. »Sie haben eine neue Nachricht«
steht im Display, und es ist tatsächlich Serge, der mir eine
SMS schickt. Jetzt schon. Ich lese »Chérie« und werde vor
Verlegenheit rot.
»Sind Sie Frau Heinz?«, fragt eine Stimme hinter mir.
Das Handy fällt mir vor Schreck aus der Hand, ich muss
mich bücken, Hitze steigt mir ins Gesicht, und wahrscheinlich sehe ich jetzt aus wie ein überdimensionaler
Truthahn.
»Kann ich helfen?« Ein Mann beugt sich über den antiken
Gutshoftisch, den ich als Tresen benutze.
»Nein. Entschuldigung, was kann ich für Sie tun?«
»Mir Ihre Bücher zeigen.«
»Ich verkaufe Schokolade.«
»Ich meine Ihre Buchhaltung. Hans-Dieter Wiesner, Finanzamt.«
»Sie wollen gar nichts kaufen?«
»Bedaure. Betriebsprüfung.«
»Betriebsprüfung?«
Der Mann nickt und zeigt mir einen Ausweis.
»Aber ich habe erst vor einem drei viertel Jahr eröffnet.«
»Der Computer hat Sie ausgesucht.«
»Sie sind also zufällig hier.«
14
»Wenn Sie es so nennen wollen. Ich brauche einen ruhigen Platz zum Arbeiten. Haben Sie so etwas?«
Herr Wiesner sieht eigentlich nicht aus wie einer, der sich
tagaus, tagein mit den Steuererklärungen seiner Mitmenschen beschäftigt. Allerdings muss ich zugeben, dass ich
auch niemanden kenne, der beim Finanzamt arbeitet. Persönlich jedenfalls nicht. Einmal habe ich mit einer überaus
spröden Sachbearbeiterin telefoniert. Schon das war kein
schönes Erlebnis. Aber Herr Wiesner wirkt trotz meiner
durchaus begründeten Vorbehalte gegenüber Finanzbeamten irgendwie nett. Harmlos geradezu. Er ist blond (na
ja, dafür kann er nichts), trägt eine karamellfarbene Cordhose, ein hellblaues Hemd, keine Krawatte. Er könnte
auch Lehrer sein. Oder Psychotherapeut.
»Essen Sie Schokolade?«, frage ich.
»Nein danke.«
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht mit Pralinen bestechen.«
»Können Sie gar nicht, ich mag keine Süßigkeiten.«
»Möchten Sie einen Kaffee? Cappuccino? Latte macchiato?«
»Noch mal nein. Ich habe alles dabei.«
»Herr Wiesner, nicht wahr? Ich kann Ihnen nur die Küche anbieten. Mein Laden ist leider nicht sehr groß.«
Das Handy klingelt schon wieder. Diesmal ist es Hille.
»Bea, erzähl mir alles.«
»Hille, ich kann jetzt nicht. Das Finanzamt ist da.«
»Wer?«
»Finanzamt.«
»O Gott, hast du deine Steuern nicht gezahlt?«
»Hille, ich rufe zurück. Habe ich meine Steuern nicht gezahlt, Herr Wiesner?«
15
»Na, das wollen wir doch nicht hoffen.«
»Dürfen Sie mich einfach so überrumpeln?«
»Darf ich nicht. Aber ich habe mich angemeldet.«
»Ganz sicher nicht.«
»Ganz sicher doch. Vielleicht ist es Ihnen einfach entfallen?«
»Glaube ich nicht. Ich habe nämlich panische Angst vor
dem Finanzamt.«
»Dann haben Sie meinen Besuch verdrängt.«
»Leider erfolglos, Sie sind ja da.«
»Die meisten Menschen möchten mit dem Finanzamt
nichts zu tun haben. Übrigens, je schneller ich anfange,
umso rascher bin ich auch wieder verschwunden.«
Ich zeige ihm die Küche, und Herr Wiesner packt tatsächlich eine Brotdose aus, wie ich sie Nele morgens mit in die
Schule gebe. Ein Heißgetränk hat er sich in einer Thermoskanne mitgebracht. Er wirft einen interessierten Blick auf
die Mikrowelle, den Wasserkocher und den runden Bistrotisch, den ich beim Trödler gefunden habe.
