und “männlichem” Glück in Lessings Minna von Barnhelm

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und “männlichem” Glück in Lessings Minna von Barnhelm
Zur Antinomie von “weiblichem” und
“männlichem” Glück in Lessings
Minna von Barnhelm
martin blawid
Universität Leipzig
Der Begriff des Glücks wird im Laufe des 18. Jahrhunderts wiederholt in
Konversationslexika und Wörterbüchern des deutschen Sprachraums definiert. Einer dieser Definitionsansätze wird der folgenden Untersuchung zugrunde gelegt. Im Jahre 1735 erscheint in Johann Heinrich Zedlers Grossem
vollständigen Universallexicon der im Anschluss zitierte Eintrag unter dem
Stichwort “Glück”:
Glück, ist der ganze Zusammenhang derer bey denen menschlichen Unternehmungen mit beylauffenden natürlichen Umständen und Neben-Ursachen,
die sich begeben, und nicht begeben können, und zwar beydes ohne unser
willkührliches Zuthun, mit dem Verlauffe unserer Thaten, in welchem sie
einen unseren Absichten entweder gemässen oder entgegen lauffenden Einfluß haben. Im ersten Fall nennen wir es ein gutes oder günstiges; im andern
Fall ein wiedriges Glück oder Unglück. (1701)
Zedlers Definition weist gutes “Glück” und “Unglück” demnach als zwei
Ausprägungsformen eines übergeordneten Glückskonzeptes aus; sie sind – wie
die Linguistik lehrt – durch Kohyponymie miteinander verbunden. Das Kriterium
für den Unterschied macht Zedlers Lexikon an dem Verhältnis fest, das zwischen
dem “Verlauffe der Thaten” und den “Absichten” besteht. Bei weitestgehender
Übereinstimmung beider Kategorien ergebe sich “gutes Glück,” bei Abweichungen entstehe “Unglück.” In Zedlers Lexikoneintrag wird der enge
semantische Bezug zwischen Glück und Unglück in den epistemologischen
Vorstellungen des 18. Jahrhunderts sehr anschaulich verdeutlicht. Dass der
schmale Grat zwischen Glück und Unglück allerdings auch in fiktionalen
Texten des vergleichbaren Entstehungszeitraumes reflektiert wird, kann an folgendem Beispiel gezeigt werden.
Gotthold Ephraim Lessings 1767 vollendeter Text Minna von Barnhelm
oder das Soldatenglück enthält im fünften Akt folgende Schlüsselszene (V, 2),
in der der Major von Tellheim seine eigene und die Situation seiner Verlobten
Minna in der Figurenrede reflektiert: “[v. tellheim]: Wie ist mir? – Meine ganze
Seele hat neue Triebfedern bekommen. Mein eignes Unglück schlug mich nieder;
seminar 47:2 (May 2011)
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machte mich ärgerlich, kurzsichtig, schüchtern, lässig: ihr Unglück hebt mich
empor, ich sehe wieder frei um mich, und fühle mich willig und stark, alles
für sie zu unternehmen” (91). Bekanntlich strebt Minna nach einer dauerhaften
amourösen Verbindung mit Tellheim, in der sie ihr individuelles Glück zu
finden hofft. Tellheim sträubt sich bis zu der zuvor zitierten Textstelle dagegen, was dazu führt, dass das durch Minna angestrebte “weibliche Glück”
zunächst im Widerspruch zu Tellheims Plänen steht. In diesem Zusammenhang
sind zwei Aspekte besonders interessant. Zum einen die Tatsache, dass
Tellheim sein eigenes Schicksal sehr stark extern, und genauer: von der
Situation Minnas ableitet, wobei er in V,2 das plötzliche Unglück seiner Verlobten paradoxerweise zum Anlass nimmt, “wieder frei um sich zu sehen” und
damit Hoffnung zu schöpfen. Zum anderen lenkt die Figurenrede die Aufmerksamkeit auf die Bindung eines “männlichen Glücksempfindens” an ein
“weibliches Unglück.” Die Schlussfolgerung, zu der Tellheim in dem zitierten
Abschnitt kommt, hat die Lessing-Forschung wiederholt beschäftigt: Weshalb
gelangt Tellheim erst durch das vermeintliche Unglück seiner Partnerin zum
eigenen Glück? Die Frage kann auch aus umgekehrter Perspektive gestellt
werden: Warum verhindert das Glücksbestreben Minnas ein Glücksempfinden
Tellheims so lange, bis es aus seiner Sicht ausbleibt. Zum Thema “Glück” in
der Lessing-Forschung und insbesondere in Minna von Barnhelm vergleiche
man Beatrice Wehrli (98–102) und Monika Fick (247–48); das körperliche
Unglück eines versehrten Soldaten kommentieren Martin Kagel (22–27) und
Wolfgang Schmale (196–200), während Peter Brenner “Glücksempfinden” im
Zusammenhang mit dem “autonomen Subjektentwurf” untersucht (120–21).
“Weibliches” und “männliches” Glück bilden – so die erste Ausgangsthese
vorliegender Analyse – zwei entgegengesetzte Kräfte in Lessings Text, d.h. eine
antinomische Grundkonstellation. Dabei bleibt zu hinterfragen, welche Motive
dieser Opposition, die die Handlung wesentlich beeinflusst, zugrunde liegen.
Wenn Minnas Ziel in einer dauerhaften Verbindung mit Tellheim besteht, gegen
die sich der Major jedoch bis zum Ende hartnäckig wehrt, dann legitimiert der
Handlungsverlauf folgende zweite Ausgangsthese: Minnas “weibliches Glück”
ist wesentlich von Tellheims männlichem Dominanzbestreben abhängig.
