Kalenderkunst - Argelander
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Kalenderkunst - Argelander
Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß 0 Vorwort ................................................................................................................................. 10 1 Einführung ........................................................................................................................... 11 2 Die astronomischen und physikalischen Grundlagen des Kalenders ..................... 2.1 Der Tag ........................................................................................................................ 2.2 Das Jahr ....................................................................................................................... 2.3 Der Monat ................................................................................................................... 2.4 Die Sekunde ............................................................................................................... 14 14 16 19 21 3 Die konventionellen Grundlagen des Kalenders ........................................................ 23 3.1 Die Woche ................................................................................................................... 23 3.2 Der Kalendermonat ................................................................................................... 25 4 Kalender ................................................................................................................................ 4.1 Der ägyptische Kalender .......................................................................................... 4.2 Der islamische Kalender – ein Mondkalender .................................................... 4.3 Der jüdische Kalender – ein Lunisolarkalender ................................................. 4.4 Der Julianische Kalender – ein Sonnenkalender ................................................ 4.5 Der Gregorianische Kalender ................................................................................. 4.6 Das Osterfest .............................................................................................................. 26 26 28 30 33 35 37 5 Internet .................................................................................................................................. 40 6 Literatur ................................................................................................................................ 41 7 Anhang .................................................................................................................................. 43 8 Glossar .................................................................................................................................. 71 Phänomen Zeit 9 Kalenderkunst 0 Wilhelm Seggewiß Vorwort Es gibt viele Schriften über Kalender, über ihre Entstehung und ihre Geschichte. Vieles läßt sich heute auch aus dem Internet entnehmen. Warum eine neue Einführung in den Kalender? Zum einen darf in einem Projekt, das den schillernden Begriff „ZEIT“ aus allen Perspektiven kultureller Standpunkte beleuchten möchte, eine Darstellung des Kalenderwesens nicht fehlen. Zum anderen möchte der Autor ein dreifaches Anliegen verwirklichen: 1. Es soll eine sehr straffe Darstellung des Kalenderwesens für den schnellen Überblick gegeben werden. 2. Zugleich soll die zu Grunde liegende Astronomie für jeden, der sich näher mit ihr einlassen möchte, verständlich und auch (fast) vollständig erläutert werden. 3. Außerdem soll neben der Technik des Kalenderherstellens ein wenig auch der faszinierende kulturelle Hintergrund des Kalendermachens der Völker über Jahrhunderte eingebunden werden. Technische Hinweise – Jedes Kapitel und Unterkapitel beginnt mit einer Zusammenfassung. Um einen raschen Überblick zu erhalten, genügt es, diese Kurzfassungen zu lesen. – Kürzere Erklärungen (zumeist astronomischer Begriffe) finden sich im Glossar. Im fortlaufenden Text wird auf eine Erläuterung durch Voranstellen des Zeichens → verwiesen (z. B. → Frühlingspunkt). – Größere weiterführende, aber nicht unbedingt notwendige Abschnitte, die den Lauf der Darstellung zu sehr unterbrechen würden, werden in einen Anhang gestellt (z. B. Anhang A: Die Zählung, der Beginn und die Einteilung des Tages). – Am Ende des Textteils ist eine Liste geeigneter Internetadressen und ein Literaturverzeichnis angefügt. Apokalypse, Johannes verschlingt das Buch. Albrecht Dürer, 1497/98 10 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß 1 Kalenderkunst Einführung Zusammenfassung: Der Kalender dient zur Einteilung der Zeit. Seine grundlegenden Elemente basieren entweder auf Beobachtungen der Natur (Jahr, Monat, Tag, Sekunde) oder auf Übereinkunft (Woche und Kalendermonat). Die Schwierigkeit bei der Erstellung eines Kalenders entsteht dadurch, daß Jahr und Monat keine ganzzahligen Vielfache des Tages sind und zudem das Jahr kein ganzzahliges Vielfaches des Monats ist. Unterschiedliche Kulturkreise haben das Problem des Kalendermachens in ganz unterschiedlicher und stets in höchst fesselnder Weise gelöst, so daß heute eine Vielzahl von Kalendern nebeneinander existiert, die jedoch allesamt der Globalisierung des Gregorianischen Kalenders zum Opfer zu fallen drohen. Ein Kalender ist die Einrichtung (das Instrumentarium, das System), das geschaffen wurde, den Lauf der Zeit in einer Gemeinschaft von Menschen einzuteilen. Um ein Zeitsystem einzurichten, muß man „im Prinzip“ zwei Größen definieren, nämlich (ad I) (I) eine Einheit der Zeitdauer, wie z. B. die Sekunde oder den Tag, und (II) einen Nullpunkt der Zählung, auch Epoche 1 oder Ära 2 genannt. Die Zeiteinheit eines Kalenders beruht auf periodischen (zyklischen, sich wiederholenden) Vorgängen, die man entweder (1) aus der Natur ablesen kann oder (2) über die man eine Übereinkunft (Konvention) treffen muß. (ad 1) Periodische Vorgänge der Natur sind: Jahr, Monat, Tag, Sekunde (entnommen astronomischen Beobachtungen) und wiederum die Sekunde (aus der Atomphysik), (ad 2) Übereinkünfte in der Gesellschaft sind z. B. Woche, Dekade, wiederum der Monat als Kalendermonat und die Termine der wiederkehrenden religiösen (sakralen) und weltlichen (profanen, bürgerlichen) Feste, zusammengefaßt im Festkalender. N. B.: Die Sekunde erscheint zweimal in der vorstehenden Liste, da sie zunächst aus der Erdrotation abgeleitet wurde, seit 1967 aber atomphysikalisch definiert wird. Ebenso ist der Monat zweimal aufgeführt, denn zum einen ist er im jüdischen und islamischen Kalender der die Mondphasen wiederspiegelnde Monat, während er z. B. im ägyptischen, römischen und Gregorianischen Kalender nur mehr eine Übereinkunft ist, losgelöst von den wechselnden Erscheinungen des Himmelsobjekts Mond. (ad II) Die Ära eines Kalenders beruht zumeist auf bedeutenden historischen Ereignissen der Gemeinschaft, die sich den Kalender schafft, wie z. B. die Erschaffung der Welt, die Gründung der Stadt Rom, der Regierungsantritt eines Herrschers, die Geburt des Jesus von Nazareth (siehe Kapitel 2.2). 