Ich will Arbeit!
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Ich will Arbeit!
4/2005 Dez/Jan/ Feb ZEITSCHRIFT DER AUSLÄNDERBEAUFTRAGTEN DES LANDES NIEDERSACHSEN H 5957 MEHR HEITEN MINDER HEITEN Ich will Arbeit! Probleme, Projekte, Potenziale Niedersachsen Ich will Arbeit! Probleme, Projekte, Potenziale Auf ein Wort Liebe Leserinnen, liebe Leser, gegenwärtig ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in Deutschland durch eine Zahl von fast 5 Millionen Arbeitslosen gekennzeichnet. In diesen Zeiten haben Migrantinnen und Migranten besonders schlechte Karten. Manchen wird der Zugang zum Arbeitsmarkt systematisch – das heißt auf gesetzlicher Grundlage – verwehrt. Einige müssen sich in Warteschleifen einrichten, weil sie keine Ausbildungsplätze bekommen. Andere sind nach einem mehr oder weniger langen Berufsleben dauerhaft arbeitslos. Doch die Zeiten waren auch mal anders. Vom „Wirtschaftswunder“ war die Rede, ausländische Arbeitskräfte wurden zu Millionen angeworben. Gazi Çaglar erinnert daran und zeichnet in seinem Beitrag den Weg vom „Gastarbeiter“ zum „niedergelassenen Arbeitslosen“ nach. Nicht wenige Migranten haben sich durch den Sprung in die Selbständigkeit vor Arbeitslosigkeit gerettet. Andere sind auf professionelle Unterstützung angewiesen, damit ihnen der Übergang von der Schule in den Beruf gelingt. Und daneben gibt es zurzeit wieder vermehrt Deutsche, die ihr berufliches Glück im Ausland suchen und selbst zu Migranten werden. Von all dem und von noch viel mehr handelt diese Ausgabe. Unsere Kinder von Gabriele Erpenbeck.............................................................................3 Thema Migration und Arbeit im Spiegel der letzten 50 Jahre Von Gastarbeitern zu niedergelassenen Arbeitslosen? von Gazi Çaglar...........................................................................................4 Chance: Selbständigkeit von Margarethe Petersen...........................................................................8 Arbeiten im Ausland „Jetzt ist Deutschland mich los“ von Susanne Immken................................................................................10 Hartz IV – bessere Arbeitsmarktchancen für Migranten? von Bernd Tobiassen.................................................................................12 Ausbildungsplätze statt Warteschleifen! Jugendliche Migranten zwischen Schule und Beruf von Dimitra Atiselli und Beatrix Herrlich................................................14 Forum Portrait: Hülya Feise von Marina Kormbaki...............................................................................17 „Bollywood“ Das große Gefühlskino Indiens von Nadja Karim.......................................................................................18 Familienprojekt Migration – Alles in Bewegung von Konrad Baer.......................................................................................20 Materialien zum Schwerpunktthema.....................................................22 Nachrichten...............................................................................................23 Impressum Herausgeberin/Verlegerin (ViSdP) und Redaktionsanschrift: Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport (MI) – Ausländerbeauftragte, Postfach 2 21, 30002 Hannover Produktion: Liza Yavsan, Tel. (05 11) 1 20-48 65, E-Mail: [email protected] Redaktion: Katerina M. Agsten, Gabriele Erpenbeck, Anette Hoppenrath, Ulrich Kowalke, Marianne Winkler, Liza Yavsan Titelfoto: Katerina M. Agsten Gestaltung: set-up design.print.media, Hannover · Druck: Sponholtz Druckerei GmbH & Co. KG, Hemmingen · Vertrieb: Lettershop Brendler GmbH, Laatzen Erscheinungsweise: jeweils Ende März, Juni, September, Dezember Bezugspreis: Die Zeitschrift kann gegen einen Kostenbeitrag (Einzelexemplar 2 € inkl. Versandkosten) bezogen werden. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin (wird gern erteilt). Alle Rechte vorbehalten. © Die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeberin und der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Materialien übernimmt die Redaktion keine Haftung; im Falle eines Abdrucks kann die Redaktion Kürzungen ohne Absprache vornehmen. Betrifft wird auf chlorfrei gebleichtem Material gedruckt. ISSN 0941-6447 BETRIFFT 4/2005 Auf ein Wort Unsere Kinder In Frankreich zerstören Jugendliche ihre eigene, trostloeinen, kriminelle Trittbrettfahrer die anderen. Starke Worte, Foto: Agsten se Welt. Wütend und zornig die die das Feuer weiter anfachen, und Polizeieinsätze, die oft zu spät kommen, weil die Kids ihre eigene Welt viel besser kennen als die Ordnungsmacht. Die hatte sich schon lange aus vielen Wohnquartieren zurückgezogen und aufgegeben dort für Recht und Ordnung zu sorgen. Die meisten der Jugendlichen sind französische Staatsangehörige. Ausweisung ist in diesen Fällen nicht möglich, sondern nur die Einsicht, dass es „die eigenen Kinder“ sind, die ganz offensichtlich ihren Zorn und ihre Wut über die Trostlosigkeit ihrer Lebensperspektiven ausleben. Sie wollen sich Gehör verschaffen, sie wollen eine Chance auf ein „normales“ Leben, sie wollen mitreden. Die oft gestellte Frage, welche Konsequenzen für Deutschland daraus zu ziehen sind, kann mit wenigen Stichworten beantwortet werden: Es geht um Prävention durch Integration. Wir müssen Mechanismen schaffen, die die Mitsprache im lokalen Umfeld sichern – gepaart mit klarer Grenzsetzung für das Verhalten in der Schule wie in der Freizeit. Nur wenn wir es schaffen, die Kinder und Jugendlichen der 3. und 4. Generation nicht allein durch Sprachförderung und Einbürgerung zu integrieren versuchen, sondern sie auch emotional mit ihren Städten und Gemeinden sowie an diese Gesellschaft insgesamt zu binden, können wir von gelingender Integration sprechen. Dazu gehört eine positive Zukunftsperspektive, der Abbau von Diskriminierungen im Alltag, realistische Aussichten auf einen Arbeitsplatz und vieles mehr. Manches ist aus vielerlei Gründen nur mittelfristig erreichbar, muss aber ernsthaft verfolgt werden. Anderes kann schon heute in die Tat umgesetzt werden. Es geht nämlich auch darum, alles zu tun, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Erfolgreiche Integration und zwar im umfassenden Sinne, ist auch ein zutiefst eigennütziges Interesse aller in diesem Land. Jugendliche, die keinen Hauptschulabschluss erreichen, werden sehr bald den Steuernzahlern auf der Tasche liegen. Das gleiche gilt für Jugendliche, die keinen Job geschweige denn einen Ausbildungsplatz bekommen, weil sie potenziellen Arbeitgebern wegen ihrer Herkunft nicht genehm sind. Es ist gleichzeitig eine unsinnige Ressourcenverschwendung z. B. geduldeten jungen Flüchtlingen die berufliche Ausbildung zu verweigern, „weil sie sich dann zu sehr integrieren“ würden. Das gilt für den Fall, dass einige vielleicht eines Tages doch ein verfestigtes Aufenthaltsrecht bekommen, wie den Fall, dass ihr Aufenthalt in Deutschland beendet wird und sie in ihrem Herkunftsland auf ihre beruflichen Erfahrungen aufbauen können. In Niedersachsen sind wir in den letzten Jahren ein gutes Stück in Sachen Integration weiter gekommen, wenngleich noch viele Wünsche und Vorschläge offen sind. Wir haben auch feststellen können, dass es trotz knapper Finanzen möglich ist, einen großen Strauß an Integrationsmaßnahmen vorzuhalten. Niedersachsen stellt dieses Jahr und aller Voraussicht auch im nächsten Jahr 60 Mio. € hierfür zur Verfügung. Integration ist kein milde zu belächelndes „weiches Thema“, sondern handfeste Arbeit, die – wenn sie seriös und nachhaltig geleistet wird – relativ schnell sichtbar Früchte für das ganze Gemeinwesen trägt. Gabriele Erpenbeck BETRIFFT 4/2005 Thema: Ich will Arbeit! Migration und Arbeit im Spiegel der letzten 50 Jahre Von Gastarbeitern zu niedergelassenen Arbeitslosen? Die Integration von Migranten über den Arbeitsmarkt funktioniert heute nicht mehr. Schon deshalb muss die gesellschaftliche und politische Integration mehr an Bedeutung gewinnen. „In der Jugendwerkstatt habe ich meinen Hauptschulabschluss nachgeholt und eine Ausbildung zum Ver- und Entsorger gemacht. Doch einen Arbeitsplatz habe ich nicht gefunden. Deshalb habe ich wieder an einer Maßnahme teilgenommen und bin Entrümpler geworden. Danach war ich wieder arbeitslos.“ (Fabiano R.) Zwischen der Geschichte von Rocco Artale und der von Fabiano R. liegen 40 Jahre, in denen sich die Situation in Deutschland von annähernder Vollbeschäftigung zu hoher Arbeitslosigkeit gewandelt hat. Der Arbeitsmarkt und die Migration Die Migration nach Deutschland ist, wenn die Aussiedler- und Fluchtmigration einmal ausgenommen wird, vor allem eine Arbeitsmigration, die sich immer schon jenseits aller gesellschaftspolitischen Gestaltung vorwiegend nach den Bedürfnissen der Wirtschaft gerichtet hat. Im Zuge der Wandlung Deutschlands vom Auswanderungsland des 19. Jahrhunderts zum bis heute BETRIFFT 4/2005 Foto: Archiv „Über was soll man sich unterhalten, wenn man arbeitslos ist? Das wichtigste war, Arbeit zu finden. Doch die gab es in Italien nicht. Deshalb bin ich nach Deutschland gegangen. Im Volkswagenwerk musste ich Sitzschienen einbauen. Das heißt: Ich musste auf das Band klettern, ins Auto steigen, die Sitzschiene einbauen und wieder runterklettern – 284 mal am Tag.