“Weibliches Glück” als Ergebnis eines männlichen Dominanzproblems? Aus
der Glücksfrage wird folglich eine Geschlechterfrage. Woraus sich diese entwickelt, zeigt die folgende Textpassage der Figurenrede Tellheims, in der er in
II,9 seine Ausgangssituation schildert:
v.
tellheim: Recht, gnädiges Fräulein; der Unglückliche muss gar nichts
lieben. Er verdient sein Unglück, wenn er diesen Sieg nicht über sich selbst zu
erhalten weiß; wenn er es sich gefallen lassen kann, daß die, welche er liebt,
an seinem Unglück Anteil nehmen dürfen.– Wie schwer ist dieser Sieg! – Seitdem
mir Vernunft und Notwendigkeit befehlen, Minna von Barnhelm zu vergessen:
was für Mühe habe ich angewandt! (44)
Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 143
Tellheim – so scheint es – gefällt sich in der Position des Unglücklichen.
“Vernunft und Notwendigkeit” befehlen ihm die Absage an ein amouröses
Glück. Die Ursachen dafür werden bei dem Aufeinandertreffen von Tellheim
und Minna in II,8 zum ersten Mal dargelegt. Wie insbesondere anhand des
Nebentextes – der Regieanweisungen – erkennbar wird, präsentiert sich Tellheim zu Beginn der Szene als von seinen Affekten beherrschter Mann und
agiert somit in Gegenwart Minnas vollkommen widersprüchlich zu seiner
Haltung im ersten Akt:
v.
tellheim: tritt herein, und indem er sie erblickt, flieht er auf sie zu: Ah!
meine Minna. –
das fräulein: ihm entgegen fliehend: Ah! mein Tellheim! –
v. tellheim: stutzt auf einmal, und tritt wieder zurück: Verzeihen Sie,
gnädiges Fräulein. (42)
Diese Textstelle ist von Brenner (128), Fritz Martini (376–426), Jürgen
Schröder (230–32) und Wehrli (103) kommentiert worden, wobei sich wiederholt der Hinweis auf den von Lessing im 20. Stück der Hamburgischen
Dramaturgie enthüllten Gegensatz zwischen der “Sprache des Herzens” und
dem “hässlichen Ton des Zeremoniells” findet (136).
Die rasche Abfolge von Hingabe und Selbstdisziplin bzw. Reflexion, mit
der nach Wehrli für Tellheim die Probleme “erst beginnen” (103), verweist
auf einen Bereich der Anthropologie der Aufklärung, der insbesondere in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein deutlich zunehmendes Interesse verzeichnet, das sich schließlich auch in literarischen Texten niederschlägt: die angestrebte Dominanz bzw. Herrschaft der oberen über die unteren Seelenkräfte,
die Herrschaft von Verstand bzw. Vernunft über die Leidenschaften. Diese
Fähigkeiten beeinflussen im Laufe des 18. Jahrhunderts immer stärker die
Tendenz zur Distinktion der Geschlechtereigenschaften. Tellheims angestrebte
Disziplinierung der Affekte, die in der zuvor zitierten Passage deutlich wird,
kann aus diesem Grund als Versuch bezeichnet werden, der insbesondere an
“Männlichkeit” gebundenen Forderung nach Mäßigung der Leidenschaften
zu entsprechen. Dass er jedoch weder erkennen kann noch will, wie seine
individuelle Absage an ein amouröses Glücksgefühl mit Minnas “weiblichem
Glücksempfinden” verbunden ist, lässt sein Verharren in der starren Position
des gekränkten, versehrten und daher unglücklichen ehemaligen Soldaten als
zunehmend eigenfixiert erkennbar werden.
Das Zusammenspiel von Haupt- und Nebentext ist dafür in der Szene II,8
von besonderer Bedeutung: Tellheim versucht, sowohl durch sein körperliches
Zurückweichen Distanz zu Minna zu wahren als auch die Distanz auf die
Ebene des Verbalen zu projizieren, indem er von der eingangs verwendeten,
vertrauten Form “meine Minna” zum formellen Form “gnädiges Fräulein”
übergeht. Dadurch weist er die körperliche Annäherung Minnas entschieden
zurück und erteilt somit auch dem physischen Glücksempfinden der Verlobten
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eine Absage. Dabei wird sich der Major plötzlich der Öffentlichkeit der
Kommunikation bewusst, da neben Minna und ihm auch Franciska und der
Wirt Zeugen seiner spontanen Leidenschaft geworden sind. Allerdings strebt
Tellheim genau das Gegenteil, die Exklusion der Öffentlichkeit aus seinem
Verhältnis zu Minna, an, was zum einen die zusätzliche Forderung an seine
Selbstdisziplin erklärt und zum anderen sein Verharren in der Sprachlosigkeit
hervorruft, die erst in II,9 in der Gewissheit der Wahrung einer Zone der Intimität mit Minna aufgehoben werden kann: “[v. tellheim]: zurückweichend: Sie
suchten einen glücklichen, einen Ihrer Liebe würdigen Mann; und finden – einen
Elenden” (43).
Die Fixierung auf den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart
führt Tellheim Minna gegenüber als Eigencharakteristik an und erklärt im
Folgenden die sich für ihn ergebenden Konsequenzen: Die Berufung auf die Verantwortung für das eigene korrespondiert aus Tellheims Sicht mit der Pflicht,
das fremde Schicksal zu schützen, was sich in dem zuvor zitierten Textabschnitt
aus II,9 zeigt. Erneut tritt in seiner Figurenrede ein verbitterter Fatalismus
hervor, der ihn die selbstauferlegte Pflicht herleiten lässt, seinen Affekten zu
entsagen. Die enge Verknüpfung seines männlichen Selbstverständnisses mit
der an eine soldatische Ehre gebundenen Erwartungshaltung manifestiert sich
deutlich in der Sprache, die gerade in einem zweifelsohne emotional aufgeladenen Moment mit militärisch besetzten Begriffen (der “Sieg” über sich
selbst oder der “Befehl,” Minna zu vergessen) die Disziplinierung herzustellen
bemüht ist. Die Beherrschbarkeit der Affekte – in diesem Fall der amourösen
Art Minna gegenüber – sei ihm von “Vernunft und Notwendigkeit” befohlen,
womit er sich als Vertreter des zuvor geschilderten anthropologischen Postulats
der Beherrschbarkeit der unteren durch die oberen Seelenkräfte ausweist. Im
gleichen Zusammenhang verdeutlicht er jedoch auch die Schwierigkeiten,
die für ihn mit diesem Prozess verbunden gewesen seien. Dadurch legt er die
Schlussfolgerung nahe, dass die Strategie, den Leidenschaften zu entsagen,
dem sich in einer Krise befindlichen männlichen Individuum nur über das Applizieren von Mechanismen der Gewalt gegen sich selbst ermöglicht wird (vgl.