1 εποχη (epoche) (griech.): Haltepunkt 2 aera (lat.): Zeitalter Phänomen Zeit 11 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Die grundsätzliche Schwierigkeit bei der Aufstellung eines Kalenders beruht auf zwei Umständen: (1) Die großen grundlegenden Einheiten der Zeiteinteilung, Jahr und Monat, sind keine ganzzahligen Vielfache der kleineren Einheiten, Woche und Tag. Beispielsweise enthält – das Jahr 12,37 Monate oder 52,18 Wochen oder 365,24 Tage, – der Monat enthält 4,22 Wochen oder 29,53 Tage. (2) Im 20. Jahrhundert wurde offenbar, daß die scheinbar so fest gegründeten Zeiteinheiten Jahr, Monat und Tag keineswegs konstant sind, sondern periodischen, säkularen und irregulären Schwankungen unterliegen. Es war dann aber möglich, die Sekunde durch die Schwingungen atomarer Strahlung neu zu definieren – mit der Hoffnung auf räumlich wie zeitlich universeller Konstanz – und durch tragbare Atomuhren jedem „in die Hand“ zugeben. Unterschiedliche Kulturen haben gänzlich unterschiedliche Lösungen des Kalenderproblems erarbeitet, aber sich auch gegenseitig positiv beeinflußt. Innerhalb geschlossener Kulturräume gab es stets Fortentwicklungen und Verbesserungen des Kalenders. Solche Entwicklungen sind begründet (1) in der Forderung nach höherer Genauigkeit des Kalenders durch fortschreitende Differenzierung – des Alltagslebens (Gewerbe, Handel), – des religiösen Lebens (Zeit der Gottesdienste, Stundengebete) und (2) durch den Fortschritt in der Kenntnis der astronomischen Grundlagen zusammen mit dem Wachsen der mathematischen Fähigkeiten. Wissenschaft, Religion und Ökonomie gehen stets ein enges Bündnis ein. So sind denn im Laufe der Menschheitsgeschichte viele Kalender entstanden – chinesischer, indischer, jüdischer, islamischer, ägyptischer, römischer, Gregorianischer Kalender etc. etc. Stets wandten die Kalendermacher viel Schöpferkraft und Phantasie auf, so daß man durchaus berechtigt ist, von der Kalenderkunst zu sprechen. Es ist immer auch höchst lohnenswert, ja geradezu spannend, den Gedanken und Techniken dieser Künstler nachzuspüren. Im Zeitalter des Zusammenwachsens der Welt 3 in vielen Bereichen („Globalisierung“) ist sicherlich ein einheitlichen Kalender zweckmäßig. Die Dominanz der „westlichen Welt“ (durch Industrieproduktion, Handel, Verkehr, Touristik, Waffenübermacht) hat den im Westen gebräuchlichen Gregorianischen Kalender „globalisiert“. Alle anderen Kalender geraten in Gefahr, nur noch musealen Wert zu besitzen. Als kleine Rechtfertigung sollten wir aber doch anfügen, daß der Gregorianische Kalender sich durch eine allgemein verständliche Einfachheit auszeichnet und daher kein Instrument von Herrschaftsausübung werden kann. 3 12 Man beachte, daß wir ganz selbstverständlich „Welt” sagen, wo wir nur „Erde” meinen. Unsere Sprache verrät, daß wir uns immer noch im Zentrum der Welt (= Weltall = Universum = Kosmos) fühlen! Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Das Wort Kalender ist von lat. Kalendae (femin. plural; einziges lat. Wort mit K!), der erste Tag des Monats, entlehnt. Dies wiederum ist wahrscheinlich abgeleitet von lat. calare, ausrufen, den ersten Tag des Monats ausrufen, wie es im vorcaesarischen Rom durch den obersten der Priesterschaft, den Pontifex Maximus, geschah. Das Erstellen eines Kalenders, die „Kalenderrechnung“, ist in unserem Kulturkreis Teil der Wissenschaft, die man „Chronologie“, also Lehre von der Zeitmessung, -einteilung, -rechnung, nennt. Im Mittelalter gab es zur Zeitbestimmung innerhalb des Quadriviums der Artistenfakultät den Zweig „Computus“ (die Komputistik), dessen Hauptaufgabe darin bestand, den Termin des Osterfestes zu berechnen. Die Wissenschaftler nannten sich „Computisten“ (Komputisten; siehe hierzu [Borst 1999]). Titelblatt der Bulle „Inter Gravissimas” von Gregor XIII. 1582 zur Einführung des Gregorianischen Kalenders Phänomen Zeit 13 Kalenderkunst 2 Wilhelm Seggewiß Die astronomischen und physikalischen Grundlagen des Kalenders 2.1 Der Tag Zusammenfassung: Der Tag ist die Rotationsdauer der Erde um ihre Achse in Bezug auf die Sonne. Der Tag wird in 24 Stunden zu 60 Minuten und die Minute in 60 Sekunden eingeteilt. Der Tag ist sicherlich die auffälligste Periode in der Natur. Er durchläuft den Wechsel des Lichtes von hell nach dunkel und wieder nach hell. Er erstreckt sich von der Morgendämmerung und dem Sonnenaufgang, dem Sonnenhöchststand zu Mittag über Sonnenuntergang mit Abenddämmerung und Mitternacht wieder zum Morgen hin. Der (Sonnen-) Tag ist die Zeitdauer der Umdrehung (Rotation) der Erde um ihre Achse in Bezug auf die Sonne. Dieser Tag wird auch Sonnentag genannt. Dagegen ist der → Sterntag die Rotationsdauer der Erde in Bezug auf den → Frühlingspunkt. Der Sterntag spielt für das Kalendermachen keine Rolle. Die Einteilung des Tages folgt einer alten Tradition, die dem Hexagesimalsystem der Babylonier verpflichtet ist: 1 Tag = 24 Stunden = 1.440 Minuten = 86.400 Sekunden 1 Stunde = 60 Minuten = 3.600 Sekunden 1 Minute = 60 Sekunden In diesem Kasten stecken drei Definitionen, nämlich (1) die Definition der Stunde als 1/24 des Tages, (2) der Minute als 1/60 der Stunde und (3) der Sekunde als 1/60 der Minute oder auch als 1/86400 des Tages. Aber Achtung: Die „Definitionsrichtung“ änderte sich ins Gegenteil im Jahre 1967, als damals die Sekunde als grundlegende Zeiteinheit festgelegt wurde, und zwar durch atomphysikalische Vorgänge. Seitdem sind die größeren Zeiteinheiten als Vielfache der Sekunde zu betrachten. So ist z. B. der Tag jetzt das 86.400-fache der „Atomsekunde“. Es muß aber mit allem Nachdruck festgehalten werden, daß dieser „Atomtag“ nicht mehr der von uns gelebte Sonnentag ist (für Details siehe Kapitel 2.4). Als Kurzzeichen werden (vor allem in Formeln und meist hochgestellt) benutzt: d = Tag (von lat. dies), h = Stunde (von lat. hora), 14 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst m = Minute (von lat. minutus, die Kleinigkeit), s = Sekunde (von lat. secunda, die Zweite). Will man die Länge des Tages, des Sonnentages, durch Beobachtungen der Sonne bestimmen und aus ihrem Stand die Zeit ableiten („Sonnenuhr“), muß man die Zeitdauer zwischen aufeinanderfolgenden Durchgängen der Sonne durch die Mittagslinie, den → Meridian, fortlaufend beobachten. Man sieht sich dann mit der überraschenden Feststellung konfrontiert, daß dieser sogenannte „wahre Sonnentag“, verglichen mit einem gleichlaufenden Zeitmaß, wie z. B. von einer guten Uhr gegeben, unterschiedliche Längen hat und bis zu ± 15 Minuten von einem (über das Jahr gemittelten) „mittleren Sonnentag“ abweichen kann. Der Unterschied zwischen dem wahren und mittleren Sonnentag wird als Zeitgleichung bezeichnet; siehe dazu → Sonnentag. Außer dem Tag von 24 Stunden bezeichnen wir im Deutschen auch die helle, lichte Periode als Tag im engeren Sinne, den dunklen Abschnitt als Nacht. Es ist bemerkenswert, daß die deutsche Sprache nur dieses einziges Wort „Tag“ besitzt, das sowohl den hellen Tag als auch die Einheit von Tag-und-Nacht bezeichnet. Gleiches gilt auch für das Englische („the day“) oder für das Französische („le jour“). Anders ist es in den nordischen Sprachen. Im Dänischen etwa bezeichnet das Wort „dag“ nur den hellen Tag; die Einheit Tag-und-Nacht wird mit dem Wort „døgn“ bezeichnet (schwedisch „dag“ und „dygn“). Die Tage wurden früher in ganz unterschiedlicher Weise gezählt, während sie heute in Woche, Monat und Jahr schlicht durchgezählt werden, siehe Anhang A.1. Der Beginn des Tages ist im globalisierten Gregorianischen Kalender auf Mitternacht festgesetzt. In anderen Jahrhunderten und anderen Kulturkreisen trifft man auf andere Festlegungen, siehe dazu Anhang A.2. Im Altertum und Mittelalter verwendete man statt der Stunden gleicher Länge die sogenannten Temporalstunden, indem man den hellen Tag, der ja eine jahreszeitlich wechselnde Dauer hat, in jeweils 12 Stunden einteilte, siehe dazu Anhang A.3. Astronomen und Astrologen der Antike Mitteldeutschland, 14. Jahrhundert Phänomen Zeit 15 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß 2.2 Das Jahr Zusammenfassung; Das Jahr ist die Dauer des Umlaufs der Erde um die Sonne. Genauer: Das tropische Jahr ist der Zeitraum zwischen zwei Durchgängen der Sonne durch den → Frühlingspunkt. Das Jahr umfaßt 365,2422 Tage. Die große Zeiteinheit der meisten Kulturen der Menschheit ist das Jahr. Im täglichen Leben offenbart sich dieses Jahr durch den Wechsel der Jahreszeiten Frühling-SommerHerbst-Winter – verbunden mit den Wachstumsperioden Aussaat-Blühen-ErnteWinterruhe und mit dem periodischen Großwetterwechsel. Astronomisch gesehen, handelt es sich bei dem so empfundenen Jahr um die Zeit des scheinbaren (!) Laufs der Sonne von →Frühlingspunkt zu Frühlingspunkt an der →Himmelssphäre, um das tropische Jahr 4. Es basiert auf dem Umlauf (der Revolution) der Erde um die Sonne, wird aber mittels des scheinbaren Sonnenlaufs an der Sphäre gemessen. Die exakte astronomische Definition lautet: Das tropische Jahr ist das Zeitintervall zwischen zwei Durchgängen der → mittleren Sonne durch den → Frühlingspunkt. 