Vertrauen und Missbrauch
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Vertrauen und Missbrauch
Institut für Rechtspsychologie und Forensische Psychiatrie Halle Begutachtung, Forschung, Fortbildung Vertrauen und Missbrauch – Bedeutung des Abstinenzprinzips in der therapeutischen Beziehung Mainz, 02.03.2013 Fortbildung der LandesPsychotherapeutenKammer Rheinland-Pfalz erarbeitet von: Annegret Wolf betreut durch: Dr. Steffen Dauer http://www.rechtspsychologie-halle.de 1 Ein Fallbeispiel (aus Anonyma 1988) Eine junge Psychologin- sie wird sich in ihrem Buch Anonyma nennen - möchte, nachdem sie ihr Diplom gemacht hat, Analytikerin werden. Sie beschreibt sich vor der Analyse als kontaktfreudig und gesellig, sie geht viel aus und tanzt gern. Nach der Zulassung zur psychoanalytischen Ausbildung sucht sie sich einen Lehranalytiker. Sie genießt die analytischen Flitterwochen, die Nähe und die Intimität in der Analyse und zum Analytiker. Zu dieser Zeit schreibt sie: »Er (der Analytiker) wurde für mich der wichtigste Mann auf der Welt; mir schien als wäre er es, 'der Mann meines Lebens' ... Und so war die Analyse zum Mittelpunkt meines Lebens geworden". Einen ersten Einbruch erlebt sie, als sie die Ehefrau des Analytikers sieht. Sie ist verletzt und irritiert, wünscht sich aber weiterhin Nähe und Liebe, auch Triangulierung, indem sie merkt, dass sie zu dritt sein möchte: Sie als Kind mit Vater und Mutter. Der reale Vater hatte die Familie verlassen, als sie ein Jahr alt war. Eines Tages erzählt sie ihm einen Traum: Sie sieht seinen Wagen auf einem Parkplatz stehen, niemand ist drinnen. Durch die Scheiben sieht sie ein rosa Hemd von ihm, das ihr schon immer gut gefallen hat. Sie nimmt es an sich, vergräbt ihr Gesicht darin, atmet seinen Duft, läuft dann schnell fort, um mit ihrer Beute allein zu sei. Der Analytiker deutet: "Ich weiß, dass Sie sich schon eine ganze Weile mit meinem Penis beschäftigen." Sie erschrickt heftig, dreht sich um, sieht ihn an und schreibt: "Es knistert zwischen uns, eine nur schwer zu ertragende, angenehme Spannung." Nach jener Stunde verabschieden sich beide eher kühl und distanzierter als sonst. In der Folgezeit phantasiert sie über eine sexuelle Beziehung mit dem Analytiker, onaniert mit Phantasien an ihn und berichtet darüber in der Analyse. Er reagiert nicht. Sie beschäftigt sich mit seiner Familie, phantasiert, ein kleines Mädchen zu sein und reist in seinen Heimatort. Gleichzeitig zieht sie sich zunehmend von ihren Bekannten und Freunden zurück. Im dritten Analysejahr, dem "Jahr der Leidenschaft", wie sie es nennt, lauert sie auf Beweise seiner Liebe. Sie entwickelt den Plan, den Raum zwischen ihnen zu überwinden, kriecht schließlich in einer Analysestunde am Boden auf ihn zu, redet über das Näherkommen, berührt ihn kurz und geht wieder auf die Couch zurück. Der Analytiker sagt nichts, sie hat Schuldgefühle, weil sie meint, den analytischen Pakt gebrochen zu haben. http://www.rechtspsychologie-halle.de 2 Ein Fallbeispiel Die darauf folgende Sitzung beginnt wie gewohnt. Sie legt sich hin und versucht, sich an die vergangene Stunde zu erinnern, wird aber durch eine Frage des Analytikers unterbrochen. Er sagt: »Glauben Sie nicht, dass ich dahinkommen kann, wo Sie sind?" Sie sagt: »Nein.« Er sagt: »Sie glauben das nicht?« Wieder antwortet sie: »Nein.« Seine Antwort: »Aber natürlich!« Er steht auf, geht zu ihr auf die Couch, nimmt sie in die Arme, es kommt zum Geschlechtsverkehr, sie ist zunächst erstarrt und erschreckt. Man trennt sich wie immer nach genau 45 Minuten und wie gewohnt: »Au revoir Madame, au revoir Monsieur.« In der folgenden Stunde will sie den Analytiker umarmen, er weist sie aber zurück und schickt sie auf die Couch. Den Rest dieses Dramas nur in ein paar Sätzen: Die sexuellen Beziehungen gehen weiter, zuerst auf der Couch, später in einem, so glaubt sie, speziell für sie eingerichteten Nebenzimmer. Sie ist zunächst glücklich und phantasiert ein Leben mit ihm. In langen Pausen zwischen den intimen Kontakten geht die Analyse weiter, sie ist darüber verunsichert und verwirrt. Die Beziehung zu ihrem langjährigen Freund außerhalb der Analyse scheitert. Die Analyse gerät schließlich in eine Sackgasse: Sie erlebt zunehmend psychosomatische Dekompensationen z. T. mit subjektiv lebensbedrohlichem Charakter. Sie entwickelt einen Medikamentenabusus, trinkt auch vermehrt Alkohol, und so geht die Analyse langsam zu Ende. Sie wartet allerdings immer noch auf eine reale Beziehung zu ihm. Dementsprechend trifft sie ihn auch nach der Analyse immer wieder, wobei aber immer er Zeitpunkt und Ort der Treffen bestimmt. In diesen kurzen Episoden kommt es zu sexuellen Intimitäten, er bleibt jedoch unerreichbar für sie. Aus der ursprünglich lebensfrohen jungen Frau ist eine schwer ängstliche, von Panikattacken und Isolierung gequälte Frau geworden, die später in einer zweiten Therapie versucht, ihr Analyseschicksal aufzuarbeiten. Dabei hatte sie lange Zeit große Angst vor der Übertragung, und dementsprechend beherrschten Mißtrauen und Ängstlichkeit lange Zeit das Klima in dieser Zweittherapie.(Anonyma, 1988; Zusammenfassung aus einer Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie ) http://www.rechtspsychologie-halle.de 3 "Keiner verstand mich so wie er, er gab mir Sicherheit und Rückhalt und ich übertrug meine Sehnsucht auf ihn." "Und dann lag ich auf einmal mit ihm auf der Couch. Als ob es plötzlich Liebe wäre." „Er sagte, dass aus uns natürlich nichts werden könne, wegen des Arzt/Patienten-Verhältnisses. Es sei möglich, dass wir uns in einigen Wochen mal auf einen Kaffee irgendwo treffen könnten. Er versprach, dass wir uns wiedersehen würden: ,Ich halte mein Wort!´ Vier Wochen vergingen, und ich schrieb ihm mehrmals. Aber es kam keine Antwort. Ich war inzwischen wieder in meiner Depression, fühlte mich verlassen und ausgenutzt, war einfach nur verwirrt. Ich schrieb ihm von meiner Verzweiflung und auch von den Selbstmordgedanken, aber er reagierte nicht mehr." "Er wusste ja, wie schwer ich mich mit Vertrauen tue, wie oft ich in meinem Leben bereits im Stich gelassen wurde. Und gerade er reißt diese Wunde wieder auf. Für mich ging es von da an stetig bergab. Ich war wieder sehr depressiv und ich konnte meinen Alltag nicht mehr bewältigen. Ich habe dann meine Schule abgebrochen, bin wieder zurück zu meinen Eltern gezogen. Ich habe mich vollkommen von der Welt abgeschottet, und es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis ich nicht mehr jede Nacht geweint habe." (Stimmen aus dem Forum des PiA (Psychtherapeuten in Ausbildung)- Netzwerk, 2010) http://www.rechtspsychologie-halle.de 4 Inhalte 1) Begriffsbestimmung und Grundlagen • Nähe und Abstinenz • Grenzen und Grenzüberschreitung • Vertrauen und Missbrauch • Psychotherapie und Psychotraumatisierung • Berufsordnung und Strafrecht 2) Die therapeutische Beziehung und mögliche Konsequenzen • Psychotherapie und strukturelle Abhängigkeit • Sexuelle Annährung, sexuelle Belästigung und sexueller Missbrauch • Situationen und Typologien • Folgen für Patienten und Therapeuten • Berufsrechtliche Konsequenzen • Strafrechtliche Auswirkungen 3) Prävention und Reaktionen • Bedeutung von Selbsterfahrung und Supervision • Bedeutung von Abstinenz und professioneller Distanz • Bedeutung kollegialer Netzwerke • Reaktion bei Angeboten • Verhalten beim Verspüren eigener Intentionen • Das Primat: Schutz des Patienten http://www.rechtspsychologie-halle.de 5 Begriffsbestimmungen und Grundlagen http://www.rechtspsychologie-halle.de 6 Nähe und Distanz Therapeutische Beziehung als Paradoxon: • Zuwendung vs. Versagung beides notwendig zur Erhaltung und Bearbeitung der Therapiesituation und Konflikte • psychoanalytische Beziehung als ‘Versagung in der Intimität’ und ‘Zustand intimer Trennung’ (Stone, 1961) http://www.rechtspsychologie-halle.de 7 Abstinenz • lat. abstinere „sich enthalten, fernhalten“ • Enthaltung oder Verzicht im weiten Sinne • heute: Abstinenzgebot in Berufsordnungen festgeschrieben • (!)Abstinenz in der Psychotherapie = nicht allein Enthaltung von „sexuellen“ Aktivitäten, sondern: Grundhaltung des Therapeuten keine persönlichen Interessen (jeglicher Art) zu verfolgen • kann auch meinen: keine Empfehlungen oder Ratschläge zu erteilen, weil so eigene Entwicklung des Patienten eingeschränkt; keine extremen Negativbeurteilungen • Abstinenz = Prinzip der „Wertfreiheit“ • Therapeut und Patient müssen innehalten und reflektieren; eine verständnisvolle emotionale und eine nüchterne, distanzierte Perspektive einnehmen („Ich-Spaltung“) http://www.rechtspsychologie-halle.de 8 Abstinenzregel • Einführung 1915 durch Sigmund Freud (im Zuge der Neutralitätsforderung von Therapeuten) „Die Kur muß in der Abstinenz durchgeführt werden; ich meine dabei nicht allein die körperliche Entbehrung, auch nicht die Entbehrung von allem, was man begehrt, denn dies würde vielleicht kein Kranker vertragen. Sondern ich will den Grundsatz aufstellen, daß man Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kranken bestehenlassen und sich hüten muß, dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen.“ (Freud ,1915). „Die analytische Kur soll, soweit es möglich ist, in der Entbehrung - Abstinenz - durchgeführt werden ... Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war, die den Patienten krank gemacht hat, daß seine Symptome ihm den Dienst von Ersatzbefriedigung leisten. Sie können während der Kur beobachten, daß jede Besserung seines Leidenszustandes das Tempo der Herstellung verzögert und die Triebkraft verringert, die zur Heilung drängt. Auf diese Triebkraft können wir aber nicht verzichten; eine Verringerung derselben ist für unsere Heilungsabsicht gefährlich ... Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das Leiden des Kranken in irgendeinem wirksamen Maße kein vorzeitiges Ende finde.“ (Freud,1919) (Zitate bei Thoma & Kächele, 1992) http://www.rechtspsychologie-halle.de 9 "Abstinenz (Abstinenzregel). engl: abstinence - frz.: abstinence (règle d'-, principe d'-) - ital: astinenza - port.: abstinencia - span.: abstinencia. Grundsatz, wonach die psychoanalytische Behandlung so geführt werden soll, daß der Patient die geringstmögliche Ersatzbefriedigung für seine Symptome findet. Für den Analytiker schließt er die Regel ein, dem Patienten die Befriedigung seiner Wünsche zu versagen und tatsächlich die Rolle zu übernehmen, die dieser bestrebt ist, ihm aufzudrängen. In bestimmten Fällen und an bestimmten Punkten der Behandlung gehört es zur Abstinenzregel, das Subjekt auf den Wiederholungscharakter seines Verhaltens hinzuweisen, der die Arbeit des Erinnerns und Durcharbeitens hemmt. Die Rechtfertigung dieses Prinzips ist im wesentlichen ökonomischer Natur. Der Analytiker soll vermeiden, daß die durch die Behandlung freigewordenen Libidomengen sofort wieder äußere Objekte besetzen." (Laplanche & Pontalis, 1973) http://www.rechtspsychologie-halle.de 10 • „medizinisches Äquivalent“: Hippokratischer Eid (ca. 400 v. Chr.) „Welche Häuser ich betreten werde, ich will zu Nutz und Frommen der Kranken eintreten, mich enthalten jedes willkürlichen Unrechtes und jeder anderen Schädigung, auch aller Werke der Wollust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven.“ http://www.rechtspsychologie-halle.de 11 Übertragung (Freud, 1885) und Gegenübertragung (Freud,1910) Übertragung: • • • das Erleben von Gefühlen und Haltungen gegenüber Personen in der Gegenwart, die ihren Ursprung in der Beziehung zu wichtigen Personen der frühen Kindheit haben (Mutter, Vater, Geschwister) und unbewusst auf die Figuren der Gegenwart verschoben werden Mechanismus, verdrängte frühere Triebimpulse und Wünsche an einen gegenwärtigen, neuem Objekt festzumachen Formen der Übertragung: − − − − − − positive (Zuneigung, Vertrauen) negative (Hass Ärger, Feindseligkeit) gemäß Objektbeziehungen (Mutter, Vater) gemäß Libido-Entwicklung (oral, anal) gemäß Strukturinstanzen (Ich, Es, Überich) als Identifikation • Übertragung durch Patient auf Therapeut • Aufgabe des Therapeuten: Übertragungsangebote auf ihre ursprüngliche Gestalt hin analysieren und aufarbeiten, statt darauf einzugehen; Übertragung als durch die analytische Situation unvermeidlich entstandendes Elementarereignis betrachten und nicht auf sich und seine Vorzüge beziehen (Wirzt, http://www.rechtspsychologie-halle.de 12 Übertragung (Freud, 1885) und Gegenübertragung (Freud,1910) Gegenübertragung: • komplementäre Vorgänge beim Therapeuten • Übertragung löst „Echo“ im Therapeuten aus • Therapeut richtet seine eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche auf den Patienten und reagiert damit auf ihn (bzw. auf dessen aus Übertragungsphänomenen hervorgehenden Handlungen und Äußerungen) • Verlassen der neutralen Position • Gegenübertragung durch Therapeut auf Patient • Anfänge der Psychoanalyse: Gegenübertragung als störender Einfluss, den der Therapeut sich bewusst machen und beseitigen müsse • heute: Gegenübertragung als Chance für den Therapieerfolg gesehen, Möglichkeit, mehr Vertrauen aufzubauen und so mehr Informationen über Patienten zu gewinnen http://www.rechtspsychologie-halle.de 13 Übertragung (Freud, 1885) und Gegenübertragung (Freud,1910) Historischer Hintergrund: • Liebesbeziehung zwischen Sabina Spielrein (psychiatrische Patientin mit starker Hysterie) und Carl Gustav Jung (Spielreins behandelnder Arzt und Kollege von Sigmund Freud) • Briefwechsel zwischen Freud und Jung, in dem Freud von der Liebesbeziehung erfährt und diese als „psychoanalytischen Schuldfall“ bezeichnet (erst 1970 entdeckt!) an diesem Ereignis werden Begriffe der Übertragung, Gegenübertragung und Abstinenz „entwickelt“ • Gegenübertragung zu kontrollieren sei sehr schwierig Freud gibt selber zu manchmal fast den Verführungen von Frau Spielrein erlegen zu sein http://www.rechtspsychologie-halle.de 14 Vertrauen „Vertrauen basiert auf der Erwartung einer Person oder einer Gruppe, sich auf ein mündlich oder schriftlich gegebenes Versprechen einer anderen Person bzw. Gruppe verlassen zu können.