Kaufman 13–17).
Indem Minna ihn – zunächst unverhofft – persönlich trifft und ihn in dem
folgenden Wortwechsel dazu zwingt, offen auszusprechen, dass er sie noch
immer liebe, bricht die vermeintlich gelöste amouröse Krise aufs Neue über
Tellheim herein. In diesem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben,
dass die Krise ursprünglich nur von Tellheim als solche empfunden wird.
Minna hingegen strebt weiterhin nach der Erfüllung des gemeinsamen
Liebesglücks. Tellheim jedoch ist es, der vor seiner Verlobten flüchtet,
ihr ausweicht und in ihrer Gegenwart Unbehagen empfindet. Sein Fluchtversuch – oder, systemtheoretisch argumentiert – sein Versuch, das Dasein als
Exklusionsindividuum zu intensivieren, muss spätestens in diesem Moment
als gescheitert bezeichnet werden, wozu sowohl Mittel der Gewalt gegen
sich selbst, als auch Mittel fremder Einflussnahme durch Minna entscheidend
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beitragen. Das komische Potenzial dieser zweifelsohne aus Sicht Tellheims
sehr ernsten Situation wird durch die Tatsache verstärkt, dass der Major das
Zusammentreffen mit Minna als Abschied deutet, währenddessen Minna auf
ein Wiedersehen abzielt. Dem tritt verstärkend hinzu, dass auch Tellheim nicht
nur versucht, seine Affekte zu unterdrücken, sondern sich der durch Niklas
Luhmann für das ausgehende 18. Jahrhundert konstatierten “Semantik des Gefühls” (154–55) keinesfalls bedienen kann.
Ebenso zögerlich wie auf die Frage, ob er Minna noch liebe, verhält sich
Tellheim, als Minna ihn bittet, von seinem “Unglück” zu berichten. Dabei dienen
ihm die Anforderungen an eine durch das Militär geprägte “Männlichkeit,” die
sich durch eine Resistenz gegenüber Emotionen definiert, erneut als Rechtfertigungsgrundlage. Tellheim will nicht kommunizieren; er weicht, wie
Schröder formuliert, Minnas Impulsen entweder aus oder antwortet widerwillig
(232). Die Inkommunikabilität der emotional aufgeladenen Bereiche “Liebe,”
“Schicksal” und “Unglück” begründet Tellheim im Anschluss wie folgt:
v.
tellheim: Aber Sie meinen, ich sei […] der blühende Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen Seele
mächtig war; […] der Ihres Herzens und Ihrer Hand […] täglich würdiger zu
werden hoffen durfte. – Dieser Tellheim bin ich eben so wenig, – als ich mein
Vater bin. Beide sind gewesen. – Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an
seiner Ehre gekränkte, der Kriepel, der Bettler. (45–46)
Brigitte Prutti gelangt zu dem Ergebnis, dass Tellheim im Evozieren
eines Bildes aus seiner ruhmreichen Vergangenheit eine “Rekonstruktion des
fragmentierten männlichen Subjekts” beabsichtigt (230). Schröder sieht darin
erneut eine Verbindung zum sprachlichen Duktus, den sowohl Minna als
auch Tellheim wählen: “So wie sie [Minna] hier die natürliche “Sprache des
Herzens” noch auf eine spürbar willkürliche Weise handhabt, so spricht Tellheim seine unnatürlich-zeremonielle Sprache schon auf eine unwillkürliche,
weil psychologisch begründete Weise” (234).
Die Definition des – wie Tellheim sich ausdrückt – “blühenden” Mannes
leitet sich sowohl über primär soziale Aspekte wie Reputation und Ambition
als auch über biologisch-anatomische Aspekte her. Die Brisanz der Interaktion
zwischen Minna und Tellheim erwächst in II,9 vor allem daraus, dass
Minna meint, den vornehmlich auf den sozialen Gesichtsverlust abzielenden
Äußerungen Tellheims mit einer dezidierten Forderung nach Körperlichkeit
zu entgegnen. Erneut ist das Zusammenwirken von Haupt- und Nebentext in
dieser entscheidenden Situation bedeutsam:
das fräulein: Deine Hand, lieber Bettler! indem sie ihn bei der Hand
ergreift.
v. tellheim: der die andere Hand mit dem Hute vor das Gesicht schlägt,
und sich von ihr abwendet: Das ist zu viel! – Wo bin ich? – Lassen Sie mich,
Fräulein! – Ihre Güte foltert mich! – Lassen Sie mich!
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[…]
das fräulein: Von mir? indem sie seine Hand an ihre Brust zieht: Träumer!
[…]
v. tellheim: Lassen Sie mich, Minna! reißt sich los und ab. (46)
Schröder hebt diesbezüglich zu Recht hervor, dass Minna versucht,
“jeden zeremoniellen Ansatz […] Tellheims in die Sprache des Herzens zurückzuübersetzen” (233). Das “weibliche Glück” wird aus der Perspektive
Minnas somit als amouröses Glück beschreibbar. Allerdings besitzt die
Szene – von der Forschung noch nahezu unbeachtet – über die platonischamouröse hinaus eine stark erotische Komponente. Die Projektion sexueller
Desiderate, unterstützt von der Kleidung Minnas, dem Negligé, und der von ihr
initiierten körperlich-intimen Berührung, spiegelt durchaus mehr wider als den
von Prutti unterstellten Wunsch Tellheims “nach der Heimkehr in die weiblichmütterlichen Arme” (232). Minna begehrt zumindest an dieser Stelle deutlich
eher sexuell als ideell. Jedoch verdeutlicht der körperliche Zustand Tellheims,
dass Minna ihn an seinem gelähmten – und damit nicht nur mechanisch unbrauchbaren, sondern durch die Lähmung auch für Erotik unempfänglichen
Arm – ergreift.
