Einleitung und Aufgabenstellung der Diplomarbeit
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Einleitung und Aufgabenstellung der Diplomarbeit
Dielektrische Spektroskopie ferroelektrischer Flüssigkristalle mit anomalem Verhalten der smektischen Schichtdicke an Phasenübergängen Diplomarbeit vorgelegt von Michael Krueger Angefertigt am Institut für Physikalische Chemie der Universität Stuttgart unter Anleitung von Prof. Dr. Frank Gießelmann 26. März 2004 Meinen Eltern gewidmet II Ich bedanke mich bei allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe für das ausgesprochen angenehme Arbeitsklima, insbesondere bei Herrn Dipl. Chem. Alexander Saipa und Herrn Dr. Jan Lagerwall für die äußerst fruchtbaren Diskussionen und Hilfestellungen bei allgemeinen sowie speziell die Dielektrische Spektroskopie betreffenden Fragen. Weiterhin bedanke ich mich bei Herrn Doc. dr hab. Wojciech Kuczynski für die Gelegenheit am Institut für Molekulare Physik in Poznan elektro-optische Untersuchungen durchzuführen, sowie für seine tatkräftige Unterstützung dabei. Mein herzlichster Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Frank Gießelmann, nicht nur für die Überlassung des überaus interessanten Themas, sondern auch für die hervorragende Betreuung und seine außergewöhnliche Fähigkeit, selbst komplizierte Sachverhalte präzise, anschaulich und verständlich zu erklären. Revised Edition Stuttgart, Juli 2004 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1 1.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1.1 Flüssigkristalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1.2 Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1.3 Chiralität und ihr Einfluß auf die Symmetrie . . . . . . . . . . . 5 1.1.4 Spontane Polarisation und Ferroelektrizität . . . . . . . . . . . . 8 1.1.5 Elektrokliner Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Übergänge para- und ferroelektrischer Phasen . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2.1 Der SmA*-SmC*-Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2.2 ”Diffuse cone model” nach A. de Vries . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2.3 Landau-Theorie des SmA*-SmC*-Übergangs . . . . . . . . . . . 15 2 Aufgabenstellung 18 3 Dielektrische Spektroskopie 19 3.1 Dielektrische Polarisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.2 Real- und Imaginärteil der dielektrischen Konstanten . . . . . . . . . . 21 3.3 Dielektrische Relaxation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.3.1 Fluktuations-Dissipations-Theorem . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.3.2 Debye-, Cole-Cole- und Havriliak-Negami-Relaxation . . . . . . 23 3.4 Kollektive Direktorfluktuationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.4.1 Fluktuationen des Tiltwinkels (Softmode) . . . . . . . . . . . . 29 3.4.2 Fluktuationen des Phasenwinkels (Goldstonemode) . . . . . . . 31 4 Experimentelle Untersuchungen (Softmode) III 33 INHALTSVERZEICHNIS IV 4.1 Auswahl der Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4.2 Aufbau der Meßanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4.2.1 Meßzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4.2.2 Temperatur-Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 4.2.3 Meßbrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 4.3 Auswertung dielektrischer Spektren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4.4 Quantitative Untersuchungen an 3M FLC . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.4.1 Abhängigkeiten der komplexen dielektrischen Konstanten . . . . 42 4.4.2 Einfluß der Wechselspannungsamplitude . . . . . . . . . . . . . 47 4.5 Quantitative Untersuchungen an Felix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.5.1 Abhängigkeiten der komplexen dielektrischen Konstanten . . . . 49 4.6 Qualitative Untersuchungen an nHL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.6.1 Abhängigkeiten der komplexen dielektrischen Konstanten . . . . 52 4.6.2 Einfluß der Wechselspannungsamplitude . . . . . . . . . . . . . 57 5 Diskussion 63 5.1 Stärke der Softmode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 5.2 Verbindung des klassischen und des de Vries-Modells . . . . . . . . . . 65 5.3 Curie-Weiss-Verhalten untersuchter Softmoden . . . . . . . . . . . . . . 67 5.4 Bestimmung des ersten Landau-Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . 75 5.5 Einfluß eines elektrischen Gleichfeldes auf die Suszeptibilität der Softmode 76 5.6 Vergleich der Softmode-Absorptionsfrequenzen . . . . . . . . . . . . . . 80 5.7 Vergleich der erhaltenen Daten mit Literaturwerten . . . . . . . . . . . 