“ (Rotter, 1981) „Vertrauen reduziert die Komplexität menschlichen Handelns und gibt Sicherheit.“ (Luhmann, 1968) Probleme bzw. Hindernisse beim menschlichen Handeln können durch Vertrauen abgeschwächt und beseitigt werden Person hat Sicherheitsbasis und ist eher bereit Entscheidungen zu treffen „Vertrauen ist die Gewissheit (d. h. eine innere Repräsentanz des Eintretens) einer erwünschten Zukunft. Es beruht auf der Kontinuität des regelhaften und erwünschten Verhaltens der Umgebung oder auf der Hilfe vertrauter Menschen (auch in unwägbarer Lage) oder auf der eigenen Kenntnis und Beherrschung der Lage (einschließlich ihrer Unwägbarkeiten).“(Grimm, 2001) Merkmale von Vertrauen: • • • • Ungewissheit Vorhandensein eines Risikos externale Kontrolle (freiwillig oder erzwungen) durch Person, der vertraut wird auf Zukunft ausgerichtet http://www.rechtspsychologie-halle.de 15 Die Bindungstheorie (Bowlby, 1999) Kernidee: • • Aufbau und Erhalt enger zwischenmenschlicher Bindungen als universales Bedürfnis Bindungstheorie als normatives Erklärungsmodell wie Bindungsmuster mit individueller Entwicklung interferieren • vordergründiger Anwendungsbereich: Mutter-Kind-Beziehung – – – • sichere Bindung zur Mutter als Basis für Aufbau der eigenen Identität und Reflexion eigenen Verhaltens Bindungsmuster aus Kindheit als Basis für stabiles Interaktionsmuster in Erwachsenenalter Bindungsmuster wichtig für intime Beziehungen und Elternschaft Sexualität von „sicher gebundenen“ Menschen basiert auf Selbstbewusstsein, Vertrauen, Respekt Gewalt und Zwang als Merkmal intimer Beziehungen von Menschen mit unsicher gebundenen und unstrukturierten Bindungsmustern Sexueller Missbrauch ist nicht nur eine Verhaltensstörung, sondern eine Beziehungsstörung Kontrollausübung als einziger Weg die eigene Sexualität auszudrücken Therapeutische Beziehung kann als Analogie zur Mutter-Kind-Beziehung gesehen werden (Bowlby, 1988) http://www.rechtspsychologie-halle.de 16 Die Bindungstheorie – Implikationen für die therapeutische Beziehung (Tschan, 2003; nach Bowlby, 1988) 5 Aufgaben in der therapeutischen Situation 1. Der Therapeut als „sichere Basis“ Rückhalt und Sicherheit um aktuelle und vergangene Probleme zu explorieren; Vertrauensbasis, die Unterstützung, Ermutigung, Sympathie und Hilfe bereitstellt 2. Reflexion der (aktuellen) Beziehungen zu wichtigen Personen welche Erwartungen an Emotionen und Verhalten anderer und von sich selbst? welche Unsicherheiten in Aufbau und Erhalt intimer Beziehungen? 3. Reflexion der Beziehung zum Therapeuten als einer Beziehungsfigur 4. Reflexion der aktuellen Sicht der Welt wie sind aktuelle Wahrnehmungen, Einstellungen, Erwartungen, Emotionen und Verhaltensweisen geprägt von Erfahrungen in Vergangenheit (insb. mit Eltern) oder von wiederholten Anweisungen und Erklärungsmodellen der Eltern? 5. Reflexion der Angemessenheit der Arbeitsmodelle des Patienten http://www.rechtspsychologie-halle.de 17 Ziel der Therapie: Patient soll mit alten Stereotypen und Denkmustern brechen und neue Denk-und Verhaltensmuster aufbauen • ohne Aufbau von Sicherheit und Vertrauen ist Therapie nicht möglich • Therapeut bietet secure base für Patienten zur Exploration eigener Gefühle, Kognitionen und Verhalten analog der Rolle der Mutter, wenn Kind die Umwelt exploriert • Empathie des Therapeuten als wichtige Voraussetzung http://www.rechtspsychologie-halle.de 18 Brisch’s Empfehlungen (1999; in Anlehnung an Bowlby) 1. Der Therapeut muss sich in seinem Fürsorgeverhalten durch das aktivierte Bindungssystem des hilfesuchenden Patienten ansprechen lassen und ihm zeitlich, räumlich und emotional zur Verfügung stehen. 2. Der Therapeut muss als eine verlässliche sichere Basis fungieren, von welcher aus der Patient mit emotionaler Sicherheit seine Probleme bearbeiten kann. 3. Der Therapeut verhält sich in Kenntnis der unterschiedlichen Bindungsmuster flexibel im Hinblick auf den Umgang mit Nähe und Distanz in der realen Interaktion mit dem Patienten sowie im Hinblick auf die Gestaltung des Settings. 4. Der Therapeut sollte den Patienten dazu ermutigen, sich Gedanken darüber zu machen, in welcher Beziehungsform er heute seinen wichtigen Bezugspersonen begegnet. 5. Der Patient muss angeregt werden, und der Therapeut muss darauf fokussieren, die therapeutische Beziehung genau zu überprüfen, weil sich hier alle von den Selbst und Elternrepräsentanzen geprägten Beziehungswahrnehmungen widerspiegeln. http://www.rechtspsychologie-halle.de 19 Brisch’s Empfehlungen (1999; in Anlehnung an Bowlby) 6. Der Patient sollte behutsam aufgefordert werden, seine aktuellen Wahrnehmungen und Gefühle mit denen aus der Kindheit zu vergleichen. 7. Dem Patienten sollte einsichtig gemacht werden, dass seine schmerzlichen Bindungs- und Beziehungserfahrungen und die daraus entstandenen verzerrten Selbst- und Objektrepräsentanzen vermutlich für die aktuelle Lebensbewältigung von relevanten Beziehungen nicht mehr angemessen, also überholt sind. 8. Der Therapeut verhält sich bei der behutsamen Lösung des therapeutischen Bündnisses als Vorbild für den Umgang mit Trennungen. Die Initiative für die Trennung wird dem Patienten überlassen. Dieser wird darin ermutigt, Trennungsängste einerseits und die Neugier auf Erkundung eigenständiger Wege ohne Therapie andererseits zu verbalisieren und vielleicht auch auszuprobieren. Eine vom Therapeuten forcierte Trennung könnte vom Patienten als Zurückweisung erlebt werden. Die physische Trennung ist nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der 'sicheren Basis'. Die Möglichkeit bei erneuter 'Not und Angst' zu einem späteren Zeitpunkt auf den Therapeuten zurückgreifen zu können, bleibt bestehen. 9. Frühzeitige Wünsche nach Trennung und/oder mehr Distanzierung in der therapeutischen Beziehung könnten bei Patienten mit bindungsvermeidendem Muster dadurch ausgelöst worden sein, dass der Therapeut zu viel emotionale Nähe anbot, die der Patient noch nicht aushielt und als Bedrohung erlebte.” http://www.rechtspsychologie-halle.de 20 Missbrauch Wortherkunft • disperditio (lat.: Verderbnis, Zugrunderichtung) • abusus (lat.: Verbrauch, Ausnutzung, uneigentlicher Gebrauch) sexueller (geschlechtlicher) Missbrauch: eine grundsätzlich als verfehlt und falsch zu bezeichnende Handlungs- und Ausübungsweise menschlicher Sexualität als Verderbnis und Zugrundrichtung • kein "verkehrter" oder "uneigentlicher" Gebrauch als Ausnutzung (abusus) http://www.rechtspsychologie-halle.de 21 Formen des Missbrauchs • Missbrauch: Ausnutzung des entgegengebrachten Vertrauens zum eigenen Vorteil • durch eine Fachperson • immer auf konkrete Situation bezogen (Verhaltensweise im Kontext betrachten) • subjektive Wertung und Einschätzung der betroffenen Person entscheidend http://www.rechtspsychologie-halle.de 22 Formen des Missbrauchs (Tschan, 2001) 1. emotionaler Missbrauch – – – – – – – – – 2. Inadäquate Komplimente Patient als Ratgeber für persönliche Belange benutzen Persönliche Beziehung Patient wird kein Glauben geschenkt Mangel an Empathie seitens des Therapeuten Therapeut verwendet Fachjargon Rassistische und sexistische Äußerungen negative Bemerkungen über Aussehen und demografische Variablen Einschüchterungen und Beschuldigungen direkte körperliche Gewalt – – – – – 3. Berührungen gegen den Willen eines Patienten Vortäuschung und Rechtfertigung, dass dies zu regelgerechter körperlicher Behandlung gehöre Körperliche Überforderung bei Behinderung Verweigerung adäquater Medikation oder Therapie oder Empfehlung ungeeigneter Medikation oder Therapien Anwendung nicht erprobter Verfahren oder Substanzen sozialer Missbrauch – – – – – außerhalb der Behandlung dual relationship persönliche Dienstleistungen Weitergabe persönlicher Daten Opferbeschuldigung (besonders gefährlich bei Personen mit psychiatrischen Störungen) http://www.rechtspsychologie-halle.de 23 Formen des Missbrauchs (Tschan, 2001) 4. finanzieller Missbrauch – – – – – 5. Überredung zu Betrug falsche Abrechnung Geldgeschäfte Fortsetzung der Behandlung aus rein finanziellen Motiven Verantwortung an Patienten, wenn Drittbeteiligte nicht bezahlen religiöser Missbrauch – – 6. Indoktrination Androhung göttlicher Strafen sexueller Missbrauch – – – – – – – Schilderung eigener sexueller Erlebnisse Voyeuristische Befragung Bemerkung über Aussehen und Kleidung Offenbarung von Liebesgefühlen ggü. Patient und Beendigung der Behandlung um Beziehung aufnehmen zu können anzügliche Bemerkungen Berührungen im Intimbereich sexuelle Handlungen http://www.rechtspsychologie-halle.de 24 Grenzen und Grenzüberschreitung Distanz und Verwehrung • zunehmender Distanzabbau und Gegenübertragung http://www.rechtspsychologie-halle.de 25 Grenzen und Grenzüberschreitungen • Grenzen durch moralische, ethische, juristische, berufliche und individuelle Maßstäbe und Regelungen gesetzt • hier: oberstes Gebot Abstinenzgebot • Grenzüberschreitungen: fachliche Handlungen, die eine Abweichung von den eigentlichen Behandlungsregeln darstellen, die sich jedoch therapeutisch begründen lassen und im Interesse der Patientin oder des Patienten erfolgen (Tschan, 2004) • z.B. der Erlass des geschuldeten Honorars, Hausbesuche, Eingehen auf persönliche Bedürfnisse von Klienten • verletzen keine strafrechtlichen Bestimmungen. • Grenzverletzungen: Handlungen, bei denen die anerkannten Regeln des Fachs verletzt werden (Tschan, 2004) • hier: durch sexuellen Missbrauch Professional Sexual Misconduct http://www.rechtspsychologie-halle.de 26 Bandbreite sexueller Grenzverletzungen und Belästigungen (nach Mäulen, 2002) http://www.rechtspsychologie-halle.de 27 Professional Sexual Misconduct (PSM) (Tschan, 2001) = alle sexuellen Handlungen im Rahmen einer TherapeutPatienten-Beziehung • im engeren Sinne: Penetrationen (vaginal, anal, oral) und genitale Stimulationen; ohne notwendige Ejakulation • im weiteren Sinne: Küssen und Streicheln, v.a. der intimen Bereiche, auch über der Bekleidung, voyeuristische und exhibitionistische Handlungen • sexuell anzügliche und sexistische Äußerungen, Dating http://www.rechtspsychologie-halle.de 28 Professionales Missbrauchs-Trauma (PMT) (Fischer & Riedesser , 1993) • Folgesyndrom des PSM • • „professional“, weil auf die Berufsrolle und Rollenkonstellation bezogen verursacht durch Missbrauch und Pervertierung der beruflichen Funktion • gekennzeichnet durch spezielle Dynamiken und Situationskonstellationen (siehe Tätertypologien, Becker-Fischer et al., 2008) • • • Kernaspekt: erhebliches Machtgefälle zwischen Therapeut und Patient Therapeut übernimmt Verantwortung und hält fachliche Grenzen ein, bei Grenzüberschreitung und Zeigen eigener Bedürftigkeit des Therapeuten kommt es zu Rollenumkehr Auswirkungen auf Patient Kernmerkmale des PMT: Vertrauensbruch und Ausnutzung der Macht zu egoistischen Zwecken (bei vorgeblich selbstloser und professionaler Beziehung) • Trauma kann durch alle Personen ausgelöst werden, die anbieten, „fachkundig seelisches Leiden“ lindern zu können • wird oft lange aufrechterhalten aufgrund unbewusst fortgeführter Verbundenheit zum Therapeuten und/oder Nichtanerkennung der Tat in Gesellschaft/ Schuldzuweisung an Opfer http://www.rechtspsychologie-halle.de 29 Psychotraumatisierung • Traumatisierung durch Ereignis, dessen Bewältigung die individuellen Ressourcen übersteigt • erstarrter Zustand, in denen Verarbeitung des Ereignisses nicht erfolgen kann • Beurteilung des Schweregrades anhand ICD-10 bzw. DSM-IV: „Trauma (griech. „Wunde“): ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (z. B. Naturkatastophe oder menschlich verursachtes schweres Unheil – man-made disaster – Kampfeinsatz, schwerer Unfall, Beobachtung des gewaltsamen Todes Anderer oder Opfersein von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen).“(ICD-10) sexuelle Traumatisierung trifft körperliche Integrität und sexuelle Selbstbestimmung http://www.rechtspsychologie-halle.de 30 Einteilung nach dem ICD-10 (2012) F43.- Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen • ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft, oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen Situation geführt hat und eine Anpassungsstörung hervorruft. F43.0 Akute Belastungsreaktion • Inkl.: Akut: Belastungsreaktion F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung • Inkl.: Traumatische Neurose F43.2 Anpassungsstörungen • Inkl.: Hospitalismus bei Kindern Kulturschock Trauerreaktion Exkl.: Trennungsangst in der Kindheit (F93.0) F43.8 Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung F43.9 Reaktion auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet http://www.rechtspsychologie-halle.de 31 Symptomatik • Intrusion (ungewolltes und wiederholtes Erinnern an das traumatische Ereignis, oft hervorgerufen durch Trigger) • avoidance (gezieltes Vermeiden von Gedanken und Gefühlen, die Erinnerung an Trauma auslösen könnten, vom Ort des Geschehens und anderen Schlüsselreizen; nicht mehr aus dem Haus gehen; Vermeiden von schmerzhaften Erinnerungen durch Dissoziation oder durch Teilamnesien) • emotionale Taubheit (Fähigkeit Wut, Freude, Trauer zu spüren ist stark eingeschränkt) • Hyperarousal (gesteigerte Wut; Konzentrationsschwierigkeiten; Hypersensibilität auf Gefahrenreize; leichte Erschreckbarkeit) http://www.rechtspsychologie-halle.de 32 Psychologische Reaktion beim Trauma – 3 Phasen (Tschan, 2001) 1. Schockphase – Dauer: ca. 1-2 Wochen nach Ereignis – Ausmaß der Verletzung meist erst einige Zeit später erfasst (insbesondere bei PSM) – initiale Verleugnung des Schadens und eigener Betroffenheit – Derealisierung und Depersonalisation – starke endokrine und hormonelle Veränderungen 2. Einwirkungsphase – einige Zeit nach Ereignis, bis zu zwei Wochen andauernd – Wut und Ärger (z.B. auf sich selbst, Rettungskräfte, Behörden..) – starke Zweifel am Selbst und am Sinn des eigenen Überlebens – depressive Symptomatik – Flash-backs http://www.rechtspsychologie-halle.de 33 Psychologische Reaktion beim Trauma – 3 Phasen (Tschan, 2001) 3. Erholungsphase – Überwindung des traumatischen Ereignisses – durch Austausch mit weiteren Betroffenen und Vertrauenspersonen, oder fachliche Hilfe ( Mensch kann und sollte dies nicht allein bewältigen) – entscheidend: wie verhält sich soziales Umfeld und Gesellschaft dem Opfer gegenüber? (schwierig bei PSM) – wichtig: Entfernen von traumatischer Umgebung; Vermeidung der Konfrontation mit Stressoren und Schlüsselreizen – andernfalls: Entwicklung einer kumulativen Traumatisierung • Latenzphase kann ganzes Leben andauern traumatisches Ereignis hinter sich zu lassen und neu anzufangen, bedeutet nicht zu Vergessen, sondern zu Überwinden http://www.rechtspsychologie-halle.de 34 Trauma – normaler und pathologischer Ablauf (Tschan, 2001; nach Horowitz, 1976) „Normaler“ Ablauf (physiologisch: „stress response“) 1. 