Spielberg-Variationen. Die Filmmusik von John Williams. Baden-Bad

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Spielberg-Variationen. Die Filmmusik von John Williams. Baden-Bad
P. Moormann: Spielberg-Variationen
Moormann, Peter: Spielberg-Variationen. Die
Filmmusik von John Williams. Baden-Baden:
Nomos Verlag 2010. ISBN: 978-3-8329-5355-3;
797 S.
Rezensiert von: Linda Maria Koldau, Institut
for Æstetiske Fag, Aarhus Universitet
Die Grundlage für dieses Buch ist ein großes
Thema: die Zusammenarbeit des Regisseurs
Steven Spielberg und des Filmkomponisten
John Williams, beides große Namen in der
Welt Hollywoods, die die Entwicklung des
amerikanischen Films in den letzten 40 Jahren maßgeblich beeinflusst haben. Ein hervorragender Ausgangspunkt – Peter Moormann
jedoch hat mit seiner zu einem Buch gekürzten Dissertation alle Chancen vergeben.
Von Anbeginn ist unklar, was eigentlich
Gegenstand des Buches sein soll. Der Titel
lautet „Spielberg-Variationen: Die Filmmusik
von John Williams“. Um die Filmmusik von
Williams geht es hier keineswegs: Wie in der
knappen Skizze von Williams’ Werdegang
dargelegt, hat der Komponist seit den 1950erJahren für Film und Fernsehen komponiert.
Seine Zusammenarbeit mit Spielberg begann
erst 1974, im Buch aber werden ausschließlich Spielberg-Filme berücksichtigt. Im Hinblick auf Steven Spielberg ist dies interessant,
hat sich der bedeutende Regisseur doch fast
gänzlich auf die Zusammenarbeit mit Williams festgelegt – dieser filmwissenschaftliche
Aspekt wird jedoch nicht weiterverfolgt. Eine wirkliche Studie über die Filmmusik von
John Williams hätte demgegenüber einen interessanten, film(musik)historisch wichtigen
Einblick in die Entwicklung amerikanischer
Filmmusik seit den 1950er-Jahren geboten,
welcher John Williams in den 1970er-Jahren
durch die – hier nicht berücksichtigte – „Star
Wars“-Serie einen entscheidenden Impuls für
die Rückkehr zu symphonischen Strukturen
gab. Williams’ Musik hat kulturgeschichtliche
und filmhistorische Bedeutung – aus Moormanns Buch geht dies jedoch nicht hervor.
Die Methodik dieser Dissertation wirkt seltsam unbedarft. Moormann hebt seine interdisziplinäre Ausrichtung hervor (S. 9), indem er sich auf Zofia Lissa (1965) beruft und
die „Aktualität“ ihrer Forderung nach einer
neuen, nicht primär musikwissenschaftlichen
2011-1-069
Forschungsmethode durch den Bezug auf eine Studie aus dem Jahr 2008 hervorhebt.1 Dazwischen liegen über 40 Jahre Filmmusikforschung, in denen die Filmmusik seit Jahrzehnten selbstverständlich als Teil eines audiovisuellen Ganzen behandelt wird – die
hochgehaltene Fahne der Interdisziplinarität
wirkt vor diesem Hintergrund eigentümlich
antiquiert. Zudem wird dieser Anspruch gar
nicht eingelöst. Einige der Analysen in dieser im Fach Filmwissenschaft geschriebenen
Dissertation zeugen von musikwissenschaftlichen Kenntnissen. Gleichzeitig fehlt jedoch
mancherorts die musikwissenschaftliche Reflexion, etwa wenn Moormann ganz beiläufig
erwähnt, dass Williams einen beträchtlichen
Teil seiner Filmmusiken von anderen Komponisten hat orchestrieren lassen, darauf jedoch in seinen Analysen und seiner Beurteilung von Williams’ Filmmusik keinerlei Rücksicht nimmt. Umgekehrt vermisst der Leser
immer wieder filmwissenschaftliche Kenntnisse und Methoden, was sich auch im Literaturverzeichnis widerspiegelt.2
Methodisch problematisch ist ebenfalls die
Darstellung der Funktionen von Filmmusik,
die in dem 797 Seiten starken Buch gerade einmal sieben Seiten ausmacht. Extrem vereinfachend beruft sich Moormann auf ein einziges Modell zu den Funktionen von Filmmusik – das seines Betreuers Thomas Koebner –
und erweitert es durch einige Funktionen, die
die Musikwissenschaftlerin Zofia Lissa 1965
in ihrer „Ästhetik der Filmmusik“ identifizierte (so die Angabe Moormanns, Nachweise für
diese Erweiterung fehlen jedoch). Die zahlreichen anderen Modelle, die in der angloamerikanischen und deutschen Filmmusikforschung seit den 1960er-Jahren entwickelt
wurden, werden lediglich in einer Fußnote
erwähnt – durch den Verweis auf eine andere Dissertation über Filmmusik, wo diese
Modelle „umfassend“ dargestellt seien (S. 29,
1 Zofia
Lissa, Ästhetik der Filmmusik, Berlin 1965; Claudia Bullerjahn, Musik und Bild, in: Herbert Bruhn /
Reinhard Kopiez / Andreas C. Lehmann (Hrsg.), Musikpsychologie. Das neue Handbuch, Reinbek 2008,
S. 205–222.
2 Eine typische filmwissenschaftliche Unschärfe ist etwa die Behauptung, Williams habe sich 1972 „dem
neu entstandenen Genre des Katastrophenfilms“ zugewandt (S. 20). Der Katastrophenfilm bildete sich weit
früher zu einem eigenen Genre heraus.