Das erotisch-amouröse Glück, das Minna zweifelsfrei als Teilkomponente
ihres “weiblichen Glücks” versteht, rückt aus diesem Grund für Tellheim
in weite Ferne: Der soldatische Körper verliert in dieser Situation über die
ohnehin eingebüßte Unversehrtheit hinaus auch den Bezug zum Status des
Subjekts. Er wird manövrierbar in den Händen einer Frau, die ein erotisches
Spiel initiieren will, das der Mann jedoch nicht zu empfinden vermag. Dem
Verbergen des Gesichts hinter dem Hut und dem Abwenden von Minna liegt
das Bedürfnis nach Distanz zugrunde, über das Tellheim allerdings nicht mehr
entscheiden kann. Minna “ergreift” und “zieht” (46) ihn, sodass er sich nur mit
einem erneuten Akt der Gewalt von ihr befreien kann. Tellheim bedarf nicht
nur der Hilfe anderer Figuren, sondern auch des emotionalen Schutzes vor
anderen Figuren.
Um die Distanz zu Minna aufgrund dieser Erfahrung zu wahren, bemüht
Tellheim im weiteren Verlauf immer wieder seine Gefolgsleute, die entweder – wie
Just in III,2 – einen Brief übergeben oder – wie Paul Werner in IV,4 – seine
bevorstehende Ankunft melden sollen. Die Strategie, Minna einen Brief zu
schreiben, in dem er seine Situation nochmals erklärt, stellt, genau betrachtet,
eine Verkettung verschiedener Mittel zur Wahrung der Distanz dar: der Brief
als Mittel der sekundären Oralität anstatt eines klärenden Gesprächs, die
Übergabe dieses Briefes durch einen Diener anstatt von eigener Hand und
die indirekte Übergabe an Franciska anstelle Minnas. Deutlicher kann die
Betonung der Distanz nicht hervortreten. Das Spannungsverhältnis setzt sich
auch in dem entscheidenden Treffen zwischen Minna und Tellheim in IV,6
fort, wobei Minna eingangs die Exklusion militärischer Attribute fordert: “O,
Herr Major, so gar militärisch wollen wir es mit einander nicht nehmen” (79).
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Tellheims Figurenrede bleibt jedoch weiterhin davon affiziert. Minna bietet
ihm daraufhin eine Alternative an:
das fräulein: Ich bin Ihre Gebieterin, Tellheim; Sie brauchen weiter keinen
Herrn. – […] Was sind Sie noch mehr? Ein Kriepel: sagten Sie? Nun, indem
sie ihn von oben bis unten betrachtet der Kriepel ist doch noch ziemlich ganz
und gerade; scheinet doch noch ziemlich gesund und stark. – Lieber Tellheim,
wenn Sie auf den Verlust Ihrer gesunden Gliedmaßen betteln zu gehen
denken: so prophezeie ich Ihnen voraus, daß Sie vor den wenigsten Türen
etwas bekommen werden; ausgenommen vor den Türen der gutherzigen
Mädchen, wie ich.
v. tellheim: Jetzt höre ich nur das mutwillige Mädchen, liebe Minna. (81)
Minna beansprucht damit nicht nur die Hegemonie einer zukünftigen Verbindung, sondern spricht dem Major darüber hinaus weitere Alternativen zu
dem vermeintlichen Glück ab, das ihn mit ihr erwarte. Tellheim avanciert
hier vom melancholisch Leidenden zum Erpressten. Diese Tatsache illustriert
Minna in ihrer Figurenrede im Anschluss noch drastischer:
das fräulein: Doch alles wohl überlegt: so ist auch das so schlimm nicht. Um
so viel sichrer bin ich vor Ihren Schlägen.
v. tellheim: Fräulein!
das fräulein: Sie wollen sagen: Aber Sie um so viel weniger vor meinen. Nun,
nun, lieber Tellheim, ich hoffe, Sie werden es nicht dazu kommen lassen. (82)
Das von Minna in Aussicht gestellte vermeintliche Glück ist jedoch vor
dem Hintergrund der gesellschaftlichen Konventionen des 18. Jahrhunderts
äußerst instabil. Ludwig Stockinger weist auf das Konfliktpotenzial der angedeuteten Beziehung zwischen Minna und Tellheim hin:
Es ist der Widerspruch zwischen der Forderung nach Gleichheit in einer Beziehung, die das rechtliche Band der Ehe mit starker seelischer und körperlicher
Gefühlsbindung vereinigt, und der Forderung nach hierarchischer Über- und
Unterordnung in dieser Beziehung, in der dem Mann nach den geltenden
gesellschaftlichen Konventionen die übergeordnete Rolle zukommt. Tellheim,
der nicht nur sozial und ökonomisch geschwächt, sondern auch körperlich
erheblich behindert ist, könnte in dieser Ehe nur eine untergeordnete Rolle
spielen, und er kann deswegen erst dann wieder dem Gedanken einer Heirat
nähertreten und sich und Minna das Gefühl der Liebe eingestehen, als er
glaubt, daß Minna von ihrem Onkel enterbt und verstoßen worden sei. Jetzt
kann er die Rolle eines beschützenden und damit auch Herrschaft ausübenden
Mannes erneut einnehmen. [...] Dieser Widerspruch zwischen Herrschaft
und Liebe wird von Minna nun in recht drastischer Weise explizit mit einem
Thema verbunden, das – zumindest innerhalb dessen, was die ‘Bürgerliche
Gesellschaft’ für aussprechbar hielt – schon weitgehend mit einem Tabu
belegt war: die körperliche Gewalt als letztes Mittel der Regulierung von
Konflikten im Sinne der Stabilisierung der Herrschaft des Mannes, eine
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Gewalt, die in der Ehe zwischen Minna und Tellheim allerdings nicht mehr
vom Mann ausgehen würde – er kann ja seinen rechten Arm nicht mehr
bewegen –, sondern von der Frau. (136)
Tellheim ist es jedoch, der Minna die Gelegenheit verschafft, die aktive Position innerhalb der in Aussicht gestellten Beziehung zu besetzen, indem es
ihm wiederholt nicht gelingt, klare Entscheidungen zu treffen bzw. sich zu
verteidigen. Die von ihm vertretenen Ideale finden keine Entsprechung in der
Umsetzung in eine Tat, was insbesondere Minna bemerkt und bereits in II,1
konstatiert: “[Das Fräulein:] Er hat das rechtschaffenste Herz, aber Rechtschaffenheit und Edelmut sind Worte, die er nie auf die Zunge bringt” (29).