»Habe ich was im Gesicht?«
»Wie bitte?«
»Sie sehen mich so seltsam an.«
»Verzeihung. Sie haben die gleiche Brotdose wie meine
Tochter.«
»Aha.«
Was ist von einem erwachsenen Mann zu halten, der sein
Mittagessen in einem blauen Plastikbehälter mit aufgedruckter Maus herumträgt? Kristin würde jetzt ihren Ich-kennedeine-geheimsten-Gedanken-Blick aufsetzen und ihre rechte
Augenbraue nach oben ziehen. Ich weiß nicht, wie sie das
macht, mir ist das noch nie gelungen, aber Kristin verfügt
16
über ein ganzes Repertoire an indignierten Gesichtsausdrücken, die nicht nur Verlagsvolontärinnen die Verlegenheitsröte ins Gesicht treiben. Sie schaut dann so, als wäre man in
etwas höchst Übelriechendes getreten. Kristin hat mit Männern zu tun, die mittags Sushi und Gemüse-Tempura essen
und keinesfalls selbstgeschmierte Käsebrote.
»Bea? Bist du da?«
Ich räuspere mich. »Entschuldigung. Es ist jemand im Laden.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, entgegnet Herr
Wiesner.
»Beeea?«
»Wollen Sie nicht nachsehen?«
»Ja. Tut mir leid, aber kann ich Sie kurz allein lassen?«
»Hallo? Bea?«
Ich renne zurück zum Tresen. »Kristin, musst du so
schreien?«
»Erzähl, ich will alles wissen.«
»Das hat Hille auch schon gesagt.«
»Und?«
»Ich kann jetzt nicht. In der Küche sitzt die Steuerprüfung.«
»Haben die nichts Besseres zu tun? Du hast doch gerade
erst eröffnet.«
»Der Computer hat mich ausgesucht.«
»Du hast bestimmt kein Geld in Liechtenstein versteckt.
Jetzt lass dich mal anschauen. Bea, du siehst toll aus. Wie
heißt er?«
»Ich glaube, Wiesner.«
»Wiesner? Und sonst?«
»Hans-Dieter.«
17
»Hm, klingt nicht nach berauschender Erotik.«
»Nicht so laut. Er sitzt hinten in der Küche.«
»Ich meine doch nicht die Steuerprüfung. Also, wie heißt
der Typ, der für deine strahlenden Augen verantwortlich
ist?«
»Ach, Kristin.«
»Eine neue Frau in sechs Tagen. Wenn das kein Titelthema
ist.« Kristin ist Spezialistin für Reise, Partnerschaft und
Psychologie und verarbeitet jedes Ereignis im Leben ihrer
Freundinnen zu einer Geschichte. Ich selbst habe mich in
ihrem Blatt schon in diversen Variationen wiedergefunden,
das letzte Mal als leuchtendes Beispiel einer Frau, die nach
dem Scheitern ihrer Ehe die Ärmel hochkrempelt und noch
einmal von vorn anfängt. Oder so ähnlich.
Kristin ist nicht verheiratet, und bislang hat sie immer kategorisch erklärt, ihre Unabhängigkeit niemals aufzugeben. Und falls sie jemals eine Beziehung hatte, die ihren
Entschluss ins Wanken gebracht hätte, so ist es ihr gelungen, dies vor ihren Freundinnen geheim zu halten.
»Nun sag schon, entdecke ich in deinen Augen eine Spur
von Lüsternheit? Von wildem, ungezügeltem Sex?«
»Verzeihung, Frau Heinz, darf ich kurz stören?«
Das Finanzamt kommt aus der Küche, und ich werde
schon wieder puterrot. Kristin setzt ihr Schlange-KaaLächeln auf und streckt die Hand über den Tresen. »Kristin König. Ich bin Beas Freundin.«
Herr Wiesner nickt und schüttelt ihre Hand. »Hans-Dieter Wiesner, Finanzamt.«
»Ich weiß«, sagt Kristin. »Sie schnüffeln also in Beas Kontoauszügen herum.«
»Kristin.«
18
Herr Wiesner lacht. »Das ist mein Job.«
»Wie kommt ein Mann wie Sie zur Steuerprüfung?«, säuselt meine Freundin.
»Frau Heinz, ich habe nur eine ganz kurze Frage. Können
Sie rasch mit in die Küche kommen?«
Ich nicke und werfe Kristin einen warnenden Blick zu.
»Sie haben eine neue Nachricht«, vermeldet mein Handy.
Schon wieder Serge?
»Geh ruhig«, sagt Kristin mit Unschuldsmiene. »Soll ich
deine SMS abrufen?«
»Untersteh dich«, zische ich und folge Herrn Wiesner.
Als ich zurückkomme, knabbert Kristin an einem meiner
belgischen Champagnertrüffel.