81 6 Zusammenfassung 86 Literaturverzeichnis 88 Anhang 92 A Parameter aus den Anpassungen 92 Kapitel 1 Einleitung 1.1 1.1.1 Grundlagen Flüssigkristalle Flüssigkristalle sind in einer Zeit, die oft als ”Kommunkationszeitalter” bezeichnet wird, ein fester Bestandteil unseres Lebens geworden. So sind sie aus den Displays zahlloser technischer Geräte wie Mobiltelephonen, Notebooks, elektronischen Notizbüchern (PDA: engl. Personal Digital Assistent) und Fernsehgeräten, um nur die wichtigsten zu nennen, nicht mehr wegzudenken. Folgerichtig ist der Markt für Flüssigkristallbildschirme (LCD: engl. Liquid Crystal Display) einer der wachstumsintensivsten der heutigen Zeit. Wurde einer Marktanalyse zufolge [1] bereits im Jahre 2002 weltweit mit Flüssigkristalldisplays ein beträchtlich höherer Umsatz (29.0 Mrd US$) als mit herkömmlichen Kathodenstrahlbildschirmen (CRT: engl. Cathode Ray Tube; 20.4 Mrd US$) erzielt, so wird im Jahre 2006 der LCD-Markt (52.7 Mrd US$) mehr als das doppelte Volumen eines nahezu stagnierenden CRT-Marktes (23.2 Mrd US$) umfassen. Eine weitere Studie [2] sagt gar eine Verdreifachung des LCD-Umsatzes bis 2009 auf 99.3 Mrd US$ voraus. Diese Zahlen belegen die kommerzielle Bedeutung der Flüssigkristalle für DisplayAnwendungen, jedoch ist ihr Einsatz längst nicht mehr nur auf Anzeige-Elemente beschränkt. Flüssigkristalle finden auch in der Medizintechnik zum Aufspüren von Tumoren [3, 4], als optische Schalter [5] und in anderen optischen Anwendungen (optische Datenspeicherung [6], Glasscheiben mit elektrisch schaltbarer Transparenz [7], Projektionsgeräte [8]) Verwendung. Oft wird auch vergessen, daß die bei weitem häufigste Anwendung von Flüssigkristallen eine verhältnismäßig triviale ist: Alle Waschmittel bilden in konzentrierter wäßriger Lösung sogenannte lyotrope Flüssigkristallphasen. Auch wenn ein Großteil der Bevölkerung also tagtäglich Materialien benutzt, die in der Lage sind Flüssigkristallphasen zu bilden, so ist den wenigsten Menschen bewußt, was mit diesem scheinbar paradoxen Begriff gemeint ist. Was also sind ”flüssige Kristalle”? 1 KAPITEL 1. EINLEITUNG 2 Die kürzeste Definition eines Flüssigkristalls ist die eines ”anisotropen Fluids”. Also kondensierter, fließfähiger Materie, die eine Richtungsabhängigkeit ihrer physikalischen Eigenschaften besitzt, die man sonst nur bei kristallinen Festkörpern kennt. Diese Eigenschaft ist bei sogenannten thermotropen Flüssigkristallen - bei einem konstanten Druck - auf einen Temperaturbereich zwischen dem Schmelzpunkt und dem Klärpunkt einer Verbindung beschränkt, weshalb man korrekterweise von einer bzw. mehreren flüssigkristallinen Phasen oder Mesophasen (mesos: griech. mittig) spricht. Für Moleküle, welche flüssigkristalline Phasen erzeugen wird deshalb auch häufig der Begriff Mesogen verwendet, obwohl strenggenommen das Mesogen nur den starren Mittelteil einer Verbindung bezeichnet, der zusammen mit den Flügelgruppen den Flüssigkristall bildet. Unterhalb des Schmelzpunktes weisen diese Substanzen eine anisotrope, kristalline Phase auf, oberhalb des Klärpunktes eine flüssige (isotrope) Phase, in der die Richtungsabhängigkeit der physikalischen Eigenschaften aufgrund der statistischen, ungeordneten Verteilung der Moleküle verloren geht. Das Auftreten langreichweitiger Ordnung in fluiden Phasen scheint also die Ursache der außergewöhnlichen Eigenschaften dieser Substanzen zu sein. Eine genauere Beschreibung wird in Kapitel 1.1.2.1 gegeben. Ein Grund für das breite Anwendungsfeld von Flüssigkristallen ist die Vielzahl verschiedener Systeme, die mesomorphe Phasen ausbilden. Neben den thermotropen Flüssigkristallen exisitieren noch lyotrope Verbindungen, die Lösungen von mesogenen Molekülen darstellen und deren Konzentration zusätzlich einen entscheidenden Einfluß auf die Phasenbildung besitzt. Unter den thermotropen Flüssigkristallen faßt man unter anderem kalamitische (stäbchenförmige), diskotische (scheibchenförmige) und bananenförmige Mesogene zusammen. Diese können eine oder mehrere flüssigkristalline Phasen ausbilden. Hierbei sind als wichtigste Vertreter der kalamitischen Phasen die verschiedenen smektischen, die nematische und, als Spezialfall, die chiral-nematische Phase - die aus historischen Gründen auch als cholesterische Phase bezeichnet wird zu nennen. Eine schematische Phasenabfolge dieser Phasen ist in Abb. 1.1 dargestellt. In der vorliegenden Diplomarbeit wurden ausschließlich smektische Phasen kalamitischer, thermotroper Flüssigkristalle untersucht. Die Eigenschaften der smektischen A*- und C*-Phasen werden in Kapitel 1.2.1 detailliert beschrieben. Die Verbesserung der oben beschriebenen technischen Anwendungen von Flüssigkristallen allein - wie beispielsweise die Suche nach ferroelektrischen Flüssigkristallen, die defektfreie Displays liefern - ist nicht der einzige Grund für das enorme akademische Interesse an Flüssigkristallen. Auch die Erschließung neuer Einsatzfelder, zum Beispiel zur Erzeugung kontinuierlich durchstimmbarer Laser [10], die Verwendung als Medium zur optischen Datenübertragung [11] oder die Ausnutzung des Orientierungsverhaltens zur Erzeugung von Nano-Architekturen [12], trägt als weitere technische Seite zu diesem Interesse bei. Die Erkenntnis, daß das kritische Verhalten an Phasenübergängen ausschließlich von der Dimensionalität des Systems und der Anzahl der Komponenten KAPITEL 1. EINLEITUNG 3 Abbildung 1.1: Schematische Temperaturabfolge einiger thermotroper, kalamitischer, flüssigkristalliner Phasen und ihre Einordnung zwischen die klassischen Aggregatzustände. Aus [9]. des Ordnungsparameters [13, 14] abhängt, führte dazu, daß die Untersuchungen der sehr vielfältigen Phasenumwandlungen flüssigkristalliner Systeme wichtige Ergebnisse über das allgemeine Verhalten von Phasenübergängen in niederdimensionalen Systemen liefert. Weiterhin besitzt auch das Studium der Selbstorganisation von Molekülen [15], wie sie in Flüssigkristallen exzellent zu beobachten ist, eine generelle akademische Bedeutung. Man erkennt also, daß das Forschungsgebiet der Flüssigkristalle, trotz seiner mehr als 100-jährigen Geschichte seit der Entdeckung der