Ein erneuter Versuch Minnas, die erschöpften kommunikativen Mittel
durch den Einsatz von Körperlichkeit – ähnlich wie bereits in II,9 – zu
rekompensieren, führt zu folgender Einsicht Tellheims:
v.
tellheim: Mein Fräulein, lassen Sie mir noch heute meinen gesunden Verstand, und beurlauben Sie mich. Sie sind auf dem besten Wege, mich darum
zu bringen. Ich stemme mich, so viel ich kann. (85)
Diese Kritik greift Minna auf und erweitert sie auf die einseitige Fixierung
auf den Begriff der “männlichen Ehre” hin. Damit berührt sie einen zentralen
Punkt der Krise, in der sich Tellheim befindet, was anhand seiner hitzigen
Reaktion transparent wird:
v.
tellheim: Ich brauche keine Gnade; ich will Gerechtigkeit. Meine Ehre.
das fräulein: Die Ehre eines Mannes, wie Sie.
v. tellheim: hitzig: Nein, mein Fräulein, Sie werden von allen Dingen recht
gut urteilen können, nur hierüber nicht.
[…]
[W]enn meiner Ehre nicht die vollkommenste Genugtuung geschieht; so
kann ich, mein Fräulein, der Ihrige nicht sein. Denn ich bin es in den Augen
der Welt nicht wert, zu sein. Das Fräulein von Barnhelm verdienet einen
unbescholtenen Mann. (86)
Tellheims Rechtfertigungsstrategie wird durch die vermeintliche Unvereinbarkeit eines privaten Glücks mit seiner öffentlichen Wahrnehmung als
entehrtem Krieger motiviert. Seine Vorstellung von “Männlichkeit,” die an
dieser Stelle durch den Wunsch, ein “unbescholtener Mann” zu sein, gut
paraphrasiert werden kann, definiert sich vordergründig über das System
der Öffentlichkeit, von dem er sich “die vollkommenste Genugtuung seiner
Ehre erhofft.” An dieser Stelle wird deutlich, weshalb es Tellheim im “weiblichen” System der Intimität nicht gelingen kann, die von Luhmann im Sinne
einer “passionierten Liebe” beschriebene Integration von Privatheit und
Öffentlichkeit zu vollziehen: Die Wiederherstellung der Ehre erhebt Tellheim
Minna gegenüber zur Voraussetzung der Liebe. Die Öffentlichkeit greift nicht
Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 149
nur in die Privatheit ein; sie wird zu deren zwingenden Voraussetzung. Die
primäre Ausrichtung auf die Partnerin im System der Intimität wird dabei von
ihm ebenso vehement ausgeschlossen wie das Zurückstellen der eigenen Reputation zugunsten der Wahrnehmung als amouröses Paar, worin Saße – Minnas
Perspektive nachvollziehend – “männlichen Hochmut, der selbst in der Not vom
patriarchalischen Gestus der Dominanz nicht lassen kann” (42) sieht. Darin
liegt auch der Schlüssel zur Absage Tellheims an eine durch Minna angestrebte
Erfüllung des “weiblichen Glücks.” Da das System der Intimität durch sie
als Verwirklichungsmoment des individuellen Glücksgefühls gedacht wird,
muss die vehemente Absage Tellheims an den Bereich der “Liebe” eine Enttäuschung der Hoffnung auf Erfüllung des Glücks bei Minna hervorrufen. Erst
der Übergang vom vierten zum fünften Akt löst die Spannung und die vermeintlichen Widersprüche in Tellheims Figurencharakteristik auf.
Diese Schlüsselstelle des Textes soll genauer untersucht werden: Die zentrale Frage zielt auf Tellheims Motivationsgrundlagen ab, die zu einer Revision
seiner zuvor geschilderten, pessimistischen Haltung beitragen. Dabei ist entscheidend, dass sich im Vergleich zu den ihn betreffenden Umständen, die er
in IV,6 Minna gegenüber erwähnt hatte, tatsächlich keine Änderungen ergeben
haben: Tellheims öffentliche Reputation ist weiterhin beschädigt; sämtliche
Hinweise auf das Gegenteil, die an ihn von anderen Figuren herangetragen
werden, weist er bis zur vollständigen Gewissheit in V,9 (noch) vehement von
sich.