2. 3. 4. 5. Peritraumatische Expositionsphase (Angst, Wut, Trauer, Empörung) Verleugnungsphase (Vermeidung des Erinnerns) Wiederauftauchen von Erinnerungsbildern (vermehrtes Auftauchen von Kognitionen und Emotionen, die mit Ereignis zusammenhängen) Durcharbeiten (zugelassene Erinnerungen führen zu Verarbeitung, persönliche Auseinandersetzung) Abschlussphase( Verletzung wird überwunden und kann ohne übersteigerte Emotionen zugelassen werden; nicht Vergessen) Pathologischer Ablauf 1. 2. 3. 4. 5. Peritraumatische Reizüberflutung ( Reizüberflutung ohne Bewältigungsmöglichkeiten, Panikreaktionen und Erschöpfungszustände) Verleugnungsphase (seelischer Schmerz führt zu jeglichen Vermeidungsversuchen (Substanzmissbrauch)) Dauernde Präsenz von Erinnerungen (massives und ständiges Erinnern, Schlafstörungen) Fehlendes Durcharbeiten ( Vermeidung der inneren Auseinandersetzung, häufig unter zu Hilfenahme von Substanzen) Kein Abschluss (lebenslanges Leiden, Fixierung auf Opferhaltung) http://www.rechtspsychologie-halle.de 35 • Besonderheit im Beratungs- und Ausbildungssetting: – weniger direkte körperliche Gewalt ( hier wohl häufiger und schneller Anzeige bzw. Gegenwehr) – stattdessen: subtile Formen wie psychische Manipulation Missbrauchssituation wird Patient erst spät bewusst – Sexualität als unbewusst und bewusst eingesetztes Mittel zur Manipulation und Bedürfnisbefriedigung • traumatisches Ereignis: weniger der sexuelle Kontakt, vielmehr der Vertrauensbruch und Missbrauch der Abhängigkeit http://www.rechtspsychologie-halle.de 36 Epidemiologie • keine Hauptrisikogruppen alle therapeutischen Schulen sowie Berufsgruppen (Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Erziehungsberater..) vertreten • persönliche sexuelle, religiöse oder politische Einstellung des Experten nicht von Belang • keine Typologie von Patienten/innen; doch Mehrzahl der Opfer weiblich und schwerwiegende Folgeschäden • anerkannter Durchschnitt: 10 % aller Therapeuten im Laufe ihrer Berufstätigkeit missbrauchen Patienten • jährlich minimal 300 Fälle in krankenkassenfinanzierten Verfahren, 300 außerhalb der Kassen (z.B. Gestalttherapie, Tanz-und Atemtherapien..)(BeckerFischer et al., 2008) • Umfrage unter 1000 Psychologen/innen: 12 % der Therapeuten und 3% Therapeutinnen http://www.rechtspsychologie-halle.de 37 Epidemiologie • 96% der Patienten von männlichen Therapeuten missbraucht (Bouhoutsos et al., 1983; bei Tschan, 2001); 95% der Fälle männliche Therapeuten zu weibliche Patienten; 2,5% zu männlichen Patienten; 3 % weibliche Therapeuten zu männlichen Patienten, 1,4% zu weiblichen Patienten (ansteigender Trend bei weiblichen Therapeuten) • Wiederholungstäter: schwankende Angaben zwischen 33% und 80% • hohe ökonomische Kosten (bezogen auf Missbräuche im gesamten Gesundheitssystem: für Deutschland: ca. 1 Milliarde €, für Schweiz: ca. 100 Millionen € (abhängig von Bevölkerungszahl); im psychotherapeutischen Kontext: Kosten von ca. 20 Mio. DM (Studie von Fischer et al., 1999; bei Becker-Fischer et al., 2008) • nicht einberechnet: Kosten aus Langzeitschäden wie Arbeitsunfähigkeit http://www.rechtspsychologie-halle.de 38 Epidemiologie zu beachten: Dunkelziffern höher, denn – – – – – – – – – – Anzeige- und Aussagebereitschaft oft gering gesellschaftliches Tabuthema Daten stammen aus Eigenbefragungen sowie Befragung von Folgetherapeuten oft niedrige Rücklaufquoten Dunkelziffer insbesondere bei missbrauchten Männern höhe (aufgrund gesellschaftlicher Rollenvorstellung) objektive Zahlen schwierig, da sexuelle Beziehungen etwas sehr Privates Geständnisbereitschaft niedrig subjektive Färbung zu Beginn von PSM meist positive Gefühle seitens Patient, erst bei Bewusstwerdung negative Einstellung Definitionsprobleme Wo beginnt sexueller Missbrauch? doppelte Dunkelziffer: Taten ohne jegliche Kenntnis und Taten, die (z.B. Opferberatungsstellen) bekannt, aber dennoch nicht angezeigt wurden • Vermutung:160.000 Opfer von PSM im deutschen Gesundheitswesen (Tschan, 2001) http://www.rechtspsychologie-halle.de 39 Nachfolgeuntersuchung von Eichenberg, Becker-Fischer & Fischer, 2006 • • • Internetstudie zu sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie Zweck: Nach Einführung des § 174 c StGB soll erforscht werden, ob PSM ein zeitkonstantes Phänomen ist (in Anlehnung an Erstuntersuchung Anfang der 90er (Becker-Fischer, Fischer, 1997)) Stichprobe: N = 77; betroffene Pat., die im Rahmen einer Psychotherapie o. psychiatrischen Behandlung sexuellen Kontakt zu ihrem Therapeuten hatten bzw. haben. Fragebogen zu sexuellen Kontakten in Psychotherapie und Psychiatrie (SKPP; Onlineversion): • 1. Sozialbiografische Daten • 2. Vorgeschichte des sexuellen Kontaktes • 3. Ablauf der Ereignisse • 4. Zeit nach dem sexuellen Kontakt • 5. Bewältigungsbemühungen • 6. Biografische Angaben • 7. Impact of Event-Scale (IES; Horowitz et al., 1979) http://www.rechtspsychologie-halle.de 40 Nachfolgeuntersuchung von Eichenberg, Becker-Fischer & Fischer, 2006 Patienten • • • • n = 66 weiblich (85,7%); n = 11 männlich (14,3%) Alter zum Befragungszeitpunkt: M = 34,8 (SD = 11,1) (range: 15-69 J.) Alter zur Zeit des sexuellen Kontaktes: M = 28,4 (SD = 11,1) (range: 6- 63 J.) 13,6 % zum Zeitpunkt des sexuellen Kontaktes noch nicht volljährig • Eingangssymptomatik: – – – – • am häufigsten depressive Symptome (54%), Angst und Panik (37%) und Grenzstörungen (26,8%) selbstverletzendes Verhalten und Autoaggression (24%) bei ca. 33% Diagnose einer PTSD Belastende lebensgeschichtliche Ereignisse: – 44% mind. eine frühere sexuelle Gewalterfahrung – 30% sexueller Missbrauch innerhalb Kindheit http://www.rechtspsychologie-halle.de 41 Nachfolgeuntersuchung von Eichenberg, Becker-Fischer & Fischer, 2006 Therapeuten (beschrieben durch befragte Patienten) • • • • 71 % männlich; 28,8 % weiblich Alter: M = 46,9 (SD = 9,1; Range: 27-65 J.), Beruf: 55,7 % Diplom-Psychologen, 36% Ärzte (mit 87% Facharztausbildung) Therapierichtung: VT: 18,9%, TP: 18,9%, sonstige: ca. 15%; unbekannt: 23% • Lebenssituation: – – – – – • Therapeut verheiratet (38,6%) Geschieden oder getrennt lebend (19,3% ) generell oder schon länger allein stehend (15,8%) 39,5 % der Pat. beschrieben die persönliche Lebenssituation des Therapeuten als problematisch und belastend Persönlichkeit: – – – – – – – 44% ausschließlich mit positiven Eigenschaften beschrieben 21% ausschließlich mit negativen Eigenschaften beschrieben bei 31% hatten Patienten widersprüchliche Eindrücke 57,9% Wunscherfüllertypus 42,1% Rachetypus. 88,9% der Thp bedauerten den sexuellen Kontakt nicht (laut Befragtenaussage) 83,6% hatten keine Schuldgefühle (laut Befragtenaussage) http://www.rechtspsychologie-halle.de 42 Nachfolgeuntersuchung von Eichenberg, Becker-Fischer & Fischer, 2006 Geschlechterkombination und Variablen des sexuellen Kontaktes • • • • 67,1% Therapeut/ Patientin 10,0% Therapeutin/Patientin 4,1% Therapeut/Patient 17,8% Therapeutin/Patient • • • • • • • in 79,6% der Fälle Initiative zum sexuellen Kontakt von Therapeuten aus einmaliger Kontakt: 71,7% über Zeitraum von 3-7 Monate oder 1-2 Jahre (26%) zu 60,4% fand sexueller Kontakt während Therapietermine in Praxis statt 30% der Pat. gaben an, dass Therapeut körperlich gewalttätig wurde 40 % Bedrohungen 33% Versprechungen http://www.rechtspsychologie-halle.de 43 Nachfolgeuntersuchung von Eichenberg, Becker-Fischer & Fischer, 2006 Folgen des sexuellen Kontakts • • 93,3% der Pat. : sexueller Kontakt hatte problematische Folgen 84% neue u./o. verstärkte Beschwerden als Folge (Durchschnitt verstärkter Beschwerden: M = 2,3 (SD = 1,9); durchschnittliche Anzahl neuer Beschwerden: M = 1,5 (SD = 1,3)) Häufigste neue Beschwerden Häufigste verstärkte Beschwerden Isolation und emotionaler Rückzug (30,0%) Misstrauen (30,0%) Angst und Panik (10,0%) depressive Symptome (10,0%) lügen/sich verstellen müssen (10,0%) Wut und Aggressionen (10,0%) • Isolation und emotionaler Rückzug (34,6%) Misstrauen (23,1%) Angst und Panik (19,2%) Scham und Schuldgefühle (19,2%) Selbstzweifel und -unsicherheit (19,2%) depressive Symptome (15,4%) nach Angaben auf der Impact-of-Event Scale (IES) : – 90% durch den sex. Kontakt in der Therapie traumatisiert – 78,9% mit schwerer o. mittelgradiger Traumatisierung http://www.rechtspsychologie-halle.de 44 Nachfolgeuntersuchung von Eichenberg, Becker-Fischer & Fischer, 2006 Hilfreiche Umstände und Ereignisse für die Bewältigung • • 45% erlebten insbesondere positiv erlebten Kontakt mit Mitmenschen als hilfreich nur eine Patientin wand sich an Selbsthilfegruppen (Problem: in Dtl. existieren nur wenige) Folgetherapie: – 54,0% der Pbn. hatten aufgrund der sexuellen Kontakte das Bedürfnis nach Folgetherapie (Rest äußerte Bedenken aufgrund des Vertrauensmissbrauches) • Misstrauen auch deutlich in: – 50% konsultierten min. 2 verschiedene Folgetherapeuten – 32% konsultierten min. 5 verschiedene Folgetherapeuten Rechtliche Schritte: – 69% dachten nie an Einleitung rechtlicher Schritte gegen den Therapeuten (Grund: mangelnder Mut). – Einleitung in 5 Fällen (2x zivilrechtlich, 3x strafrechtlich). – förmliches Verfahren in 3 Fällen ( von Patient als nutzbringend empfunden) – davon 2 Verurteilungen, eins ausstehend http://www.rechtspsychologie-halle.de 45 Die therapeutische Beziehung und mögliche Konsequenzen http://www.rechtspsychologie-halle.de 46 Therapiesituation - Merkmale • exklusive Zweierbeziehung • Patient erwartet professionelle Heilung und Behandlung seiner Probleme durch Person mit entsprechend Ausbildung, Wissen und Fähigkeit sind angewiesen auf Kompetenz, Uneigennützigkeit und persönliche Integrität des Therapeuten muss auf Grenzeinhaltung vertrauen können • • • baut in seiner Suche nach Hilfe und Unterstützung Vertrauen zum Therapeuten auf Vertrauen und Compliance, Bereitschaft zum „Öffnen“ als notwendige Voraussetzung einer Therapiebeziehung; reduziert Hemmungen und alltägliche Schutzmechanismen strukturelle Abhängigkeit (und Verletzlichkeit) unerlässlich und gefährlich kurzzeitiger Autonomieverlust, Auslieferung durch Abbau Schutzmechanismen • • • • Projektion der Bedürfnisse auf Therapeuten; dieser im Idealfall Hoffnungsträger für neue Entwicklungen und Perspektiven Idealisierung intensive Beziehung und Bindung, die mit Gefühlen von Wut, Liebe, Hass, verbunden sein kann Bindungssystem wird in Gefahren-und Bedürfnissituationen aktiviert Patient befindet sich mit seinen seelischen oder körperlichen Schäden in Bedürfnis nach Hilfe optimal Wechsel des Bindungsmusters von unsicher zu sicher im Verlaufe der Therapie http://www.rechtspsychologie-halle.de 47 Therapiesituation - Merkmale • • • • • • Merkmal jeder Patient-Experten-Beziehung: Machtimbalance (Asymetrie in der Machtverteilung) Therapeut besitzt Macht (bzgl. Zeit, Ort, persönliche Verfügbarkeit, Wissenstand und Definitionsgewalt) oft: gesellschaftlich höheres Ansehen und Achtung sowie moralisch erhöhte Glaubwürdigkeit durch Mitarbeit in Institution Therapeut trägt Verantwortung für Prozess: setzt Grenzen, besitzt das notwendige Wissen, bestimmt Ort der Behandlung Schutzfunktion Förderung der Heilung und der Entwicklung des Patienten ohne Einbringen eigener Bedürftigkeit und Probleme Patient ist in seiner Entwicklung, seinen Urteilen abhängig von Interpretation des Therapeuten Definitionsgewalt Unterschiede zu allgemeinen Beziehungen: • Zeitrahmen bzw. begrenzte Dauer • Einseitigkeit, fehlender Reziprozität Abhängigkeitsverhältnis ( Patient sollte nichts von Therapeuten wissen, „muss“ sich aber vollkommen öffnen) • non-erotische bzw. non-sexuelle Gestaltung übersteigerte Intimität als Pflichtverletzung und Vertrauensbruch, unabhängig davon, wer die Grenze zuerst überschreitet http://www.rechtspsychologie-halle.de 48 Die Rollen von Therapeut und Patient gesellschaftliche Rollenerwartung (Luepker & Schoener, 1989) an: 1) Therapeuten • Fachleute, die ihren Patienten und Klienten nach bestem Wissen und Gewissen helfen (wollen) • sind in der Lage ihre Bedürfnisse, Wünsche, Fantasien im beruflichen Alltag zurückzustellen und den Patienten dadurch Hilfe zu leisten • hohe ethische und mitmenschliche Werte 2) Patient • bedürftiger Mensch, der aufgrund seines körperlichen oder seelischen Leidens auf Hilfe von Fachleuten angewiesen ist • suchen mit Erwartung an kompetente Hilfe • zeigen