mesogenen Eigenschaften des Cholesterinbenzoats [16] durch Friedrich Reinitzer 1888, aktueller denn je ist und weder das technische, noch das akademische Interesse auf absehbare Zeit ersterben wird. 1.1.2 Ordnung In der klassischen Anschauung dreier Aggregatzustände (fest, flüssig, gasförmig) kann man diese durch die verschiedenen Typen der Molekülordnung unterscheiden. In der Gasphase, weit entfernt vom kritischen Punkt, sind keinerlei Nah- oder Fernordnungen, in der flüssigen Phase lediglich Nahordnung, jedoch keinerlei Fernordnung vorhanden. Kristalline Substanzen weisen in der Regel eine sehr langreichweitige Positionsfernordnung auf. Unter Vernachlässigung von Defekten und Fehlstellen können in einem Kristall die Koordinaten jedes Atoms mit Hilfe der Elementarzelle konstruiert werden. Bis auf kubische Kristallsysteme, in denen die Positionsfernordnung in allen drei Raumrichtungen gleich ist, ist die Ursache für die Anisotropie der physikalischen Eigenschaften das Auftreten einer derartigen Fernordnung. Eine solche langreichweitige KAPITEL 1. EINLEITUNG 4 Ordnung ist, wie bereits in Kapitel 1.1.1 beschrieben, auch in flüssigkristallinen Phasen für die Anisotropie verantwortlich. Man unterscheidet hierbei Orientierungsfernordnung, Positionsfernordnung und Bindungsorientierungsfernordnung. Letztere wird, da nur von den deshalb so genannten ”höher geordneten” (hexatischen) smektischen Phasen ausgebildet, hier nicht untersucht. Informationen über die Bindungsorientierungsfernordnung liefert [17]. 1.1.2.1 Orientierungsfernordnung Im betrachteten Fall langgestreckter (kalamitischer) achiraler Moleküle liegt eine Orientierungsfernordnung vor, wenn die Moleküle in einem makroskopischen Bereich eine Vorzugsorientierung aufweisen, entlang derer sie im räumlichen und zeitlichen Mittel parallel ausgerichtet sind. Entlang dieser Vorzugsrichtung wird ein Einheitsvektor, der sogenannte Direktor n, definiert. Die Orientierungsverteilungsfunktion (ODF: engl. Orientational Distribution Function) liefert die mathematische Beschreibung, wie sich die Moleküle im Raum verteilen [18]. Ein Maß für die Güte der Orientierungsordnung ist der Ordnungsparameter S2 , der den ersten von 0 verschiedenen Koeffizienten der Entwicklung der Orientierungsverteilungsfunktion nach den Legendre’schen Polynomen darstellt. Er ist definiert [19] als Mittelwert: 1 S2 = < 3 cos2 β − 1 > . (1.1) 2 β ist hierbei der Winkel, den das einzelne Molekül mit der Direktorrichtung n einschließt. Für isotrope, flüssige Phasen, in denen eine völlig statistische Orientierung der Moleküle vorliegt, ist der Ordnungsgrad 0 und steigt in kalamitischen Flüssigkristallphasen auf Werte nahe 1 an. Im Falle oblater (diskotischer) Moleküle sinkt S2 auf Werte bis nahe -0.5 ab. Kalamitische Mesophasen, die Orientierungsfernordnung, jedoch keine Positionsfernordnung aufweisen, bezeichnet man als nematische Phasen. Abb. 1.2 stellt schematisch einen Ausschnitt aus einer nematischen Phase mit ihrer Orientierungsfernordnung dar. Die aus der Orientierungsfernordnung resultierende Anisotropie elektrischer, magnetischer und optischer Eigenschaften (wie beispielsweise der optischen Doppelbrechung) führt zu interessanten elektro-optischen Effekten, die die Basis für den Einsatz der nematischen Flüssigkristalle in Displays bilden [20]. 1.1.2.2 Positionsfernordnung Eine Postitionsordnung liegt vor, wenn von einem beliebigen Molekülschwerpunkt aus die Nachbarmolekülschwerpunkte entlang einer Raumrichtung positionskorreliert sind. Ist die Reichweite dieser Ordnung groß gegen die Moleküldimensionen, so spricht man von Positionsfernordnung, wie sie in Kristallen ohne Defekte und Fehlstellen gegeben KAPITEL 1. EINLEITUNG 5 Abbildung 1.2: Schematische Darstellung der Orientierungsfernordnung der Längsachsen stäbchenförmiger Moleküle in nematischen Flüssigkristallphasen. Der Direktor n beschreibt die Vorzugsrichtung der Orientierungsordnung. Eine Positionsfernordnung tritt in diesen Phasen nicht auf. ist. Auch in smektischen Flüssigkristallphasen liegt in makroskopischen Bereichen eine solche Positionsfernordnung - zusätzlich zur Orientierungsfernordnung der nematischen Phase - vor. Die Güte der Positionsfernordnung kann durch einen smektischen Ordnungsparameter: µ ¶ 2πzi Σ =< cos > (1.2) d mit zi als dem Schwerpunkt des Moleküls i in Richtung der smektischen Schichtnormalen z und der smektischen Schichtdicke d beschrieben werden [21]. Eine positionsferngeordnete smektische Phase ist in Abb. 1.3 skizziert. In smektischen Flüssigkristallen findet eine Positionsfernordnung nur entlang einer Raumrichtung statt, die durch die smektische Schichtnormale z beschrieben wird. Ist diese Schichtnormale z parallel zur Direktorrichtung n ausgerichtet, so spricht man von einer smektischen A-Phase (SmA), schliessen Schichtnormale z und Direktor n einen Neigungswinkel Θ ein, von einer smektischen C-Phase (SmC). Beide Fälle werden aus Symmetriegründen unterschieden. 