“ (Rocco Artale) rechtlich nicht anerkannten Einwanderungsland hat die deutsche Wirtschaft Millionen von ausländischen Arbeitskräften benötigt. Sie dienten sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik und im rassistischen Nationalsozialismus mit seinen zahlreichen fremden Zwangsarbeitern, die teilweise bis heute auf Entschädigung warten, wesentlich den Verwertungsinteressen des Kapitals. Auch die Geschichte der Bundesrepublik läßt sich nach ihrer Ausländerbeschäftigungspolitik in verschiedene Phasen einteilen, die im Wesentlichen mit den Konjunkturverläufen der deutschen Wirtschaft korrespondieren. Die Einwanderung nach Deutschland wandelte sich seit den Anfängen und nahm verschiedene Formen an. Der industrielle Heißhunger nach Arbeitskräften wurde in Zeiten des Wohlstandes durch das Anwerben von arbeitsfähigen Männern und Frauen aus dem Ausland gestillt. Den angeworbenen „Gastarbeitern“ folgten nach dem Anwerbestopp 1973 ihre Familienangehörigen. Später kamen zunehmend mehr Asylsuchende und Spätaussiedler. Heute liegt die Zahl von Menschen, die Ausländer im Sinne des alten Ausländergesetzes und neuen Zuwanderungsgesetzes sind, bei etwa 7,3 Millionen. Hinzu kommen ca. vier Millionen Menschen mit Spätaussiedlerstatus sowie Eingebürgerte, die nicht mehr von der Ausländerstatistik erfaßt werden. Die gezielte Anwerbung von Arbeitskräften Eine gezielte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte mit vorübergehendem Aufenthalt aus dem Mittelmeerraum ist das Kennzeichen der Ausländerpolitik der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren. Die Bundesrepublik unterzeichnete Anwerbeverträge mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) und der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Die Menschen, die daraufhin kamen, wurden umgangssprachlich „Gastarbeiter“ genannt. Sie waren vorwiegend Arbeiter, kaum Gäste und hatten die Funktion, den Arbeitskräftemangel bestimmter Industriebranchen auszugleichen. Die jungen, einer Gesundheitskontrolle in ihren Heimatländern unterzogenen, in ihrer erdrückenden Mehrheit männlichen Arbeitskräfte waren in firmeneigenen Baracken und Sammelunterkünften vom Alltagsleben der deutschen Gesellschaft relativ abgeschieden. Als ungelernte und angelernte Arbeitskräfte arbeiteten sie überwiegend in industriellen Zweigen, in denen aufgrund steigender Ansprüche und Lohnerwartungen immer seltener Deutsche arbeiteten. In der als „Wirtschaftswunder“ romantisierten Periode sowie in wirtschaftlichen Krisenzeiten übernahmen sie als „Konjunkturpuffer“ eine wichtige Funktion. Sie konnten nach Ende ihres befristeten Arbeitsvertrages problemlos in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. Die Wissenschaft ist sich heute einig darin, dass ohne den millionenfachen Einsatz von rotierenden Gastarbeitern der wirtschaftliche Aufstieg der Bundesrepublik nach dem II. Weltkrieg nicht so schnell möglich gewesen wäre. Foto: Agsten (2) Menschen, die bleiben Die Ausländerbeschäftigung nahm in der wirtschaftlichen Krisenzeit 1966 – 1969 um ein Drittel ab. In der nachfolgenden wirtschaftlichen Erholungszeit nahm sie leicht zu. Abhängig von den Konjunkturzyklen war jedoch der so genannte Ausländeranteil von 1,2 % im Jahre 1960 auf etwa 4,9 % im Jahre 1970 gestiegen. 1973, als der Anwerbestopp mit dem Ziel der Beendigung der staatlichen Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften verfügt wurde, arbeiteten etwa 2,6 Millionen Menschen mit ausländischem Paß in Deutschland. Das existierende „Rotationsprinzip“ entsprach nicht ganz den Bedürfnissen der industriellen Produktion, die lieber eingewöhnte Arbeitskräfte beschäftigen wollte, als immer neue anzulernen. So verlängerten sich de facto die Aufenthaltszeiten der „Gastarbeiter“. Dadurch erhöhte sich auch der Nachzug von Familienangehörigen. Obwohl mit dem Eintreffen ausländischer Kinder und Jugendlicher in Deutschland soziale und bildungspolitische Fragen der Integration die Schule und die Ausbildungsinstitutionen erreicht hatten, blieb die deutsche Ausländerpolitik weiterhin restriktiv und versuchte durch Zuzugssperren für „überlastete“ Ballungszentren den Familiennachzug unter Kontrolle zu halten. Hatte bereits der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn, in einem Memorandum Konsequenzen aus der faktischen Einwanderungstatsache gefordert und gezielte Integrations- und Partizipationsprogramme empfohlen, hielten BETRIFFT 4/2005 Thema und mit der zunehmenden Verabschiedung der Rückkehroption zum festen Bestandteil bundesrepublikanischer Gesellschaft geworden sind – mit all den Problemen und Chancen, die daraus folgen. Foto: Agsten Integration auf dem Arbeitsmarkt funktioniert nicht mehr die Bundesregierungen bis weit in die 1990er Jahre an ihrer ausländerpolitischen Linie fest, Fragen der sozialen Integration auszuschließen und diese den Kommunen zu überlassen. Von vorausschauender und gesellschaftsverantwortlicher Politik konnte für diese Phase kaum die Rede sein. Vielmehr wurde die Arbeitsmigration vermengt mit „Asyl” („Scheinasylanten”) zum Gegenstand emotionaler Skandalisierung und wahlpolitischer Stimmungsmache in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit, so dass für diese Phase von einer migrationspolitischen Konzeptionslosigkeit und integrationspolitischen Blindheit gespochen werden kann. Die relativ parteiübergreifende und wirklichkeitsresistente Illusion, Deutschland sei kein Einwanderungsland, setzte an Stelle einer nüchternen Thematisierung integrationspolitischer Fragestellungen auf eine restriktive Gestaltung der Asylpraxis und die Einschränkung des Familiennachzugs sowie die gesetzliche „Förderung der Rückkehrbereitschaft”. Das neue Ausländergesetz von 1990 schuf jedoch – trotz aller Widersprüchlichkeit, die es enthält – Möglichkeiten zur weiteren Aufenthaltsverfestigung. Vor dem Hintergrund steigender Asylbewerberzahlen und sich häufender BETRIFFT 4/2005 rechtsextremistischer Überfälle auf Asylheime und Migranten nach dem Fall der Berliner Mauer einigten sich die großen Parteien 1993 auf den so genannten „Asylkompromiss”. Seit Inkrafttreten des neuen Asylrechts hat sich die Zahl der Asylsuchenden drastisch verringert. Sprunghaften Zuwachs gab es durch die Öffnung Osteuropas ab 1989 bei der Spätaussiedlermigration. Auch aus dieser Zuwanderergruppe geht die Zahl der Neuzugänge inzwischen in Folge gesetzlicher Einschränkungen und schwer zu überwindender Hürden – Sprachtest – stetig zurück. Parallel zu den genannten gesetzlichen Änderungen und der skizzierten Entwicklung reifte in den letzten Jahren eine pragmatische Migrations- und Ausländerpolitik heran. Deutlich wird dies durch die Greencard-Regelung, die Neugestaltung der Staatsbürgerschaft und das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz mit seinem Niederlassungsrecht, in dem das Wort Integration erstmalig auftaucht. Inzwischen hat die gesellschaftliche Wirklichkeit der Einwanderungsgesellschaft jenseits aller politischen Regelungsversuche und ideologischer Rhetorik zu einer de facto erfolgten Niederlassung von Menschen geführt, die in zweiter und dritter Generation Just in dem Moment, in dem die gesellschaftliche Reichtumsproduktion historisch bisher kaum vorstellbare Ausmaße angenommen hat, wird die Massenarbeitslosigkeit zur chronischen Erscheinung, die sich als Strukturproblem spätmoderner Gesellschaften auf der Grundlage bisheriger Konzepte einer Lösung entzieht. In der als Krise der Arbeitsgesellschaft fehldefinierten Situation, die exakter eine Krise der Lohnarbeitsgesellschaft ist, da unserer Gesellschaft nicht die Arbeit überhaupt, sondern unter dem Druck fortschreitender Rationalisierung, Automatisation und globaler Verlegung von Arbeitsplätzen die Lohnarbeit in bestimmten Branchen verloren geht, sind die migrantischen Arbeitskräfte besonders hart von Arbeitslosigkeit betroffen. Ihre Arbeitslosigkeit, die von ihnen wie bei ihren einheimischen Mitbetroffenen als ein Gewaltakt gegen ihre körperliche und psychische Integrität erfahren wird und materielle und psychische Verarmungsprozesse zur Folge hat, hat neben allgemeinen Krisentendenzen der Gesamtgesellschaft auch migrationsbedingte Ursachen. Definieren wir die Integration von Migrantinnen und Migranten in den letzten 50 Jahren als eine vor allem über den Arbeitsmarkt vermittelte, wird die Brisanz der erdrückenden Realität ihrer zunehmenden Ausschließung vom Arbeitsmarkt deutlicher. Ihre Arbeitslosigkeit hat inzwischen eine Rekordhöhe erreicht. Lag die Zahl der ausländischen Arbeitslosen in den 1970er Jahren unter 5 %, nahm sie nach 1980 um das Dreifache zu (ca. 15 %). Sie wurden zum Opfer ihrer Rolle als Konjunkturpuffer. Nach dem vorübergehenden Anstieg der Ausländerbeschäftigung Anfang der 1990er Jahre steigt die migrantische Arbeitslosigkeit seit 2001 kontinuierlich: 2004 betrug die Arbeitslosenquote bei Migranten 20,7 % (allgemeiner Wert: 11,7 %), nach Einbeziehung der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger 27 % (allgemeiner Wert: 12,7 %). Diese Zahlen schnellen in weitere Höhen, sobald wir Städte und Regionen betrachten, worauf an dieser Stelle verzichtet werden soll. Die einzige Steigerung der Ausländerbeschäftigung ist im Bereich der Saisonarbeiter zu verzeichnen: Von etwa 129.000 im Jahre 1991 auf etwa 334.000 im Jahre 2004. Die hohe Arbeitslosenquote bei Migrantinnen und Migranten kann nicht nur mit dem Hinweis erklärt werden, dass im Zuge der Wandlung der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft zunehmend mehr die Branchen für angelernte und ungelernte Tätigkeiten verschwinden und daher die unqualifizierten ausländischen Arbeitskräfte „Opfer des Strukturwandels” geworden sind. Hinzu kommt die gängige Praxis der Arbeitsvermittlung, die auf gesetzlicher Grundlage so genannte Drittstaatsangehörige