Offenheit und Vertrauen, welches nicht alltäglich ist http://www.rechtspsychologie-halle.de 49 • stillschweigendes Übereinkommen bzgl. Erwartungen an Therapeut und Patient • Emotionen und sexuelle Gefühle in menschlichen Beziehungen normal und per se nicht schädlich Problem: unzureichende Thematisierung des Umgangs mit solchen Gefühlen und Einhaltung der Grenzen http://www.rechtspsychologie-halle.de 50 Merkmale sexueller Übergriffe in der Therapiesituation • • • • • • • Abhängigkeit und Verletzlichkeit (des Patienten) und starkes Machtgefälle als bedeutsame Kennzeichen Möglichkeit der Ausnutzung von Macht Missbrauch der beruflichen Expertenstellung Missbrauch des Abhängigkeitsverhältnisses Missbrauch des Vertrauens (für egoistische Zwecke wie der sexuellen Befriedigung) Vertrauensbruch als Pflichtverletzung Zerstörung der Therapiebasis Therapeut als Liebespartner Rollenvermischung; Patienten misstrauen ihren Gefühle und Wahrnehmungen , können Liebe und Zuneigung nicht mehr auseinanderhalten Konfusion Rollenumkehr eigene Bedürftigkeit des Therapeuten; kann aufgrund fehlender Distanz seine Rolle nicht mehr wahrnehmen Arzt bricht Therapie vorzeitig ab, um sexuelle Beziehung (legal) zu ermöglichen Definition als „ebenbürtige Beziehung zwischen zwei Erwachsenen“ http://www.rechtspsychologie-halle.de 51 Merkmale sexueller Übergriffe in der Therapiesituation • • Therapeut hat alleinige Verantwortung für die Gestaltung und Aufrechterhaltung der psychotherapeutischen Situation definiert das Verhalten als „krank/nicht krank“ und zieht Grenzen Therapeut ist aktiver Part und manipuliert subtil • Verliebtsein seitens Patient wird gefördert (Therapeut fühlt sich geschmeichelt und begehrt) • Abhängigkeit auch nach Beendigung der Therapie und außerhalb des gewohnten Settings (Raum und Zeit) • prozesshaftes Geschehen slippery slope concept (nach Tschan, 2001) • bei Initiative durch Patient: oft Abläufe nach Muster von „Inzest“ erkennbar Annäherung an Therapeut mit kindlichem Wunsch nach Liebe, Zuwendung, körperlicher Nähe und Zärtlichkeit; vom Therapeut als sexuelle Annäherung und „erotisch“ interpretiert und beantwortet daher sexuelle Übergriffe in Psychotherapien oft als „Inzestbeziehung“ beschrieben ( nach Becker-Fischer et al., 2008) • http://www.rechtspsychologie-halle.de 52 Der Prozess Slippery Slope Concept („Rutschbahn“) (nach Tschan, 2001) • • • • selten direkter Beginn mit sexuellen Kontakten, sexuelle Ausbeutung als letztes Glied stattdessen: chain of antecedants (vorbereitende Tathandlungen, bei denen Grenzen ausgetestet werden) bzw. seemingly unimportant decisions (scheinbar nebensächliche Begebenheiten; Salter, 1995) vorherige Ereignisse haben gravierende Folgen, werden jedoch oft bagatellisiert und vergessen z.B. auch: Überschreiten der Rahmenbedingungen z.B. der Sitzungsdauer/häufigkeit, Minderung der Zahlung Patient ignoriert Warnsignale im Sinne von „Der Therapeut weiß, was er da tut“ Missbrauchsverhalten als Summe und logischer Abfolge mehrere Ereignisse und Handlungen • auf Grund von Erwartungshaltung/ Vertrauen in Therapeuten werden „Signale“ und vorbereitende Handlungen uminterpretiert als Ratschläge und notwendige Teile des Beratungsprozess • zu Beginn der Übergriffe (!) oft emotionale Bedürftigkeit und Verletzbarkeit des Therapeuten (dadurch „hineinschlittern“) http://www.rechtspsychologie-halle.de 53 Der Prozess • Grooming (engl. ein Pferd striegeln): Manipulationsstrategien zur Verschleierung der wahren Absichten seitens des Täters – – – – – – – – frühes Angebot sich zu duzen persönliche Note geben eigenes Privatleben preis weihen Patient in andere Patientenfälle ein Komplimente über Aussehen zufällige Berührungen (scheinbar) aktives Interesse und Explorieren sexueller Gedanken (wenn diese eigentlich nicht relevant für Behandlung) aktives Interesse und Explorieren sexueller Gedanken bzgl. den Therapeuten eigene sexuelle Gedanken bzgl. dem Patienten und Äußerung dieser • sexuelle Kontakt wird vom Theapeuten initiiert geplant und beabsichtigt • Patienten erleben sich als etwas Besonderes, erfahren narzisstische Aufwertung, genießen die Aufmerksamkeit (umgekehrt genauso) nehmen Annäherungsversuche als Zeichen von besonderer Zuneigung Kontakt auch im Privatbereich (Telefonate, außerdienstliche Treffen, Wochenendausflüge) Entwicklung echter Gefühle seitens des Patienten Hoffnung auf echte Beziehung, gemeinsame Zukunft http://www.rechtspsychologie-halle.de 54 Der Missbrauchskreis (vgl. Tschan, 2001) Motivation Gesellschaftlicher Kontext Triggermechanismen Angst, Scham, Schuld Kognitive Verzerrungen Missbrauch/ Seitensprung Sexuelle Fantasien Sexuelle Aktivitäten Aussuchen des Opfers Grooming Konkrete Planung http://www.rechtspsychologie-halle.de 55 Risikofaktoren (Therapeut) • • • • • • • • • • • • • • • zuverlässigster Prädiktor: bereits frühere sexuelle Kontakte in professioneller Beziehung (Sexueller Missbrauch im Therapiesetting ist fast immer einer Serientat!), aktiv oder passiv (z.B. durch Ausbilder, Lehrer, Supervisoren, Doktorväter..) Rollenkonfusion ehemaliger Helfer zeigt Hilfebedürftigkeit Patient wird in seinem Hilfegesuch enttäuscht sexuell attraktive Patienten/innen Burnout-Symptome unsichere Bindungsmuster Bedürftigkeit Naivität und unzureichendes Wissen über Abstinenzgebot Substanzabhängigkeit und andere Süchte (Spielsucht, Sexsucht..) Kontrollillusion und Selbstüberschätzung sexuelle Kontakt als zulässige Behandlungsoption Persönlichkeitsstörungen (insbesondere Narzissmus) situative Faktoren: Krise in der eigen Partnerschaft oder Familie, Scheidung, Krise am Arbeitsplatz, finanzielle Notlagen, auch Todesfälle, Desillusionierung berufliche Isolation (alleinpraktizierend), fehlender Austausch mit Kollegen ausgeprägtes Machtbedürfnis und Empathiemangel sexueller Missbrauch in der Anamnese (Übergriffe als Umkehr der ehemaligen Opferrolle) http://www.rechtspsychologie-halle.de 56 Risikofaktoren (Patient) • Hilfsbedürftigkeit • starkes Bedürfnis nach Nähe, Interesse, Fürsorglichkeit und Wärme • sexuelle Beziehung als „exklusiv“ interpretiert („er kümmert sich um mich und mag mich besonders“) Gefühl des Begehrtseins • frühkindliche Deprivation und Fehlen von Nähe und Bindung in Partnerschaften ungestillte Sehnsüchte Erfüllung und Befriedigung durch Zuwendung des Therapeuten (doch: Ziel sollte die Entwicklung von Autonomie sein, nicht die Erfüllung dieser Wünsche) http://www.rechtspsychologie-halle.de 57 Psychodynamik des Missbrauchs im Traumaverlauf (vgl. Becker-Fischer & Fischer, 2008) • • • Therapeut forciert die eigene Idealisierung Patient in persönlicher Weise aufwerten, gleichzeitig darstellen, man sei ohne ihn nicht lebensfähig Hinwirken, den Patienten sozial zu isolieren Rollenkonfusion bis zum Rollentausch:Therapeut erzählt von eigenen Bedürfnissen und Problemen, Patient fühlt sich als Vertrauter und sehr geehrt Patient spürt Bedürftigkeit erste sexuelle Äußerungen • Patient gibt Verliebtsein vor, um sich weiterhin Zuwendung zu sichern besonders bei in Kindheit missbrauchten Patientinnen („ich bin nur liebenswert, wenn ich mich meinen Körper anbiete“) bei Gegenwehr, Ablehnung der Annäherungsversuche und Kritik seitens des Patienten Umdeutung durch Therapeut als Abwehr der echten Liebe soziale Beziehung verarmt und gegenseitige Idealisierung wird verstärkt immer tieferes Macht- und Abhängigkeitsverhältnis • • • • http://www.rechtspsychologie-halle.de 58 • Abhängigkeit als Katalysator für Missbrauchssituationen • entwickelt sich Patient und löst sich aus Abhängigkeit (eigentliches Ziel der Therapie) besteht Gefahr der Drohungen, Gewaltanwendung, Beendigung der Therapie und Entwertung der Patienten durch Therapeut/in Auslösen einer tiefgreifenden Krise beim Patient • Bewusstsein, dass sexuelle Handlungen keine ebenbürtige Liebesbeziehung, sondern Verrat und Missbrauch waren Auslösen einer tiefgreifenden Krise beim Patient http://www.rechtspsychologie-halle.de 59 Tätertypologien - 1 (Schoener & Gonsiorek, 1989; bei Becker-Fischer et al., 2008) 1) Uninformierte Naive – Ausbildung und/oder persönliche Reife unzureichend 2) Gesunde oder durchschnittlich Neurotische – Einmaliges Ereignis, situative Auslöser – Vorwürfe – Einsicht vorhanden Bereitschaft für eigene Behandlung oder Supervision – günstige Prognosen 3) Schwer Neurotische/ Sozial Isolierte – Emotionale Probleme (speziell Depression) – Schuldgefühle eher unbewusst und ohne Veränderungsmotivation – Therapie als Lebensinhalt – eingeschränkte Prognose http://www.rechtspsychologie-halle.de 60 Tätertypologien - 1 (Schoener & Gonsiorek, 1989; bei Becker-Fischer et al., 2008) 4) Impulsive Charakterstörungen – – – – – 5) Soziopathische oder narzißtische Charakterstörungen – – 6) Schwierigkeiten in Triebkontrolle meist bereits mehrere und gleichzeitige sexuelle Kontakte zu Patienten oft Sexualdelikte in Vorgeschichte Einsicht und Reue nur wenn Konsequenzen Therapieresistent berechnend, Experten in Manipulation und Verführung auch gegenüber Kollegen und Gremien therapieresistent bzw. eingeschränkt therapiefähig Psychotische oder Borderline-Persönlichkeiten – – – – Gestörter Realitätsbezug, fehlende soziale Urteilsfähigkeit bizarre Rationalisierungen dissoziative und paranoide Symptome nicht behandelbar http://www.rechtspsychologie-halle.de 61 Tätertypologien – 2 (Steuerungsgruppe PABS (Patienten-Anlauf und Beratungsstelle der Medizinischen Gesellschaft Basel), 2003) 1. situational handelnde Fachleute aufgrund von Lebensumständen und/oder mit ethischen bzw. moralischen Defiziten 2. Fachleute mit psychischer oder somatischer Erkrankung (Depression, Persönlichkeitsstörung, neurologische Defizite..), welche Fähigkeiten zu Entscheidungen und Grenzeinhaltungen beeinflusst 3. Fachleute mit forensischen Defiziten (Vergewaltigungen, Pädosexualität, Gewalterfahrungen in Kindheit..) http://www.rechtspsychologie-halle.de 62 Tätertypologien – 3 (Becker-Fischer et al., 2008) 1. „Liebeskranke Therapeuten“ • primär akute situative Krisen und Belastungen führen zu Grenzüberschreitungen 2. Persönlichkeitsgestörte 3. • Spaltungen/Dissoziationen; Doubling-Phänomene • Bsp.: Nazidoktor Mengele: liebevoller Vater vs. Todesarzt ( Opfer von Missbrauch in der Biografie) http://www.rechtspsychologie-halle.de 63 Psychodynamik des Missbrauchs im Traumaverlauf (Becker-Fischer et al., 2008) • Alleinherrscher, Retter, Gott, Messias, potenter Liebhaber 1. Aktuelle persönliche Probleme Wunsch nach Beziehung schwer kontrollierbar Mangelnde Liebe Helfersyndrom, Befriedigungen in therapeutischer Arbeit nicht genug (können Geben-müssen nicht ertragen, ohne selbst etwas zu bekommen) Narzißtische Probleme bereits Forderung nach Abstinenz wird als Kränkung empfunden sowie die Kränkung durch Altersprozesse 2. 3. • • • • • In Begegnung mit traumatisierten Patienten eigene Traumata reaktiviert Massive Rettungsphantasien als Abwehrmaßnahme golden phantasy (Smith, 1984): Vorstellung eines Zustandes von absoluter Versorgung und Geborgenheit intensive Bindung an Therapeuten, besonders in Risiko-und Problemsituationen dafür zugänglich Wunsch des Therapeuten in einen prätraumatischen Zustand zurückzukehren nicht möglich, somit Gefühl und Zwang nur einseitig zu geben Hass-/Destruktionsimpulse und Wünsche nach Gratifikation http://www.rechtspsychologie-halle.de 64 Rache- und Wunscherfüllungstypus (Skripte der Therapeuten) (Becker-Fischer et al., 2008) Grundidee: • durch Begegnung mit Patient kommt es zur Reaktivierung eigener Traumata beim Therapeuten sexuelle Übergriffe als Reinszenierung eigener Erfahrungen Unterscheidung der Typen aufgrund (unbewusster) Motivation: 1. Rachetypus – – – – – – 2. Wunscherfüllungstypus – – – • Rache an Patientinnen im Vordergrund traumatische Enttäuschungen aus Kindheit werden weitergegeben Abwehr durch Identifikation mit früherem Täter Wechselt Opfer häufiger trotzdem enge Bindung braucht ständig mindestens ein Opfer Rettungsphantasie Verleugnung des Traumas durch Illusion einer heilen Welt Umkehr der Rollenverteilung nicht alle Täter lassen sich hier einordnen http://www.rechtspsychologie-halle.de 65 Stereotype Interaktionsmuster (Becker-Fischer et al., 2008) 1. Golden phantasy − Wunscherfüllungstypus − Rettungsfantasie des Therapeuten, die Patient schließlich übernimmt − Therapeut gibt Patient Gefühl vollkommener Sicherheit, Geborgenheit und Schutz − Patient fühlt sich aufgewertet, frühe Warnsignale werden bagatellisiert − Rollenumkehr 2. Distanzierter Gott − Rachetypus − Grenzen zunächst übersteigert eingehalten, sehr unpersönliche Beziehung − Patient wird emotional depriviert − sexuelle Übergriffe im Rahmen von Selbstständigkeits-und Ablöseprozessen seitens Patient − plötzlicher Übergriff, oft sadistische Ausmaße − Patient als „Eigentum“ des Therapeuten http://www.rechtspsychologie-halle.de 66 Stereotype Interaktionsmuster (Becker-Fischer et al., 2008) 3. 