1.1.3 Chiralität und ihr Einfluß auf die Symmetrie Chiralität (zu deutsch: Händigkeit) ist die Erscheinung, daß ein Gegenstand (hier: ein Molekül) in zwei zueinander spiegelbildlichen Formen existieren kann, die nicht zur Deckung gebracht werden können. Diese spiegelbildlichen Moleküle nennt man Enantiomere, ihre äquimolare Mischung Racemat. Gemäß den Nomenklaturregeln von Cahn, Ingold und Prelog [22] wird jeweils ein Enantiomer als (R)-, das andere als KAPITEL 1. EINLEITUNG 6 Abbildung 1.3: Schematische Darstellung der eindimensionalen Positionsfernordnung in smektischen Flüssigkristallphasen (hier: SmA-Phase), durch welche smektische Schichten mit der Schichtnormalen z erzeugt werden. Die Orientierungsordnung der Moleküllängsachsen ist gegenüber der nematischen Phase verbessert (vgl. Abb. 1.2). (S)-Enantiomer bezeichnet. Alle Phasen einer chiralen Reinsubstanz sind chiral, also auch die flüssigkristallinen Phasen einer Verbindung1 . Der Umkehrschluß gilt nicht automatisch, so können achirale Moleküle durch Zugabe chiraler Dotierstoffe oder durch eine bestimmte Anordnung, wie z.B. die bananenförmigen Flüssigkristalle, selbst chirale Phasen ausbilden. Die Tatsache, daß die Spiegelbilder chiraler Moleküle nicht zur Deckung gebracht werden können, hat zur Folge, daß die chiralen Phasen zugeordneten Punktgruppen keine Drehspiegelachse enthalten. Bei achiralen Phasen, deren Punktgruppen Drehspiegelachsen enthalten, und deren chiralen Pendants, führt das zu einem Unterschied der Symmetrie. Abb. 1.4 verdeutlicht das für den Fall der SmC- (C2h -Symmetrie) und SmC*-Phasen (C2 -Symmetrie). Grundsätzlich neigen Phasen chiraler Moleküle dazu - falls möglich - die molekulare Chiralität durch eine chirale makroskopische Struktur abzubilden. Eine solche chirale Überstruktur ist in manchen Phasen, wie beispielsweise der SmA*-Phase verboten [23]. In geneigten chiralen smektischen Phasen wie der SmC*-Phase jedoch führt die Chiralität zur Ausbildung von Helices [24] mit einer Ganghöhe p (pitch). p entspricht der Entfernung entlang z, in der eine Drehung des Direktors um 2π stattfindet. (siehe Abb. 1.5). Sie stellt die Wiederholungseinheit der Helix dar. 1 Chirale Flüssigkristallphasen werden im Rahmen dieser Diplomarbeit mit einem * gekennzeichnet. KAPITEL 1. EINLEITUNG 7 Abbildung 1.4: Symmetrie in smektischen Phasen. Die smektische Schichtebene wird durch x und y aufgespannt. z ist die smektische Schichtnormale. (a) SmA-Phase (Punktgruppe D∞h ): Direktor n parallel z, dazu parallel eine unendlich-zählige Drehachse C∞ . Die smektische Schichtebene ist Spiegelebene (σ ). (b) SmC-Phase (Punktgruppe C2h ): n und z schliessen den Direktorneigungswinkel Θ ein. Die Projektion von n in die smektische Schichtebene mit der x-Achse den Azimuthwinkel Φ. n und z spannen die Neigungsebene auf, die Spiegelebene ist (σ ). Eine zwei-zählige Drehachse (C2 ) steht senkrecht zur Neigungsebene. (c) SmC*-Phase (Punktgruppe C2 ): wie (b), jedoch ist hier aufgrund der Chiralität die Neigungsebene nicht mehr Spiegelebene. Die Drehachse C2 wird zur polaren Achse, innerhalb einer smektischen Schicht addieren sich Teile des transversalen Dipolmoments zu einer spontanen elektrischen Polarisation Ps entlang dieser Drehachse. Der c-Direktor stellt die Projektion des Direktors n in die smektische Schichtebene dar. Abbildung 1.5: Schematische Darstellung einer Helix in der SmC*-Phase. z ist die smektische Schichtnormale, die Neigungsrichtung wird von Schicht zu Schicht verdreht, so daß eine helikale Direktorkonfiguration mit der Ganghöhe p resultiert. In der SmC*-Phase tritt eine spontane elektrische Polarisation Ps auf, die jeweils senkrecht zur Direktorrichtung steht. KAPITEL 1. EINLEITUNG 1.1.4 8 Spontane Polarisation und Ferroelektrizität Dipolare Moleküle weisen in isotroper Phase kein makroskopisches Dipolmoment auf, da die Richtung des molekularen Dipols statistisch verteilt ist und sich daher im zeitlichen und räumlichen Mittel zum Nullvektor addiert. Das Anlegen eines statischen elektrischen Feldes E führt zu einer Ausrichtung der molekularen Dipole in Richtung von E und damit einer induzierten elektrischen Polarisation Pind . Schaltet man das elektrische Feld wieder aus, relaxiert das System in seinen Gleichgewichtszustand zurück, in dem keine makroskopische Polarisation meßbar ist. Substanzen mit spontaner elektrischer Polarisation Ps , die ihre molekularen Dipole ohne Einwirken äußerer Kräfte ausrichten, nennt man Pyroelektrika. Pyroelektrika, deren spontane elektrische Polarisation zwischen zwei stabilen Zuständen schaltbar ist, Ferroelektrika. Im Falle kalamitischer Flüssigkristalle teilt man das Gesamtdipolmoment zweckmäßigerweise in eine Komponente parallel (longitudinales Dipolmoment) und eine Komponente senkrecht (transversales Dipolmoment) zum Direktor n auf. In SmC*-Phasen tritt eine spontane Polarisation Ps innerhalb einer smektischen Schicht durch die Addition der transversalen Anteile des Dipolmoments auf. Sie verläuft entlang der C2 − Achse senkrecht zum Direktor n und der smektischen Schichtnormalen z: Ps ∝ z × n . (1.3) Diese sogenannte Polarisations-Tiltwinkel-Kopplung ist eine direkte Folge der Chiralität und der damit verbundenen Abwesenheit der Spiegelebene, die durch z und n aufgespannt wird. Die Spiegelebene führt im Falle einer achiralen SmC-Phase dazu, daß sich die Beiträge des transversalen Dipolmoments parallel und antiparallel zur Drehachse C2 gegenseitig aufheben. In SmA- und SmA*-Phasen ist das Auftreten einer spontanen Polarisation bereits durch die Äquivalenz der Direktorrichtungen, n = −n, und durch die C∞ -Achse unmöglich. Solche Phasen bezeichnet man in Analogie zum Ferro- und Paramagnetismus als paraelektrische Phasen. Makroskopisch addiert sich jedoch auch in SmC*-Phasen die spontane Polarisation Ps zum