und damit z. B. Menschen türkischer Staatsangehörigkeit nachrangig vermittelt. Außerdem wird bei Zugewanderten wenig Wert auf die mitgebrachten Qualifikationen gelegt. Vielmehr werden die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen durch die Nichtanerkennung zahlreicher mitgebrachter Bildungsnachweise z. B. bei Flüchtlingen und Spätaussiedlern regelrecht vergeudet. und Migranten wird auf Leistungen „deutlich unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums” verwiesen. Auch nach dem Zuwanderungsgesetz hängen ausländerrechtliche Entscheidungen maßgeblich von der Sicherung des Lebensunterhalts ab. Tatsächlich eröffnet das Zuwanderungsgesetz lediglich beschränkte Einwanderungsmöglichkeiten für hochqualifizierte Kräfte, Spezialitätenköche, Pflegekräfte und Investoren, die besondere Kriterien erfüllen müssen. Dagegen wird z. B. die Familienzusammenführung durch Kriterien der Sicherung des Lebensunterhaltes und die Forderung von Deutschkenntnissen weiter verschärft. Die gegenwärtige migrantische Arbeitslosigkeit und die Ursachen ihrer Rekordhöhe zwingen zu der Schlussfolgerung, dass die Integration heute und in der nahen Zukunft nicht als Arbeitsmarktintegration funktionieren wird. Die gesellschaftliche und politische Integration gewinnt zunehmend an Bedeutung. Diese Einsicht legt altbekannte, aber wegen ihres faktischen Ausbleibens bzw. ihrer Halbherzigkeit immer wieder neu zu fordernde Schritte und Maßnahmen nahe: • konsequente interkulturelle Öffnung und mehr Beschäftigung von Migrantinnen und Migranten im öffentlichstaatlichen Sektor; • Förderung von gezielten Qualifikationsmaßnahmen, die reale Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen; • mehr politische und gesellschaftliche Partizipationschancen für die migrantische Bevölkerung, damit diese mit realer Macht ausgestattet wird; • Abbau vorhandener Diskriminierungspraktiken auf dem Arbeitsmarkt; • interkulturelle Umgestaltung des Schul- und Ausbildungssystems, damit sich die Erfolgs- und Berufsaussichten der zweiten und dritten Generation der migrantischen Bevölkerung erhöhen; • Legalisierung der im Schattenarbeitsmarkt (häusliche Pflege usw.) Beschäftigten, deren Zahlen in der Wissenschaft auf weit mehr als eine Million geschätzt werden. Deutschlands Zukunft wird sich nicht zuletzt an der Zukunft seiner migrantischen Bevölkerung entscheiden. Ein Hinausschieben notwendiger Maßnahmen und die Flucht vor der Verantwortung mit Hilfe kulturalistischer Scheindebatten kann nur zu weiterer Problemanhäufung führen. Prof. Dr. Gazi Çaglar Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen Dorothee Frings kommt in ihrer juristischen Expertise und materialreichen Studie zu „Arbeitsmarktreformen und Zuwanderungsrecht” zu alarmierenden Schlussfolgerungen und Thesen: Die Arbeitsmarktreformen würden zwar den migrantischen Arbeitskräften eine Zugangsverbesserung zum Arbeitsmarkt versprechen, jedoch ihr Risiko erhöhen, in unterbezahlte und unqualifizierte Beschäftigung abgedrängt zu werden. Auch das neue Zuwanderungsgesetz schaffe zwar für einen Teil bessere Arbeitserlaubnisse, grenze aber einen erheblichen Teil noch rigider als bislang aus dem Arbeitsmarkt und den Instrumenten der Arbeitsmarktförderung aus. Die migrantischen Familien sind von der Absenkung der existenzsichernden Leistungen besonders hart betroffen. Ein Teil der Migrantinnen Foto: Winkler Arbeitsmarktreformen und Zuwanderungsgesetz BETRIFFT 4/2005 Foto: Winkler Thema Chance: Selbständigkeit Eine Alternative zur Arbeitslosigkeit ist für viele Migrantinnen und Migranten die berufliche Selbständigkeit. Wie das Zentrum für Türkeistudien beobachtet hat, ist die Zahl der selbständigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland in den letzten Jahren stetig gestiegen. Allein die Zahl der türkischen Unternehmen hat im Vergleich der Jahre 2002 zu 2003 um 7 % zugenommen. Über 60.000 türkische Unternehmen erwirtschafteten dabei 2003 einen Jahresumsatz von 28,9 Mrd. Euro! Diese Tendenz spiegelt sich auch in dem Qualifikationsbedarf dieser Zielgruppe wieder. Die Handwerkskammer LüneburgStade führte in den Jahren 2002 – 2005 im Rahmen der EU-Gemeinschaftsinitiative EQUAL ein Projekt zur beruflichen Qualifikation von Migrantinnen durch. Über 400 Frauen haben sich im Rahmen dieses Projektes in verschiedenen Bereichen qualifiziert. Der Interessenschwerpunkt lag dabei auf der kaufmännischen Weiterbildung. Grundlagen des Rechnungswesen und der Kostenrechnung, Wirtschaftslehre und Steuerrecht waren ebenso gefragt wie Weiterbildungen am PC verknüpft mit kaufmännischen Komponenten. Vorab wurde mit jeder Migrantin ein persönliches Beratungsgespräch geführt, um den inhaltlichen Schwerpunkt der Weiterbildung festzulegen. Dabei wurde auch über die Beweggründe gesprochen. Oft stellte sich heraus, dass die Weiterbildung gesucht wurde, um selber selbständig tätig zu werden, oder um den Ehepartner in der Selbständigkeit zu unterstützen. Für jede einzelne Teilnehmerin wurde ein abgestimmter Qualifizierungsplan erstellt, der einerseits die notwendigen Qualifikationsprofile enthielt, zum anderen aber auch die individuellen Leistungsmöglichkeiten berücksichtigte. Foto: Agsten (2) Warum selbständig? BETRIFFT 4/2005 Selbständigkeit ist für die meisten Migrantinnen und Migranten eine Chance aus der Arbeitslosigkeit heraus zu kommen aber sie ist auch eine Frage des Prestiges. Arbeitslosigkeit trifft Mig- Foto: Ausstellung „hier geblieben“, Costantini rantinnen und Migranten überproportional. Mangelnde Deutschkenntnisse, restriktive Rahmenbedingungen, unzureichende Informationen über Ausund Weiterbildungsmöglichkeiten sowie fehlende Qualifikationsnachweise oder die Nichtanerkennung von Ausbildungen aus den Herkunftsländern sind nur einige Ursachen. Die Begründung: „Ich möchte endlich eine in Deutschland anerkannte Qualifikation vorweisen können“, war in vielen Beratungsgesprächen zu hören. Selbständigkeit ist darüber hinaus für viele eine Frage der eigenen Lebensqualität. In den meisten Herkunftsländern genießt Selbständigkeit ein hohes Ansehen. Sie vermittelt die Vorstellung von Sicherheit, besseren Verdienstmöglichkeiten und nicht zuletzt auch der persönlichen Aufwertung. Bis vor einigen Jahren gab es nur sehr wenige „typische“ Branchen, in denen Migrantinnen und Migranten ihre Chance zur Selbständigkeit sahen – der „Italiener um die Ecke“; der kleine „türkische Laden“; das „spanische Restaurant“ oder auch der „polnische Fugerbetrieb“. Die neue Generation heute erobert nun den Dienstleistungssektor. Beflügelt durch die Möglichkeit zur Gründung einer Ich-AG suchen Migrantinnen und Migranten ihre Chance im IuK-Bereich, in der Werbebranche oder im Pflegebereich. Potenziale Viele Migrantinnen und Migranten der neuen Generation verfügen über Sprachkenntnisse, die sie nutzen können, z. B. in Form einer freiberuflichen Tätigkeit als Übersetzerin oder Übersetzer. Sofern sie daneben über entsprechende Englisch- und Deutschkenntnisse verfügen, bieten sich gute Chancen für eine selbständige Tätigkeit. Insbesondere für Frauen ist dies eine Möglichkeit der Erwerbstätigkeit, die mit der Familienarbeit vereinbar ist. Ein weiterer Aspekt, der noch nicht immer als Chance gesehen wird, ist ihre interkulturelle Kompetenz. Erfahrungen mit verschiedenen Kulturen können im Umgang mit Geschäftspartnern von großem Vorteil sein. Das muss vor allem im Hinblick auf die EU-Erweiterung viel stärker bei der Unternehmenskonzeption berücksichtigt werden. rung als Chance zur Selbständigkeit kann nur funktionieren, wenn sie einher geht mit guten Deutschkenntnissen in Wort und Schrift. Trotz des anhaltenden Gründungsbooms scheiden ebenso viele Betriebe, die von Migrantinnen oder Migranten gegründet werden, wieder schnell aus dem Markt aus. Es fehlt ihnen ein nachhaltiges Konzept. Langfristig angelegte Geschäftskonzepte und Finanzierungspläne sind für das Überleben eines Betriebes notwendig. Was ist zu tun? Um Risiken zu minimieren, ist eine gezielte Beratung und Förderung erforderlich. Sie muss Informationen zu steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Fragen, zu öffentlichen Förderprogrammen und zur Erstellung von Unternehmenskonzepten ebenso beinhalten, wie Informationen und Hilfestellungen im Umgang mit Banken und Behörden. Nur wenn die Unternehmen mit einem plausiblen Standortkonzept und einem langfristig angelegten Finanzierungsmodell aufwarten können, haben sie eine gute Chance, sich am Markt zu behaupten. Margarethe Petersen Handwerkskammer Lüneburg-Stade Risiken Die Sprachkompetenz der Migrantinnen und Migranten ist ein nicht zu unterschätzendes Potenzial, aber gerade mangelnde Deutschkenntnisse bedeuten das vorzeitige Aus für eine selbständige Tätigkeit. Der Umgang mit Geschäftspartnern, Behörden und Institutionen kann nur dann reibungslos funktionieren, wenn die Verständigung gewährleistet ist. Berufliche Qualifizie- BETRIFFT 4/2005 Thema Arbeiten im Ausland „Jetzt ist Deutschland mich los“ Reise ohne Rückfahrkarte: 10.000 Jobsuchende lassen sich vom Arbeitsamt eine Stelle im Ausland vermitteln – viele kehren nicht mehr nach Deutschland zurück. Foto: Agsten Es ist noch kein Jahr her, da stand Jens Rosenthal ab sechs Uhr in der Werkstatt. Der 39-Jährige fertigte Holzmöbel an: Schränke für die Küche, Schreibtische und Regale fürs Büro, je nach Auftraggeber. Norwegen schien damals weit weg, ein Urlaubsland, mit dem der Detmolder schöne Erinnerungen verband. Dann machte die Werkstatt Pleite, es war bereits die vierte Insolvenz, die der Tischler miterleben musste. Aber diesmal fand er keine neue Stelle. Seit Januar schon ist er arbeitslos, und Norwegen ist inzwischen ein ganzes Stückchen näher gerückt. Noch in diesem Jahr wird Rosenthal nach Oslo ziehen. Einen Job hat er dort bereits gefunden. Das Arbeitsamt hat den Kontakt vermittelt. 