1 tropisches Jahr = 365,2422 Tage = 365d 5h 48m 46s Im folgenden ist immer dieses tropische Jahr gemeint, das „Sonnenjahr“ oder auch „Jahreszeitenjahr“. Es sind aber, abhängig vom Bezugspunkt, andere astronomische Definitionen des Jahres möglich (→ Jahr). In Gleichungen wird häufig als Abkürzung der Buchstabe „a“ benutzt, von lat. annus, das Jahr. Der Wechsel der Jahreszeiten ist nicht überall auf der Erde so ausgeprägt wie in den mittleren und nördlichen Breiten Europas. In manchen Urwaldregionen der Tropen (!) spürt man die Jahreszeiten kaum; dort gibt es zwei, manchmal sogar drei Wachstumsperioden innerhalb des Jahres. In Wüstengebieten, wie auf der arabischen Halbinsel, treten die Jahreszeiten ebenfalls kaum in Erscheinung – und das hat Folgen für den Kalender des Islam, dessen Jahr nicht auf dem tropischen Jahr beruht, sondern mit wechselweise 354 und 355 Tagen deutlich vom tropischen Jahr abweicht (siehe Kapitel 4.2 Der islamischer Kalender). Die fortlaufende Jahreszählung orientiert sich stets an einem herausragenden Ereignis – und die Gemeinschaft lebt dann in der Ära, dem Zeitalter, dieses Ereignisses (siehe Tabelle 1). Die Griechen zählten nach „Olympiaden“ und die Römer „von der Gründung der Stadt“ (lat. ab urbe condita, a.u.c.). Das Abendland lebt in der „christlichen Ära“ und stets in einem „Jahr des Herren“ (Anno Domini, A.D.). Die Ära wird auch „Inkarnationsära“ genannt – nach lat. incarnatio, Fleischwerdung [„unseres Herrn Jesus Christus“]. Unser Kulturkreis zählt folglich die Jahre „nach Christi Geburt“, kurz „nach Christus“ (n. Chr.). 4 16 Das Wort „tropisch” leitet sich von griech. τροποζ (trópos), Wendung, (Sonnen-) Wende ab. Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Diese Zählung wurde im Jahre 525 durch den Mönch Dionysius Exiguus eingeführt und erst im späten Mittelalter um die Zählung „vor Christi Geburt“ („vor Christus“, v. Chr.) ergänzt (siehe Anhang D) 5. Diese Ära kennt kein Jahr „0“, da sie von 1 v. Chr. unmittelbar nach 1 n. Chr. wechselt. Daraus ergibt sich bei Additionen über die Zeitenwende hinaus eine kleines Rechenproblem. 6 Die Astronomie führt daher ein Jahr 0 ein, nämlich das Jahr 1 v. Chr. = 0, und zählt die Jahre vor und nach diesem Jahr 0 entweder negativ oder positiv, also Jahr 1 v. Chr. = 0, Jahr 2 v. Chr. = –1, … , Jahr 44 v. Chr. = – 43 etc.; Jahr 1 n. Chr. = +1, Jahr 2 n. Chr. = +2, … , Jahr 44 n. Chr. = + 44 etc. Im Altertum war die Zählung nach der Machtergreifung des Diadochen Seleukos I. in Babylon (312 v. Chr.), die Seleukidenära, recht gebräuchlich. Das orthodoxe Judentum zählt noch heute die Jahre seit „Erschaffung der Welt“ im Rahmen der Welterschaffungsära, kurz Weltära (Aera Mundi). Aufgrund von Geschlechterlisten im Alten Testament (z. B. Genesis 5 und 11), die bis hin zu Terach, dem Vater Abrahams, gehen und der jüdischen Chronologie seit Abraham wird die Erschaffung der Welt auf das Jahr 3761 v. Chr. gelegt. 7 Auch der Islam weist die christliche Ära natürlich streng zurück. Er lebt in der Islamischen Ära und rechnet weiterhin die Jahre nach der Hidjra (Hedschra), der Flucht Mohammeds im Jahre 622 n. Chr. von Mekka nach Medina. 8 In der letzten Spalte der Tabelle 1 sind alle Ären auf das Jahr 2000 n. Chr. der Inkarnationsära normiert. Man beachte, daß die Differenzen zur Römischen Ära und zur Weltund Seleukidenära nur 1999 Jahre betragen – als Folge des Fehlens eines Jahres 0 in der Inkarnationsära. Die Summe mit der Islamischen Ära aber ergibt (622 + 1420 =) 2042, also einen Wert größer als 2000 – als Folge des kürzeren islamischen Jahres (siehe Kapitel 4.2). Der Anfang Jahres wird im abendländischen Kulturkreis, im Islam und in der Astronomie sehr unterschiedlich festgelegt; siehe dazu Anhang B.1. 5 Um die Nennung des Namens „Christus” zu vermeiden, war es in der ehemaligen DDR üblich von „v. u. Z.” bzw. „n. u. Z.” (vor/nach unserer Zeitrechnung) zu sprechen. 6 So sind beispielsweise vom 1. Januar 5 v. Chr. bis zum 1. Januar 5 n. Chr. nicht etwa 5 + 5 = 10 Jahre sondern nur 9 Jahre verstrichen. 7 Da allerdings die unterschiedlichen Texte des Alten Testaments, Septuaginta und Vulgata, unterschiedliche Altersangaben liefern und auch über die spätere jüdische Chronologie keine Einigkeit besteht, findet man Zahlen zwischen 6984 und 3483 für die Jahre seit Erschaffung der Welt bis auf Christus [Meyers 1905, Ära]. Der Beginn des Jahres 5765 A. M. (Aera Mundi) geschieht am 15. September 2004 n. Chr. (bei Sonnenuntergang am Vorabend). 8 Der genaue Anfang der islamischen Zeitrechnung ist der erste Tag desjenigen arabisch-präislamischen Mondjahres, in dem die Hidjra stattfand, der 16. Juli 622 n. Chr. [Khoury et al. 1991, S. 361]. Der Beginn des Jahres 1425 geschieht am 21. Februar 2004 n. Chr. (jeweils bei Sonnenuntergang am Vorabend). Phänomen Zeit 17 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Vergleich bekannter Ären Name Ereignis Beginn n. Chr. Römische Ära Ab urbe condita 753 v. Chr. 2752 Inkarnationsära Geburt Christi 1 A. D. 2000 Weltära Erschaffung der Welt 3761 v. Chr. 5760 Seleukidenära Herrschaft in Babylon 312 v. Chr. 2311 Islamische Ära Hedschra 622 n. Chr. 1420 Tabelle 1: Vergleich bekannter Ären Gott als Architekt des Kosmos Aus: Bible Moralisée, Paris, 2. Viertel 13. Jahrhundert 18 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst 2.3 Der Monat Zusammenfassung. In der Kalenderkunst des Islams und des Judentums ist der Monat die Zeitdauer zwischen zwei aufeinanderfolgenden Neumonden. Dieser sogenannte synodische Monat beträgt etwas mehr als 29 1/2 Tage, nämlich 29,5306 Tage. Die dritte aus der Natur entnommene Zeiteinheit ist der Monat. Auffällig für den Menschen war stets der Licht- und Gestaltwechsel des Mondes von Neumond, zunehmend über das erste Viertel zum Vollmond und dann wieder abnehmend über das letzte Viertel zurück zum Neumond. Man nennt diesen Ablauf der Mondphasen eine „Lunation“ (lat. luna, der Mond) und die Zeiteinheit den synodischen Monat 9. Er basiert auf dem Umlauf des Mondes um die Erde relativ zur Sonne und auf der wechselnde Sichtbarkeit der von der Sonne beleuchteten Mondhemisphäre von der Erde aus. Der synodische Monat ist das Zeitintervall von Neumond zu Neumond. 