Nullvektor, da sich durch die Helix die Direktorrichtung und damit auch die Richtung von Ps um die smektische Schichtnormale z von Schicht zu Schicht periodisch ändert (vgl. Abb. 1.5). Durch elektrische Felder, magnetische Felder oder Grenzflächenwechselwirkungen kann die helikale Direktorkonfiguration zerstört werden. Orientiert man einen Flüssigkristall mit einer SmC*-Phase derart, daß die smektischen Schichten senkrecht zu den planparallelen Grenzflächen der Zelle stehen, führt das im idealen Fall zu einer Struktur, in der die smektischen Schichten wie Bücher in einem Bücherregal angeordnet sind. Eine solche Konfiguration wird deshalb bookshelf -Anordnung genannt. Ist der Abstand der Zellwände d klein gegen die Ganghöhe p der Helix: d¿p (1.4) KAPITEL 1. EINLEITUNG 9 Abbildung 1.6: Schematische Darstellung der beiden ferroelektrischen Schaltzustände einer SmC*Phase in einer SSFLC-Zelle. In (a) weist die spontane elektrische Polarisation Ps nach links vorne, in (b) in die entgegengesetzte Richtung nach rechts hinten. d bezeichnet die Zelldicke. kann keine ideale Helixkonfiguration mehr ausgebildet werden und der Direktor n wird bevorzugt parallel zu den Grenzflächen ausgerichtet. Da auf dem Neigungskonus nur zwei Positionen des Direktors zu einer solchen Anordnung führen können (siehe Abb. 1.6), folgt daraus die Bildung zweier Domänentypen mit unterschiedlichem Vorzeichen der spontanen elektrischen Polarisation +Ps und −Ps [25]. Abb. 1.7 stellt eine polarisationsmikroskopische Aufnahme dieser beiden ferroelektrischen Schaltzustände in einer SSFLC- (engl. surface-stabilized ferroelectric liquid crystal) Zelle dar. SmC*-Phasen sind in einer SSFLC-Zelle also im Gegensatz zu helikalen SmC*-Phasen in Abwesenheit von Grenzflächeneffekten (engl. bulk) ferroelektrisch. 1.1.5 Elektrokliner Effekt Zwar weist die SmA*-Phase keine spontane Polarisation auf, allerdings hat das Anlegen eines elektrischen Felds E parallel zur smektischen Schichtebene (x,y-Ebene) in chiralen smektischen Flüssigkristallen das Auftreten eines induzierten Tiltwinkels und damit einer induzierten elektrischen Polarisation zur Folge. Dieses Phänomen wird als elektrokliner Effekt bezeichnet. Die Ursache der induzierten elektrischen Polarisation δPind ist eine Verzerrung der Rotation um die lange Molekülachse, hervorgerufen durch das elektrische Feld [26]. Mittels der Polarisation-Tiltwinkel-Kopplung resultiert daraus ein induzierter Tiltwinkel δΘind . Der elektrokline Effekt ist ein reiner Chiralitätseffekt und tritt in allen chiralen smektischen Phasen auf. Mit anderen Worten tritt in der SmA*-Phase, in der ohne elektrisches Feld kein makroskopischer Tiltwinkel KAPITEL 1. EINLEITUNG 10 Abbildung 1.7: Polarisationsmikroskopische Aufnahme zweier ferroelektrischer Schaltzustände in einer 1.5 µm SSFLC-Zelle (Substanz: 12HL, T = 85◦ C). Die dunklen und hellen Bereiche entsprechen jeweils Domänen mit entgegengesetztem Vorzeichen der spontanen elektrischen Polarisation Ps . gemessen wird, ein Tiltwinkel der Größe: Θ = δΘind (1.5) auf [27]. In der SmC*-Phase, in der bereits ohne elektrisches Feld ein Tiltwinkel auftritt, addieren sich der Nullfeld-Tiltwinkel Θ0 und der feldinduzierte Tiltwinkel δΘind zu einem Gesamttiltwinkel [9]: Θ = Θ0 + δΘind . (1.6) In Abb. 1.8 ist der elektrokline Effekt schematisch dargestellt. Der feldinduzierte Tiltwinkel δΘind ist in beiden Fällen der Stärke des verursachenden elektrischen Felds proportional und divergiert lediglich in unmittelbarer Nähe der Phasenübergangstemperatur Tc . Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, daß ein theoretischer Ansatz für den außergewöhnlich starken elektroklinen Effekt in SmA*-Phasen von R. Meyer und R. Pelcovits [28] existiert, der diesen mit der Anwesenheit einer geordneten Matrix in der SmC*-Phase erklärt, der dazuführen sollte, daß die C*-Phase makroskopisch wie eine A*-Phase erscheint. Das Anlegen eines elektrischen Felds E verzerrt diese Matrix, ein starker elektrokliner Effekt resultiert. KAPITEL 1. EINLEITUNG 11 Abbildung 1.8: Schematische Darstellung des elektroklinen Effekts in der SmA*-Phase (a) und der SmC*-Phase (b). (a) In der SmA*-Phase ist ohne äußeres Feld E (linke Seite) kein makroskopischer Tiltwinkel meßbar. Durch das Anlegen eines elektrischen Felds (rechte Seite) wird eine elektrische Polarisation δPind und damit ein makroskopischer Tiltwinkel δΘind induziert. (b) In der SmC*Phase addieren sich der ohne äußeres Feld vorhandene Tiltwinkel Θ0 (linke Seite) und der auf gleiche Art und Weise wie in der A*-Phase induzierte Tiltwinkel δΘind zu einem Gesamttiltwinkel Θ (rechte Seite). Aus [9]. 