10 BETRIFFT 4/2005 Der 39-Jährige freut sich. Dennoch: „Ein bisschen wurmt es mich, dass ich das Land verlassen muss, um eine Anstellung zu bekommen.“ 10.000 Deutsche wird die Bundesagentur für Arbeit in diesem Jahr ins Ausland vermitteln, darunter Maurer, Dachdecker, Fliesenleger, Zimmerer, Kfz-Mechaniker und Krankenpfleger. Grundsätzlich können Bewerber aus allen Berufsbereichen berücksichtigt werden, solange sich eine Stelle für sie findet. Die Auswanderer gehen dorthin, wo sie gebraucht werden – beispielsweise nach Skandinavien, Großbritannien, Irland und in die Niederlande. Spezielle Lehrgänge bereiten sie auf diesen Aufenthalt vor. Die Kurse, die in verschiedenen Städten Deutschlands angeboten werden, dauern bis zu zwölf Wochen. Sie werden von Bildungsinstituten vor Ort geleitet. Die Kosten trägt das Arbeitsamt, das für die Vermittlung und die Betreuung den so genannten „Europaservice“ eingerichtet hat. 2005 sind dafür insgesamt vier Millionen Euro vorgesehen. Für Bewerber aus Niedersachsen ist der Europaservice in Bremen zuständig. Die Lehrgänge rechnen sich, selbst wenn die Teilnehmer nur vorübergehend im Ausland bleiben, betont Annette Freitag, stellvertretende Leiterin des Europaservice in Hamburg. „Sie kommen mit neuen Erfahrungen zurück, die ihre Berufschancen insgesamt verbessern.“ Gleichzeitig wird die Gemeinschaft für die Dauer des Aufenthaltes finanziell entlastet. Gefördert wird ohnehin nur, wer eine realistische Chance auf eine Stelle hat. Bewerber brauchen eine abgeschlossene Berufsausbildung und auch die Bereitschaft, eine neue Sprache zu lernen. Schwierig sei es, noch einmal die Schulbank zu drücken, Vokabeltests, Klausuren und Prüfungen zu meistern, berichtet der CNC-Fräser Henry Paschukos. Er besucht mit Rosenthal eine Schulung im „Nordic Center“ der Weiterbildungsgesellschaft MBH in Flensburg. Die Männer lernen norwe- Foto: Immken gisch. 40 neue Wörter jeden Tag. Paschukos hat bereits einen Arbeitgeber in Oslo gefunden und auch schon einen Vorvertrag unterschrieben. Die Reise ist für ihn dennoch „ein Sprung ins kalte Wasser“. Der 40-Jährige war noch nie in Norwegen, nicht einmal Urlaub hat er dort gemacht. Die Mehrzahl der Bewerber kommt aus den neuen Bundesländern. Ostdeutsche seien wohl „aus der Not heraus“ mobiler als Westdeutsche, vermutet Freitag. „Die Hamburger lassen sich ungleich schwerer über die Elbe locken.“ Doch auch in Westdeutschland sei das Interesse gewachsen. Seit Hartz IV ist der Druck gestiegen. „Die Arbeitslosigkeit ist für viele nicht nur ein finanzielles Problem. Sie frustriert und kann sogar krank machen“, sagt Freitag. Ein Job im Ausland ist eine zweite Chance, nicht nur für junge Menschen. Auch Ältere können in Skandinavien durchaus eine feste Stelle finden, berichtet Karl-Detlev Fehlhaber. Er ist Geschäftsführer der Weiterbildungsgesellschaft MBH in Flensburg, die seit sieben Jahren Berufstätige betreut, die auswandern wollen. Die Unternehmer in Skandinavien seien oft verwundert darüber, dass ein 47-jähriger Handwerker in Deutschland schwer vermittelbar sei. „Sie fragen dann: Wieso kriegt der keinen Job? Er kann doch noch 18 Jahre arbeiten.“ Die norwegischen Arbeitgeber seien „äußerst zufrieden“ mit den Gastarbeitern, berichtet Fehlhaber. „Die Deutschen gelten als fleißig und gut ausgebildet. Sie finden sich schnell auf dem neuen Arbeitsmarkt zurecht.“ So stellt sich in der Fremde für manchen doch noch beruflicher Erfolg ein – nach Jahren der Arbeitslosigkeit. Problematisch ist es allerdings, wenn dafür die Familie zurückgelassen werden muss. Heiko Traulsen kann seinen Sohn Hendrik nicht mitnehmen. Der 40-jährige Zimmerer aus Rendsburg ist geschieden. Das Kind lebt bei der Mutter. Alle zwei Wochen war bislang Besuchstag. So häufig werden die beiden sich nicht mehr sehen können. Der 6jährige sei dennoch „froh, dass sein Vater wieder Arbeit hat“, glaubt Traulsen. Anderthalb Jahre war der Handwerker ohne eine Stelle. „Nun gibt es Geld, dann kann ich mit meinem Jungen mal wieder etwas unternehmen“, sagt er. Und: „Ich bin ja nicht aus der Welt.“ Kay Kniestedt hat Sohn und Tochter auch in Deutschland mitunter tagelang nicht gesehen. Er baute auf Konzerten die Bühne und die technischen Anlagen auf. Ein Arbeitstag mit zwölf Stunden oder mehr war da keine Seltenheit. Das Geld hat für die vierköpfige Familie trotzdem nicht gereicht. Irgendwann war es genug. Der 38jährige Cottbuser kündigte. Einen neu- Ein Sprung ins kalte Wasser: Henry Paschukos, Jens Rosenthal, Heiko Traulsen und Kay Kniestedt (von links) werden noch in diesem Jahr nach Norwegen ziehen. en Job fand er nicht, obwohl er mehr als hundert Bewerbungen verschickt hat. Seit Januar lebt der CNC-Programmierer von Hartz IV. „Wenn du in der Schublade erst einmal drin bist, kommst du nicht mehr raus“, glaubt er. Jetzt will er weg von der Ellenbogengesellschaft, weg von dem leidigen Ruf „des Ostdeutschen, der für die Hälfte arbeitet“. Er zieht mit Frau und Kindern nach Norwegen. Es wird ein Abschied für immer. „Für mich kann es dort nur besser werden.“ Die meisten entscheiden sich, in der Wahlheimat zu bleiben, sagt Fehlhaber. Manche der früheren Schulungsteilnehmer haben sogar schon die Einbürgerung beantragt. „Die sehen wir nicht wieder. Da flattert höchstens noch eine Postkarte in unser Schulungszentrum.“ Einer hat seine Grüße gleich nach dem Grenzübertritt abgeschickt. Einen lächelnden Wikinger hat er gemalt und daneben geschrieben: „Jetzt ist Deutschland mich los.“ Susanne Immken Journalistin, Hannover BETRIFFT 4/2005 11 Thema Hartz IV – bessere Arbeitsmarktchancen für Migranten? Mit der Hartz IV-Reform hat der Gesetzgeber die bisherigen Sozialleistungen und die Zuständigkeiten zur Arbeitsmarktintegration neu geordnet. 12 BETRIFFT 4/2005 Die Agenturen für Arbeit sind für Arbeitslose zuständig, die aufgrund eines Anspruches aus der Arbeitslosenversicherung Arbeitslosengeld I erhalten. Die neuen Hartz IV-Behörden (in der Regel Arbeitsgemeinschaften aus Arbeitsagentur und Kommunen, in manchen Regionen auch in alleiniger Verantwortung der Kommunen) sind für diejenigen Arbeitslosen zuständig, die früher Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe erhielten. Diese Arbeitslosen bekommen jetzt für sich und ihre Familienangehörigen Arbeitslosengeld II und ggf. Sozialgeld nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Die Hartz IV-Behörden sind neben der Leistungsgewährung auch für Arbeitsvermittlung und Fördermaßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt (z. B. Qualifizierungsangebote, Lohnkostenzuschüsse, 1-Euro-Jobs) zuständig. Diese Leistungen und Fördermaßnahmen können AusländerInnen ebenso beanspruchen wie Deutsche, sofern sie eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis besitzen. Allerdings hat der Gesetzgeber einige Personengruppen mit einer humanitären Aufenthaltserlaubnis (früher Aufent- haltsbefugnis) aus diesem Sozialsystem herausgenommen und in den Wirkungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) verschoben. So erhalten z. B. AusländerInnen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes keine Leistungen nach dem SGB II, sondern lediglich nach dem AsylbLG. Es handelt sich hierbei um Personen, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen und im Asylverfahren gescheitert sind, aber wegen einer längerfristigen rechtlichen oder tatsächlichen Unmöglichkeit der Ausreise (z. B. Krankheit, familiäre Bindungen zu Personen mit rechtlichen Abschiebungshindernissen) eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis erhalten haben. Leistungsrechtlich werden sie jedoch wie AsylbewerberInnen und geduldete Flüchtlinge behandelt. Das hat zum einen zur Folge, dass sie drei Jahre lang Leistungen erhalten, die etwa 30 % unter den Regelleistungen des SGB II liegen. Erst nach drei Jahren erhalten sie Leistungen in gleicher Höhe, wobei frühere Leistungszeiten angerechnet werden. Allerdings bleiben sie auch mit dem höheren Leistungssatz im AsylbLG, so dass das Sozialamt für sie zuständig bleibt. Foto: Agsten (3) Früher bekam dieser Personenkreis Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz oder (bei entsprechenden vorherigen Beschäftigungszeiten) Arbeitslosenhilfe und konnte vom Sozialamt über kommunale Beschäftigungsprogramme und Eingliederungsmaßnahmen oder bei Arbeitslosenhilfebezug vom Arbeitsamt gefördert werden. Diese Förderung ist jetzt den Hartz IV-Behörden übertragen worden, so dass die Sozialämter in aller Regel nur noch als Leistungsbehörde arbeiten, aber keine eigene Beschäftigungsförderung mehr anbieten. Da diese Personen beim Sozialamt bleiben und die Hartz IV-Behörden für sie nicht zuständig sind, erhalten sie von dort keinerlei Förderung und können die Angebote zur Arbeitsvermittlung und Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung nicht in Anspruch nehmen. Die Verschiebung dieses Personenkreises in das AsylbLG hat dazu geführt, dass eine berufliche Integration nicht mehr gefördert wird. Obwohl diese Personen einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel und oftmals bereits eine unbeschränkte Arbeitserlaubnis besitzen und in vielen Fällen langfristig oder dauerhaft in Deutschland bleiben, sind sie auf sich allein gestellt, um einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu finden. Angesichts einer weit überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit von MigrantInnen sind ihre Chancen, aus eigener Kraft einen Arbeitsplatz zu finden, jedoch sehr gering. Als zusätzliche Schwierigkeit kommt hinzu, dass sie oftmals nicht über in Deutschland anerkannte schulische und berufliche Qualifikationen verfügen. So haben z. B. in Ostfriesland über 80 % der MigrantInnen aus Nicht-EU-Staaten keine anerkannte Berufsausbildung. Ohne eine Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung und ohne Angebote zur beruflichen Förderung und Qualifizierung haben diese Personen kaum realistische Chancen auf dem Arbeitsmarkt, so dass ihr Ausschluss von den Förderangeboten der Hartz IV-Behörden das Problem ihrer dauerhaften Arbeitslosigkeit zusätzlich verschärft. Jugendliche und junge Erwachsene sind ebenfalls betroffen. Zwar sieht die Hartz IV-Reform eine besondere Förderung junger Menschen vor – und die Arbeitsagenturen und Hartz IV-Behörden sowie auch die verschiedenen Kammern bieten besondere Fördermaßnahmen zur Vermittlung in Ausbildung und Arbeit an. Diejenigen, die durch die Verschiebung in das AsylbLG von der Hartz IV-Reform ausgeschlossen sind, können diese Angebote jedoch nicht in Anspruch nehmen. Haben sie keinen guten Schulabschluss erworben, werden sie ohne Förderangebote kaum eine Möglichkeit haben, einen Ausbildungsplatz zu finden und eine berufliche Zukunftsperspektive zu entwickeln. Welchen Zweck der Gesetzgeber damit verfolgt hat, bestimmte Personengruppen mit einer humanitären Aufenthaltserlaubnis in das Asylbewerberleistungsgesetz zu verschieben, ist mir nicht bekannt. Möglicherweise ging es vorrangig um Kosteneinsparungen bei den Sozialleistungen. Durch den damit verursachten Ausschluss von den Vermittlungs- und Förderangeboten der Hartz IV-Reform dürfte aber in vielen Fällen das Gegenteil erreicht werden. Die betroffenen Personen haben dadurch schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und bleiben langfristig auf Sozialleistungen angewiesen, von den sozialen Folgekosten einer dauerhaften Arbeitslosigkeit besonders von jungen Menschen ganz abgesehen. Diese Regelung ist für die betroffenen MigrantInnen negativ – und der Gesetzgeber hätte sehen müssen, dass sie auch gesamtgesellschaftlich problematisch und unsinnig ist. Bernd Tobiassen Diplom-Pädagoge, Deutsches Rotes Kreuz – Kreisverband Aurich e. V., EQUAL-Projekt „Berufliche Eingliederung von Zugewanderten“ im Rahmen der Gemeinschaftlichen Entwicklungspartnerschaft für Nachhaltigkeit und Innovation auf dem Arbeitsmarkt (GENIA) BETRIFFT 4/2005 13 Thema Ausbildungsplätze statt Warteschleifen! Jugendliche Migranten zwischen Schule und Beruf Da läuft etwas in die falsche Richtung: In Berlin sind von 34.000 anerkannten IHK-Ausbildungsplätzen lediglich 490 mit türkischen Jugendlichen besetzt. Bundesweit sinkt die Ausbildungsquote bei jungen MigrantInnen! Die Ursachen dafür sind hinlänglich bekannt: • Jugendliche mit Migrationshintergrund verfügen über schlechtere Schulabschlüsse. • Sie sind in den Berufsbildenden Schulen überproportional in Warteschleifen vertreten, die nicht zu einem anerkannten Berufsabschluss führen. • Ihr Berufswahlspektrum ist viel enger als das der deutschen Jugendlichen. • Ihren Eltern fehlt oft der Zugang zu wichtigen innerbetrieblichen Netzwerken. • Es ist nach wie vor schwierig Betriebe zu finden, die bereit sind, Jugendliche ausländischer Herkunft auszubilden. • Betriebliche Selektionsmechanismen und Auswahlkriterien benachteiligen junge MigrantInnen. Was ist zu tun? Die Suche nach einem Ausbildungsplatz ist für viele ein Weg ständiger Misserfolge. Ohne gezielte Investitionen in den Übergang von der Schule zum Beruf wird sich diese Situation nicht ändern. Junge Migrantinnen und Migranten bedürfen besonderer Unterstützung, damit die Eingliederung in die Arbeitswelt gelingt. Hier ist die Jugendberufshilfe als Teilbereich der Jugendsozialarbeit gefragt, die unmittelbar am Problem des 14 BETRIFFT 4/2005 Übergangs von der Schule in den Beruf (erste und zweite Schwelle) in Form von Beratung, Berufsvorbereitung, Ausbildung und Beschäftigung ansetzt. Die Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen (LAG JAW) unterstützt und begleitet fachlich die niedersächsischen Programme der Jugendberufshilfe, schwerpunktmäßig im Bereich Migration, durch Beratung, Fortbildung und Qualifizierung. Diese Programme haben die Aufgabe, eine dauerhafte Eingliederung von benachteiligten Jugendlichen in den ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt durch individuelle und passgenaue Unterstützung zu ermöglichen. 44 Pro-Aktiv-Centren (PACE) wurden in niedersächsischen Landkreisen und kreisfreien Städten mit dem Ziel eingerichtet, die Sozial- und Jugendhilfe mit der aktiven Arbeitsmarktpolitik und der kommunalen Wirtschaft zu vernetzen, sowie alle relevanten Akteure vor Ort in die Integrationsabläufe einzubeziehen. Zusätzlich wurden an das Pro-AktivJugendprogramm Projekte angedockt mit dem Ziel, junge MigrantInnen bei der beruflichen Integration zu unterstützen. Am 1. November 2004 hat beispielsweise das Projekt „Ich bewerbe mich“ für Mädchen zum Thema Berufswahl begonnen. Es soll im Rahmen des ProAktiv-Jugendprogramms zur Erweiterung des Berufswahlspektrums von Mädchen und jungen Frauen beitragen, um damit langfristig Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. Foto: Winkler Fabiano R. ist einer von vielen, der – nach einer längeren Zeit ohne Ziel – in einer Jugendwerkstatt seinen Hauptschulabschluss nachgeholt und anschließend einen Ausbildungsplatz gefunden hat. Anfangs war er von der Jugendwerkstatt nicht begeistert. Er kannte weder den Stadtteil noch die Leute. Doch dann hat ihn sehr beeindruckt, wie mit ihm umgegangen wurde – er fühlte sich akzeptiert. „Da waren endlich Leute, die mir zugehört und die mich auch gefördert haben!“ Und die Teamer drängten ihn, eine Ausbildung zu beginnen. „Alles zusammen war wichtig. Wenn es nur Druck gewe- sen wäre, dann wäre ich bestimmt wieder ausgebrochen.“ In der Rückschau findet er es wichtig, dass die Anforderungen der Jugendwerkstatt-Teamer an die Jugendlichen stufenweise und typabhängig gestaltet werden, damit sie „durchhalten“. Auf Grund seiner eigenen Erfahrungen hat er in den letzten Jahren selbst schon mehrere Jugendliche an eine Jugendwerkstatt vermittelt. Die LAG JAW unterstützt (in Kooperation mit der Universität Hannover und im Auftrag des Sozialministeriums) die Jugendwerkstätten und die PACE bei der beruflichen Integration junger Foto: Agsten Ausgehend vom Prinzip der aufsuchenden Arbeit der PACE werden Mädchen aus allgemeinbildenden Schulen in Niedersachsen, besonders aus Hauptund Realschulen sowie Förderschulen, angesprochen. Ein Schwerpunkt wird dabei auf Mädchen ausländischer Herkunft gelegt. Darüber hinaus werden Eltern gezielt einbezogen und informiert, damit sie ihre Töchter im Prozess der Berufsfindung ermutigen und bestärken können. Auch die Ressourcen der Kooperativen Migrationsarbeit sollen genutzt werden, um die Arbeit der PACE zu unterstützen mit dem Ziel, die Chancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund weiter zu verbessern, damit sie zu Praktikums-, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen gelangen. Hierzu sind sowohl Angebote zur Förderung der Ausbildungs- und Beschäftigungsbereitschaft von Betrieben gezielt zu stärken als auch die Beratungs- und Unterstützungsangebote für die jungen Migrantinnen und Migranten nachhaltig zu verbessern. Einen wesentlichen Beitrag zur beruflichen Orientierung, Qualifikation und Eingliederung in die Arbeitswelt leisten auf lokaler Ebene auch die mehr als 100 vom Land geförderten Jugendwerkstätten. Sie vermitteln allgemeine und berufliche Bildung sowie soziale Kompetenzen, die eine Integration in die Arbeitswelt unterstützen. Individuell zugeschnittene Förderpläne und Qualifizierungsbausteine sind die Grundlage für eine schrittweise berufliche Qualifizierung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt. BETRIFFT 4/2005 15 Thema Foto: Archiv dig, denn die überproportional von Arbeitslosigkeit bedrohten Jugendlichen mit Migrationshintergrund wachsen mit vielen Risiken und Problemlagen auf. Ihre Ausbildungsbeteiligung geht in den letzten Jahren kontinuierlich zurück. Es ist notwendig, unter Beteiligung der Jugendberufshilfe, der Schulen, der Kammern und der Betriebe, die Angebote der verschiedenen Einrichtungen und Institutionen in der Region zu vernetzen und zu koordinieren. Dadurch soll • der Zugang zu einer betrieblichen Ausbildung für Jugendliche mit Migrationshintergrund verbessert und • eine interkulturelle Öffnung der Betriebe erreicht werden. • Neben dem Handlungsfeld Ausbildung, Qualifizierung und Beratung sollte auch der Antidiskriminierung größere Beachtung geschenkt werden. Menschen durch das flankierende Projekt „Unternehmen und Jugend: Start in die Zukunft“. Dabei werden die Bereiche Jugendsozialarbeit und Wirtschaft stärker vernetzt. UnternehmerInnen deutscher und ausländischer Herkunft werden durch vielfältige Angebote und Aktivitäten – z. B. durch Netzwerkmessen – informiert und motiviert, für junge Menschen mehr Praktikums-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Die Resonanz ist positiv. Forderungen Trotz der genannten niedersächsischen Angebote ist die Situation von vielen Jugendlichen mit Migrationshintergrund beim Übergang Schule-Beruf weiterhin dringend verbesserungswür- Foto: Agsten Vor allem wird es aber darauf ankommen, die Ressourcen der Jugendlichen (z. B. Zweisprachigkeit, kulturelle Mobilität) zu entdecken, anzuerkennen und weiterzuentwickeln und dies insbesondere den Bildungsinstitutionen und der Wirtschaft zu vermitteln. Keine Gesellschaft kann es sich ohne gravierende Folgen leisten, einen Großteil der jungen Menschen auszugrenzen. Von Chancengleichheit bei der beruflichen Integration kann erst dann die Rede sein, wenn junge Menschen mit Migrationshintergrund in allen Berufen und Branchen, aber auch auf allen Hierarchieebenen entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil vertreten sind. 16 BETRIFFT 4/2005 Dimitra Atiselli und Beatrix Herrlich LAG JAW, Hannover Forum: Portrait Hülya Feise: Engagement Foto: privat im Ehrenamt und als Beruf „Die Atmosphäre bei uns ist sehr familiär – jeder kann sich hier wohl fühlen!