1 synodischer Monat = 29,5306 Tage = 29d 12h 44m 2,8s Eine andere Formulierung dieser Definition lautet: Der synodische Monat ist das Zeitintervall zwischen zwei Konjunktionen des Mondes mit der Sonne. Hier bedeutet Konjunktion, daß, bezogen auf die → Ekliptik, Mond und Sonne am Himmel in gleicher Richtung stehen. Je nach Bezugspunkt, von dem der Mondumlauf gerechnet wird, sind noch andere astronomische Definitionen des Monats möglich (→ Monat), die aber für den Kalendermacher ohne Bedeutung sind. Die Dauer des synodischen Monats von 29,5306 Tagen ist ein Mittelwert; der tatsächliche Wert kann wegen der komplizierten Eigenschaften von Erd- und Mondbahn erheblich schwanken, und zwar bis zu ± 7 Stunden. Möchte man den synodischen Monat durch einen Kalendermonat, der natürlich nur eine ganze Anzahl von Tagen haben kann, annähern, müßte man zwischen Monatsdauern von 29 und 30 Tagen wechseln – mit im Mittel 29,5 Tagen –, gelegentlich aber einen 30-Tage-Monat mehr einfügen. Die erstmals sichtbare Sichel des „jungen“ Mondes am Abendhimmel nach Neumond wird als Neulicht bezeichnet. Es tritt ungefähr zwei Tage nach Neumond ein. Man bezeichnete diese Phase im Mittelalter als „Mondalter 1 Tag“ oder Luna I. Bei Vollmond haben wir dann das Mondalter 14 (Luna XIV) und bei Neumond Mondalter 29 oder 30. Heute bestimmt man das Mondalter „streng“ ab dem genauen Zeitpunkt des Neumonds, der gleich dem Mondalter 0,00 Tage gesetzt wird. 9 griech. συνοδοζ (synodos), Neumond. Vom Wortsinn her lassen sich Mond und Monat auf das indoeuropäische Wort für „messen” zurückführen. Phänomen Zeit 19 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß In unserem Klima mit ständig bedecktem Himmel ist die Lunation, i. e. der Ablauf der Mondphasen, nur sehr schlecht zu beobachten. Und so ist es kein Wunder, daß der Monat unseres Kalenders sich überhaupt nicht mehr um die Mondwechsel schert. Hinzu kommt die große kombinatorische Schwierigkeit, Jahr, Tag und auch noch den Monat zu einem Kalender zu vereinen. Schon die Ägypter und Römer ließen die Lunationen als Mittel der Zeitmessung außer acht. Wie bei uns heute war schon dort der Monat vom Mondwechsel völlig abgekoppelt; siehe daher Kapitel 3.2 Der Kalendermonat. Anders ist das im islamischen und insbesondere im jüdischen Kalender, der durch ein geschicktes Schaltsystem den synodischen Monat schon über Jahrhunderte bewahrt (siehe Kapitel 4.2 und 4.3). Ausschnitt aus einem Kalender mit den Monatsbildern von Januar und Februar Johannes von Gmunden, 2. Hälfte 15. Jahrhundert 20 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst 2.4 Die Sekunde Zusammenfassung: Die Sekunde wird seit 1967 durch einen atomphysikalischen Vorgang definiert als das ca. 9 Milliarden-fache der Periodendauer der Strahlung des Cäsiums aus dem Grundzustand. Seit 1967 wird die Zeiteinheit im Système International (SI) der physikalischen Einheiten durch die Zeitdauer von Schwingungen der Strahlung des Cäsiumatoms (Zäsiumatoms) definiert, und durch Addieren dieser Sekunden entsteht die Internationale Atomzeit TAI (Temps Atomique International). Es gilt für diese SI-Sekunde (siehe Anhang H.3): Die Sekunde (SI-Sekunde) ist das 9.192.631.770–fache der Periodendauer der beim Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nukleids 133Cäsium entsprechenden Strahlung. Diese Zeitdefinition war ein Bruch mit einer Jahrtausende alten Tradition, nämlich Zeit durch einen astronomischen Vorgang zu definieren. Wie erinnerlich (siehe Kapitel 2.1) war die Sekunde ursprünglich definiert als 1/86.400 des mittleren → Sonnentages, also des über das Jahr gemittelten Tages. Die aufaddierten Sekunden bildeten zusammen mit dem Nullmeridian als Ausgangspunkt der Zählung für die Tage die → Weltzeit oder Universal Time (UT). Schon zu Ende des 19. Jahrhunderts stelle es sich heraus, daß die Dauer des Tages, also die Rotationsdauer der Erde um ihre Achse relativ zur Sonne, keineswegs konstant ist (siehe Anhang H.1). Die Erde ist demnach keine gute Uhr. Versuchsweise wurde im Jahre 1960 die Ephemeridensekunde eingeführt als der 31.556.925,974.7te Teil des tropischen Jahres für 1900, Januar 0, 12 Uhr. 10 (N. B.: ≈ 32 Millionen ist die Zahl der Sekunden pro Jahr.) Damit war zwar eine konstante Sekunde geschaffen, aber sie ist schwierig zu reproduzieren und löst auch das Problem der variablen Erdrotation und damit des Auseinanderlaufens von Uhrzeit und Tag-Nacht-Rhythmus nicht. Das leistet auch die Atomzeit nicht! Nur ist die Atomsekunde wunderbar genau zu reproduzieren. Die Zahl der Cäsium-Schwingungen wurde übrigens in der Weise gewählt, daß die Atomsekunde mit der Ephemeridensekunde im Rahmen der Meßgenauigkeit übereinstimmte. 10 Nun ja, da das Jahr sich kontinuierlich ändert, muß man deutlich machen, für welchen genauen Zeitpunkt man die Jahreslänge nehmen will – im vorliegenden Fall für den Zeitpunkt des Jahreswechsels 1899/1900, an dem die Sonne die mittlere Länge von 279°41’48,04” hatte. Diesen Zeitpunkt hat man als Ausgangspunkt einer neuen Zeit, der Ephemeridenzeit, genommen und als 0. Januar 1900 (= 31. Dezember 1899), 12 Uhr gesetzt. Phänomen Zeit 21 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß „Zur Zeit“ richten wir unsere Uhren nach der Koordinierten Weltzeit UTC (Universal Time Coordinated), die im Grunde eine Atomzeit ist. Wenn jedoch aufgrund astronomischer Beobachtungen deutlich wird, daß die Atomuhr der „Erduhr“ eine Sekunde voroder nachläuft, wird diese Sekunde der UTC weggenommen oder hinzugefügt. Das geschieht jeweils zum Jahresende, am 31. Dezember um 24 Uhr, wenn nötig auch zur Jahresmitte. Seit 1972 mußten 32 Schaltsekunden hinzugefügt werden, was i. W. darauf zurückzuführen ist, daß man die SI-Sekunde um ein paar Schwingungen zu kurz gemacht hat. Für weitere Details siehe den Anhang H.3, [Internet (5)] und den Aufsatz von Keller [2002]. Wasseruhr aus Alabaster Ägypten, um 1400 v. Chr. 22 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß 3 Kalenderkunst Die konventionellen Grundlagen des Kalenders 3.1 Die Woche Zusammenfassung: Die Woche ist ein fortlaufender Zeitabschnitt von sieben Tagen, der sich seit dem babylonischen Exil des Judentums nachweisen läßt und in der Kaiserzeit von den Römern übernommen wird. Als erstes müssen wir wohl die Woche nennen. Ihr Ursprung läßt sich nicht mehr genau zurückverfolgen. Zwar kannte bereits der babylonische Kulturkreis einen SiebenTage-Rhythmus. Als fortlaufende Zyklus ist die Woche der jüdischen Tradition verhaftet, wo sie sich mit Sicherheit seit dem babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v. Chr. nachweisen läßt. Die Juden verknüpften in ihrer Glaubensinterpretation die sieben Tage mit dem Schöpfungswerk Gottes – folgend der Genesis, dem ersten Buch des Alten Testamentes. 