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Anm. 81). Gleichwohl verwendet Moormann
720 Seiten später in seinen Schlussbemerkungen einige Termini aus diesen Modellen, ohne dass sie jedoch erläutert werden
(z.B. Mood-Technique oder Underscoring als
„klassische filmmusikalische Kompositionsprinzipien“, S. 756). Die Beschränkung auf ein
einziges Modell wäre einer Magisterarbeit angemessen – für eine Dissertation ist sie in keiner Weise akzeptabel. Hinzu kommt die viel
zu knappe Darstellung der einzelnen Kategorien: Komplexe und wichtige Themen werden
hier in wenigen Zeilen abgehandelt, wichtige
terminologische Diskussionen innerhalb der
Filmmusikforschung ignoriert.
Der größte methodische Mangel liegt jedoch im Umgang mit dem Material selbst.
Immer wieder ist im Buch von „Analysen“
oder „Detailanalysen“ die Rede. Von Analyse kann allerdings kaum die Rede sein: Der
Leser wird mit exakt 715 Seiten Arbeitsmaterial konfrontiert – Nacherzählungen von insgesamt 22 Filmen, Einstellung für Einstellung,
dazu wird die Musik miterzählt (allein die
„Detailanalysen“ von „Jaws“ und „E.T.: The
Extra-Terrestrial“ bieten neben rund 150 Seiten Nacherzählung knapp 40 Seiten „Ergebnisse“ mit dem Versuch, die Beobachtungen
zu strukturieren; alle weiteren „Analysen“ beschränken sich dagegen auf die Nacherzählung des Films und seiner Musik). Im Grunde besteht dieses Buch aus Sequenzprotokollen – einem gängigen Mittel der Filmanalyse
–, die in Prosa gefasst und durch Musikbeispiele ergänzt wurden. Moormann selbst verteidigt dieses Vorgehen: „Die Beschreibung
aller Filme fällt dabei sehr detailliert aus,
um bloßen Mutmaßungen über die jeweiligen Funktionen der Filmmusik und deren Gewichtung entgegenzuwirken. Eine stichprobenartige Untersuchung hätte somit eine ungenauere Behandlung der Filme mit sich gebracht.“ (S. 14) Hier bricht sich der Mangel
an analytischer Erfahrung Bahn: Eine analytisch begründete Diskussion ausgewählter
Passagen in einem größeren Werk ist ebenso wenig eine „Stichprobe“ wie die Takt-fürTakt-Beschreibung einer Symphonie oder die
Szene-für-Szene-Beschreibung eines Films eine Analyse ist. Analyse wird hier nicht gemacht – der Hauptteil des Buches ist rein deskriptiv gehalten.
Auch der 25-seitige Teil mit den „Schlussbemerkungen“ lässt eine analytisch begründete Struktur vermissen. Moormann greift
das anfangs skizzierte Funktionsmodell auf
und füllt es mit zahlreichen Details aus seiner Untersuchung der 22 Spielberg-WilliamsProduktionen. Interessant ist die These, Williams greife auf ein kompositorisches „Baukastensystem“ zurück, das er sich über die
Jahre hinweg geschaffen habe: Auf Seite 760
werden in der Begründung dieser These erstmals Bildebene und Musik in fachlich tiefergehenden Bezug zueinander gesetzt; ansatzweise kommt es im Folgenden zu einer
Identifikation einer spezifischen Filmmusiksprache und spezieller Ausdrucksmittel bei
John Williams. Hier werden nun endlich analytisch fundierte Aussagen über die Filmmusiksprache von Williams getroffen. Wer
sich vor dem Hintergrund der Filmmusikforschung dafür interessiert, dem sei jedoch eher
die skizzenhafte Darstellung empfohlen, die
Moormann 2010 im „Archiv für Musikwissenschaft“ publiziert hat.3 Sie ist übersichtlicher als ein Buch von knapp 800 Seiten, das
kaum mehr als die Nacherzählung von 22
Spielberg-Filmen und ihrer Musik bietet.
HistLit 2011-1-069 / Linda Maria Koldau
über Moormann, Peter: Spielberg-Variationen.
Die Filmmusik von John Williams. Baden-Baden
2010, in: H-Soz-Kult 31.01.2011.
3 Peter Moormann, Komponieren mit flexiblen Modulen:
Zur Filmmusik von John Williams, in: Archiv für Musikwissenschaft 67 (2010), S. 104–119.
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