“ Tatsächlich herrscht in den Räumen des Jugendtreffs Hannover-Linden ein reges Kommen und Gehen, zusammen mit einem unübersehbar herzlichen Umgang miteinander, wenn sich die Teilnehmer des Projektes zur Förderung des gesellschaftlichen Engagements von MigrantInnen und eingebürgerten Deutschen durch ehrenamtliche Tätigkeit, kurz gEMiDe, dort treffen. „Mir war stets viel an der Etablierung eines Gemeinschaftsgefühls gelegen“, so die Projektleiterin Hülya Feise. Aufgewachsen ist die türkischstämmige junge Frau in einer diskussionsfreudigen Familie: „Beim Abendessen musste man so lange am Tisch bleiben, bis sämtliche Meinungsverschiedenheiten geklärt waren – das war bei uns Tradition.“ Hülya wurde 1973 als jüngstes von vier Kindern einer fortschrittlich-liberalen Familie in der Türkei geboren. An der Hochschule des „Roten Halbmondes“ in Istanbul absolvierte sie ein medizinisches Studium. Danach arbeitete sie als Krankenschwester mit der Zusatzqualifikation „Blut-Technik“ vornehmlich in Krisengebieten. So war sie zum Beispiel beim großen Erdbeben in Erzincan in der Osttürkei helfend im Einsatz. Als Kontrastprogramm zu ihrer anstrengenden beruflichen Tätigkeit pflegte sie ein anderes Interesse: Die intensive Beschäftigung mit klassischer türkischer Musik. Und nebenbei arbeitete sie ehrenamtlich bei einem Radiosender. Letzteres machte sie auch in ihrer neuen Heimat: Von 1997 bis 2004 produzierte und moderierte sie ehrenamtlich zusammen mit einem Kollegen die muttersprachliche Sendung „Radio Merhaba“ im hannoverschen Lokalsender Radio Flora. Inzwischen lebt die 33-Jährige seit zehn Jahren in Deutschland. In der Bundesrepublik angekommen, ganz ohne Deutschkenntnisse, bewegte sie sich zunächst überwiegend innerhalb der türkischen Gemeinschaft. Sie engagierte sich in türkisch sprechenden Frauengruppen, war schnell ehrenamtlich aktiv und nahm sich viel vor: „Ich wollte nicht als Migrantin toleriert, sondern als Teil dieser Gesellschaft ernst genommen werden.“ Sie nutzte vielfältige Seminare und Fortbildungen zur persönlichen Weiterentwicklung und zum Erlernen der deutschen Sprache. Sie erwarb die Fachhochschulreife und studierte Sozialpädagogik. „Ich wusste gleich: Das ist mein Job!“ Als diplomierte Sozialarbeiterin war es ihr von Anfang an ein Anliegen, die soziale Teilhabe von Migranten zu fördern. So initiierte sie im Jahr 2000 das erfolgreiche Projekt gEMiDe, das sie inzwischen hauptberuflich leitet. „Kommunikation auf gleicher Augenhöhe“ ist dabei ihre Devise. Dieses Projekt brachte ihr besondere Anerkennung: gEMiDe wurde nach einer Auswahl aus 258 Bewerbern mit 14 anderen Projekten für den Deutschen Präventionspreis 2005 vorgeschlagen. Im Jahr 2002 wurde gEMiDe bereits vom Bundespräsidenten im Wettbewerb zur Integration von Zuwanderern ausgezeichnet. Seit dem ist Hülya Feise häufig unterwegs, um ihr Projekt in anderen Städten und sogar in anderen Ländern vorzustellen und um für Nachahmung zu werben. Die im Jahr 2001 geborene Tochter wird dann vom Vater bzw. Ehemann versorgt – und manchmal springen auch die ehrenamtlich engagierten Migrantinnen ein. Hülya Feise ist längst in Deutschland angekommen – fühlt sich hier wohl und zu Hause. Marina Kormbaki Studentin und Praktikantin im Büro der Ausländerbeauftragten BETRIFFT 4/2005 17 Foto: Archiv Nadia Karim Forum „Bollywood“ Das große Gefühlskino Indiens Mit glühenden Augen und voller Enthusiasmus erzählt mir eine Zuschauerin beim Verlassen des indischen Bollywoodblockbusters „Taal“ in Berlin, dass der Film alle ihre Sinne und Emotionen geweckt habe. Dies hätte sie nie bei einem anderen Film erlebt. 18 BETRIFFT 4/2005 Mit farbenprächtigen Tanzszenen und gefühlvollen Bildern erzählt der 1999 produzierte, aufwendig inszenierte indische Film von einem Industriellensohn, der sich in die schöne und begabte Tochter eines Sängers verliebt. Als die Familien sich kennen lernen, zerbricht die Liebe der beiden. Erst als die Tochter zum Bühnenstar wird, finden sie wieder zueinander. Mit der früheren Miss World Aishwarya Rai in der Hauptrolle erzielte der Film 1999 traumhafte Einspielergebnisse in den USA und schaffte es in Rekordzeit in die Top-20-Charts. Jahrelang wurde dem westlichen Publikum die größte Filmproduktion der Welt, die der Bollywoodfilme – von Insidern auch Masala Movie genannt – vorenthalten. Dieses erfolgreiche Hindi-Kommerzkino aus Bombay wurde nach der speziellen Gewürzmischung eines guten Curry benannt, bei dem keine Zutat dominieren darf. Zu einem guten Bombay-Masala Movie gehört eine bunte Palette von Emotionen und Genres wie Romantik, zärtlichen Lovestories, Melodrama, Action, Spannung, Komödie, Thriller, Pathos, grandiosen Spezialeffekten, alles begleitet von viel Musik und Tanz. Für jeden Geschmack ist et- was Passendes dabei. Der Name Bollywood entstand Ende der 1970er Jahre. „B“ steht für Bombay, die Kinostadt in Indien. Bollywood ist eine Anspielung auf Hollywood. In der Regel dauern die Filme drei Stunden und bestehen aus mindestens fünf Tanz- und Gesangsnummern. Die Musik entscheidet, ob ein Film Top oder Flop wird. In erster Linie will Bollywood unterhalten. Und nicht nur durch das Andrew Lloyd Webber-Musical „Bombay Dreams“ in London erfährt Bollywood im Westen immer größeren Zuspruch. Auf renommierten Filmfestivals wie der Berlinale oder in München werden indische Filme gezeigt. In Essen, Hamburg und Berlin zeigen einige Kinos regelmäßig Bollywood-Filme. Die Fernsehsender RTL 2 und arte strahlten im letzten und in diesem Jahr eine Reihe der Filme aus. Schon seit langem sind sie in asiatischen und in afrikanischen Ländern sehr populär. Mit 1.000 Filmen pro Jahr Produktion und 2,3 Millionen Beschäftigten in Indien ist Bollywood eine der größten Filmindustrien der Welt. Die Inder selbst lieben das Kino. Das Land hat 12.000 Kinos, und jährlich werden ca. sechs Milliarden Eintrittskarten ver- Chaplin und Harold Lloyd. Es gab Konkurrenz. Die Briten führten die Filmzensur ein und behaupteten, die Hollywood-Filme trieben das indische Publikum ins Verderben und machten es unmündig. Von den 30er Jahren an gab es beispielsweise keine Darstellung von Kussszenen. Diese Zensur gilt bis heute. Erotik wird nur angedeutet und in blumiger Symbolik umschrieben oder mit Hilfe eingespielter erotischer Lieder vermittelt. Sozialkritische Filme von Indern wurden zwischen den 20er und 30er Jahren zensiert. Die Filmemacher entdeckten neue Formen, um ihre politischen Aussagen zu übermitteln. In mythologisch und religiös „verkleideten“ Filmen erzählten sie Geschichten mit Bildercodes, die nur die Inder verstanden, wie z. B. die Geschichte der Shri Kreschna, die gegen den mächtigen Schlangendämon kämpft, der den Fluss vergiften will. Vergiftung ist hier gleichzusetzen mit Ausbeutung und Vernichtung durch die Briten. Andere Genres waren Gesellschafts- und Kostümdramen, Märchenfilme und Action. Der Tonfilm brachte Veränderung. Viele Zuschauer wollten Hollywood- und britische Filme nicht mehr sehen, weil sie die Sprache nicht verstanden. Die indische Filmmusik erhielt nun eine besonders wichtige Rolle, und es musste entschieden werden, in welcher Sprache die Filme produziert werden sollten in diesem Land mit 225 Sprachen und 845 Dialekten, mit 18 offiziellen Amtssprachen und 11 verschiedenen Schriftsystemen. Man entschied sich für das Hindi, da über 500 Millionen Menschen, also 50 % der Bevölkerung, diese Sprache verstanden. Der erste Tonfilm hieß „Alamara“. Noch immer war es sehr schwierig, Schauspieler und Schauspielerinnen zu finden. In Filmen zu spielen galt als anrüchig. Während des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer Wende beim indischen Film. Durch den Waffenverkauf und die Industrialisierung konnten einige Geschäftsleute auf dem Schwarzmarkt viel Geld verdienen, das sie nach anschließend erfolgter Geldwäsche wiederum in der Filmindustrie investierten. Massenkino wurde produziert mit der gleichzeitigen Geburt des Starsystems. Man kann die 1950er und 60er Jahre als goldenes Zeitalter des Bollywood-Kinos betrachten, in dem anspruchsvolle Melodramen, Kostüm- und Tanzfilme wie „Awara“, „Sangam“, „Mughul Azam“ und „Pakisa“ entstanden sind. Es war eine Zeit der Hoffnung für die Bevölkerung, nachdem Indien 1947 seine Unabhängigkeit erhalten hatte. Die Ära der 70er und 80er Jahre war zum größten Teil geprägt durch Flops und billige Nachahmung der MTVVideoclip-Ästhetik. Seit den 1990ern und im neuen Jahrtausend erlebt das indische Kino einen gewissen Aufschwung. Neue Themen, etwa von getrennt lebenden Eltern oder unehelichen Kindern, sind keine Tabu mehr. Daneben werden verstärkt Liebesgeschichten erzählt, die Probleme des Patriarchats und der Exilinder im Ausland zeigen. Ein neues, lukratives Zielpublikum hat die