11 Der jüdische Glaube beeinflußte dann das junge Christentum; es übernahm die Woche, ersetzte aber als Fest- und Ruhetag den Sabbat, den siebten Wochentag, durch den Sonntag, den ersten Tag der Woche, an dem Christus auferstanden sei. Seit 1975 wird aus praktisch-ökonomischen Gründen der Montag als der erste Wochentag geführt (DIN 1355), so daß der Donnerstag jetzt der mittlere Wochentag ist. Die Wochen eines Jahres werden von 1 bis 52 oder 53 durchgezählt, wobei die erste Kalenderwoche eines Jahres diejenige ist, in die mindestens 4 der ersten 7 Januartage fallen. Neben der religiösen Begründung spielten beim Entstehen der Woche sicherlich auch die ungefähr jeweils sieben Tage dauernden Mondphasen eine Rolle, die in vier Wochen fast eine Lunation überdecken. Griechen und Römer kannten ursprünglich keine Woche. Erst in der späten Kaiserzeit hat Rom die Woche von den Juden übernommen. Dabei hat Rom, stark beeinflußt vom astrologischen Denken dieser Spätzeit der Antike, die sieben Wochentage den sieben damals bekannten „Planeten“ und ihren Göttern zugeordnet. Das läßt sich auch heute noch an den Namen der Wochentage in den europäischen Sprachen ablesen (siehe Tabelle 2). Die letzte Spalte der Tabelle gibt die den römischen Göttern äquivalenten germanischen Gottheiten an. Daraus werden Namen wie Dienstag = Tuesday = Ziusdag = Tiusdag, Donnerstag = Donarsdag etc. verständlich. Es besteht die faszinierende, aber letztlich doch unbewiesene Behauptung, daß es seit „biblischen“ Zeiten eine ununterbrochene Abfolge des Wochenzyklus bis auf den heutigen Tage gäbe. Immerhin wurde der Zyklus auch bei der Einführung des Gregorianischen Kalenders im Jahre 1582 beibehalten, da man bei der Streichung von 10 Tagen auf Donnerstag, den 4. Oktober, sofort den 15. Oktober als einen Freitag folgen ließ. 11 Umgekehrt könnte man mit einiger Berechtigung den Beginn der Genesis (Kap. 1 bis Kap. 2.4a) eher als Begründungsurkunde für den Sabbat, den Gott geweihten Ruhetag, bezeichnen denn als Schöpfungsbericht. Phänomen Zeit 23 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Die Woche Planet deutsch Sonne Sonntag Mond Montag Mars Dienstag Mardi Merkur franz. spanisch germ. Gott Sunday Lundy Monday Lunes Tuesday Martes Mercredi Wednesd. Miércoles Jupiter Donnerst. Jeudi Venus Freitag Saturn englisch Thursday Jueves Vendredi Friday Viernes Ziu = Tiu Wotan Donar = Thor Freya Saturday Tabelle 2: Die Zuordnung der Wochentage zu den „sieben” Planeten (-göttern) durch die Römer Das Leben in unserer Gesellschaft ist vielfach dem Wochenrhythmus unterworfen, was auf die ursprüngliche Einteilung in sechs Arbeits- und einen Ruhetag/Feiertag zurückzuführen ist. Arbeitspläne der Industrie, Stundenpläne der Schulen, Fahrpläne bauen auf der Woche auf. Das arbeitsfreie Wochenende ist ein wichtiges Betätigungsfeld der Freizeitindustrie. Mondsichel mit Göttern der Wochentage Von links nach rechts: Saturn (Samstag), Sonne (Sonntag), Mond (Montag), Mars (Dienstag), Merkur (Mittwoch), Jupiter (Donnerstag), Venus (Freitag), siehe Tabelle 2 Römisch, nicht datiert 24 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst 3.2 Der Kalendermonat Zusammenfassung: Der Kalendermonat ist losgelöst vom Monat, den die Natur vorgibt. In seiner heutigen Form wurde er bereits in der Julianischen Kalenderreform festgeschrieben. Die Monate unseres Gregorianischen Kalenders sind völlig losgelöst von einem astronomisch bestimmten Monat – wie z. B. dem synodischen Monat (siehe 2.3). Unser Kalender führt hier altrömische Traditionen fort, die in der Julianischen Kalenderreform zwar modifiziert wurden, sich aber im Grunde bis heute erhalten haben. Näheres zu den Monaten siehe daher im Kapitel 4.4. Gott als Architekt des Kosmos Aus: Bibel Ferdinand III. von Kastilien und León, geschenkt von Ludwig IX. von Frankreich Ile de France, Mitte 13. Jahrhundert Phänomen Zeit 25 Kalenderkunst 4 Wilhelm Seggewiß Kalender Aus der Fülle der Kalender sollen im Folgenden nur diejenigen behandelt werden, die in typischer Weise mit den astronomischen Grundlagen umgehen und die für unsere abendländisch-christliche Kultur Bedeutung erlangt haben. 4.1 Der ägyptische Kalender Zusammenfassung: Der ägyptische Kalender hatte als Grundlage ein Wandeljahr von 365 Tagen, verteilt auf 12 Monate mit je 30 Tagen und 5 Zusatztage. Das Eintreten der segensbringenden Nilfluten konnte durch die Beobachtung des Frühaufganges des Sirius, des hellsten Sterns, bestimmt werden. Das Leben Ägyptens hing bis zum Bau des Staudammes von Assuan eng mit den jährlichen Überflutungen der Talauen durch den Nil zusammen, der fruchtbaren Schlamm und ausreichend Wasser auf die Felder brachte. Das Ansteigen der Nilflut wird durch Schneeschmelze und Regen in seinem Oberlauf bestimmt, erfolgt also im Rhythmus des Sonnenjahres (des tropischen Jahres). Aussaat und Ernte im Niltal waren dem gleichen Takt unterworfen. Dennoch gelang es nicht, einen Kalender zu entwickeln, der das Sonnenjahr gut abbildete! Von ältesten Zeiten an läßt sich ein Kalender mit einem Jahr („Wandeljahr“) von 365 Tagen nachweisen, nämlich 12 Monate zu je 30 Tagen, zuzüglich 5 Ergänzungstagen. Da das Sonnenjahr aber etwa 1/4 Tag länger ist, verschoben sich Überschwemmung mit Aussaat und Ernte ständig gegenüber dem Wandeljahr zu früheren Daten. Nach 1508 ägyptischen Jahren (mit 365 Tagen) sind ziemlich genau 1507 Sonnenjahre (mit 365,2422 Tagen) vergangen, so daß erst nach einer Periode von ca. 1500 Jahren die Erscheinungen der Natur wieder grob mit dem Kalender zusammenfielen. Dieser Mißstand war den Ägyptern wohl bewußt. Sie kannten aber ein vortreffliches Zeichen am Himmel, das ihnen die bevorstehende Flut ankündigte, nämlich der Frühaufgang oder → heliakische Aufgang 12 des hellsten Fixsterns, des Sirius. Dieser Aufgang bezeichnet das erste Sichtbarwerden eines Sterns in der Morgendämmerung kurz vor Sonnenaufgang. Für Sirius geschah der heliakische Aufgang in altägyptischer Zeit Mitte Juli (unseres Kalenders). Er kündigte also die steigenden Nilfluten an. König Ptolemaios III. Euergetes (der „Wohltäter“, Herrscher von 246 – 221 v. Chr.) versuchte, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg, eine Verbesserung des ägyptischen Jahres durchzusetzen. Im Dekret von Kanopos 238 v. Chr. 13 verordnete er ein Jahr von 365 Tagen mit einem zusätzlichen Schalttag in jedem vierten Jahr. 12 nach griech. ηλιοζ , helios, die Sonne 13 Das Dekret ist für die Sprachwissenschaft von Bedeutung, da es in Hieroglyphen, Demotisch und Griechisch abgefaßt ist. 26 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Es führt auf die mittlere Jahreslänge von 365,25 Tagen und war nach damaliger Kenntnis dem tropischen Jahr gut angepaßt. Dieser neue Kalender bleibt gegenüber dem alten Kalender von 365 Tagen in 4 × 365,25 a = 1461 Jahren um ein volles Jahr zurück. Dieser Zeitraum heißt wohl auch Sothis-Periode, benannt nach Sirius, griechisch Sothis, dem ägyptischen Hundsstern. 14 Die Sothis-Periode entspricht ungefähr dem Zeitraum der Wanderung der Jahreszeiten durch das Wandeljahr. 15 Die 30-tägigen Monate des Wandeljahres sind von denen der Lunation, die ja einem Takt von 29,53 Tagen folgen, abgekoppelt. Je vier Monate wurden zu einer Jahreszeit zusammengefaßt: Flut-, Saat und Erntezeit (auch Flut-, Winter-, Sommerzeit), was allerdings wegen des Wandeljahres nur in Abständen von 1500 Jahren für gewisse Zeiträume mit der Natur übereinstimmen konnte. Die Monate wurden in je drei Dekaden, also Abschnitte von 10 Tagen, unterteilt. Die Ägypter teilten den hellen Tag in 12 gleichlange Stunden; ebenso wurde die Nacht in 12 Stunden unterteilt. Das führte im Laufe der Jahreszeiten zu ungleich langen Tageswie Nachtstunden; siehe die Diskussion dieser „Temporalstunden“ im Anhang A.3. Für die Einordnung der Ereignisse des Niltales in den Lauf der Geschichte besteht das Problem, daß die Ägypter keine durchlaufende Jahreszählung, keine generelle Ära, kannten, sondern die Jahre nach den Regierungsjahren der jeweiligen Pharaonen zählten. 14 Die Bezeichnung „Hundstage” erinnert an die heißen Tage um den heliakischen Aufgang des Sirius. 