Die in der Forschungstradition weit verbreitete Annahme, Tellheim
müsse der Beziehung mit Minna entsagen, da er seine Reputation nicht wiederhergestellt sieht, würde seinen amourösen Umbruch erst nach Erhalt des
königlichen Handschreibens in V,9 überzeugend motivieren. Die von Fick
beschriebene Scheu, “die Geliebte in sein Unglück hineinzuziehen und eine
schwerwiegende Minderung ihrer Glücksumstände zu verursachen” (244),
legt Tellheim jedoch bereits vor der eigenen Gewissheit seiner (vollständig)
wiedererlangten Reputation ab. Daher ist die Ursache für seine überraschende
Meinungsänderung in einem anderen Bereich zu suchen: Einzig das Unglück
Minnas “hebt ihn empor” und lässt ihn – wie aus dem Gespräch mit Paul
Werner in V,1 hervorgeht – zwei wichtige Überzeugungen, die er zuvor
noch glühend vertreten hatte, verwerfen: die Bitte um Geldanleihen bei Paul
Werner und die abgelehnte Aussicht auf Heirat mit Minna. Ein entscheidendes
Kriterium für diesen Umschwung beinhaltet seine Formulierung, “alles für sie
zu unternehmen” (91)
An dieser Stelle neigt ein beachtlicher Teil der Untersuchungen zu Tellheim dazu, den Affekt des Mitleids als Ursprung der Meinungsänderung auszumachen (Fick 255–56; Homann 84–85; Wehrli 113–14). Allerdings wird
aus einer genderanalytischen Perspektive Folgendes deutlich: Nicht aus der
angeblich unverzichtbaren Rehabilitation seiner öffentlichen Ehre, sondern
einzig aus der vermeintlichen Gewissheit der Hilflosigkeit der Frau an seiner
Seite, der “Aufhebung weiblicher Autonomie” (Prutti 288), bezieht Tellheim
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die Sicherheit, wieder die Kennzeichen eines wehrhaften Mannes zu besitzen,
die er zuvor noch für sich selber verneint hatte: Willen, Entschlossenheit und
Stärke. Die kausale Verknüpfung jener Eigenschaften mit der Hilflosigkeit
der Frau lässt auf eine nicht primär nach Ehre, sondern nach maskuliner
Dominanz strebende männliche Figur schließen, die sich verpflichtet fühlt,
die eigene Stärke in den Dienst der Frau zu stellen. Durch die Gewissheit der
Hilflosigkeit Minnas erhöht sich zum einen Tellheims Aussicht auf die Erlangung einer zwischengeschlechtlichen Machtposition in einer zukünftigen
Beziehung zu Minna, indem Tellheim Minna gegenüber den Status eines
handelnden Subjekts und die Funktion eines Beschützers wiederzuerlangen
hofft. Zum anderen glaubt er, sich somit auch stärker auf die Machtposition,
die er gegenüber einer breiten Öffentlichkeit einnehmen würde, berufen zu
können. Beide Aspekte sieht er als “Schlüsselfaktoren” für sich und Minna:
Das wiedererlangte “männliche Glück” wird zum Garant für die Konzeption
“weiblichen Glücks” – so zumindest aus der Perspektive Tellheims.
Sobald Tellheim sich gegenüber der geliebten Frau wieder als “Beschützer,”
“Verteidiger der Ehre,” “Entscheidungen Treffender” und somit innerhalb
einer patriarchalischen Dominanzposition wiederzufinden glaubt, fällt seine
angebliche externe Abhängigkeit von gesellschaftlich-strukturellen Begleitumständen, seine Fixierung auf die Restitution seiner soldatischen
Ehre, wie ein Kartenhaus zusammen. Tellheim fühlt sich in dem Moment als
“Mann,” in dem er Minna gegenüber dominieren kann. Tellheims Bild der
“Männlichkeit” und des “männlichen Glücks” rekurrieren folglich auf ein
traditionelles, den Anforderungen des Patriarchats folgendes Muster. Dieses
definiert sich in seinem Fall – den Umständen entsprechend – nicht durch das
Applizieren physischer Gewalt, wofür die Interaktion mit Minna in IV,6 als
Bestätigung angeführt werden kann. Vielmehr speist es sich aus dem Willen zu
handeln, zu protegieren und Entscheidungen zu treffen.
Lessings Text verdeutlicht erst retrospektiv an dieser Stelle, weshalb Tellheim den Ring – wie Just in I,11 eröffnet – nicht mehr tragen konnte: Das
äußere Attribut der amourösen Bindung verweist in Tellheims Selbstverständnis
auf die dominante Position innerhalb der Beziehung, derer er sich nicht mehr
sicher sein konnte. Wie abhängig bei Tellheim die vermeintlich wiedererlangte
Position von seiner Vorstellung von dominanter “Männlichkeit” ist, zeigt sich
insbesondere in der dramatischen Entwicklung von V,5 bis V,11. Nach dem
neu gewonnenen Vertrauen in die eigene Stärke ist Tellheim bemüht, auch die
emotionale Empathiefähigkeit zurückzuerlangen. Anhand des Nebentextes in
V,5 wird deutlich, dass die intrinsische Überzeugung Tellheims auch Einflüsse
auf die externalisierenden Aspekte seiner Körperwahrnehmung hat:
v.
tellheim: Diesen Ring nahmen Sie das erstemal aus meiner Hand, als
unser beider Umstände einander gleich, und glücklich waren. Sie sind nicht
mehr glücklich, aber wiederum einander gleich. Gleichheit ist immer das
festeste Band der Liebe. Erlauben Sie, liebste Minna! – ergreift ihre Hand,
Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 151
um ihr den Ring anzustecken.
das fräulein: Wie? mit Gewalt, Herr Major? (94)
Im Gegensatz zu II,9 und IV,6 greift Tellheim in V,5 sogar mehrfach nach
Minnas Hand, lässt sie kurz darauf los und gesteht, ihm habe Minnas Weigerung,
den Ring anzunehmen, “wehgetan.” Der Ring ist in diesem Zusammenhang an
die Erinnerung an ein Glücksgefühl aus der gemeinsamen amourösen Vergangenheit geknüpft, auf die Tellheim nunmehr wie folgt anpielt.
Die Neubewertung des individuell erlebten Glücksgefühls wird zur
Voraussetzung dafür, sich auch im emotional-amourösen Bereich Affekte zuzugestehen und die Position des werbenden Mannes einzunehmen, die Minna
zuvor von ihm eingefordert hatte. Diese emotionale Öffnung betrifft auch den
Bereich des amourösen Thesaurus, was insbesondere durch die Anrede “liebste
Minna,” die das zuvor verwendete “mein Fräulein” ersetzt, deutlich wird. Sein
Motiv dafür ist, wie er bereits durch die Formulierung “Gleichheit ist immer
das festeste Band der Liebe” darstellt, jedoch nicht etwa der Affekt der Liebe,
sondern der Affekt des durch patriarchalisches Beschützertum getragenen
Mitleids:
v. tellheim: Ärgernis und verbissene Wut hatten meine ganze Seele umnebelt;
die Liebe selbst […] konnte sich darin nicht Tag schaffen. Aber sie sendet ihre
Tochter, das Mitleid […]. Der Trieb der Selbsterhaltung erwacht, da ich etwas
Kostbarers zu erhalten habe, als mich, und es durch mich zu erhalten habe.