Filmindustrie in den in den USA und Großbritannien lebenden wohlhabenden NRI’s (Non Resident Indians) entdeckt. Nun werden auch produktionstechnisch anspruchsvollere Blockbuster gedreht, und die Schauplätze haben sich in den Westen verlagert, wie die Filme „Kal Ho Naa Ho“, der in New York spielt, oder „Kabi Khushi Khabie Gham“ mit London als Handlungsort. Beides sind Filme, die übrigens auch in den deutschen Kinos laufen. Nadja Karim Journalistin Foto: Archiv Nadia Karim kauft. Zehn Kinobesuche in der Woche sind für einen Inder normal. Das indische Publikum ist kritisch. Von 180 Filmen schaffen es nur acht, in die Chartliste zu gelangen. Musikkompositionen, aufregende Schauplätze, Stars, Tanzszenen und möglichst eine Geschichte, mit der sich jede Generation angesprochen fühlt – sowohl im Exil als auch in Indien – sind das Wichtigste. Ein wahrer Bollywood-Erfolg läuft oft viel länger im Kino als ein HollywoodFilm, manchmal mehrere Jahre. Inder sind in ihrer traditionellen Erzählkultur sehr verwurzelt. Ursprünglich kam das Kino aus der Mythologie und der Volkskunst. Bewegte Bilder haben die Inder schon immer interessiert. Pionier des indischen Kinos war Dadasaheb Phalke. Ohne fremde Unterstützung drehte er 1913 seinen ersten Spielfilm über den König Raja Harishandra und über die Legende von heiligen Göttern auf mythologischer Grundlage. Die Wirkung der Bilder hatte auf das Publikum eine solche Kraft, dass sich die Frauen und Männer während der Vorführung auf den Boden warfen. Die Aufführungen wurden unterbrochen durch das Einspielen von Zwischentiteln, wobei ein Sprecher die Zwischentitel vorlas, da viele nicht lesen konnten. Der Film wurde von Livemusik begleitet. Bei seiner ersten Produktion wollte keine Frau mitspielen, außer Prostituierten und Kurtisanen. Dadasaheb Phalke besetzte die Frauenrollen mit Männern, seine Tochter und seine Frau halfen ihm bei der Filmarbeit. Mit den Einnahmen des Films baute er das erste Filmstudio Bombays auf. Nach dem erfolgreichen Film kamen auch andere Produzenten auf die Idee, Filme zu drehen, die meist mythologischen und religiösen Inhaltes waren. Phalke wurde jedoch kein kommerzieller Filmemacher. Er starb 1942 in Armut. Damals war Indien von den Briten besetzt. Die Engländer nötigten die Inder dazu, vor den indischen Spielfilmen ihre Propagandafilme zu zeigen, um politischen Einfluss auf die indische Bevölkerung auszuüben. Nach 1927 kamen verstärkt auch Hollywood-Filme ins Land. Mumbai, wie Bombay heute heißt, wurde Geburtsort der indischen Filmindustrie, wobei Hollywood als Vorbild diente. Die Zuschauer sahen nun lieber amerikanische Spielfilme mit Charlie BETRIFFT 4/2005 19 Forum Familienprojekt Migration – Alles in Bewegung Das Interesse war groß: Zweihundert Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus der Integrationsarbeit kamen am 5. Oktober 2005 aus allen Teilen Niedersachsens nach Hannover. Fast ebenso vielen musste auf Grund der begrenzten Platzkapazität abgesagt werden. Ursula Boos-Nünning, Professorin der Universität Duisburg/Essen, setzte im Hauptvortrag der Fachtagung „Familienprojekt Migration“ den Rahmen. Sie monierte, dass Migrationsfamilien in der allgemeinen Familien- und Jugendforschung viel zu selten berücksichtigt werden. Auch von der Kinderund Jugendhilfe werden Familien mit Migrationshintergrund schlechter erreicht als einheimische Familien. Die Expertin forderte eine interkulturelle Öffnung von Verwaltung und Beratungsstellen und einen höheren Anteil der dort Beschäftigten aus der 2. und 3. Generation von Zuwanderern. Für den Bereich Schule mahnte sie die Ausweitung von Ganztagsangeboten an. Sie sprach sich für eine stärkere Förderung ethnischer Selbstorganisationen aus – stellte aber fest, dass ihnen statt dessen eher mit Skepsis begegnet wird. In allen Bereichen muss die kulturelle Vielfalt in den Blick genommen und auch als Ressource begriffen werden. Die Migrationsexpertin Ursula BoosNünning schloss ihren Vortrag mit dem Fazit ab: „Wir werden die Familien mit Migrationshintergrund nur erreichen, wenn wir so handeln, als ob wir neu beginnen könnten Vertrauen aufzubauen.“ „Integration von Migranten betrifft alle Menschen, nicht nur die Zuwan- 20 BETRIFFT 4/2005 derer“, betonte Gabriele Erpenbeck, Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen. Sie verwies auf das „Forum Integration“, dass die Landesregierung in ihren Maßnahmen berät. Angesichts ähnlicher Probleme stelle sich die Frage, ob die getrennte Betrachtung der Probleme von Spätaussiedlern und den übrigen Migranten sinnvoll sei. Wichtig sei, die Chancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung zu erhöhen. Jugendliche der 3. Ausländergeneration haben in stärkerem Maße Heirats- und Kinderwunsch als gleichaltrige Deutsche, berichtete Dursun Tan. Ihr Familiensinn ist auch eine Folge der Erfahrung, dass man „in der Fremde“ stärker aufeinander angewiesen sei. Die Arbeitsgruppe „Männlichkeitskonstruktionen von muslimischen und Aussiedlerjugendlichen“ versuchte zu klären, ob und wie junge Männer ihr Selbstbild um den Schlüsselbegriff der „Ehre“ konstruieren. „Die Berufung auf Ehre ist auch Ausdruck eines zunehmenden Machtverlustes“, erklärte Dursun Tan. Die Männlichkeitsbilder von Migrantenjugendlichen sind zum Teil extreme Konstruktionen, da positive Vaterbilder in Migrantenmilieus eher selten sind. Die Väter haben oft soziale und berufliche Stellungen, die den Kindern wenig erstrebenswert erscheinen. Die Hilflosigkeit der Väter wird häufig durch eine extreme Strenge gegenüber den Familienmitgliedern kompensiert. Fatma Bläser leitete eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Heiratsverhalten in der Migration auseinandersetzte. Sie hat selbst erlebt, dass ihre Eltern sie gegen ihren Willen in die Türkei verheiraten wollten. Die Zwangsheiraten auch in der 2. und 3. Generation sieht sie als indirekte Folge der schlechten sozialen Situation von Migranten: „Arbeitslosigkeit führt zu einem schwachen sozialen Netz. Somit gewinnen Traditionen mehr an Bedeutung und geben Halt. Zwangsverheiratungen werden wichtiger, weil die Stellung des Mannes durch die Unterdrückung der Frau aufgewertet wird.“ Genaue Zahlen über Zwangsheiraten gibt es nicht, aus Angst werden nur sehr selten Fälle bei den Behörden angezeigt. Fatma Bläser glaubt, dass Aufklärung in der Schule und eine höhere Aufmerksamkeit der Lehrer manche Zwangsheirat verhindern könnte. „Wenn häusliche Gewalt in Migrantenfamilien auftritt, ist für die Männer nicht zu verstehen, warum ihre Frauen sich wehren und in Frauenhäuser flüchten. Ihr Frauenbild hat sie gelehrt, Frauen als Eigentum zu betrachten,“ sagte Seyran Ates, Rechtsanwältin aus Berlin. Da von Seiten der Migranten grundsätzlich Angst und Unsicherheit gegenüber Behörden bestehe, müssten sich die Behörden den Migranten zuwenden. Eine wichtige Hilfestellung dabei verständlich Auswirkungen auf die Erziehung und Integration von Migrantenkindern“, so Haci-Halil Uslucan, Mitarbeiter der Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg. In der Arbeitsgruppe „Erziehungsorientierungen in der Migration“ beschrieb der Psychologe den Zwiespalt von Lehrern und Sozialarbeitern: „Auf der einen Seite kann eine schutzlose Überantwortung von Kindern an kulturell bedingte einengende Erziehung Entwicklungschancen behindern, jedoch kann auch ein zu schneller, vermeintlich rettender Eingriff in die Familienstruktur erst recht Entfremdung hervorrufen.“ Die überwiegend autoritären Erziehungsstile von türkischen Migranten orientieren sich stark an der Herkunftsgesellschaft, stellte der Psychologe fest. Harmonie, Sittsamkeit und Unterordnung unter die Eltern ist ein häufiges Erziehungsziel, Erziehung zu Selbständigkeit ist türkischen Migranten meist fremd. Das Armutsrisiko unter Migranten liegt bei 24 Prozent und ist damit mehr als doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Rund 60 Prozent aller Kinder mit Migrationshintergrund haben keinen Schul- oder Berufsabschluss. Viele Menschen sind nach Deutschland gekommen, um der Armut zu entfliehen. Die Statistik zeigt, oft haben sich die Hoffnungen nicht erfüllt, referierte Gazi Çaglar von der Fachhochschule Hildesheim. Das wird auch für die nächste Generation gelten, denn für Kinder und Jugendliche ohne Schulabschluss ist ein Leben in Armut vorgezeichnet. Einige Migranten sind zwar hoch qualifiziert, haben aber gravierende Sprachprobleme, merkten Teilnehmer der Arbeitsgruppe „Armut als Ursache und Folge von Migration“ an. Auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind gleich Null. „Der Druck der Politik auf die Sozialarbeit nimmt zu“, stellte Gazi Çaglar fest. Der Kontrollaspekt wird erhöht, der Anteil der Hilfen sinkt. Die Teilnehmer der Arbeitsgruppe halten das für falsch. Sie sind überzeugt, dass effektive Hilfen im Sprach- und Bildungsbereich auf Dauer auch unter Ordnungsund Sicherheitsaspekten wirksamer sind, als verstärkte Kontrollen. Die Gäste der Tagung „Familienprojekt Migration – Alles in Bewegung“ nahmen eine Fülle von Informationen auf, freuten sich über die satirische Lesung von Osman Engin, nutzten die Pausen für Fachgespräche und persönliche Begegnungen – und wünschten sich weitere Tagungen dieser Art. Konrad Baer Journalist Foto: Agsten (3) bieten die Migrantenorganisationen. Diese müssten gestärkt werden, denn sie hören und sehen besser als jede andere Organisation, so Seyran Ates. Die Anwältin kritisierte, dass sich eine Vielzahl der Türken und Kurden dem deutschen Grundgesetz und den deutschen Gesetzen nicht verpflichtet fühlten. „Viele glauben, diese Gesetze gelten nur für die Deutschen.