15 Die Sothis-Periode ist eine späte Bezeichnung und war in der Pharaonenzeit als solche unbekannt. Wegen der Präzession (→ Frühlingspunkt) wandert zudem der heliakische Aufgang des Sirius in einem → Platonischen Jahr durch alle Jahreszeiten. Phänomen Zeit 27 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß 4.2 Der islamische Kalender – ein Mondkalender Zusammenfassung: Der islamische Kalender ist ein reiner Mondkalender. Er umfaßt 12 Monate mit abwechselnd 30 und 29, im Mittel also 29,5 Tagen. Um mit dem Mondmonat, der 29,5306 Tage dauert, in Einklang zu bleiben, werden in einem 30-jährigen Zyklus 11 Schaltjahre mit einem zusätzlichen Tag eingeschoben. Der Schalttag wird am Jahresende angefügt. Der Tag beginnt bei Sonnenuntergang am Vorabend und der Monat bei Neulicht. – Das Jahr 1 der islamische Ära begann im Jahre 622 n. Chr., dem Jahr der Flucht (Hidjra) des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina. Der islamische (muslimische) Kalender beruft sich auf die Worte des Korans und auf Überlieferungen aus dem Leben Mohammeds. In vielen Suren des Korans wird Allah als der Schöpfer von Sonne und Mond und ihrer Anordnung am Himmel gepriesen. 16 In der 2. und 9. Sure werden der Mondwechsel und die Zahl 12 der Monate als verbindlich erklärt. Sie fragen dich [Mohammed] nach den Monden. Sprich: „Sie sind ein Mittel zum Messen der Zeit für die Menschheit und für die Pilgerfahrt.“ (Sure 2.189) Die Zahl der Monate ist nach göttlicher Vorschrift zwölf im Jahr. So ist es im Buch Allahs aufgezeichnet, seit dem Tag, an welchem er Himmel und Erde geschaffen hat. Vier von diesen Monaten sind heilig. So lehrt es die wahre Religion. (Sure 9.36) Die folgenden Sätze der 9. Sure verurteilen alle Völker, die von diesen Regeln abweichen, als ungläubig und rufen zum Kampf gegen diese Völker auf! Tagesbeginn ist der Sonnenuntergang am Abend – im Vergleich zum Gregorianischen Kalender am Abend des Vortages! Der Beginn eines jeden Monats war in den Ursprüngen festgelegt auf den Abend desjenigen Tages, an dem die Sichel des jungen Mondes tatsächlich von einem Zeugen gesehen und dies der Gemeinde mitgeteilt wurde, also auf Neulicht 17. Das mag in der kleinen Urgemeinde Mohammeds praktikabel gewesen sein, war aber unhaltbar in dem ausgedehnten Reich, das sich schon wenige Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten gebildet hatte. Neben praktischen Problemen (Kommunikationsschwierigkeiten, unbeständiges Wetter, größere Sichtbarkeitschancen im Westen des Reiches), trat die Schwierigkeit, zukünftige Ereignisse, Festtage, Steuertermine exakt vorauszudatieren. Unter dem 2. Kalifen Omar (634 – 644 n. Chr.) wurden die Grundlagen eines zyklischen Kalenders gelegt. Das Jahr des islamischen Kalenders besteht aus 12 Monaten von abwechselnd 30 und 29 Tagen. Der uns durch muslimische Mitbürger bekannte Fastenmonat „Ramadan“ ist der 9. Monat des Jahres. 16 z. B. in den Suren 10.5, 13.2, 14.32–33, 21.33, 31.29, 35.13, 36.38–40, 39.5, 41.37, 55.5 17 Siehe die ausführliche Diskussion über den für den Islam so wichtigen Zeitpunkt des Neulichts bei Bär [Internet (1)]. 28 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Die mittlere Monatslänge von 29,5 Tagen ist etwas kürzer als die des Mondmonats (synodischen Monats) von 29,53 Tagen. Daher führten die islamischen Astronomen einen Zyklus von 30 Jahren mit 11 Schaltjahren ein, in denen jeweils dem letzten Monat des Jahres ein Tag hinzugefügt wird. Schaltjahre sind die Jahre 2, 5, 7, 10, 13, 16, 18, 21, 24, 26, 29 des Zyklus. Die Schaltregelung ist recht gut, wie die Rechnung mit den (übergenauen) modernen Werten zeigt: 30-jähriger Zyklus: 360 Monate zu 29,5 Tagen + 11 Tage → 10.631,000.00 d 360 synodische Monate zu 29,530.588.853.1 Tagen → 10.631,011.68 d Die mittlere Länge des Kalendermonats eines Zyklus ist nur (0,011.68/360) Tage oder 2,8 Sekunden kürzer als der synodische Monat! Das mittlere islamische Jahr hat 10.631/30 d = 354,3667 Tage und ist daher 10,8755 Tage kürzer als das tropische Jahr (365,2422 d) bzw. 10,8758 Tage kürzer als unser Kalenderjahr, das Gregorianische Jahr (365,2425 d). Dies hat zur Folge, daß sich der Beginn des islamischen Jahres und der Rhythmus seiner Feste jeweils um 11 Tage rückwärts zum Sonnenjahr und zu unserem Kalenderjahr verschieben. Es macht auch die Steuereinziehung in Agrargesellschaften, deren Ertrag mit dem Sonnenjahr einhergeht, schwierig, so daß immer wieder Versuche zur Einführung eines Sonnenjahres auftreten, so z. B. im osmanischen Reich seit 1677. In etwa 32,5 Jahren läuft das islamische Jahr vollständig durch unser Jahr. Die Menschen im islamischen Kulturkreis altern daher „scheinbar“ schneller, da sie in diesen 32,5 Jahren ein Jahr „gewinnen“. Ein „hübsches“ Beispiel: Wer am 12. Juli 2004 nach unserem Kalender 65 Jahre alt wird, kann am gleichen Tage nach dem islamischen Kalender bereits seinen 67. Geburtstag feiern – wie überhaupt der 65. und der 67. Geburtstag stets eng beieinander liegen (man benutze den Datumsumrechner in [Internet (1)]). Wie bereits im Zusammenhang mit den Ären erläutert (siehe Kapitel 2.2), beginnt das Jahr 1 der islamische Ära am ersten Tag desjenigen Mondjahres, in dem die Übersiedlung (Hidjra) des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina stattfand. Der Beginn ist der 16. Juli + 622 des Julianischen Kalenders bei Sonnenuntergang des Vorabends. Phänomen Zeit 29 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß 4.3 Der jüdische Kalender – ein Lunisolarkalender Zusammenfassung: Der jüdische Kalender kombiniert Mondmonate mit dem Sonnenjahr („Lunisolarkalender”) auf der Basis des Metonischen Zyklus, nach dem 235 synodische Monate 19 tropischen Jahren entsprechen. In sehr komplizierte Weise müssen Schaltage und ganze Schaltmonate in den 19-jährigen Zyklus eingefügt werden. Der Tag beginnt bei Sonnenuntergang (jetzt 18 Uhr) am Vorabend und der Monat bei Neulicht (jetzt Neumond). – Die Jahre zählen seit der Erschaffung der Welt (Aera Mundi), die dem Jahre 3761 v. Chr. entspricht. Wie der Koran für den Islam, so bezeugt das Alte Testament für das Judentum an vielen Stellen, daß Gott, der Herr, Sonne und Mond erschaffen und sie als „Zeitzeichen“ an den Himmel gesetzt hat. So lesen wir schon in der Schöpfungsgeschichte, dem ersten Buch der Schrift: Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen Zeichen sein und zur Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren dienen …: vierter Tag. (Genesis, 1. Mose 1.14) An anderer Stelle heißt es: Du hast den Mond gemacht als Maß für die Zeiten, die Sonne weiß, wann sie untergeht. (Psalm 104.19). Der Mond führt die Zeiten herauf; er herrscht bis ans Ende und dient für immer als Zeichen. Durch ihn werden Fristen und Festzeiten bestimmt, ist er erschöpft, freut er sich wieder auf seinen Umlauf. (Jesus Sirach 43.6–7) Die Texte geben keine sonderlich konkreten Anweisungen für den Kalender. Die jüdischen Kalenderbemühungen der Frühzeit müssen hier übergangen werden; Details findet man bei Ginzel [1991, Bd. II]. Die Reform, die zum heutigen Kalender führte, wird zumeist auf den Patriarchen Hillel II. im 4. Jahrhundert n. Chr. zurückgeführt. Die Grundlage des Kalenders beruht auf einem „kosmischen“ Zyklus, der dem Athener Naturphilosophen Meton (2. Hälfte 5. Jahrhundert v. Chr.) zugeschrieben wird, einem Rhythmus, der auch schon den Babyloniern bekannt war: 19 tropische Jahre entsprechen ziemlich genau 235 synodischen Monaten mit 6940 Tagen, oder: Nach 19 Jahren fallen die Mondphasen in etwa wieder auf die gleichen Tage des Jahres. 18 Mit den Daten aus dem Glossar ergibt sich: Metonischer Zyklus (5. Jahrhundert v. Chr.) 19 tropische Jahre = 6939,6016 Tage 235 synodische Monate = 6939,6884 Tage 18 Nicht genau, da die Schalttage in unser Kalenderjahr unregelmäßig einschneiden. 