Motorroller Gilera GP 800: Die Zeit des Kaputtlachens ist vorbei

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Motorroller Gilera GP 800: Die Zeit des Kaputtlachens ist vorbei
MOTOR
22. Oktober 2007
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200 km/h Spitze
Motorroller Gilera GP 800: Die Zeit des Kaputtlachens ist vorbei
Denn hier kommt der schnellste Motorroller der Welt - sein Zuhause ist die linke Spur. Und zu allem Übel kann den auch noch jeder problemlos fahren.
Denn er hat sogar Automatik.
Bisher war die Zweiradwelt klar gegliedert. Es gab Rollerfahrer auf der
einen Seite und Motorradfahrer auf
der anderen. Beide hatten eigentlich
nicht viel miteinander zu tun. Schon
historisch betrachtet: Motorräder gibt
es bereits seit mehr als 100 Jahren,
die Geburtsstunde des Rollers, damals fast ausschließlich unter dem
Namen Vespa bekannt, liegt 60 Jahre
zurück. Roller waren – und sind es
heute noch – Gebrauchsgegenstände. Motorräder dagegen wecken Emotionen, weil sie im Sport und in der
Freizeit eingesetzt werden. Dagegen
haftet hierzulande den heutigen Automatik-Skootern das Image eines Seniorenfahrzeugs an.
Ist das wirklich noch ein Roller?
Der Gilera GP 800 erinnert schon ein
wenig an ein Motorrad - von der
Sitzposition einmal abgesehen.
ro“ gezeigte Viertakt-V-Zwei-Motor.
Leicht abgewandelt arbeitet er nun im
neuen Vorzeige-Skooter.
Bei der Motorenkonstruktion vertrauen
die Ingenieure auf Bewährtes: Den Ventiltrieb mit einer oben liegenden Nockenwelle zur Steuerung der vier Ventile kennen Experten aus anderen PiaggioMotoren, der traditionelle Zylinderwinkel
von 90 Grad ist gut ausbalanciert und vibrationsarm, kommt daher ohne Ausgleichswelle aus. Durch die kompakten
Außenmaße rückt der Motor schwerpunktgünstig näher ans Vorderrad, andererseits wird der Weg der Kraftübertragung minimiert.
Rohrrahmen, 15-Zoll-Hinterrad und
Kettenantrieb
Der Motor sitzt frei schwingend im robusten Rohrrahmen und leitet seine Kraft
über eine konventionelle Kette an das 15
Zoll große Hinterrad. Dieses wird von einer massiven Zweiarm-Leichtmetallschwinge geführt. Vom ursprünglichen
Plan, einen Zahnriemen als Sekundärantrieb zu verwenden, habe man sich aus
„Marketing-Gesichtspunkten“ wieder verabschiedet, weil der beim Motorrad verwendete Kettenantrieb dem Kunden vertrauter sei.
Ein Motorradler käme niemals auf
die Idee, einen Rollerfahrer zu grüßen, der ihm auf der Straße begegnet. Aber jetzt kommt Piaggio, einer
der größten Rollerhersteller, und
bringt die bislang so geordnete Zweiradwelt in Unordnung.
Mit dem Gilera GP 800 offerieren die
Italiener ab Ende des Jahres einen
Automatik-Roller mit Leistungsdaten, die auch in der Bikerszene konkurrenzfähig sind: 839 Kubikzentimeter Hubraum und 75 PS definieren den Scooter neu. Der PiaggioKonzern, zu dem die Traditionsmarke Gilera gehört und die in zwei Jahren 100. Geburtstag feiert, bietet
nicht nur den leistungsstärksten, sondern auch den schnellsten Roller an,
der je gebaut wurde. Als Höchstgeschwindigkeit werden Tempo 200 versprochen. Herzstück des GP 800 ist
der bereits im Jahr 2003 in der nie realisierten Gilera-Motorradstudie „Fer-
839 Kubikzentimeter Hubraum, 75 PS und 200 km/h Spitze: Damit steht
einer ausgedehnten Tour nichts im Weg. Außer vielleicht der Anschaffungspreis 9400 Euro sind kein Pappenstiel.