“ Barbara Gierull stellte ein Selbsthilfe-Projekt vor, dass allein erziehende Migrantinnen anspricht. Für fast alle Migranten-Frauen ist das Thema Scheidung oder Trennung stark tabuisiert. Die Diplom-Theologin Barbara Gierull hat die Erfahrung gemacht, dass die Frauen eher Kontakt zu Gesprächskreisen suchen, die sich an „Ein-Eltern-Familien“ richten und nicht an „allein erziehende Frauen“. Die Worte „Eltern“ und „Familie“ sind überwiegend positiv besetzt, mit „allein erziehenden Frauen“ verbinden viele Migrantinnen negative Vorurteile, auch wenn sie selbst in dieser Lebenssituation sind. Bewährt haben sich nach Barbara Gierulls Erfahrungen gemischte Gruppen aus ausländischen und deutschen Frauen. Eigene ethnische Gruppen hält sie in diesem Bereich nicht für erforderlich. „Von Türken wird die deutsche Gesellschaft als ungeordnet, diffus und undurchsichtig wahrgenommen. Und diese Verunsicherungen haben selbst- BETRIFFT 4/2005 21 Materialien zum Schwerpunktthema ellen Fähigkeiten von Migrantinnen und Migranten und fördert deren Anerkennung. Kontakt/Informationen: [email protected], www.gemide.org Literatur aid – Integration in Deutschland Heft 3/2005, 21. Jg., 20. September 2005, Schwerpunkt: Zuwanderungsland Deutschland, www.isoplan.de/aid/ Ich will Arbeit! Probleme, Projekte, Potenziale Globalisierte Hausarbeit. Au-pair als Migrationsstrategie von Frauen aus Osteuropa. Wiesbaden, 2005, ISBN-3531-14507-X, www.vs-verlag.de Projekt gEMiDe – Modellprojekt zur Förderung des gesellschaftlichen Engagements von MigrantInnen und eingebürgerten Deutschen durch ehrenamtliche Tätigkeit Fast 100 ehrenamtliche Migrantinnen und Migranten engagieren sich in Hannover in dem Modellprojekt gEMiDe. Die meisten von ihnen stammen aus der Türkei, andere aus dem Irak, Iran, Turkmenistan und weiteren Ländern. Sie begleiten hilfsbedürftige ältere Einheimische beim Einkaufen oder zum Frisörbesuch, passen mal auf Kinder auf oder haben einfach Zeit, mit einsamen Menschen ein Gespräch zu führen. Um sich insbesondere dafür besser zu qualifizieren, nehmen sie bei Bedarf zweimal in der Woche an einem auf die Bedürfnisse dieser Ehrenamtlichen zugeschnittenen Deutschkurs teil. Einzelpersonen und Familien in Hannover profitieren von den Besuchen und dem Engagement der Migrantinnen und Migranten, die von der Projektleiterin Hülya Feise gezielt nach ihren Wünschen und Fähigkeiten vermittelt werden. Das in vieler Hinsicht nützliche Projekt fördert in ganz besonderer Weise soziale Beziehungen und interkulturelle Kontakte, die sonst wohl kaum zu Stande gekommen wären. Es stärkt die individu- 22 Arbeitsmarktreformen und Zuwanderungsrecht – Auswirkungen für Migrantinnen und Migranten, Flörsheim, 2005 BETRIFFT 4/2005 Durchblick für Arbeitslose Frankfurt/M., 2005, ISBN 3-936065-48-9, www.fhverlag.de Das Betriebsverfassungsgesetz auf Türkisch Herausgegeben von der Hans-BöcklerStiftung. Zu beziehen bei „Der Setzkasten“, [email protected] Fairplay am Arbeitsplatz Diese Betriebsvereinbarung der Technischen Universität München kann herunter geladen werden unter: www.migration-online.de/ good-practice-center Jugend und Arbeit Forum 3/2005, Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Carl-Bertelsmann-Straße 256, 33311 Gütersloh, www.bertelsmannn-stiftung.de Entdeckungsreise Arrivato – Angekommen Das migrationsgeschichtliche Informations- und Lernportal bietet am Beispiel des Ruhrgebietes eine spannende Entdeckungsreise in die facettenreiche Geschichte der Italiener in Deutschland. www.angekommen.com Filme „Gastarbeiter in Deutschland – Wir wollten Arbeitskräfte, und es kamen Menschen …“ In der 25-minütigen Dokumentation berichten MigrantInnen von ihren Erfahrungen vom „Gastarbeiter“ zum Einwanderer. Als die Gäste blieben … – Nach einem Arbeitsleben in der Fremde Drei Generationen schildern ihre Lebenssituation und ihr Bemühen, als Pendler zwischen zwei Kulturen eine eigene Identität zu bewahren. Beide Filme sind ausleihbar unter: www.migration-online.de/filmverleih Informationsportal für Frauen „www.frauenmachenkarriere.de“ Die neue Rubrik „Vielfalt gewinnt“ bietet Migrantinnen bzw. Frauen mit Migrationshintergrund und Aussiedlerinnen Informationen zu Beruf, Karriere, Existenzgründung und Selbständigkeit. Weiterbildung Beraterin für interkulturelle Fragestellungen I. Berufsbegleitende Ausbildung II. Vollzeitausbildung für erwerbslose Frauen Ausbildungsbeginn: Anfang 2006 Anmeldung und Informationen: VNB e. V. – Regionalbüro Hannover, Landeseinrichtung der Erwachsenenbildung, Ilse-ter-Meer-Weg 6, 30449 Hannover, Asghar Eslami, Telefon 0511 1235649-5, [email protected] Interkulturelle Beratungskompetenz und Mediation Ein Weiterbildungsangebot der Universität Hannover in Kooperation mit dem Bildungswerk der Vereinigten Dienstleistungen verdi. Informationen: Telefon 0511 12400411, [email protected] Nachrichten Wanderausstellung Literatur „Integration von Muslimen in Niedersachsen – Problemfelder und Perspektiven“ Die seit Anfang 2004 gezeigte Ausstellung wird weiterhin in Niedersachsen präsentiert. Informationen: Telefon 0511 120-4545, ursula.ganselweit@mi. niedersachsen.de Sichtbar anders – Aus dem Leben afrodeutscher Kinder und Jugendlicher Frankfurt/M., 2005, ISBN 3-86099-821-8 Wie geht es Afrodeutschen in einer Gesellschaft, in der die Mehrheit selbstverständlich davon ausgeht, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe ‚Ausländer’ sind? Afrodeutsche Kinder und Jugendliche und ihre Eltern berichten von ihren Erfahrungen: Sie erzählen von Ärgernis, aber auch von den Chancen, die das Aufwachsen mit verschiedenen Kulturen mit sich birgt. Brandes & Apsel Verlag, Scheidswaldstraße 33, 60385 Frankfurt/M., Telefon 069 95730186, Fax 069 95730187, [email protected], www. brandes-apsel-verlag.de Medien und Rassismus – Radio Das Heft gibt eine begriffliche Klärung von Rassismus und geht der Frage nach, was Medien und Rassismus miteinander zu tun haben. Der Hauptteil ist dem Thema „Arbeiten mit dem Medium Radio“ gewidmet. Schülerinnen und Schüler sollen dabei unterstützt werden, eigenes Radio zu machen. Bezugsadresse: Schule OHNE Rassismus – Schule MIT Courage, Bundeskoordination, Ahornstraße 5, 10787 Berlin, [email protected] Multimediaprojekt „Ein Familienalbum“ Hediye und Dieter Hackenberg haben gemeinsam das Multimediaprojekt „Ein Familienalbum 1888 bis 1999 von Deutschen und Einwanderern“ entwickelt. Das Ergebnis überzeugt. Die aus Fotos und Dokumenten zusammengestellte deutsch-kurdische Familiengeschichte bietet einen ganz besonderen Zugang zu dem Themenfeld Migration und Integration – sehr persönlich, sehr privat. www.einfamilienalbum.de „E-Mail für uns“ Als neuer Service im Büro der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen soll dort ein E-Mail-Verteiler eingerichtet werden. Er ist für das elektronische Versenden von Einladungen zu eigenen Tagungen vorgesehen. Darüber hinaus kann er zur Weitergabe von Informationen über Veranstaltungen anderer Anbieter aus dem Themenbereich Migration und Integration genutzt werden. Ferner könnten wir über den E-MailVerteiler zeitnah auf interessante Links, auf neue Publikationen, auf Ausstellungen oder aktuelle Materialien hinweisen. Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Problemaufriss, Forschungsstand, Bibliographie Bielefeld 2005, ISBN 3-89942-280-5 Der Band klärt das umstrittene Konzept der Integration durch Massenmedien, gibt einen Überblick über den Forschungsstand und enthält eine auf Vollständigkeit angelegte Bibliographie der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Medien und Integration von Migranten. Transcript, Mühlenstraße 47, 33607 Bielefeld, Telefon 0521 63454, Fax 0521 61040, [email protected] Wir bitten Interessierte, uns zu diesem Zweck ihre E-Mail-Adresse mitzuteilen. Um bei Bedarf fachspezifische oder regionale Gruppen bilden zu können, sind außer der E-Mail-Adresse zusätzliche Angaben erforderlich: • Name, Vorname • Postanschrift (gegebenenfalls Institution, Verein) • inhaltlicher Schwerpunkt/ Aufgabenbereich. Bitte richten Sie Ihre E-Mail mit diesen Angaben an: auslaenderbeauftragte@ mi.niedersachsen.de Neue Flyer „Lassen Sie sich beraten!“ und „Lernen Sie Deutsch!“ Neue Flyer in Deutsch, Russisch, Englisch, Türkisch, Polnisch und Arabisch. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), www.bamf.de/Service/ Orientierungsplan für Bildung und Erziehung Das Niedersächsische Kultusministerium hat hierzu Flyer in türkischer Sprache herausgegeben. Flyer in Russisch sind in Planung. www.mk.niedersachsen.de Foto: Agsten Medien In eigener Sache BETRIFFT 4/2005 23 Besser integriert Förderwettbewerb zur Integration von Einwanderern aus der Türkei Bilder: Deutsch-Türkisches Forum www.bosch-stiftung.de/foerderwettbewerbintegration Der Wettbewerb soll Projekte fördern, die auf phantasievolle Weise Menschen, die aus der Türkei eingewandert sind, in das Leben in Deutschland einbinden. Es sollen vor allem ortsgebundene und mit besonderem persönlichen Engagement gestaltete Vorhaben unterstützt werden. Wer kann sich bewerben? • Initiativen und Vereine • Kindergärten • Schulen • Krankenhäuser etc. Antragsformulare sind unter: www.bosch-stiftung.de/ foerderwettbewerbintegration abrufbar oder direkt bei der Stiftung erhältlich. Einsendeschluß 28. Februar 2006 Kontakt ROBERT BOSCH STIFTUNG Robert Bosch Stiftung GmbH Martina Haspel Postfach 10 06 28 70005 Stuttgart Telefon 0711 46084-58 Telefax 0711 46084-1058 E-Mail: [email protected] www.bosch-stiftung.de