30 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Der Unterschied nach Ablauf von 19 Jahren beträgt also nur 0,0868 Tage oder 2h 04m 58s, was sich in knapp 220 Jahren zu einem Tag aufsummiert. Die jüdischen Weisen wagten dann den Spagat zwischen einem Mond- und einem Sonnenkalender – Lunisolarkalender genannt – indem sie Jahr, Monat und Tag in einem System vereinigten. Wie im Islam gibt es ein „ordentliches“ Gemeinjahr mit 12 Monaten von abwechselnd 30 und 29, also insgesamt 354 Tagen. Mit Blick auf den Metonischen Zyklus führt das in 19 Jahren nur zu 19 × 12 Monate = 228 Monate. Da man aber 235 Monate auf diese 19 Jahre verteilen muß, folgt als Konsequenz, daß man 7 Schaltjahre mit einem zusätzlichen Monat einführen muß; dies sind die Jahre 3, 6, 8, 11, 14, 17 und 19 im Zyklus. Der Schaltmonat Veadar (gleich zweiter Monat Adar), der als siebter Monat vor den Frühlingsmonat Nisan eingeschoben wird, hat stets 29 Tage. Man errechnet schnell, daß ein 19-jähriger Zyklus nunmehr 19 × 354 + 7 × 29 Tage = 6929 Tage hätte. Folglich müssen weitere 10 bis 11 Schalttage in den Zyklus eingefügt werden, um auf die Zahl von 6939,6 Tagen in 19 tropischen Jahren zu kommen. Erschwerend kommt hinzu, daß eine Reihe religiöser Bräuche weitere unüberschreitbare Bedingungen setzt. So darf z. B. der Neujahrstag (Rosh Haschana) nie auf die Tage 1, 4 und 6 (Sonntag, Mittwoch, Freitag) der jüdischen Woche und das Versöhnungsfest (Jom Kippur) nie auf einen Tag vor oder nach Sabbat (Samstag) fallen. Letztlich gibt es im jüdischen Kalender 6 unterschiedliche Jahreslängen (siehe Tabelle 3; zur Reihenfolge der Jahresformen innerhalb des Zyklus und zu den Monatsnamen und -längen siehe z. B. Meyers Handbuch Weltall [1994]). Jahresformen des jüdischen Kalenders abgekürztes Gemeinjahr 353 d ordentliches Gemeinjahr 354 d überzähliges Gemeinjahr 355 d abgekürztes Schaltjahr 383 d ordentliches Schaltjahr 384 d überzähliges Schaltjahr 385 d Tabelle 3: Die Jahresformen des jüdischen Kalenders Die Monatsanfänge fielen ursprünglich auf Neulicht, und die Tage begannen bei Sonnenuntergang des Vorabends unseres Kalenderdatums. Heute ist der Monatsanfang auf Neumond und der Tagesanfang auf 18 Uhr festgelegt. Die Woche ist ein durchgängiges Zeitmaß. Phänomen Zeit 31 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Für den Ostertermin (siehe Kapitel 4.5) ist die Festlegung des jüdischen Passah-Festes19 von Bedeutung. In der Thora (oder besser Torá) heißt es: Im ersten Monat, am vierzehnten Tag des Monats, zur Abenddämmerung, ist Pascha zur Ehre des Herrn. Am fünfzehnten Tag dieses Monats ist das Fest der Ungesäuerten Brote zur Ehre des Herrn. (Levitikus, 3. Mose 23.5) Ursprung des Festes ist die Erzählung vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (Exodus, 2. Mose 12.1–11). Hier, im religiösen Kalender, ist der erste Monat des Jahres der Nisan, während im bürgerlichen Kalender das Neujahrfest zu Anfang des Monats Tischri (liturgisch der 7. Monat) gefeiert wird. Da der Neumond stets nahe des Monatsanfangs eintritt, wird Passah zur Vollmondzeit gefeiert. Torquetum zur Bestimmung stellarer Koordinaten Erworben von Nikolaus von Kues 1444 in Nürnberg Bernkastel-Kues, Bibliothek des St.-Nikolaus-Hospitals 32 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst 4.4 Der Julianische Kalender – ein Sonnenkalender Zusammenfassung: Das Julianische Kalenderjahr hat entweder 365 Tage (Gemeinjahr) oder 366 Tage (Schaltjahr). Schaltjahre sind die Kalenderjahre, deren Jahreszahl geteilt durch 4 eine ganze Zahl ergibt. Das Jahr beginnt am 1. Tag des Monats Januar. Die Monatslängen variieren zwischen 28 und 31 Tagen und sind nicht an den synodischen Monat gebunden. – Es gilt die Ära ab urbe condita, d. h. von der Gründung der Stadt Rom im Jahre 753 v. Chr. Der römische Kalender vor der Herrschaft Caesars wird als der schlechteste gescholten, den ein Kulturvolk je hervorgebracht habe. Die Kalendermacher Alt-Roms begannen wohl in früher Zeit mit einem Jahr von 10 Mondmonaten, das sie bald auf 12 Monate ausweiteten. Um eine Angleichung an das Sonnenjahr zu erzielen, schoben sie – ähnlich wie die Juden, aber ohne tieferen astronomischen Hintergrund – Schaltmonate ein, die jedoch gegen Ende der republikanischen Zeit durch die verantwortliche Priesterschaft einer völligen Willkür unterworfen wurden. Zudem löste sich der Monat völlig von den Lunationen. – Detailliertere Ausführungen sind kaum lohnend. Wer dennoch weitere Details wissen möchte, muß (natürlich!) bei Ginzel [1911, Bd. II] nachschlagen oder kürzere Zusammenfassungen aufsuchen (Ekrutt [Internet (2)] und Oertel [Internet (4)]). Der Diktator Gaius Julius Caesar (100 – 44 v. Chr.) setzte im Jahre 47 v. Chr. dank seiner Machtfülle und seines Amtes als Pontifex Maximus der Konfusion ein Ende. Dabei versicherte er sich des Sachverstandes des alexandrinischen Astronomen Sosigines (1. Jahrhundert v. Chr.). In Ägypten hatte Pharao Ptolemaios III. Euergetes (siehe Kapitel 4.1) eine Jahreslänge von 365 Tagen mit einem zusätzlichen Schalttag in jedem vierten Jahr einzuführen versucht. Es wird vermutet, daß Caesar diese Praxis über die Vermittlung des Sosigines übernahm, obwohl die Quellenlage nicht eindeutig ist. Zu Ehren von Gaius Julius Caesar nennt man den reformierten römischen Kalender den Julianischen Kalender. Er zeichnet sich durch leicht verständlich Klarheit aus, die fortan der Priesterschaft die Macht über die Zeiteinteilung entwand und auf den „gemeinen Mann“ übertrug. Um den alten Kalender von seinen gröbsten Fehlern zu befreien, vermehrte Caesar das Jahr 46 v. Chr. (707 a.u.c.) um drei Monate auf 445 Tage („annus confusionis“, Jahr der Verwirrung). Den Jahresbeginn legte er von Anfang März auf Anfang Januar (siehe Anhang B.1). Mit dem Jahr 45 v. Chr. trat die neue Schaltregel in Kraft: Auf drei Gemeinjahre mit 365 Tagen folgt ein Schaltjahr mit 366 Tagen. Die mittlere Jahreslänge beträgt also 365,25 Tage. Das Julianische Jahr ist daher um 0,0078 Tage (oder 11 Minuten und 14 Sekunden) größer als das tropische Jahr von 365,2422 Tagen. Das summiert sich in 1/0.0078 Jahren = 128 Jahren zu einem Tag auf und führte letztlich zur Gregorianischen Kalenderreform. Nach Caesars Ermordung 44 v. Chr. wurde die Schaltregel zunächst falsch interpretiert. Rückschauend kann man aber feststellen, daß im Jahre 8 n. Chr., welches als Schaltjahr gesetzt wurde, die Schaltregel endgültig etabliert war. So ist, eher zufällig, jedes durch 4 teilbare Jahr ein Schaltjahr geworden! Wichtig für Osterdatum und Gregorianischer Reform ist zu vermerken, daß Caesar das Konfusionsjahr so einrichtete, daß fortan der Frühlingsanfang auf den 24. März fiel. Phänomen Zeit 33 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Die Monate des Julianischen Kalenders Name Dauer Herkunft Ianuarius 31 d Gott Janus, doppelköpfig Februarius 28/29 d Monat des Reinigungsfestes februa Martius 31 d Kriegsgott Mars Aprilis 30 d lat. aperire, (den Frühling) eröffnen Maius 31 d Nymphe Maia, Plejade, Mutter Merkurs Iunius 30 d Göttin Iuno Quintilis/Julius 31 d 5. Monat/Gaius Julius Caesar Sextilis/Augustus 31 d 6. Monat/Octavianus Augustus September 30 d 7. Monat des ältröm. Kalenders October 31 d 8. Monat November 30 d 9. Monat December 31 d 10. Monat Tabelle 4: Die Monate des Julianischen Kalenders Caesar ließ die Länge der Monate zwischen 30 und 31 Tagen variieren – mit Ausnahme des Februars, der nur 29 Tage erhielt (im Schaltjahr 30 Tage). Zu Zeiten seines Nachfolgers Augustus (63 v. Chr. bis 14 n. Chr.) wurde der Monat Quintilis, ursprünglich der 5. Monat des altrömischen Kalenders, in Julius umgetauft und der Sextilis in Augustus. Letzterer wurde zugleich um einen Tag auf 31 vermehrt, denn der neue Caesar („Kaiser“) sollte in der Zahl seiner Monatstage nicht geringer dastehen als der alte. Der Tag wurde dem Februar weggenommen (siehe Tabelle 4). Caesar fügte den Schalttag nach dem 23. Februar ein. Die heute verbindliche Normung (DIN 1355 vom März 1975) vermeidet das Wort „Schalttag“, über den ja stets debattiert und gewitzelt wird, indem sie an den Monat Februar die Fußnote anfügt: „im Gemeinjahr 28, im Schaltjahr 29 Kalendertage“; zu den Details siehe Anhang C.2. Die römische Tageszählung, die Caesar in seiner Reform beibehielt und die sich durch das gesamte Mittelalter hindurchzieht, ist in recht eigenartiger Weise „rückwärtsgewandt“. Man zählte beispielsweise die Tage bis zum Beginn des nächsten Monats, „5. Tag, 4. Tag, 3. Tag, Vortag vor Beginn des März“ u. ä. (siehe Anhang C.1). Die heute gebräuchliche durchlaufende Zählung der Monatstage war schon den Völkern Mesopotamiens geläufig, sie tritt aber erst im 6. Jahrhundert n. Chr. im Abendland auf. Sie wird ab Heinrich VI. (Kaiser von 1190 – 1197) vermehrt in Königsurkunden benutzt und ab dem 13. Jahrhundert bei den Chronisten allgemein verwendet. 