»Eigentlich sieht er gar nicht schlecht aus. Aber diese
Cordhose …«
»Bitte nicht so laut. Ich werde Steuern nachzahlen müssen, bloß weil du über seine Hose lästerst.«
Kristin schaut mich mit einem Blick an, den sie normalerweise für begriffsstutzige Mitarbeiter von Fluggesellschaften reserviert, die nicht einsehen wollen, dass eine
Frau wie sie grundsätzlich mit Übergepäck reist. »Du hast
deine SMS noch nicht angesehen. Und meine Frage nicht
beantwortet.«
»Welche Frage?«
»Ob es passiert ist.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Von sex on the beach.«
»Das ist ein Cocktail.«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Also gut, ja.«
»Was, ja?«
19
»Ja, ich habe jemanden kennengelernt.«
»Hab ich’s doch gewusst.« Kristins Stimme jubelt förmlich. »Und ich sag noch zu den Mädels in der Redaktion:
Passt mal auf, meine Freundin Bea trifft im Urlaub die
große Liebe. Hab ich recht oder hab ich recht?«
»Von großer Liebe kann nun wirklich nicht die Rede
sein.«
»Erzähl: Wie heißt er? Wer ist er? Was macht er? Wie sieht
er aus? Ist er gut im Bett? Et cetera, et cetera. Und achte
auf die Details.«
»Kristin, es handelt sich um einen harmlosen Urlaubsflirt.
Mach bitte keine Staatsaffäre daraus. Und kein Wort zu
Claus.«
»Du willst doch wohl nicht deinen untreuen Noch-Ehemann schonen. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass du auch
mal auf deine Kosten kommst. Schlimm genug, dass Claus
bei seiner minderjährigen Assistentin eingezogen ist.«
»Sie ist nicht minderjährig.«
»So sieht sie aber aus.«
»Unsinn. Stefanie ist sechsundzwanzig.« Ich schlucke.
Die dünne Assistentin meines Mannes ist ein Thema, das
ich gern vermeide. Natürlich weiß ich, dass Ehen nicht
ewig halten. Besonders heutzutage. Meine Tochter Nele
geht in die erste Klasse, und von den fünfundzwanzig
Kindern haben mindestens fünf geschiedene Eltern. Und
wir wohnen auf dem Land. Trotzdem war ich immer davon überzeugt, dass unsere Ehe zu den paar Prozent der
besonders widerstandsfähigen gehört. Tja, denkste.
Im Gegensatz zu anderen Frauen habe ich von der Affäre
meines Mannes nicht durch einen puren Zufall erfahren,
sondern Claus hatte den Anstand, es mir selbst zu sagen.
20
Wenigstens das. Aber weh getan hat es trotzdem. »Stefanie
und ich – das hat nichts mit uns zu tun«, hat er damals gestammelt. Ach, Claus, habe ich gedacht. Wie blöde ist das
denn? Glaubst du, ich falle auf den Standardspruch aller
untreuen Männer rein? Gesagt habe ich lediglich: »Du
Scheißkerl.« Claus hat wütend die Tür hinter sich zugeschlagen, und ich habe eimerweise Tränen vergossen.
Mein ganzes Leben lang ist Claus mein Traummann gewesen. Ich habe an einen anderen Mann nicht mal einen
Gedanken verschwendet. Immer habe ich nur Claus geliebt. Claus Müller. Schon in der Schule habe ich ihn angeschwärmt. Seit wir verheiratet sind, habe ich mit keinem
anderen Mann geschlafen. Irgendwann allerdings auch
nicht mehr mit Claus. Ich hatte ja schon verlernt, wie man
das Wort Sex überhaupt schreibt. Und vermutlich wäre das
auch noch eine Zeitlang so weitergegangen, wenn Kristin
nicht ihre berühmten dreißig Prozent Rabatt bekommen
hätte. Dann wäre ich nicht an die Algarve geflogen – und
ich hätte auch nicht Serge getroffen. Und dann …
Ich spüre Kristins prüfenden Blick und schüttle die Gedanken an meinen Noch-Ehemann ab wie mein Hund die
Wassertropfen nach einem ausgiebigen Bad in irgendeinem Bach.
»Alles in Ordnung?«, fragt Kristin. Glücklicherweise betritt in diesem Moment eine Kundin den Laden, und ich
bin bis auf weiteres von dem Verhör durch meine Freundin befreit.
In der Regel erkenne ich auf den ersten Blick, ob jemand
etwas kaufen oder sich nur umschauen will. Diese Dame
hier gibt wenig Anlass zur Hoffnung auf Umsatz. Und
ich bin schließlich nicht Hille.
21
»Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich und zeige mein verbindlichstes Lächeln.
»Ich suche etwas Besonderes.«
»Zum Verschenken?«
»Für meine Schwiegermutter.«
»Wir haben sehr schönes Konfekt.«
»Ich weiß nicht.«
»Oder Petit Fours?«
»Sind die mit Marzipan?«
»Unter anderem, ja.« Ich seufze innerlich. Schokolade für
die Schwiegermutter ist meist ein innerer Widerspruch.