1.2 1.2.1 Übergänge para- und ferroelektrischer Phasen Der SmA*-SmC*-Übergang In Kapitel 1.1.4 haben wir gesehen, daß für chirale Flüssigkristalle in einer SSFLCZelle der Übergang einer SmA*- zu einer SmC*-Phase einem Phasenübergang einer para- zu einer ferroelektrischen Phase entspricht. Das charakteristische Maß des A*C*-Übergangs2 ist die Neigung des Direktors n gegen die smektische Schichtnormale z, der sogenannte Tiltwinkel Θ. In der SmA*-Phase ist dieser 0, und steigt ab der Übergangstemperatur Tc zu niedrigeren Temperaturen bis zu einem Sättigungswert an (siehe Abb. 1.9). Die Temperaturabhängigkeit des Tiltwinkels kann empirisch mittels eines Potenzgesetzes der Form: Θ ∝ (T − Tc )β Θ = 0 für T < Tc für T ≥ Tc (1.7) (1.8) beschrieben werden. β ist der kritische Exponent, der in einer gewissen Temperaturumgebung um den Übergangspunkt ausschließlich von der Dimensionalität d des Systems und der Anzahl n der Komponenten des Ordnungsparameters abhängig ist. Dieser Temperaturbereich ist im Falle des SmA*-SmC*-Übergangs jedoch sehr klein, er 2 Grundsätzlich gelten die Betrachtungen analog für einen SmA-SmC-Übergang achiraler Phasen, mit den Einschränkungen, die in den Kapiteln 1.1.3 und 1.1.4 beschrieben wurden. KAPITEL 1. EINLEITUNG 12 wird durch das Ginzburg-Kriterium [29] beschrieben. Für eine System-Dimensionalität d = 3 und n = 2 Komponenten des Ordnungsparameters, wie im vorliegenden Fall, beträgt der kritische Exponent β = 0.345. Die selbe Universalitätsklasse ist auch im Fall des Übergangs suprafluiden Heliums gegeben [14], weshalb der SmA*-SmC*-Übergang eine interessante Möglichkeit darstellt, Rückschlüsse über das Verhalten des Übergangs des suprafluiden Heliums zu erhalten, ohne ein System auf wenige Kelvin über dem absoluten Nullpunkt abkühlen zu müssen. Unterhalb der Ginzburg-Temperatur weist das Temperaturverhalten des Tiltwinkels sogenanntes klassisches mean-field Verhalten zweiter Ordnung auf, wie es durch die Landau-Theorie beschrieben werden kann (siehe Kapitel 1.2.3). In diesem Fall beträgt der kritische Exponent des Potenzgesetzes β = 0.5. In der mean-field Theorie wird lediglich der mittlere Einfluß der gesamten Umgebung auf ein einzelnes Molekül betrachtet. Das bedeutet, daß Fluktuationen durch ihren Durchschnittswert ersetzt und nicht explizit berücksichtigt werden. Beobachtet man den Tiltwinkel des SmA*-SmC*-Übergangs bei noch niedrigeren Temperaturen, findet man einen langsamen Abfall des kritischen Exponenten β bis auf Werte von 0.25. Dies ist der Wert für ein trikritisches Verhalten. Die Temperatur T0 , bei der der Übergang von mean-field zu trikritischem Verhalten erfolgt, kann durch die Gleichung: 3b2 Tc − T0 ≈ (1.9) 4αc beschrieben werden [30], wobei α, b und c die Koeffizienten der Terme zweiter, vierter und sechster Ordnung der Landau-Entwicklung des thermodynamischen Potentials sind. Ein typischer Wert für Tc − T0 , also des Bereichs, in dem man mean-field Verhalten vorfindet, ist 1 K. Dies zeigt, daß der SmA*-SmC*-Übergang als Phasenübergang zweiter Ordnung nahe des trikritischen Punktes angesehen werden kann. Jedoch besitzen Verbindungen mit kleinen Koeffizienten α einen größeren Bereich (vgl. Gleichung 1.9), in dem ein klassisches mean-field Verhalten mit β = 0.5 vorgefunden wird. Ein kleiner Koeffizient α ist gleichbedeutend mit einem großen elektroklinen Effekt (siehe Kapitel 1.1.5) dieser Verbindungen. Neben diesen thermodynamischen Konsequenzen, führt die Direktorneigung am A*C*-Übergang auch zu strukturellen Veränderungen, die gar von technischer Relevanz sind. Ein Nachteil der heutzutage hauptsächlich in kommerziellen Displays genutzten TN- (engl. Twisted Nematics) und STN- (engl. Super-Twisted Nematics) Zellen, sind deren verhältnismäßig langsamen Schaltzeiten. Das ferroelektrische Schalten in der SmC*-Phase würde erheblich schnellere Schaltzeiten erlauben. Wie jedoch Abb. 1.10 veranschaulicht, geht mit dem Auftreten eines Tiltwinkels eine Schrumpfung der smektischen Schichtdicke am SmA*-SmC*-Übergang einher. In der Näherung steifer Stäbchen (engl. rigid rod approximation), ergibt sich die smektische Schichtdicke zu: d = Lef f · cos Θ (1.10) Lef f ist hierin die effektive Moleküllänge, die durch die unvollständige Orientierung kleiner ist, als die tatsächliche Moleküllänge. Im Falle der SmA*-Phase, in der keine KAPITEL 1. EINLEITUNG 13 Abbildung 1.9: Temperaturabhängigkeit des Tiltwinkels Θ am SmA*-SmC*-Phasenübergang. Tc ist die Phasenübergangstemperatur, β der kritische Exponent des Potenzgesetzes zur Beschreibung der Temperaturabhängigkeit, TGi die Ginzburg-Temperatur und T0 die Temperatur des Übergangs von mean-field zu trikritischem Verhalten. Aus [9]. Abbildung 1.10: Idealisierte Darstellung des Übergangs einer SmA*- (a) in eine SmC*-Phase (b) nach dem klassischen Modell. Der Anschaulichkeit halber ist hier eine perfekte Orientierungs- und Positionsordnung der Moleküle gewählt worden, die in der Realität nicht auftritt. Man sieht, daß sich die smektische Schichtdicke bei einem Übergang von SmA* nach SmC* um den Faktor cos Θ verringert. Neigung des Direktors gegen die smektische Schichtnormale stattfindet, ist cos Θ = 1, die smektische Schichtdicke dA also gleich der effektiven Moleküllänge. Nimmt man - als Beispiel - einen Tiltwinkel in der SmC*-Phase von 30◦ an, erhält man für die smektische Schichtdicke in der SmC*-Phase dC nur noch einen Wert von etwa 87% der Moleküllänge, also eine Schichtschrumpfung von etwa 13%. Diese Schrumpfung hat zur Folge, daß sich die Schichten in der SmC*-Phase in unterschiedliche Richtungen falten. Dies nennt man chevron-Konfiguration, im Gegensatz zur bookshelf -Konfiguration, die wir schon in Kapitel 1.1.4 kennengelernt haben (vgl. Abb. 1.11). Die unterschiedlichen Faltrichtungen werden von Zickzack-Defekten getrennt, die die Qualität der Displays, die aus ferroelektrischen Flüssigkristallzellen hergestellt wurden, herabsetzen [31]. Jedoch wurden, um dieses Problem zu umgehen, bereits einige wenige Verbindungen gefunden, die praktisch keine Schichtschrumpfung am Phasenübergang von SmA* nach SmC* aufweisen. Diese werden als Substanzen mit anomalem Verhalten