[…] durch mich, Minna, verlieren Sie Freunde und Anverwandte, Vermögen
und Vaterland. Durch mich, in mir müssen Sie alles dieses wieder finden, oder
ich habe das Verderben der Liebenswürdigsten Ihres Geschlechts auf meiner
Seite. (95–96)
Die Außenfokussierung seines männlichen Beschützerdranges erwächst aus der
Überzeugung von der eigenen Aktivität und Fähigkeit; und erst an dieser Stelle
verknüpft sich die neu gestellte Aufgabe wieder mit der Wahrung der Ehre,
dieses Mal jedoch in einem geschlechterspezifischen Kontext: der Rettung
Minnas, “der Liebenswürdigsten Ihres Geschlechts,” vor dem “Verderben”
(96). Als “Mann” ist Tellheim aufgrund des Mitleids zunächst aus seiner Sicht
als Beschützer gefordert, nicht etwa als Liebhaber oder Liebender. Eben diesen
sucht jedoch Minna zur Erfüllung des “weiblichen Glücks.” Tellheim entspricht
diesen Anforderungen allerdings erst in dem Moment, in dem er vollständige
Gewissheit über die Wiederherstellung seiner Ehre erlangt:
v.
tellheim: […] Aber nun, da mich nichts mehr zwingt, nun ist mein ganzer
Ehrgeiz wieder einzig und allein, ein ruhiger und zufriedener Mensch zu
sein. Der werde ich mit Ihnen, liebste Minna, unfehlbar werden […] Morgen
verbinde uns das heiligste Band; und sodann wollen wir […] in der ganzen
weiten bewohnten Welt den stillsten, heitersten, lachendsten Winkel suchen,
dem zum Paradiese nichts fehlt, als ein glückliches Paar. (100)
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martin blawid
Tellheim stellt damit das Leben mit Minna als gepaarte Exklusionsindividuen
fernab der Gesellschaft in Aussicht. Darin sieht er die hinreichende Voraussetzung dafür, ein “glückliches Paar” zu sein. Auf Minnas Ablehnung, die eine
Reprise der Äußerung Tellheims aus V,5 (“Gleichheit ist immer das festeste
Band der Liebe”) darstellt, zeigt er sich im Überschwang seiner unteren
Seelenkräfte sogar bereit, den Brief mit der Nachricht der Wiedergutmachung
zu zerreißen. Minnas Überlegenheit als Interaktionspartnerin – sie erkennt
Tellheims fehlende Selbstkontrolle: “Er erlaube mir, dass ich, bei seiner
fliegenden Hitze, für uns beide Überlegung behalte” (100) – führt zur alles
entscheidenden Frage:
das fräulein: das ihm in die Hände greift: Was wollen Sie, Tellheim?
v. tellheim: Sie besitzen.
[…]
das fräulein: Wollen Sie es wagen, Ihre eigene Rede in meinem Munde zu
schelten?
v. tellheim: Sophistin! So entehrt sich das schwächere Geschlecht durch
alles, was dem stärkern nicht ansteht? So soll sich der Mann alles erlauben,
was dem Weibe geziemet? Welches bestimmte die Natur zur Stütze des
andern? (102)
Gerlinde Anna Wosgien gelangt in diesem Zusammenhang zu folgender
Erkenntnis:
Deshalb ist Tellheim dem traditionellen Rollenverständnis verpflichtet, das von
einer Hierarchie der Geschlechter ausgeht. Wenn er von Gleichheit spricht […],
versteht er darunter die gleichen sozialen “Umstände” und gesellschaftlichen
Voraussetzungen, nicht etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau. […]
Diesen Anspruch leitet er aus seiner Männlichkeit ab, die im Laufe der Komödie
immer wieder dezidiert hervorgehoben wird. (123–24)
Wosgien resümiert ihre Argumentation wie folgt: “Tellheim glaubt, Minna nur lieben
zu dürfen, wenn er ihr gesellschaftlich und ökonomisch überlegen oder wenigstens
ebenbürtig ist” (124). Dieser fruchtbare Ansatz legt folgende weiterführende Überlegung nahe: Tellheim will – wie bereits anhand der Brüchigkeit seiner Ideale im
Übergang vom vierten zum fünften Akt hergeleitet werden konnte – nicht lieben,
sondern besitzen. Um diese Absicht zu begründen, führt er ein geschlechtertheoretisches Argument aus dem Bereich des biologischen Determinismus an, das ihn in
die dem “stärkeren Geschlecht” zugedachte Position des Beschützers manövrieren
soll. Der Einfluss Rousseaus – Émile und die Erziehung erscheint 1762, also ca.
fünf Jahre vor Lessings Text – wird mit Bezug auf Tellheims Argumentation zumindest insofern deutlich, als Rousseau der männlichen Stärke, der sich die Frau
“unterwerfen” solle (167), besondere Aufmerksamkeit widmet. Hierbei betrachtet
er den Gehorsam der Frauen gegenüber den Männern als “Ordnung der Natur”
(167).
Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 153
Allerdings setzt Lessing das männliche Selbstverständnis Tellheims und
damit indirekt auch die Thesen Rousseaus sowohl im inneren als auch im
äußeren Kommunikationssystem des Textes in zweifacher Hinsicht der dramatischen Ironie aus. Im inneren Kommunikationssystem des Textes verfügen
sowohl Minna als auch Franciska, im äußeren Kommunikationssystem die
Zuschauer über die Tellheim vorenthaltene Information, dass Minna ihr
eigenes Unglück zum einen nur fingiert und zum anderen Tellheim nicht ihren,
sondern seinen eigenen Ring zurückgegeben hat. Dieser Wissensvorsprung
parodiert Tellheims neu erwachten Drang zur Dominanz, da er unzweifelhaft
verdeutlicht, dass der Major weiterhin den ludistisch-amourösen Bestrebungen
Minnas ausgesetzt ist. Umso belustigender gestaltet sich für das Publikum Tellheims auf Minnas Ringkauf bezogener Prozess der Erkenntnis in V,10:
v.
tellheim: zu Justen: Was sagst du? – Das ist nicht möglich! – Sie? indem
er das Fräulein wild anblickt
[…]
Ist das wahr, mein Fräulein? – Nein, das kann nicht wahr sein!
das fräulein: lächelnd: Und warum nicht, Tellheim? – Warum kann es nicht
wahr sein?
v. tellheim: heftig: Nun, so sei es wahr! – Welch schreckliches Licht, das mir
auf einmal aufgegangen! Nun erkenne ich Sie, die Falsche, die Ungetreue!