Schokolade ist süß, und Schwiegermütter sind bitter. Ich
weiß das aus eigener Erfahrung. Gisela, die Mutter meines
Noch-Ehemanns, bedeutet als Schwiegermutter die
Höchststrafe. Selbst an den zartesten Buttertrüffeln hätte
sie etwas auszusetzen. Allerdings muss ich zugeben, dass
ich ihr nie Schokolade geschenkt habe. Usambaraveilchen, Parfums, Seidenschals in allen Farben des Regenbogens, aber keinen einzigen Champagnertrüffel. Heute
würde ich sagen: Das war ein Fehler. Ich wette, Gisela gehört zu den Frauen, die eine Sünde zu schätzen wissen,
auch wenn sie es nicht zugeben können. Ich verbiete mir
jeden weiteren Gedanken an Claus und seine Mutter und
lächle die Kundin an.
»Haben Sie auch was ohne Marzipan?«
»Äh … Frau Heinz? Könnten Sie noch mal …«
»Nein, jetzt gerade nicht, Herr Wiesner.«
Kristin mischt sich ein. »Vielleicht kann ich Herrn Wiesner weiterhelfen.«
»Gibt es jetzt etwas ohne Marzipan oder nicht?«
Mein Handy. Schon wieder. Diesmal geht Kristin ran.
22
»Vorzimmer Heinz. Was kann ich für Sie tun?«
Ich versuche mich auf die Kundin zu konzentrieren. »Ohne
Marzipan … Warten Sie. Die Schoko-Hufeisen sind ein
schönes Geschenk. Und sie schmecken nach Kardamom.«
»Bea«, sagt Kristin und hält mir das Handy hin. »Ein
Mann.«
»Frau Heinz«, drängelt das Finanzamt, »eine Frage …«
»Die Hufeisen gefallen mir nicht«, nörgelt die Kundin.
Ich lasse die Dame bei der weiteren Suche nach Schwiegermutter-Schokolade unbehelligt, nehme Kristin das Handy
aus der Hand und rette mich in die Küche. »Hallo?«
»Ich bin’s.«
»Claus?«
»Wen hast du denn erwartet?«
»Ach, niemanden. Was gibt es denn?«
»Wie war dein Urlaub?«
»Nett, aber ich kann jetzt nicht. Die Steuerprüfung ist
hier.«
»Das Finanzamt?«
»Sage ich doch.«
»Du hast doch nicht etwa vergessen, deine Steuern zu
zahlen?«
»Nein, der Computer hat mich ausgewählt. Was wolltest
du denn?«
»Bea, wir müssen reden.«
Herr Wiesner erscheint und lehnt sich gegen den Türrahmen.
»Claus, bitte, ich ruf dich heute Abend zurück.«
»Ich komme vorbei.«
»Nein …« Die Verbindung ist unterbrochen, ich starre
das Handy an.
23
»Haben Sie jetzt Zeit?«, fragt Herr Wiesner.
»Nein«, fauche ich, »ich muss mich um die Kundin kümmern.«
»Die ist weg.«
»Na toll. Wenn ich keinen Umsatz mache, muss ich auch
keine Steuern zahlen.«
»Sie hat zwei Tüten von den teuersten Trüffeln gekauft.«
»Für Schwiegermama?«
»Hm. Und einen Geschenkkarton mit diesen kleinen Kuchen.«
»Den Petit Fours?«
Herr Wiesner nickt.
»Das ist ja großartig«, sage ich zu Kristin, die hinter Herrn
Wiesner in der Tür erscheint. »Ich wusste gar nicht, dass
du so ein Verkaufsgenie bist.«
»Die Umsatzsteigerung hast du einzig und allein dem Finanzamt zu verdanken. Sind alle deine Kundinnen so anstrengend?«
»Genauso wie deine Leserinnen.« Ich sehe von Herrn
Wiesner – »Danke für die Hilfe« – zu Kristin. »Du hättest
mir sagen können, dass Claus am Telefon ist.«
»Warum? Hast du jemand anderen erwartet?«
»Musst du nicht in die Redaktion?«
»Ich habe mir freigenommen. Ich dachte, wir gehen mittags eine Kleinigkeit essen, und du erzählst mir exklusiv
von deinem neu erwachten Liebesleben.«
»Entschuldigung, Herr Wiesner, Sie hatten eine Frage.«
»Oh, ich will nicht stören, sprechen Sie ruhig weiter.«
»Meine Freundin hat das nicht ernst gemeint.«
»Habe ich doch.«
Herr Wiesner lächelt. »Sie können gerne essen gehen. Ich
24

Documentos relacionados