4. Hilfloser Messias − − − − Guru „Sextherapie“ − − − − − − − • Wunscherfüllungstypus therapeutisches Setting von Anfang an undefiniert Patient als extrem hilflos und unselbstständig dargestellt Therapeut bietet persönliche Hilfestellungen an, die eigenständige Entwicklung des Patienten unterbinden Rachetypus bereits zu Beginn kein definierter Beratungsrahmen, Treffen außerhalb der Therapieräume Therapeut öffnet sich und erzählt viel Privates Sexualpraktiken als Rache sexuelle Handlungen als „fortschrittliche“ Therapiemethode dargestellt narzisstische Aufwertung des Patienten Überrumpelungstaktik Gemeinsamkeit aller Muster: Rollenumkehr http://www.rechtspsychologie-halle.de 67 weitere Hintergründe für PSM • Rache- und Wunscherfüllungstypus = Wiederholungstäter, da ständige Reaktivierung des Traumas ohne wirkliche Bewältigung • aber : nicht immer hat Therapeut selbst traumatische Erfahrungen gemacht auch Grund für sexuelle Übergriffe: schlichte Machtbedürfnisse, sadistische Neigungen Sexuelle Ebene für Therapeuten nur Mediator-Funktion Sexuelle Handlungen als „Therapiemittel“ • • • • • Patient als Objekt der Zerstörungslust und Projektionsfläche eigener Machtbedürfnisse oft auch Angehörige und privates Umfeld des Patienten einbezogen (z.B. mit manipuliert) http://www.rechtspsychologie-halle.de 68 Abwehrstrategien vom Therapeuten (Becker-Fischer et al., 2008) • Abwehrstrategien zu erkennen an: – – • Vermeidung von Erkenntnissen Vermeidung von Handeln Ziel: – – • Reduktion der Spannung und kognitiver Dissonanz narzisstische Selbstaufwertung (müssen sich nicht auf das niedere Niveau dieses tabuisierten Themas aufhalten) Rechtfertigungen und Begründungen: – – – – – – – Schicksal (auch: „jedes Opfer findet seinen Täter“) Therapeutische Maßnahme „Liebe als einzig wirksame Therapieform“ Liebe gleichgesetzt mit sexuellen Kontakten Schuld/Mitschuld der Patientin („Blaming the Victim“) Bagatellisierung Überdramatisierung Leugnung Beteuerung von echten, romantischen Gefühlen Gefühl der Sicherheit wiederhergestellt http://www.rechtspsychologie-halle.de 69 „Blaming the Victim“ (Tschan, 2001) • Opferbeschuldigung • häufiger Abwehrmechanismus • Opfer-Täter-Umkehr Opfer habe Täter verführt und wolle ehrenhaften Fachmann in Ruin treiben • durch Gesellschaft und Täter initiiert Folge: sekundäre Viktimisierung und Retraumatisierung (Opfer wird in Hilfegesuch erneut allein gelassen, trifft auf wütende und schuldzuweisende Reaktionen) • weiterhin Beratungsstellen und Folgetherapeuten betroffen: Vorwurf, sie würden das Problem unnötig „aufbauschen“ http://www.rechtspsychologie-halle.de 70 „Blaming the Victim“ (Tschan, 2001) durch die Gesellschaft 1) Reaktion auf Opferrollen – – – Konfrontation mit negativen Gefühlen (Schmerz, Wut, Hass, Verwirrung), Betroffenheit, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Ausweglosigkeit Erschütterung des Vertrauens in Institutionen Forderung nach Unterstützung, Positionseinnahme und Übernahme von Verantwortung statt Verantwortungsübernahme leichter: Schuld beim Opfer suchen ( „Schicksal“) 2) Tabuisierung der Thematik – – – – – – – – – • Anzeigen als Übertreibungen gesehen, Rollenerwartungen in männlich geprägter Gesellschaft Bild von „verführerischen“ Frauen und „ehrenhaften“ Helferberufen ( „Götter in weiß“) Opfer (und seine Helfer) seien verantwortlich, dass wir uns mit Unangenehmen beschäftigen müssen fehlende Sensibilisierung in Gesellschaft und Medien fehlende Aufklärung über Statistiken fehlende Aufklärung und unzureichende Diskussion in der Ausbildung fehlendes Qualitätsmanagement ungenügende Opferorientierung und wenig Beachtung der Opferanliegen Umfrage: professionelle Opferberatungen raten in 94% der Fälle von Anzeige ab (Fegert; zit bei Tschan, 2001) „Blaming the Victim“ zweiter Ordnung: Konfrontation der Fachleute mit Thematik wollen sich und ihre Berufsordnung schützen bagatellisieren Thematik in Öffentlichkeit und schweigen http://www.rechtspsychologie-halle.de 71 „Blaming the Victim“(Tschan, 2001) durch den Täter • • • weitere Manipulation unter dem Deckmantel der gesellschaftlichen Schuldzuweisung („Täter nimmt Meinung der Gesellschaft an“) werden nicht zur Verantwortung gezogen keine berufsrechtlichen und sozialen Folgen auch gerichtliche Instanzen durch gesellschaftliche Meinungen geprägt Vorteil für Täter http://www.rechtspsychologie-halle.de 72 Folgen für Patient • • • • • • • • • • • • • • • • • • Enttäuschung über ausbleibende Hilfe durch Therapeut (bei Rollenkonfusion) Wut (auch Übertragung auf nahestehende Personen, unkontrolliert) Vertrauensverlust Selbstanklagen und Schuldgefühle Idee der „wahren Liebe“ tiefes Misstrauen in andere und Wahrnehmung eigener Gefühle, ambivalente Gefühle Schamgefühle verringerter Selbstwert und Erschütterung des Welt-und Selbstverständnisses Angst Depression Symptome einer PTSD suizidale Gedanken und selbstdesdruktive Handlungen sexuelle Dysfunktionen, sexuelle und intime Handlungen sowie Gefühle mit Angst und Scham besetzt Partnerschafts- und Bindungsprobleme Blockade für Nachfolgetherapien, da Vertrauensverlust und Angst Schuldzuweisung durch Täter und vllt. Öffentlichkeit (Verdacht einer Falschaussage) eigene Zweifel; gesellschaftlich keine Anerkennung sekundäre Viktimisierung durch juristische Folgen Offenlegung der Tat und intimer Details privater Beziehungen sekundäre Folgen: Arbeitslosigkeit/unfähigkeit, Abbruch Partnerschaft, soziale Isolation, Substanzabhängigkeiten http://www.rechtspsychologie-halle.de 73 Folgen für Therapeut • • • • Rufschädigung juristische Folgen Kündigung und Verlust der Approbation Bloßstellung (z.B. in Medien), Offenlegung der Privatssphäre und Nachforschungen an Arbeitsplatz, Beschlagnahme von Patientenakten, privaten Dokumenten, Computer… • Misstrauen nachfolgender Patienten sowie eigener Kollegen und Arbeitsstelle • Rückwirkungen auf private Beziehungen und soziale Kontakte http://www.rechtspsychologie-halle.de 74 Folgen für die Vorgesetzten (bei angestellten Psychotherapeuten) • Anzweifeln der Ausübung der Aufsichtspflicht • Anzweifeln der Ausbildungsmaßnahmen und Kontrollinstanzen • Zwang zu Rechtfertigung und Schadensbegrenzung / Entschädigung ( häufig Verdachtskündigungen) • Angst vor Medienskandal • Unterstellen einer Mitverantwortung • Qualitätskontrollen und verstärkte Er/Aufarbeitung von Maßnahmenkatalogen • Polarisierungen unter Mitarbeitern, erschwertes Arbeitsklima und Misstrauen http://www.rechtspsychologie-halle.de 75 Rechtliche Regelung 1) Strafrecht 2) Berufsrecht 3) Zivilrecht http://www.rechtspsychologie-halle.de 76 Strafrecht § 174c StGB Sexueller Mißbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung einschließlich einer Suchtkrankheit oder wegen einer körperlichen Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist, unter Mißbrauch des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm zur psychotherapeutischen Behandlung anvertraut ist, unter Mißbrauch des Behandlungsverhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen läßt. (3) Der Versuch ist strafbar. http://www.rechtspsychologie-halle.de 77 Strafrecht • Einführung des § 174c StGB am 1. April 1998 (6. Strafrechtsreformgesetz) • neue Formulierungen 1.April 2004: – oder wegen einer körperlichen Krankheit oder Behinderung – Freiheitsstrafe von drei Monaten (statt Geldstrafe) • Zweck: Schließen einer Strafbarkeitslücke bisher konnten sexuelle Übergriffe in psychotherapeutischen Behandlungen Erwachsener nicht immer anderen bereits geltenden strafrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung zugeordnet werden • Grund: steigende fachliche und gesellschaftliche Aufmerksamkeit; spezifisches Abhängigkeitsverhältnis in therapeutischer Beziehung erleichtert sexuelle Übergriffe http://www.rechtspsychologie-halle.de 78 Begriffsbestimmungen • Sexuelle Handlung ( § 184 g StGB) – solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind – Sexuelle Handlung vor einem anderen – nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt. – i.d.R. durch das aktive Tun und unter Einsatz des eigenen Körpers das Geschlechtliche im Menschen zum unmittelbaren Gegenstand hat • muss objektiv gegeben sein d.h. in ihrem äußeren Erscheinungsbild für das allgemeine Verständnis den Bezug auf das Geschlechtliche erkennen lassen • subjektive Absicht und deren evtl. geschlechtliche Färbung unerheblich (diese nur bei mehrdeutigem Verhalten berücksichtigt) • Erheblichkeit – normativ: Handlung ist sozial nicht hinnehmbar; quantitativ: hebt sich in Dauer und Intensität ab – Erheblichkeitsschwelle (Fischer, 2001): gemäß § 184 g StGB zu bestimmen; Schwelle abhängig von der Gesamtwürdigung der Situation (konkreten Beeinträchtigung der Person, von Stellung des Täters innerhalb des Beratungsverhältnisses und dessen Ausgestaltung) – Überschreiten der Schwelle Einzelfallentscheidung http://www.rechtspsychologie-halle.de 79 • Rechtsgut: sexuelle Selbstbestimmung – Freiheit der Person, über Ort, Zeit, Form und Partner der sexuellen Betätigung frei zu entscheiden. Die sexuelle Selbstbestimmung ist Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (die der Menschenwürde entspringt) (§§ 174ff. StGB). – (diskutiert: Professionalität des Behandlungsverhältnisses) • Offizialdelikt Strafantrag nicht erforderlich; Tat ist zu verfolgen, wenn sie den Strafverfolgungsbehörden bekannt wird • psychotherapeutische Behandlung: – Begriff weit gefasst – nicht auf Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinien oder anderer „Schulen“ begrenzt – Behandlung muss nicht als Therapie bezeichnet werden und Täter muss nicht über entsprechende Qualifikation (nach §§5,6 PsychThG) bzw. Erlaubnis (§ 1 HeilPrG) besitzen – auch alternative Therapieformen und Außenseitermethoden (z.B. durch religiöse oder Weltanschauungsgruppierungen) Anwendung auch auf psychosoziale Beratung jeder Art, damit auch z.B. Fachkräfte der Erziehungs- und Familienberatung ausgeschlossen: Veranstaltungen, Kurse, Selbsthilfegruppen, Workshops (auf Grund mangelndem Machtgefälles) http://www.rechtspsychologie-halle.de 80 entscheidend: • Opferintention und therapeutischer Behandlungswille – Intention des Opfers sich zum Zweck der Diagnose, Heilung oder Linderung einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung einer hierauf ausgerichteten Behandlung zu unterziehen und sich einer Person anzuvertrauen • professionelles Angebot zur Besserung bzw. Beseitigung solcher Probleme durch Täter Aufbau einer besonderen Vertrauensbeziehung mit starkem Abhängigkeitsverhältnis • Ausnutzen einer spezifischen Abhängigkeits- und Vertrauenssituation indiziert Missbrauch der betroffenen Person • Zustimmung des Opfers zur Handlung ist OHNE Belang http://www.rechtspsychologie-halle.de 81 zur Bestimmung des Grades der Abhängigkeit hilfreich: • Intensität der Beratung wie stark ist Ratsuchender vom Problem betroffen bzw. wie sehr erhält sie/er Unterstützung? • Dauer der Beratung je länger bzw. häufiger, desto mehr Informationen und tiefere Analyse der Problemsituation http://www.rechtspsychologie-halle.de 82 Unterschied Absatz 1 und 2 (§ 174c StGB) • gesonderte Regelung in Abs. 2 § 174c, sodass auch leichte oder vorübergehende Beeinträchtigungen des seelischen Wohls erfasst werden • Patienten gehen Abhängigkeitsverhältnis (entgegen denen aus Abs. 1) meist aus eigenem Antrieb ein • Einschluss anderer Personengruppen Unterschied im Ausmaß der Beeinträchtigung, die den Anlass zur Beratung, Behandlung oder Betreuung gibt • Beeinträchtigung leichten Grades fallen nicht unter Abs. 1, aber unter Abs.2 • maßgeblich: nicht Grad der Beeinträchtigung, sondern Vertrauensund Abhängigkeitsverhältnis http://www.rechtspsychologie-halle.de 83 Strafrechtliche Folgen Strafrahmen • Freiheitsstrafe: drei Monate bis fünf Jahre • Geldstrafe : als Ersatz für kurze Freiheitsstrafe (< 6 Monate, nach § 47 StGB) • Berufsverbot (befristet !, nach § 70 StGB) http://www.rechtspsychologie-halle.de 84 Strafbarkeit nach Beendigung des Behandlungsverhältnisses • • strittig; denn: Tatbestand setzt das Anvertrauen zur psychotherapeutischen Behandlung voraus dafür ist Opferintention vorausgesetzt nach regelgerechter Beendigung weder Intention seitens Opfer noch Behandlungswille seitens Therapeut vorhanden bei vorzeitigem (nicht regelgerechtem) Abbruch dauert Beziehung zwar an; jedoch auch dann nicht mehr Opferintention oder therapeutischer Behandlungswille kein Anvertrauen Sexuelle Kontakte nach Beendigung oder Abbruch eines Behandlungsverhältnis fallen nicht unter § 174 c StGB • • aber (!): wenn Behandlung nur pro forma ( z.B. bei Streichung aus Patientenkartei, kein Treffen mehr in Praxis…) beendet bestehen sowohl Opferintention als auch Behandlungswille § 174 c StGB auch wenn nur Intention besteht, und Therapeut fehlgeleitete Behandlungserwartung des Patienten nicht ausräumt weiterhin anvertraut § 174 c StGB http://www.rechtspsychologie-halle.de 85 Berufsordnung • Abstinenzgebot • Regelung der Berufsausübung von Psychotherapeuten in Heilberufsgesetz des Landes sowie in untergesetzlichen Normen der öffentlich-rechtlichen Berufskammern (= Berufsordnungen) • Empfehlung in Muster-Berufsordnung (§ 6 Abstinenz) Ausgestaltung in Berufsordnungen der Landeskammern http://www.rechtspsychologie-halle.de 86 Berufsordnung der PtK Nordrhein-Westfalen § 6 Abstinenz (1) Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben die Pflicht, ihre Beziehungen zu Patientinnen und Patienten und deren Bezugspersonen professionell zu gestalten und dabei jederzeit die besondere Verantwortung gegenüber ihren Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. (2) Sie dürfen die Vertrauensbeziehung von Patientinnen und Patienten nicht zur Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse missbrauchen. (3) Die Tätigkeit von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wird ausschließlich durch das vereinbarte Honorar abgegolten. Die Annahme von entgeltlichen und unentgeltlichen Dienstleistungen im Sinner einer Vorteilnahme ist unzulässig. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten dürfen nicht direkt oder indirekt Nutznießer von Geschenken, Zuwendungen, Erbschaften oder Vermächtnissen werden, es sei denn, der Wert ist geringfügig. (4) Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sollen außertherapeutische Kontakte zu Patientinnen und Patienten auf das Nötige beschränken und so gestalten, dass eine therapeutische Beziehung möglichst wenig beeinträchtigt wird. (5) Jeglicher sexuelle Kontakt von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu Patientinnen und Patienten ist unzulässig. (6) Die abstinente Haltung erstreckt sich auf die Personen, die einer Patientin oder einem Patienten nahe stehen, bei Kindern und Jugendlichen insbesondere auf deren Eltern und Sorgeberechtigte. (7) Das Abstinenzgebot gilt auch für die Zeit nach Beendigung der Psychotherapie, solange noch eine Behandlungsnotwendigkeit oder eine Abhängigkeitsbeziehung der Patientinnen und Patienten zur Psychotherapeutin oder zum Psychotherapeuten gegeben ist. Die Verantwortung für ein berufsethisch einwandfreies Vorgehen trägt allein die behandelnde Psychotherapeutin oder der behandelnde Psychotherapeut. http://www.rechtspsychologie-halle.de 87 Berufsordnung der LpK Rheinland-Pfalz § 12 Abstinenz (1) Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben ihre Beziehungen zu ihren Patientinnen und Patienten berufsbezogen zu gestalten und die besondere Verantwortung und ihren besonderen Einfluss gegenüber ihren Patientinnen und Patienten jederzeit angemessen zu berücksichtigen. (2) Sie dürfen die Vertrauensbeziehung zu Patientinnen und Patienten nicht zur Befriedigung eigener Bedürfnisse oder Interessen ausnutzen oder versuchen, aus den Kontakten persönliche oder wirtschaftliche Vorteile zu ziehen. (3) Sie sollen außertherapeutische Kontakte zu Patientinnen und Patienten gering halten und so gestalten, dass sie die therapeutische Beziehung und die eigene Unabhängigkeit nicht beeinträchtigen. (4) Sexuelle Kontakte zu Patientinnen und Patienten sind unzulässig. (5) Die Abstinenz muss auch gegenüber Personen eingehalten werden, die den Patientinnen und Patienten nahe stehen. (6) Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten steht für ihre Arbeit nur das gesetzliche oder vereinbarte Honorar zu. Sie dürfen im Rahmen ihrer psycho-therapeutischen Tätigkeit keine Geschenke annehmen, deren Wert den einer kleinen Aufmerksamkeit übersteigt. Sie dürfen nicht direkt oder indirekt Nutznießer größerer Schenkungen, Erbschaften, Erbverträge oder Vermächtnisse von Patientinnen und Patienten oder diesen nahe stehenden Personen werden und haben diese abzulehnen. (7) Sie dürfen im Zusammenhang mit der Ausübung ihres Berufs keine Waren verkaufen oder gewerbliche Dienstleistungen erbringen. (8) Das Abstinenzgebot gilt auch für die Zeit nach Beendigung der Psychotherapie, solange noch eine Behandlungsnotwendigkeit, eine Abhängigkeitsbeziehung oder ein Übertragungsgeschehen des Patienten zum Psychotherapeuten gegeben ist, und ist für mindestens ein Jahr einzuhalten. Die Verantwortung für ein berufsethisch einwandfreies Vorgehen trägt allein der behandelnde Psychotherapeut. http://www.rechtspsychologie-halle.de 88 Berufsrechtliche Folgen • berufsgerichtliche Verfahren nach den Heilberufsgesetzen • Rüge • Geldbuße • Entziehen des aktiven oder/und passiven Berufswahlrechtes • Feststellung der Berufsunwürdigkeit • Widerruf der Approbation http://www.rechtspsychologie-halle.de 89 Abstinenz nach Beendigung des Behandlungsverhältnisses • eigene Regelung in den Berufsordnungen • sehr uneinheitlich (z.B. Baden-Württemberg: auf drei Jahre; in Niedersachsen keine Erwähnung; in Muster-Berufsordnung: 1 Jahr für „private Kontakte“) • Abstinenz ohne zeitliche Angaben auf nach Beendigung erstreckt oder anhand der Behandlungsnotwendigkeit bzw. der Abhängigkeitsbeziehung von Patient zu Therapeut konkretisiert • Würdigung des Einzelfalls (entscheidend: Abhängigkeitsverhältnis) notwendig; Abwägung der Interessen, Patientenschutz sowie Freiheitsrechte (auch des Behandelnden) • zudem: Begriff „privater Kontakt“ als Auslegungssache http://www.rechtspsychologie-halle.de 90 Zivilrecht § 611 BGB Vertragstypische Pflichten beim Dienstvertrag (1) Durch den Dienstvertrag wird derjenige, welcher Dienste zusagt, zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Teil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. (2) Gegenstand des Dienstvertrags können Dienste jeder Art sein. • • Behandlung nach allgemeinen Regeln der psychotherapeutischen Wissenschaft dazu gehört Abstinenzgebot sexuelle Übergriffe im Rahmen einer Therapie: Pflichtverletzungen nach §§ 280 ff. BGB (wenn als Behandlungsfehler bestimmt) § 280 BGB Schadensersatz wegen Pflichtverletzung (1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. (2) Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger nur unter der zusätzlichen Voraussetzung des § 286 verlangen. (3) Schadensersatz statt der Leistung kann der Gläubiger nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 281, des § 282 oder des § 283 verlangen. • Gesundheitsschädigung nach § 823 Abs 1. BGB http://www.rechtspsychologie-halle.de 91 Zivilrecht • Haftung des Behandlers ergibt sich aus § 823 Abs 2. BGB zivilrechtliche Haftung für Verletzung von Schutzgesetzen § 823 Schadensersatzpflicht (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. (2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein. • Verstoß gegen §174 c StGB und gegen die Berufsordnung als Schutzgesetze gleichzeitig zivilrechtliche Folgen • entsprechend der Regelungen in Berufsordnung auch NACH Beendigung des Therapieverhältnisses http://www.rechtspsychologie-halle.de 92 Zivilrechtliche Folgen • • • • • • Patient: Anspruch auf Schadensersatz Behandlung der durch Missbrauch entstandenen möglichen psychischen Folgeschäden sowie weitere Behandlung der ursprünglichen psychischen Probleme (§§ 249 ff. BGB ) Ersatz der materiellen und immateriellen Schäden in Folge der Gesundheitsschäden (§ 823 I, II BGB i.V.m. §174 c II StGB) Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeld (§ 253 II i.V.m. § 823 I, II BGB) bei vorzeitigem Abbruch durch Patienten kein Vergütungsanspruch des Therapeuten vorausgezahltes Honorar kann in voller Höhe zurückgefordert werden (§ 628 bzw. §§ 627, 346 BGB) bei vertragsmäßiger Beendigung und Aufnahme einer sexuellen Beziehung im Rahmen der Therapie Anspruch auf Rückforderung des Honorars ab Beginn der sexuellen Kontakte ( § 813 I, § 812 I S.1, 1. Alt. BGB); aber kein Vergütungsanspruch des Therapeuten (§242 BGB): Therapeut verhielt sich grob vertragsund treuwidrig; sexuelle Handlungen im Widerspruch zu geschuldeter Leistung und Zweck des Therapievertrages § 242 Leistung nach Treu und Glauben Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Unterlassung von Störungen, wenn noch rechtswidrige Beeinträchtigungen des ehemaligen Patienten durch den Behandler erfolgen (§§ 823 Abs. 1 und 1004 BGB) http://www.rechtspsychologie-halle.de 93 Zivilrechtliche Folgen nach Beendigung des Therapieverhältnisses • aus zivilrechtlicher Sicht kann kein Behandlungsfehler mehr angenommen werden • Abstinenz betrifft hier Pflicht in Bezug auf Beziehung außerhalb der Behandlung positive Vertragsverletzung ergibt sich aus nachvertraglichen Pflicht, dass Vertragspartner alles unterlassen müssen, welches Vertragszweck gefährden könnte • fraglich, ob sexuelle Kontakte nach der Therapie diese Gefährdung darstellen • für Bestimmung der andauernden Wirkung des Abstinenzgebotes nach Behandlung ist Feststellung eines andauernden Abhängigkeitsverhältnisses (objektiv schwer bestimmbar) daher Bezug auf Geltung des Abstinenzgebotes nach Beendigung der Therapie in den Berufsordnungen http://www.rechtspsychologie-halle.de 94 Prävention und Reaktion http://www.rechtspsychologie-halle.de 95 „Um kompetentere Therapeuten/innen zu haben, müßte in der Ausbildung viel offener mit erotischen Gegenübertragungsgefühlen und sexuellen „Fallstricken“ umgegangen werden.“ (Becker-Fischer, 1997) http://www.rechtspsychologie-halle.de 96 Problem: Gesellschaftliches Tabu (Tschan, 2001) • • • • • • • • • Bagatellisierung und Schuldzuweisungen feste Rollenvorstellungen männlich geprägte Gesellschaft Identifikation mit Opfer wird vermieden (da so Konfrontation mit Wut, Resignation, Schmerz..) Tabuisierung von Sexualität und der Machtverhältnisse kollektive Abwehrhaltung Situation wird heruntergespielt Opfer wird nicht als solches wahrgenommen keine Unterstützung oder Hilfe Extremfall: Umkehr/Umdeutung Schuld auf Seiten des Opfers auch: auf Grund Rollenvorstellungen werden männliche Opfer noch weniger wahr/ernstgenommen Anzeigebereitschaft und Problembewusstsein noch geringer seit Einführung des § 174 c StGB zunehmende Sensibilisierung und Öffentlichmachung; jedoch nicht ausreichend http://www.rechtspsychologie-halle.de 97 aktuelle Situation Ergebnisse einer anonymen Online-Befragung (2006) unter 71 Mitgliedern (51 w, 20 m) des VFP Frage Frauen % Männer % Keine Aufklärung über § 174 c StGB 53 20 Abstinenzgebot in Ausbildung gar nicht behandelt 29 20 Thema „sexuelle Übergriffe in Psychotherapie“ gar nicht in Ausbildung behandelt 47 20 Thema „sexuelle Übergriffe in Psychotherapie“ unzureichend in Ausbildung behandelt 16 10 „Sexualität im Umgang mit eigenen erotischen Gefühlen und Gedanken im therapeutischen Kontext“ als Modulinhalt gar nicht behandelt 71 25 (+20% Enthaltung) http://www.rechtspsychologie-halle.de 98 Frage % der Bejahungen Gefühl, je eine sexuelle Grenze überschritten zu Einmalig: 29 (heterogeschlechtlich) haben (verbal, gedanklich, körperlich) Einmalig: 32 (homogeschlechtlich) Mehrmalig: 22 Je einen Patienten in Folgetherapie gehabt Einmalig: 23 Häufiger: 18 Anregungen, Wünsche und Forderungen der Befragten (ausgewählte Ergebnisse) Mehr Aufklärung und Information in Ausbildung Sensibilisierung, intensive Behandlung und Selbsterfahrung Supervision (auch gesetzlich verpflichtend) Für eigene bewusst ausgelebte Sexualität außerhalb der Therapie sorgen „ausgereifte“ Schulungsangebote, Pflichtseminare, Vorträge Erfahrungsaustausch mit Dozenten, erfahrenen Kollegen Einrichtung von Qualitätsmanagement (für 25% sehr wichtig) und Prüfungskomissionen Stärkung der Opfer Verpflichtende Texte im Erstgespräch mit Hinweisen auf Merkmale sexueller Übergriffe Selbstreflexion (vllt. Eigentherapie) über eigenes Verhalten, Auseinandersetzung mit Übertragung und Gegenübertragung, sexuelle Zufriedenheit herstellen http://www.rechtspsychologie-halle.de 99 Aus- und Weiterbildung (Tschan, 2001) • • „Sexueller Missbrauch“ als curricular eingebundene Thematik notwendig Vermittlung der nötigen Grundkenntnisse (Abstinenzgebot, §174 c StGB, Umgang mit eigenen Gefühlen, was sind sexuelle Grenzüberschreitungen…) • • • kontinuierliche Fortbildungen, mehrere (!) Veranstaltungen diese obligatorisch gestalten Bereitstellung der notwendigen Ressourcen und Errichtung einer informierten und für dieses Thema sensibilisierten Kultur durch Berufsorganisationen und Institutionen • Thematisierung früherer Traumatisierungen der Auszubildenden • Hinweise auf missbrauchsfördernde Schwachstellen und Rechtfertigungsstrategien in den verschiedenen Therapierichtungen finden und aufklären (Becker-Fischer et al., 2008) (z.B. sexuelle Maßnahmen in VT als therapeutische Notwendigkeit gerechtfertigt) • Modelle: – Maryland Departement of Health and Mental Hygiene (USA) – AGAVA (Schweiz) http://www.rechtspsychologie-halle.de 100 Selbsterfahrung, Supervision und kollegiale Netzwerke (Tschan, 2001) • Problem: Tabuisierung der sexuellen Gefühle ggü. Patienten + der persönlichen Probleme und Krisen • Anschein, Fachleute würden von sich absolute Problemlosigkeit fordern müssen • Angst vor Hilfe von Kollegen, aufgrund von Vertraulichkeitsbrüchen und mgl. beruflichen Schwierigkeiten sowie Ablehnung und Unverständnis zum Zeitpunkt sexueller Grenzüberschreitungen haben viele Therapeuten Krisen und persönliche Probleme diesen sollte mehr Beachtung geschenkt werden • • • • • • • • Vorbild USA: Selbsthilfegruppen von gefährdeten Therapeuten kollegialer Austausch und Supervision unumgänglich, insbesondere für belastete Therapeuten oft: keine Wahrnehmung und Bewusstwerdung eigener Grenzen der Belastbarkeit und der subtilen anfänglichen Grenzüberschreitungen wichtig: Sensibilität der Probleme von Kollegen Arbeitsatmosphäre, in der offen über Krisen und Schwierigkeiten geredet werden kann Vorurteile und Stereotypen vermeiden Supervision durch externe Fachleute wichtig, doch Supervision durch Kollegen noch wichtiger (da diese ständig vorhanden) bei Kollegen, die potentiell Grenzen überschreiten könnten: Gespräch suchen und zusammen mit diesem Maßnahmen einleiten; Hilfe anbieten, ohne zu verurteilen http://www.rechtspsychologie-halle.de 101 Selbsterfahrung, Supervision und kollegiale Netzwerke (Tschan, 2001) • Pope (1987; bei Becker-Fischer et al., 2008): optimal, wenn Therapeuten in Risikosituationen kollegiale Supervision aufnähmen sowie Beginn individueller Therapie • Zweck: Aufklärung über Thematik, Einfühlung in die Lage der Patienten (da oft Empathiemangel missbrauchender Therapeuten aufgrund ihres Alleingelassenseins mit eigenen Problemen), Einüben Selbstkontrolltechniken und Wissen über Gegenübertragung, Schwierigkeiten frühzeitig erkennen und effektive Lösungsstrategien erarbeiten • Ziel: Selbstorganisation und selbstverantwortliches Handeln im Sinne der Berufspflichten • Supervisions- und spezielle Übungsgruppen zum Thema Selbst-und Fremdwahrnehmung notwendig Einzel- oder Teamsupervision Anforderung an Supervisoren und Ausbilder: • • – – – – umfangreiche Kenntnisse über Psychopathologie der Täter Fähigkeit Warnsignale frühzeitig zu erkennen und zu reagieren (nicht zu bagatellisieren) oft Tendenzen zu ersten Grenzüberschreitungen bereits in Ausbildung erkennbar! bewusst machen: Gefühle sind durchaus normal der adäquate Umgang mit ihnen ist wichtig http://www.rechtspsychologie-halle.de 102 Selbsterfahrung, Supervision und kollegiale Netzwerke (Tschan, 2001) • innerhalb Supervision muss Bereitschaft bestehen Probleme offen anzusprechen (ohne verurteilende Blicke) • Programme nur bei „gesunden“ Therapeuten hilfreich, die sexuellen Missbrauch verhindern und vorbeugen wollen • bei Therapeuten mit Persönlichkeits-und Verhaltensstörungen eher ohne Erfolge hier Prävention in Ausbildung wichtig, um solche Personen zu erkennen • es gilt: Supervision kann sexuelle Missbräuche NICHT verhindern • kein Kontrollinstrument bei tätlich gewordenen Therapeuten • einzige Kontrollmöglichkeit: Therapeut und Patient http://www.rechtspsychologie-halle.de 103 Täterberatung – Assessment und Rehabilitation (Tschan, 2001) • Grundregel: Beratung und Behandlung von Täter und Opfer strikt trennen • Problemeinsicht und Verantwortungsübernahme seitens Therapeut als Voraussetzung zur Rehabilitation • Problem: nicht alle Tätertherapeuten sind rehabilitierbar • Behandlung ist auf Persönlichkeit des Täters und Art seines Vergehens abzustimmen und dahingehend auszuwählen • zwei Schritte: Assessment und Rehabilitation http://www.rechtspsychologie-halle.de 104 Täterberatung – Assessment und Rehabilitation (Tschan, 2001) Assessment • • • Beurteilung und Evaluation Verfahren, ob ein Täter therapierbar ist und nach Behandlung seinen Beruf ohne Wiederholungsgefahr ausüben kann dauert ca. 2-3 Tage Inhalte: – – – – – – – gründliche biographische, psychiatrische und Sexualanamnese Substanzmittelmissbräuche welche Strategien und Annäherungstaktiken werden verwendet? (grooming) Delikt und Deliktablauf psychologische Testverfahren zu Intelligenz und Persönlichkeit Erfassen der Kooperationsbereitschaft und damit der Fähigkeit zur Rehabilitation allgemeinmedizinische Untersuchung zu endokrinologischen Parametern und Schädel-Gehirn-CTs http://www.rechtspsychologie-halle.de 105 Täterberatung – Assessment und Rehabilitation (Tschan, 2001) • Assessment in Europa ein Novum: hier eher strafrechtliche Sanktionen, Maßnahmen wie Supervision, Ermahnungen und milde Bußen sowie ständiges Misstrauen • grundsätzlich Anwendung von Disziplinarmaßnahmen mit folgenden Zielen: – Durchsetzung von Berufsrichtlinien und Dokumentation, dass sexuelle Missbräuche nicht geduldet werden – Abschreckung anderer Fachleute – Verhinderung von Wiederholungstaten – fachliche Integrität der Berufsorganisation oder Institution nach außen hin zu wahren • solche Maßnahmen dienen nicht der Rehabilitation und verfehlen Zweck oft, da ohne innere Überzeugung und wirklicher Aufarbeitung der Problematik http://www.rechtspsychologie-halle.de 106 Täterberatung – Assessment und Rehabilitation (Tschan, 2001) Rehabilitation • • keine Bestrafung, sondern Chance und Rückfallprophylaxe Prämissen: – – – Verhinderung weiterer Fälle von sexuellem Missbrauch persönliche berufliche Rehabilitation rechtliche Absicherung für Institution und Berufsorganisation • Gestaltung nach kognitiv-verhaltenstherapeutischen, suchttherapeutischen und psychodynamischen Konzepten • • • • • Voraussetzung: positive Evaluation des Assessments danach Suche nach geeigneter Fachperson zur Durchführung und den Arbeitgeber in Kenntnis setzen Erstellung des Programms auf individuellen Täter minimale Behandlungsdauer: entspricht 25-30 Doppellektionen populärstes Behandlungsprogramm: Boundary-Programm (bisher v.a. in USA) • am Ende erneute Evaluation bzgl. Behandlungserfolg durch Rehabilitationsspezialisten (da viele Täter sich doch nicht verändern wollen oder können keine positive Abschlussbeurteilung) berufliche Rehabilitation mit hohen emotionalen und kognitiven Anforderungen und finanziellen Aufwendungen verbunden bei negativer Abschlussbeurteilung: Berufsverbot oder max. Berufsausübung unter engmaschiger Supervision Rückfallquote generell sehr gering nach erfolgreicher Rehabilitation • • • http://www.rechtspsychologie-halle.de 107 Verhalten beim Verspüren eigener Intentionen und bei Angeboten 2 Möglichkeiten: 1) angemessen: Therapieverhältnis sofort beenden und an anderen Kollegen überweisen • Problem und seine Gefühle offenlegen (vor Kollegen) und Hilfe bei Beratungsstellen suchen + vllt. eigene Therapie (als Präventionsmaßnahme) 2) Therapie aufrechterhalten, dabei Übungen zu Grenzproblemen durchführen und Befriedigung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse außerhalb der Therapie suchen (erfordert Selbstdisziplin und Selbstorganisation!) • Gefühle des Patienten thematisieren und klarstellen, dass auf diese nicht eingegangen wird • mögliche Übungen (siehe Boundary Programm) : – – – – – private und professionelle Beziehungen Was ist ok, was nicht? Ist dies immer so? Wie ist ein Klient zu verführen bzw. wie sicher nicht? Wie bin ich selbst verführbar? http://www.rechtspsychologie-halle.de 108 Prävention • • • • • • • • erster Schritt: Existenz des Problems muss anerkannt und anerkannt werden Wissensvermittlung und Sensibilisierung in Gesellschaft und Aus-und Fortbildung klare juristische Regelungen (ohne Rechtslücken) klar berufliche Ordnungen (Einheitlichkeit herstellen) Opferschutz und Konsequenzen ernst nehmen gesellschaftliche Berücksichtigung als Notwendigkeit für das Opfer Verantwortung von öffentlichen Behörden, Ausbildungsinstituten, Universitäten etc. präventiv in der Ausbildung zu handeln interdisziplinäre Arbeit bei der Aufklärung (da Übergriffssituationen und Konsequenzen in allen Berufsgruppen vergleichbar) interdisziplinäre Arbeit bei der Maßnahmenerarbeitung zur Verminderung sexueller Übergriffe Ziel sollte nicht die gänzliche Verhinderung sein (nicht möglich), sondern eine deutliche Reduzierung mehr Veröffentlichungen in Medien und Fachliteratur zu dieser Thematik erhöhte Aufmerksamkeit erhöhter Forschungsbedarf erhöhtes öffentliches Ausmaß http://www.rechtspsychologie-halle.de 109 Prävention beim Opfer (Tschan, 2001) • oberstes Ziel: Einwirken auf allen Präventionsebenen 1) primäre Prävention: zur Verhinderung der Taten und entsprechend des Traumas an sich 2) sekundäre Prävention: Milderung der Folgen einer Traumatisierung (z.B. Notfallversorgung in Krisenzentren) 3) tertiäre Prävention: langfristige Erhaltung und Stärkung der eigenen Ressourcen (z.B. Folgetherapien und berufliche Rehabilitationen) http://www.rechtspsychologie-halle.de 110 Prävention (Tschan, 2001) • präventives Einwirken auf Individuum, Kleingruppen (Fachleute), Gesellschaft • Förderung der Forschung zu Traumata, Konversionsstörungen, Symptomatik Aufbau einer effektiveren Intervention • Gewaltprävention im Kindesalter (Verhinderung einer Gewaltspirale) • Auseinandersetzung mit Sexualität und geschlechtsspezifischen Problemen http://www.rechtspsychologie-halle.de 111 Opferberatung und Opferhilfe • • Opfer sollte mit „Politik der offenen Tür“ begegnet werden Gefühl geben, dass Problem anerkannt und ernst genommen wird gesellschaftliche Akzeptanz notwendig Bewältigungshilfen (Becker-Fischer et al., 2008): • • • besonders hilfreich: Gespräche mit Vertrauenspersonen aus sozialem Umfeld aber: Gespräche mit Lebenspartner als weniger hilfreich und besonders schwierig empfunden (machen Opfer oft Vorwürfe), sollten daher mit Hilfe eines fachlich geschulten Dritten erfolgen Selbsthilfegruppen und soziale Netzwerke – – – • • • • Vorteile: Durchführung von Bewältigungsstrategien wie Auflösung der Isolation; Informationen und Erfahrungsaustausch zum Abbau von Schuld- und Schamgefühlen; Bewusstmachung, dass Therapeut verantwortlich war und man mit dem Problem nicht alleine steht; Vernetzungen zu Folgetherapeuten, ehemaligen Patientinnen etc. insbesondere in Anfangsphase wichtig und bei Patienten mit erhöhtem Misstrauen Vernetzungen hilfreich um Wiederholungstäter einzukreisen eintägige Workshops unter fachlicher Anleitung und mit klarer Struktur (z.B. Dish, 1989) offene Gruppen ohne Leitung durch Fachleute Soziales Engagement und juristische Schritte gegen den Täter als „Empowerment“ Aktives Engagement für die Thematik und Aufklärungsarbeit in Öffentlichkeit insbesondere beiden letzten Schritte helfen aus Ohnmachtsgefühlen und Hilflosigkeit heraus, doch: Gefahr der Retraumatisierung stets gegeben http://www.rechtspsychologie-halle.de 112 Konfrontation mit dem Tätertherapeut – notwendig oder unzumutbar? (Becker-Fischer et al., 2008) • • • Konfrontation oder Vermittlung: Gespräche zwischen Patient und Ersttherapeuten in Anwesenheit von mind. 1 (besser 2) neutralen Personen Frage nach Vermittlungsgespräch sollte aktiv in erster Phase einer Folgetherapie thematisiert werden viele Patienten äußern Wunsch nach Konfrontation; Gründe: – oft noch tiefe Verbundenheit zum Ersttherapeuten sowie undeutliche Hoffnungen idealisierte Beziehung wieder aufzunehmen – diffuse Hoffnung, alles würde wieder gut werden und es würde sich eine echte Beziehung entwickeln können – Ungeschehenmachen des Traumas – Rache- und Wutimpulse – Fixierung an illusionäre narzisstische Aufwertung, Patienten fühlen sich ohne Zuwendung durch Therapeut wertlos in diesen Fällen sollte von Konfrontation abgeraten werden http://www.rechtspsychologie-halle.de 113 Konfrontation mit dem Tätertherapeut – notwendig oder unzumutbar? (Becker-Fischer et al., 2008) • weitere Gründe: Klärung von Verwicklungen, Feststellung von Tatsachen, Realisieren des Geschehens • Motive dafür können sein (nach Schoener & Milgrom, 1989, bei Tschan, 2001): – – – – – gewisses Maß an Kontrolle wiedererlangen Beschwerden über Therapie und Therapeuten durchdenken erfahren, welche Erklärungen Therapeut für sein Verhalten hat Entwicklung und Prozess der sexuellen Beziehung verstehen Therapeut die Konsequenzen schildern (in Gegenwart Dritter) um ihn zu Verantwortungsübernahmen zu bewegen • hilfreich dafür: „Processing-Sessions“ (Konfrontation) mit Ziel Patient zu besserem Verständnis der Situation und eigener Gefühle zu verhelfen http://www.rechtspsychologie-halle.de 114 Konfrontation mit dem Tätertherapeut – notwendig oder unzumutbar? (Becker-Fischer et al., 2008) • andere Gestaltungsmethode für Konfrontationsgespräche: Mediation (Vermittlung) • Ziel: Einigung über Schadenswiedergutmachung durch Ersttherapeut oder freiwillige Rehabilitation • grundsätzlich gilt: – Entscheidung für Gespräch sollte von Patient ausgehen – Patient sollte stabil und bereit dafür sein (da sonst allzu schnell mit Realität konfrontiert und Patient vllt. erkennen muss, dass er/sie nur ein „Sexobjekt“ darstellte) – stabile Beziehung zum Folgetherapeuten http://www.rechtspsychologie-halle.de 115 Warum schweigen Opfer? • Schamgefühle • Schuldgefühle – Opfer suchen Fehler bei sich, wollen sich nicht eingestehen „völlig ausgeliefert gewesen zu sein“ • Druck durch Täter, die Tat geheimzuhalten • Angst (auf Grund früherer Erfahrungen), niemand würde einem glauben • „Liebes-Patriarchat“ männlich geprägte Gesellschaft tarnt ungerechte Strukturen als Liebe; Bagatellisierung der Tat (auch auf Seiten des (weiblichen) Opfers) http://www.rechtspsychologie-halle.de 116 Reaktionen des Opfers Wheel of Options (J. Milgrom, 1989; bei Steuerungsgruppe PABS, 2004): • • • • • • • • • • • • nichts tun Zivilrechtliche Klagen, Schadenersatz, Genugtuung Meldung an die Aufsichtsbehörden Kontaktaufnahme mit dem Täter auf eigene Initiative Außergerichtliche finanzielle Abmachungen Strafrechtliche Klage Meldung an staatliche Behörden: Staatsanwaltschaft, Ermittlungsbehörden Meldung an Vorgesetzte im Falle von Anstellungsverhältnissen Beschwerde an Fachverband und Anrufung von Verbandsgerichten Kompensationen aus Opfer-Hilfe-Gesetzgebung Konfrontationsgespräche unter Mitwirkung einer Vertrauensperson Einzel- oder Gruppentherapien http://www.rechtspsychologie-halle.de 117 Beratung und Aufgaben von Berufsverbänden, Gesellschaften und Arbeitgebern • • • • • • • • • • • • Kulturarbeit im eigenen Betrieb Änderungen von Einstellungen, Überzeugungen und Haltungen sexuelle Themen zur Sprache bringen und Formulierungen finden, Verhaltenskodex erstellen, Tabuthema aufheben konstruktiv Beschwerden und Verdachtsmomente nutzen sowie Betroffene ernstnehmen Dialog und Überzeugungsarbeit leisten, dass bisherige Reaktionen ungenügend sind (Tschan, 2001) Aufgaben: Probleme wahrnehmen und geeignete Maßnahmen einleiten bzw. Präventionsmaßnahmen erarbeiten und in Berufsstruktur implementieren Erarbeitung von Richtlinien (z.B. Berufsordnung) wichtig: Schaffung von Beratungsstellen für Opfer, Angehörige und die Täter (bzw. potentielle) psychotherapeutische und juristische Beratung vorwiegend weibliche Mitarbeiter (aufgrund vorwiegend weiblicher Opfer) besondere Schulung der Mitarbeiter hinsichtlich PSM und Beziehungstraumen (für Opfer) bzw. Erfahrung und Kenntnisse im Umgang mit Täter“kollegen“ weiterhin Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen Einrichtung von Monitoring zur Überwachung von Fachleuten Kontaktaufnahme soll erleichtert werden, durch einfache und anonymisierte Zugangsweise (z.B. Online), darüber auch Antwort und Beratung seitens der Beratungsstellen international erfolgreichstes Beratungsangebot: www.advocateweb.org (allgemeine Informationsplattform für alle Aspekte zum Missbrauch durch Fachleute, inkl. Beratung und Forum) http://www.rechtspsychologie-halle.de 118 Boundary Programm (Werner Tschan, ab 2000; seit 1986) • kognitiv-verhaltenstherapeutisches und psychoedukatives Rehabilitationsprogramm von Tätertherapeuten • auch zur Ausbildung und kontinuierlichen Fortbildung geeignet Qualitätssicherung • für Auszubildende, Personen, die im Begriff sind Grenzen zu überschreiten und bereits Schuldige • für jegliche Berufsgruppen, in denen Beziehung eine strukturelle Abhängigkeit aufweist • „Training für sensiblen Umgang mit Grenzen“ • erfolgreicher Einsatz in den USA Rückfallquote über Beobachtungszeitraum von 7 Jahren unter 1% • im europäischen Raum noch selten http://www.rechtspsychologie-halle.de 119 Boundary Programm -Durchführung • • • • Kleingruppen interaktive Workshops verstärkter Erfahrungsaustausch komplexer Einsatz von Medien • • 24 Module 20-30 Doppelsitzungen (individuelle Verlängerung möglich) • • notwendig: auffangendes, verständnisvolles, lehrreiches Klima ohne Schuldzuweisungen und Ächtungen Voraussetzung seitens Teilnehmer: Einsicht ein Problem zu haben; Notwendigkeit einer Teilnahme am Programm bewusst sein; Veränderungsmotivation Arbeitsinstrumente: • Fragebogen • Fallvignetten • Übungen zu Grenzproblemen • Psychotraumatologie • Epidemiologie (aktuelle Forschung zu Häufigkeit und Ablauf des PSM) • grooming, manipulative Verhaltensmuster erkennen • der Täterkreis • Videopräsentation eines Täters • persönliche und rechtliche Konsequenzen • Konsequenzen für die Berufsorganisation und Institution http://www.rechtspsychologie-halle.de 120 Boundary Programm -Durchführung Kernthemen: • Verantwortungsübernahme • vorausgehende und begleitende Fantasien • kognitive Devianzen • persönliche Probleme und situative Auslöser • Substanzmittelabhängigkeiten • fachbezogenes Wissen, Kompetenzen, Einstellungen • Planung der Tat und das prozesshafte Geschehen vor der Tat • Wissen über Grenzen und Grenzüberschreitungen, Entstehungsweise, Voraussetzungen und Konsequenzen (persönlich, rechtlich) • Wissen über Traumatisierung • Empathie mit Opfer (früher auch: Konfrontation mit Opfer) • Fehlen der internen und externen Hemmungsmechanismen • Rückfallprophylaxe auch: • persönliche und berufliche Ziele • Aggressions-und Stressmanagement • Ausgeglichenheit im Arbeitsleben http://www.rechtspsychologie-halle.de 121 Module http://www.rechtspsychologie-halle.de 122 Basis: 3-Säulen-Modell (Medizinische Gesellschaft Basel) Prophylaxe curriculare Integration der Problematik in Ausund Weiterbildung Konsequenzen zero-tolerancestandard (Cullen, 1999) unmittelbarer Entzug der Approbation UND Teilnahme an Behandlungsprogramm http://www.rechtspsychologie-halle.de Hilfe Beratungsmöglichkeit für Betroffene herstellen; reporting und Problemeinsicht als notwendige Voraussetzung 123 Die Nachfolgetherapie als besondere Schwierigkeit (Becker-Fischer et al., 2008) die Aufarbeitung des PMT birgt besondere Schwierigkeit in Folgetherapien : • Unterscheidung zwischen Arbeitsbündnis und Übertragung erreichen „Optimale Differenz“ (auch zur Ersttherapie), statt „minimaler Differenz“, da Patienten oft negative Beziehungserfahrungen auf neue Therapiesituation übertragen und generelles Misstrauen entwickelt haben • Grundsätze: 100% Transparenz in Bezug auf weitere Schritte; „informed consent“ (gegenseitig unterzeichneter Arbeitsvertrag); Kontrolle den Opfern überlassen; Gesprächsort als Ort der Sicherheit gestalten; Aufrichtigkeit; Aufbau Vertrauensverhältnis; Ermutigung der Patientin, kritische Gedanken gegenüber Folgetherapeut jederzeit einbringen zu können; klare, empathisch vermittelte Grenzen • Formen der Folgetherapie: – – – – – Einzeltherapie Gruppentherapien (weniger soziale Isolierung und Erfahrungsaustausch) Paartherapien (da Partner von Betroffenen oft „Schocktrauma“ erleiden und es zu Entfremdung und Beziehungsauflösungen kommen kann) Therapie der Kinder von Betroffenen ! sollten keine Angehörigen existieren, muss Fokus auf soziale Reintegration des Patienten gelegt werden http://www.rechtspsychologie-halle.de 124 Die Nachfolgetherapie (Becker-Fischer et al., 2008) primäre Ziele in Folgetherapie : 1. Aufarbeitung der traumatischen Aktualerfahrung 2. Aufarbeitung jener primären Störung, die zur Ersttherapie führte http://www.rechtspsychologie-halle.de 125 Die Nachfolgetherapie (Becker-Fischer et al., 2008) Grundregeln für Folgetherapien: – Berücksichtigung der besonderen Situation der Pat. – Berücksichtigung der besonderen Situation der Folgethp. – Berücksichtigung hilfreicher vs. hinderlicher Haltungen in Folgetherapien Regeln für die therapeutische Aufarbeitung des PMT: 1. Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung (Differenzierung zw. Arbeitsbündnis und Übertragungsbeziehung; optimale Differenz zur Ersttherapie) 2. Aufarbeitung der traumatischen Aktualerfahrung 3. Aufarbeitung jener primären Störung, die zur Ersttherapie führte 4. Allgemeine Regeln der Traumatherapie beachten: „Prinzip der Normalität“ 5. Typische Übertragungskonstellation beim Durcharbeiten des PMT beachten http://www.rechtspsychologie-halle.de 126 mögliche Probleme in der Nachfolgetherapie (Becker-Fischer et al., 2008) „Kollegialität“ der Folgetherapeuten als Problem – Eigenübertragungsgefühle – Wut und Empörung über Ersttherapeut – Mitgefühl und Bedauern mit Ersttherapeut – Bedürfnis nach dissonanzfreier Informationslage – Angst vor dem Tätertherapeuten (durch Opfer und durch Folgetherapeut) http://www.rechtspsychologie-halle.de 127 mögliche Probleme in der Nachfolgetherapie (Becker-Fischer et al., 2008) Förderliche und hinderliche Haltungen und Einstellungen vom Folgetherapeut förderlich (laut Patientenbefragungen): •klare Position des Folgetherapeuten •verständnisvolle Haltung des Folgetherapeuten •klare Haltung zum Vorfall als Missbrauch •klare, vom Therapeuten respektierte Grenzen •Missverständnisse sind klärbar •Sicherheit, dass kein sexueller Kontakt vorkommt •Verständnis für positive Gefühle gegenüber Ersttherapeut •Therapeut vermittelt Anteilnahme, Sorge, Empathie, Mitleid •Patient wird nicht für Viktimisierung verantwortlich gemacht •Therapeut hilft sexuelle Kontakte und Verbundenheit zum Ersttherapeuten zu beenden und reagiert nicht schockiert auf Eröffnung der sexuellen Kontakt • hinderlich: •Therapeut glaubt Patient nicht und hält Erzählungen für Fantasien •Tat wird bagatellisiert und als nicht schädigend dargestellt •Verschreibung zu vieler Medikamente •Patient wird Schuld gegeben und unterstellt das Geschehen genossen zu haben •Therapeut ist schockiert und abgestoßen von Eröffnung der sexuellen Beziehungen weiterhin wichtig: parteiliche Abstinenz des Folgetherapeuten (Abstinenz ja, doch keine Neutralität im Sinne völliger Unparteilichkeit; sowie klare Stellungnahme und Engagement für Interventions- und Präventionsmaßnahmen in Öffentlichkeit) Ehrlichkeit des Therapeuten http://www.rechtspsychologie-halle.de 128 mögliche Probleme in der Nachfolgetherapie (Becker-Fischer et al., 2008) Typische Übertragungskonstellationen beim Durcharbeiten des PMT Wiederholungszwänge hinsichtlich: – Grenzüberschreitungen Patient hat hohe Erwartungshaltung an Folgetherapeut und mögliche abgespaltene Wut (sofern Patient an Beziehung zum Ersttherapeuten festhält) – Provokationen durch Patient (Folgetherapeut sei herzlos, rigide an Grenzen festhaltend, nicht empathisch; Ersttherapeut sei hilfreich, empathisch, fürsorglich) Grund: Wunsch nach erneuter narzisstischer Aufwertung und unbewusster Test auf Grenzeinhaltung durch Folgetherapeut – typische Gegenübertragungsgefühle in Folgetherapie: Größen-und Rettungsfantasien – Verliebtheitsgefühle und sexuelle Wünsche seitens Patient (als Wiederholung der Beziehung zum Ersttherapeut) http://www.rechtspsychologie-halle.de 129 Schutz des Patienten (nach Becker-Fischer et al., 2008) • Hauptprinzipien: Tue das Beste für deinen Patienten! Schädige deinen Patienten nicht! • Aufgabe einer Psychotherapie: seelisches Leiden oder seelisch verursachte körperliche Erkrankungen lindern bzw. heilen • Primat: Patient und seine Leiden und Bedürfnisse • Bedürfnisse und Wünsche des Therapeuten ohne Belang http://www.rechtspsychologie-halle.de 130 Schutz des Patienten (nach Becker-Fischer et al., 2008) Basisregeln der Psychotherapie – vor Beginn klare Absprachen über Rahmenbedingungen und angewandte Therapiemethoden (Ort, Dauer und Häufigkeiten der Sitzungen, voraussichtliche Gesamtbehandlungsdauer, Art und Höhe der Bezahlung, Bestandteile der Therapie und ihr Sinn (z.B. im Sitzen oder Liegen, Medikamente, notwendige Körperkontakte..), Sinn, Möglichkeiten und Grenzen der Therapiemethode – Patient muss über alles informiert werden, Informationen verstehen und Einverständnis geben – Veränderungen bedürfen fundierter Begründung durch Therapeuten – Patienten haben Recht und Pflicht auf Nachfragen und Hinterfragen – thematisiert werden muss weiterhin: – Machtgefälle und Fachkompetenz des Therapeuten – starke Bindung an Therapeut und mögliche Gefühle, die auftreten können – Therapeut muss private Angelegenheiten und Bedürfnisse strikt aus Behandlung herauslassen http://www.rechtspsychologie-halle.de 131 Schutz des Patienten (nach Becker-Fischer et al., 2008) Rechte der Patienten – genaue Informationen über Rahmenbedingungen – vollständiges Verständnis dieser Informationen – Information über Veränderung der Rahmenbedingungen mit Recht auf Begründungen und Thematisierung möglicher Konsequenzen – bei Unklarheiten, Befangenheit, Unbehagen etc. muss stets darüber offen gesprochen werden können – bei ausbleibender Klärung: Heranziehen von weiteren Fachleuten http://www.rechtspsychologie-halle.de 132 Prävention und Intervention – Was müssen wir tun? Vorab • Vermittlung von Wissen über professionelle Grenzen und Grenzüberschreitungen in Ausbildung • Wissen über regelkonformen und angemessenen Umgang mit Patienten/innen • Erfahrungsaustausch mit älteren Kollegen • Selbsteinschätzungen durch Fragebögen • Hinweise auf Grauzonen und „Warnsignale“ als Intervention • Schutzmaßnahmen, z.B. Supervision • keine oder minimale Selbstoffenbarung eigener Gedanken, Emotionen und Bedürfnisse (Gefahr der Rollenkonfusion) ggü. Patient • keine unbezahlte Behandlung • keine Abend-oder Nachttermine ohne weitere Anwesende • sofortige Weiterleitung von Patienten bei ersten Auffälligkeiten • regelmäßige und obligatorische Weiterbildungsmaßnahmen • Training für schwierige Situationen (Annäherung durch Patienten) • Einrichtung einer Beschwerde und Anlaufstelle für Patienten UND Therapeuten • klarer und verbindliche Richtlinien in den Berufsordnungen und durch Ethikkommissionen (Beispiel einer Uneinheitlichkeit: Abstinenz nach Beendigung des Therapieverhältnisses) http://www.rechtspsychologie-halle.de 133 Danke für die Aufmerksamkeit http://www.rechtspsychologie-halle.de 134 Literatur Hauptliteratur: Becker-Fischer, M., & Fischer, G. (1997). Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Band 107). Stuttgart, Deutschland: Kohlhammer. Becker-Fischer, M., Fischer, G., & Eichenberg, C. (2008). Sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie und Psychiatrie. Orientierungshilfen für Therapeuten und interessierte Patienten (2., vollständ. überarb. Aufl.). Kröning, Deutschland: Asanger. Tschan, W. (2001). Missbrauchtes Vertrauen- Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Ursachen und Folgen: Eine transdisziplinäre Darstellung. Basel, Schweiz: Karger. Tschan, W. (2005). Missbrauchtes Vertrauen. Sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Ursachen und Folgen (2., neu bearb. U. erw. Aufl.). Basel, Schweiz: Karger. http://www.rechtspsychologie-halle.de 135 weiterführende Literatur: Anonyma (1988) Verführung auf der Couch. Freiburg, Deutschland: Kore. Bowlby, J (1999). Attachment. Attachment and loss Vol. I (2. Aufl.). New York, N.Y.: Basic Books. Brisch, K. H. (1999). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart, Deutschland: Klett-Cotta. Dilling, H., Mombour, W., & Schmidt, M. H. (2011). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinischdiagnostische Leitlinien. (8. überarb. Aufl.). Bern, Göttingen, Toronto: Huber. Fischer, G., & Riedesser, P. (2003). Lehrbuch der Psychotraumatologie (3. aktual. u. erw. Aufl.). München, Deutschland: Reinhardt. Freud, S. (1974). Briefwechsel. Frankfurt am Main, Deutschland: Fischer. Freud, S. (1912). Zur Dynamik der Übertragung. In S. Freud (Hrsg.) ,Gesammelte Werke. Bd. VIII. Frankfurt am Main, Deutschland: Fischer. Grimm, R. (2001). Vertrauen im Internet: Wie sicher soll E-Commerce sein? In G. Müller (Hrsg.), Sicherheitskonzepte für das Internet. Berlin, Deutschland: Huber. LaPlanche, J., & Pontalis, J. B. (1973). Abstinenz (Abstinenzregel). In J. LaPlanche & J. B. Pontalis (Hrsg.), Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt, Deutschland: Suhrkamp. Luhmann, N. (1968). Vertrauen - ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart, Deutschland: Lucius & Lucius. Mäulen, B. (2002). Sexuelle Grenzverletzungen durch Ärzte. Münchener Medizinische Wochenschrift, 24, 4-10. Rotter, J. B. (1981). The psychological situation in social learning theory. In D. Magnusson (Hrsg.), Toward a psychology of situations: An interactional perspective. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum. Salter, A. (1995). Transforming trauma: A guide to understanding and treating survivors of child sexual abuse. Newbury Park, CA: Sage Publications. Stone, L. (1961). The psychoanalytic situation. New York, NY: ILIP. Tschan, W. (2003). The psychotherapist as a secure base – professional sexual misconduct from the attachement theory‘s perspective. International Conference on Trauma, Attachement and Dissociation. Transforming Trauma: critical, controversial and core issues. Melbourne, Australia. Tschan, W. (2006). Prävention von sexuellen Übergriffen in Institutionen. Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin,, 4(4), 39–44. Thomä, H., & Kächele, H. (1992). Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. Berlin, Deutschland: Springer. Wirtz, U. (1991). Das Abstinenzgebot in der Psychotherapie. In C. Heyne (Hrsg.) Tatort Couch. Sexueller Mißbrauch in der Therapie Ursachen, Fakten, Folgen und Möglichkeiten der Verarbeitung. Frankfurt, Deutschland: Fischer. Internetseiten: http://280116.forumromanum.com/member/forum/entry.user_280116.2.1109182065.als_ob_es_ploetzlich_liebe_waere_sexueller_missbrauch_psychothe rapie-des_pia_netzwerkes.html http://www.sgipt.org/th_schul/pa/misbr/smeinf.htm http://www.medges.ch/uploads/media/Fakten_PSM_0203_01.pdf http://www.rechtspsychologie-halle.de 136