[…]
Vergessen Sie meinen Namen! – Sie kamen hierher, mit mir zu brechen. Es
ist klar! (103–04)
Tellheims Reaktion resultiert erneut nicht primär aus amouröser Enttäuschung, sondern vor allem aus der Erkenntnis, auf die Funktion einer manövrierbaren Figur innerhalb des von Minna initiierten Spiels reduziert worden
zu sein. Diese vermeintliche Einsicht wirkt seinem erst kurz zuvor wieder
gewonnenen und aus diesem Grund noch instabilen “männlich-tugendhaften
Stolz” (Lorey 137) entgegen und macht ihm die Öffnung gegenüber rationalen
Argumenten unmöglich. Die Rückbesinnung auf die Vernunft kann in Tellheims
Fall nicht intrinsisch erfolgen; sein erneuter Gesinnungswandel in V,12 wird
erst durch die Ankündigung des Deus ex Machina, des Grafen von Bruchsall,
ermöglicht:
das fräulein: Ist er’s? – O nun geschwind, Tellheim –
v. tellheim: auf einmal zu sich selbst kommend: Wer? wer kömmt? Ihr
Oheim, Fräulein? dieser grausame Oheim? Lassen Sie ihn nur kommen;
lassen Sie ihn nur kommen! – Fürchten Sie nichts! Er soll Sie mit keinem
Blicke beleidigen dürfen! Er hat es mit mir zu tun. – Zwar verdienen Sie es
um mich nicht. (106)
Wie bereits bei den vorangegangenen plötzlichen Inkongruenzen, die
Tellheim durchweg kennzeichnen, muss auch an dieser Stelle wieder die
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Frage aufgeworfen werden, worauf seine unerwartete Meinungs- und Bewusstseinsänderung zurückzuführen ist. Erneut tendieren Teile der TellheimForschung dazu, ihm diesbezüglich eine “Ritterlichkeit, die […] auf Mitleid
und echtem Verantwortungsbewusstsein basiert” (Wehrli 118), zu attestieren.
Die genderanalytische Herangehensweise legt jedoch eine andere Annahme
nahe: Der Grund dafür liegt zum wiederholten Male darin, dass ein externes
Ereignis – in diesem Fall die vermeintliche Bedrohung der Ehre Minnas durch den
Grafen von Bruchsall – Tellheims Selbstverständnis als das eines starken und
entschlossenen Mannes gegenüber einer schwachen, schutzbedürftigen Frau
aktiviert. Die Einschränkung: “Zwar verdienen Sie es um mich nicht” impliziert, dass das externalisierte Bedürfnis, die entsprechenden Aufgaben eines
wehrhaften Mannes wahrzunehmen, gegenüber dem eigentlichen Verhältnis zu
Minna dominiert. Es ist einzig der Aufklärung Minnas in V,12 zu verdanken,
dass Tellheim über die vollständige Einsicht in das Spiel mit dem Ring auch
seine Position im System der Intimität wahrnehmen kann und will:
v.
tellheim: Wo bin ich? – ihre Hand küssend: O boshafter Engel! – mich
so zu quälen!
[…]
Noch kann ich mich nicht erholen. – Wie wohl, wie ängstlich ist mir! So
erwacht man plötzlich aus einem schreckhaften Traume! (107)
Durch den Auftritt des Grafen von Bruchsall in V,13 wird Tellheim
schließlich nicht nur als Partner Minnas und Freund des Grafen in die
Familie Minnas integriert, sondern auch als Mann wertgeschätzt. Erst
nach der Rehabilitation seines öffentlichen Ansehens und der Klärung
der Missverständnisse im Bereich der Intimität gegenüber Minna gelingt
es Tellheim schließlich, sein individuelles Glück zu erkennen. Jedoch erschöpft sich die Lösung von Tellheims Konflikten nicht ausschließlich,
wie in diversen Texten vornehmlich der älteren Tellheim-Deutung (vgl.
Orlando 3; Steinmetz 95) angenommen, durch die Wiederherstellung seiner
Ehre. Daher muss eine genderorientierte Analyse Tellheims von Martinis
Feststellung, dass “das eigentliche Lustspiel mit der Selbstreflexion des
fingierten Spiels im fiktiven Spiel zu Ende sei” (426), Abstand nehmen.
Die daran gebundene, wiedererlangte Handlungsfreiheit wird erst zur Basis
für die emotionale Komponente Tellheims, wobei der Händedruck und
der Ausruf “Ha! wer ein besseres Mädchen und einen redlicheren Freund
hat als ich, den will ich sehen!” (109) zum ersten Mal ungetrübt von
patriarchalischen Anforderungen gegenüber Minna und berufsbedingten
Hierarchieauflagen gegenüber Werner als Ausdruck dessen verstanden
werden können, dem Tellheim den gesamten Text über ausgewichen war:
Der Wiederentdeckung seiner männlich-intrinsischen Gefühlswelt, die ihm
letztlich das lang ersehnte Gleichgewicht bringt: die finale Rückkehr zur
“Sprache des Herzens.”
Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 155
Damit ist der Schlüssel zur Erfüllung des “weiblichen Glücks,” nach dem
Minna von Beginn an sucht, gegeben. Beide Kategorien, das “männliche” und
das “weibliche” Glück, können erst nach Tellheims vollzogener Entwicklung
aus ihrer antinomischen Grundkonstellation in eine komplementäre überführt
werden. Ob das dadurch ermöglichte “weibliche Glück” allerdings Aussicht
auf eine längere Dauer besitzt oder doch letztlich nicht vollkommen frei von
einer auf das Lustspiel bezogenen Gattungskonvention ist, entzieht sich der
vorliegenden Analyse, wenngleich Lessings Dramenschluss zu derartigen
Überlegungen einlädt.
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