typischen Anzeichen eines bequemen Rollers. Die Sitzposition ist sehr
aufrecht, auf der abgestuften Sitzbank finden zwei Personen reichlich
Platz. Der Platz unter der Sitzbank
bietet das für Roller übliche kleine
Staufach mit Raum für nur einen einzelnen Helm. Weitere Staumöglichkeiten fehlen.
will Gilera im kommenden Jahr in einem
weiteren GP-800-Modell das Antiblockiersystem serienmäßig anbieten. Zum Abstellen verfügt der Roller zudem über eine sogenannte Park-Bremse wie bei einem Personenwagen, die über einen Hebel in der Frontverkleidung bedient wird.
Eine gute Idee ist die elektrisch über
einen Schalter am Lenker in der Höhe verstellbare Windschutzscheibe.
Aber: Je weiter die Scheibe hochgefahren wird, umso lauter werden die
Windgeräusche.
Diese Verkleidung erinnert eher
an ein Tourenmotorrad...
Der in der Form an das Gilera-Logo mit
den zwei Ringen erinnernde Endtopf der
Auspuffanlage zählt zu den optisch prägnanten Merkmalen des GP 800. Um Vibrationen zu verringern, ist die Auspuffanlage vom Rahmen entkoppelt angebracht worden.
Eine Menge Pluspunkte verdient
sich der Federungskomfort. Etwaige
Fahrbahnunebenheiten, Schlaglöcher und Bodenwellen schluckt die
konventionelle Telegabel problemlos
weg. Auch der für einen Roller ungewöhnlich seitlich angeschraubte
Dämpfer verrichtet seinen Dienst anstandslos. Vor allem im Hochgeschwindigkeitsbereich läuft der GT
800 spurstabil geradeaus.
Sportliche Eleganz soll der GP 800 versprühen, optisch wirkt er doch eher wie
ein klassischer Tourensportler. Hinter der
massigen Frontverkleidung bietet er die
...die hintere massive ZweiarmLeicht-metallschwinge und die große
Bremsscheibe ebenso
Ohne Fehl und Tadel sind die Bremsen. Schön auch, dass die Bremshebel in vier Stufen einstellbar sind.
Für einen Roller darf man die
Bremszangen sogar als giftig zupackend bezeichnen.
Bremsscheiben wie bei einem
Superbike
Die beiden mächtigen Bremsscheiben vorn, die in ihren Dimensionen
mit denen bei Superbikes zu vergleichen sind, lassen in Verbindung mit
der Scheibenbremse hinten die Frage nach einem Antiblockiersystem
erst gar nicht aufkommen. Dennoch
Gigantischer Auspuff
Beim Aufbocken wird dem Fahrer allerdings bewusst, dass der 800er mit „normalen“ Rollern auch gewichtsmäßig wenig gemein hat. Mit allen Flüssigkeiten
befüllt, kommt er auf 275 Kilogramm Gewicht, das beim Abstellen auf den Hauptständer einige Muskelkraft des Fahrers erfordert. Bemerkenswert ist auch der große Wendekreis. Der niedrige Schwerpunkt und die niedrige Sitzhöhe lassen
die Handhabung dann aber doch nicht zu
einer weiteren Kraftprobe für den Fahrer
werden.
Mit dem GP 800 hat Piaggio nicht nur einfach den stärksten und größten Roller gebaut, man hat eine neue Kategorie von
Zweirad erfunden, die sowohl Roller- wie
Motorradfahrer begeistern könnte. In Italien wird das auch funktionieren, weil es
dort keine so deutliche Trennung zwischen Roller- und Motorradfahrern gibt.
Hierzulande ist das fraglich, denn welcher Rollerfahrer ist schon bereit, 9400 Euro auszugeben – und welcher Motorradfahrer stellt sein Bike in die Ecke, um auf
einem Automatik-Roller Platz zu nehmen? Da müsste er ja Angst haben, von
den falschen Leuten gegrüßt zu werden.