der smek- KAPITEL 1. EINLEITUNG 14 Abbildung 1.11: Schematische Darstellung der bookshelf-Konfiguration in der SmA*-Phase und der chevron-Konfiguration in der SmC*-Phase. Durch die verringerte smektische Schichtdicke falten sich die Schichten hier in unterschiedliche Richtungen. Diese Faltrichtungen werden durch ZickzackDefekte getrennt. Aus [32]. Abbildung 1.12: Modell zur Erklärung der verringerten smektischen Schichtdicke dA in der SmA*Phase und des Erhalts der Schichtdicke am SmA*-SmC*-Übergang. Die aliphatischen Flügelketten liegen in der SmA*-Phase in einer verknäulten Konformation vor. Beim Übergang in die SmC*-Phase neigt sich der Direktor n und die Flügelketten gehen in eine gestrecktere Konformation über. Aus [31]. tischen Schichtdicke oder, nach dem US-amerikanischen Kristallographen Adriaan de Vries, der als erster ein umfassendes Modell zur Erklärung dieses Verhaltens vorlegte [33, 34], als de Vries-Substanzen bezeichnet. 1.2.2 ”Diffuse cone model” nach A. de Vries Das in Kapitel 1.2.1 beschriebene klassische Modell des A*-C*-Übergangs hat - wie Gleichung 1.10 zeigt - zur Folge, daß in SmA*-Phasen mit Θ = 0, die smektische Schichtdicke dA gleich der Moleküllänge L sein sollte. In Wirklichkeit wurde zumeist eine um 1 − 2 Å verringerte Schichtdicke (bezogen auf die tatsächliche Moleküllänge) gefunden. Dies wurde zunächst mit der Interdigitation von Molekülen aus Nachbarschichten durch eine nicht perfekte Positionsfernordnung erklärt [35]. Dadurch, daß die Schichten sozusagen ”ineinandergreifen”, verringert sich deren Dicke. Wenig später fanden jedoch Diele et al. SmA-Phasen, in denen die Differenz zwischen L und dA signifikant größer war [36]. Sie schlugen als Ursache eine Verknäuelung (engl. kinking) der aliphatischen Flügelketten dieser Flüssigkristalle vor (vgl. Abb. 1.12). De Vries schlug, basierend auf den selben experimentellen Daten von Diele et al. ein anderes Modell vor [34], das im Nachhinein oft als ”diffuse cone model” bezeichnet wird. Gemäß dieses Modells sind die Moleküle bereits um einen mittleren Winkel β geneigt, da der Orientierungsordnungsparameter S2 in SmA*-Phasen in Wirklichkeit von 1 verschiedene Werte annimmt, die Orientierungsordnung also nicht perfekt ist. Anschaulich KAPITEL 1. EINLEITUNG 15 Abbildung 1.13: Modell nach Adriaan de Vries (”diffuse cone model”) zur Erklärung der verringerten smektischen Schichtdicke dA in der SmA*-Phase und des Erhalts der Schichtdicke am SmA*SmC*-Übergang. In der A*-Phase (a) sind die Moleküle bereits um einen mittleren Winkel β geneigt. Da die Moleküle jedoch in alle möglichen Richtungen von β geneigt sind, addieren sich diese zu einem Direktor n parallel zur smektischen Schichtnormalen z. Daraus resultiert ein makroskopischer Tilwinkel Θmakro = 0. Beim Übergang in die C*-Phase (b) wird nun die statistische Verteilung auf dem Kegel aufgehoben. Die Richtungen der molekularen Tiltwinkel β addieren sich zum Direktor n, der nicht länger parallel zur smektischen Schichtnormalen z und der Kegelachse m steht. Der de Vries Tiltwinkel ΘdeV ries zwischen n und m entspricht dem makroskopischen Tiltwinkel Θmakro . Der Anschaulichkeit halber ist hier eine perfekte Orientierung der Moleküle auf dem Kegel, also ein konstanter molekularer Tiltwinkel β aller gezeichneten Moleküle gewählt worden. Die Bezeichnung ”diffuse cone model” impliziert jedoch schon, daß in der Realität eine Verteilung der molekularen Tiltwinkel vorliegt. kann man sich einen diffusen Kegel mit dem Öffnungswinkel dieser Neigung vorstellen (vgl. Abb. 1.13). Der Ausdruck ”diffus” soll andeuten, daß der molekulare Tiltwinkel keinen festen Wert besitzt, sondern ebenfalls als Mittelwert der Molekülneigungen gegen die smektische Schichtnormale z aufzufassen ist. In der Tat ist ein typischer Wert des Orientierungsordnungsparameters S2 in smektischen A*-Phasen 0.8, was gemäß Gleichung 1.1 einem molekularen Neigungswinkel von etwa β ≈ 20◦ entspricht. In der SmA*-Phase tritt trotzdem kein makroskopisch meßbarer Tiltwinkel Θ auf, da die Moleküle keine langreichweitige Ordnung der Richtung des Tiltwinkels besitzen. Addiert man in diesem Modell die Richtungen der Molekülneigungen vektoriell, erhält man den Direktor n parallel zur Schichtnormalen z und damit einen makroskopischen Tiltwinkel Θ = 0. Beim Übergang in die SmC*-Phase ordnen sich die molekularen Neigungsrichtungen, so daß ein makroskopischer Direktortiltwinkel Θ > 0 auftritt, ohne daß sich die smektische Schichtdicke verringert (vgl. Abb. 1.13). 1.2.3 Landau-Theorie des SmA*-SmC*-Übergangs Wie bereits in Kapitel 1.2.1 erwähnt, kann man den A*-C*-Phasenübergang - bis auf einen sehr kleinen Temperaturbereich in der direkten Umgebung des Phasenübergangs (in dem die Vernachlässigung der Fluktuationen durch die mean-field Näherung nicht zulässig ist) - durch eine von Lev Davidovich Landau 1937 entwickelte und nach ihm benannte Theorie sehr gut beschreiben [37, 38]. Diese Landau-Theorie, die deshalb KAPITEL 1. EINLEITUNG 16 Abbildung 1.14: Schematischer Verlauf der Freien Enthalpiedichte g − g0 gegen den Ordnungsparameter Θ (a) und Temperaturabhängigkeit des Ordnungsparameters (b) für einen Phasenübergang erster Ordnung, sowie Verlauf der Freien Enthalpiedichte gegen den Ordnungsparameter (c) und Temperaturabhängigkeit des Ordnungsparameters (d) für einen Phasenübergang zweiter Ordnung nach der Landau-Theorie. Tc ist die Übergangstemperatur. Aus [9]. auch als generalisierte mean-field Theorie bezeichnet wird, setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Der erste Teil beinhaltet Symmetriebetrachtungen an Phasenübergängen und die Einführung eines Ordnungsparameters η, der im ungeordneteren Zustand (hier die SmA*-Phase, Hochtemperaturphase) den Wert 0 und im geordneteren Zustand (hier die SmC*-Phase, Tieftemperaturphase) einen von 0 verschiedenen Wert annehmen muß: η ≡ 0 für T > Tc η 6= 0 für T < Tc . (1.11) Wir haben bereits gesehen, daß der Tiltwinkel Θ diese Bedingungen im vorliegenden Fall erfüllt3 , und sich somit als Ordnungsparameter eignet. Auch die Symmetrieänderung am Übergang, die nach Landau ein notwendiges Kriterium für einen Phasenübergang zweiter Ordnung darstellt, wurde bereits in Abb. 1.4 illustriert. Die Bedingung, daß der Übergangszustand die Symmetrieelemente beider Phasen beinhalten muß, führt dazu, daß sich der Ordnungsparameter bei Übergängen zweiter Ordnung kontinuierlich - also nicht sprunghaft - ändern muß (vgl. Abb. 1.9). Der zweite Teil der Landau-Theorie beinhaltet die mathematische Landau-Entwicklung 3 Korrekterweise ist der Ordnungsparameter im vorliegenden Fall durch η = Θ · exp(iΦ) mit dem Azimuthwinkel Φ gegeben. Da aber die Richtung der Koordinatenachse x frei gewählt werden kann, kann man somit den Azimuthwinkel auf Werte zwischen 0 und 2π einstellen. Zweckmäßigerweise wählt man die Richtung von x so, daß Φ = 0 resultiert. KAPITEL 1. EINLEITUNG 17 des thermodynamischen Potentials, hier der Freien Enthalpiedichte: g = G/V (1.12) (G: Freie Enthalpie, V : Volumen). Angesetzt wird eine Potenzreihenentwicklung mit einem konstanten Wert go (für Tiltwinkel Θ = 0) und Koeffizienten a, b, c,..., in der ausschließlich gerade Potenzen des Ordnungsparameters Θ auftauchen. Dies ist eine Folge der energetischen Äquivalenz der beiden Zustände mit den Tiltwinkeln +Θ und −Θ. Das thermodynamische Potential muß also eine gerade Funktion darstellen: g(+Θ) = g(−Θ) (1.13) g = g0 + aΘ2 + bΘ4 + cΘ6 + ... . (1.14) Aus der Bedingung Θ 6= 0 für T < TC folgt dann, daß a am Phasenübergang sein Vorzeichen ändert. Substituiert man : a = α(T − Tc ) für α > 0 (1.15) und bricht die Entwicklung nach dem Term sechster Ordnung ab, erhält man für die klassische Landau-Entwicklung der Freien Enthalpiedichte: g = g0 + α(T − Tc )Θ2 + bΘ4 + cΘ6 . (1.16) In dieser Form entscheidet der Koeffizient b über die Natur des Phasenübergangs. Ist b > 0 liegt ein Übergang zweiter Ordnung vor, ist b < 0 ein Übergang erster Ordnung. Für b > 0 und c ≈ 0 findet man mean-field Verhalten. Für c À b liegt der Charakter des Phasenübergangs nahe trikritischem Verhalten. α ist ein Maß für die Energie, die benötigt wird, um den Tiltwinkel durch äußere Kräft zu verändern. Somit ist α auch ein Maß für den elektroklinen Effekt (siehe Kapitel 1.1.5). Für große Werte von α ist der elektrokline Effekt klein. Die Temperaturabhängigkeit des Ordnungsparameters für mean-field Verhalten in der SmC*-Phase: · ¸0.5 −α Θ= für T < Tc (1.17) (T − Tc ) b resultiert aus Gleichung 1.16 mit den Bedingungen für thermodynamisches Gleichgewicht und Stabilität (Minimum des thermodynamischen Potentials): ∂g =0 ∂Θ ∂ 2g =0 ∂Θ2 und stimmt mit dem empirischen Potenzgesetz aus Gleichung 1.7 überein. (1.18) (1.19) Abb. 1.14 skizziert den Verlauf der Freien Enthalpiedichte g gegen den Ordnungsparameter Θ, sowie den Temperaturverlauf des Ordnungsparameters für einen Übergang erster und zweiter Ordnung. Für eine detaillierte Beschreibung des A*-C*-Übergangs mittels Landau-Theorie sei auf [9] verwiesen. Kapitel 2 Aufgabenstellung Die smektische Schichtdicke in regulären ferroelektrischen SmC*-Phasen verringert sich mit zunehmendem Tiltwinkel ihres Direktors. Daher sind thermische Tiltwinkelfluktuationen ursächlich mit Fluktuationen der smektischen Schichtdicke verknüpft. Die sogenannten de Vries-Materialien zeigen hingegen ein anomales Verhalten in Form einer weitgehend tiltwinkelunabhängigen smektischen Schichtdicke. Es ist bislang eine offene Frage, ob diese Anomalie zu einem veränderten Fluktuationsverhalten des Direktortilts führt. Tiltwinkelfluktuationen ferroelektrischer Flüssigkristalle werden als Softmode-Absorption im dielektrischen Spektrum beobachtet. Im Sinne der oben genannten Thematik ist es daher das zentrale Anliegen der vorliegenden Arbeit, die Softmode-Absorption in de Vries-Materialien mit dem bekannten Absorptionsverhalten regulärer ferroelektrischer Flüssigkristalle zu vergleichen. Im Einzelnen sind folgende Punkte zu bearbeiten: 1. Zusammenstellung wichtiger Ergebnisse und Gesetze zur dielektrischen Spektroskopie ferroelektrischer Flüssigkristalle aus der Literatur. 2. Auswahl geeigneter de Vries-Materialien sowie eines Referenzmaterials mit regulärer Schichtdickenänderung für die experimentellen Untersuchungen. 3. Systematische Untersuchung der Softmode-Absorption in diesen Materialien mittels dielektrischer Spektroskopie unter Variation von Temperatur, Probendicke und elektrischer Feldbelastung. 4. Auswertung ausgewählter Spektren anhand einer geeigneten Relaxationsfunktion. Analyse der Softmode-Absorption im Hinblick auf ihre Abhängigkeit von Temperatur und elektrischer Feldstärke. 5. Kritische Diskussion der erhaltenen Ergebnisse. Abschließender Vergleich mit dem Softmode-Verhalten regulärer ferroelektrischer Flüssigkristalle. 18