34 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst 4.4 Der Gregorianische Kalender Zusammenfassung: Der Gregorianische Kalender übernimmt den Julianischen Kalender mit der zusätzlichen Vorschrift, daß in Säkularjahren, die nicht durch 400 teilbar sind, der Schalttag ausfällt. Außerdem erneuert der Gregorianische Kalender die zyklische Berechnung des Osterfestes. Es gilt die Inkarnationsära, die von der Geburt Jesu im Jahre 1 n. Chr. zählt. – Der Kalender wurde durch Papst Gregor XIII. im Jahre 1582 eingeführt und von den meisten katholischen Ländern sofort übernommen. Die evangelischen Lande Deutschlands folgten erst im Jahre 1700. Obwohl der Julianische Kalender durch seine Einfachheit besticht, so hat er doch einen Makel, den man vielleicht für belanglos halten könnte: Das Kalenderjahr ist mit 365,25 Tagen um 0,078 Tage länger als das tropische Jahr der Jahreszeiten (siehe Tabelle 5). Diese kleine Differenz summiert sich in 128 Jahren zu einem vollen Tag auf – und das bedeutet, daß der Frühlingspunkt um einen Tag im Kalender zurückbleibt, die Jahreszeiten sich also langsam gegen den Kalender verschieben. Das mag unbedeutend im Leben eines Menschen sein. Aber von Caesars Zeiten bis zum Ende des 16. Jahrhunderts machten das doch schon 13 Tage aus; Frühlingsbeginn war vom 24. auf den 11. März gerückt. Die Landwirtschaft hatte Probleme mit der Bestimmung des Zeitpunktes für die Aussaat. Vor allem aber waren vielen Menschen bedrückt, daß immer häufiger das Osterfest offensichtlich nicht mehr am korrekten Datum gefeiert wurde. Schon der englische Historiker Beda Venerabilis und der Philosoph Roger Bacon bemerkten im 8. bzw. 12. Jahrhundert die allmähliche Verschiebung des Frühlingspunktes. Nikolaus von Kues (1400 – 1464) verfaßte 1434/35 die Schrift „De Reparatione Calendarii“, in der er die Streichung von einer Woche aus dem Kalender vorschlug. Der Papst ruft 1475 den berühmten Astronomen Johannes Regiomontanus (1436 – 1476, aus Königsberg in Franken, daher Regiomontan(us)) nach Rom, um den Kalender zu reformieren, nachdem dieser nachgewiesen hatte, daß in den nächsten 76 Jahren das Osterfest 50 mal zur falschen Zeit gefeiert werde. Aber Regiomontan stirbt kurz nach seinem Eintreffen in Rom. Erst 100 Jahre später ist es dann soweit: Papst Gregor XIII. (Ugo Buoncompagni, 1502 – 1585, Papst seit 1572) ordnet in der Bulle „Inter gravissimas“ die Einführung eines neuen, verbesserten Kalenders an – natürlich nach Beratung durch die führenden Astronomen seiner Zeit wie den Jesuiten Christoph Clavius (1537 – 1612) aus Bamberg und auf der Grundlage einer Idee des Arztes Luigi Lillo (um 1510 – 1576) aus Kalabrien. Die Bulle verfügt, daß zwar der Julianische Kalender gänzlich abgeschafft werde, dennoch übernimmt sie den alten Kalender, jedoch mit der zusätzlichen Regel, daß in allen Säkularjahren, die nicht durch 400 teilbar seien, der Schalttag ausfallen solle. Säkularjahre ohne Schalttag waren zufolge 1700, 1800 und 1900 – nicht aber die Jahre 1600 und 2000, die ihren Schalttag, da durch 400 teilbar, behalten haben. Das Gregorianische Kalenderjahr besitzt also im Mittel 365 + 1/4 – 3/400 Tage = 365,2425 Tage und ist daher nur noch 0,0003 Tage oder ca. 26 Sekunden länger als das Sonnenjahr, eine Differenz, die sich erst in etwa 3300 Jahren zu einem Tag aufsummiert (siehe Tabelle 5). Phänomen Zeit 35 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Unterschiede der Jahreslängen Jahr Tage Diff. zum trop. Jahr tropisches Jahr (Sonnenjahr) 365,242.199 — Julianisches Kalenderjahr 365,250.000 0,078 Gregorianisches Kalenderjahr 365,242.500 0,000.3 Griech.-Orthodoxes Jahr 365,242.222 0,000.023 summiert zu 1 Tag in — 128 a 3.300 a 43.000 a Tabelle 5: Unterschiede der Kalenderjahre zum Sonnenjahr und Zeitdauer in Jahren, in denen sich die Unterschiede zu einem Tag aufsummieren Um den Frühlingsanfang auf den 21. März zu bringen, mußten 10 Tage aus dem Kalender gestrichen werden. Daher folgte auf Donnerstag, den 5. Oktober 1582, sofort Freitag, der 14. Oktober 1582. Bis zum heutigen Tag ist der Julianische Kalender um drei weitere Tage vorgerückt, da er die Schalttage in den Jahren 1700, 1800 und 1900 nicht ausfallen ließ. Daher stimmt der 14. Januar 2004 des Gregorianischen Kalenders mit dem 1. Januar 2004, dem Neujahrsfest des Julianischen Kalenders, überein. Die neue Schaltregelung ist jedoch nur ein kleiner Teil der Gregorianischen Reform. Die päpstliche Bulle gibt zusätzlich detaillierte Anweisung zur verbesserten Berechnung des Ostertermins auf der Grundlage lange bekannter Zyklen (siehe Kapitel 4.5). Die Konstituierung des neuen Kalenders durch den Papst erfolgte im Jahrhundert der Reformation. Es ist verständlich, daß es in der Folge zu ernsten Auseinandersetzungen mit den evangelischen Ländern kam; siehe dazu Anhang E. Eine Anmerkung muß angefügt werden: Es ist bemerkenswert und erstaunlich, daß einige Zweige der orthodoxen Kirche in ihrem Kalender die beste Annäherung an das tropische Jahr verwirklicht haben. Diese Kirchen begründen ab 1924 den „Revidierten Julianischen Kalender“, der mit dem Gregorianischen Kalender fast übereinstimmt – mit Ausnahme einer anderen Schaltregel, indem die Kirchen die Säkularjahre nur dann Schaltjahre sein lassen, wenn sie durch 9 geteilt die Reste 2 oder 6 ergeben. Die erste Abweichung zu unserem Kalender findet erst im Jahre 2800 (Rest 1 (!), im Osten also kein Schaltjahr, wohl aber im Westen) statt. Die Zahl der Tage in 900 Jahren des orthodoxen Kalenders beträgt offensichtlich N = 900 × 365 + 900/4 – 7 Tage = 3.228.718 Tage. Damit beträgt die mittlere Jahreslänge N/900 = 365,242.222 Tage. Sie ist also nur 0,000.023 Tage oder fast genau 2 Sekunden länger als das Sonnenjahr, was sich erst in etwa 43.000 Jahre zu einem Tag aufaddiert (siehe Tabelle 5). 36 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst 4.5 Das Osterfest Zusammenfassung: Fußend auf Vorschlägen des Ersten Ökumenischen Konzils von Nikaia 325 wird das Osterfest am Sonntag nach dem ersten Vollmond des Frühlings gefeiert. Die Berechnung des Datums geschieht durch die Anwendung astronomischer Zyklen. Die Berechnung des Ostertermins ist der Höhepunkt und die absolute Herausforderung der Kalenderkunst. Das Osterfest ruft den Christen das Heilsereignis der Auferstehung Jesu Christi in Erinnerung. Nach dem Neuen Testament fand die Auferstehung am 1. Tag der Woche statt, heute Sonntag genannt. Vorausgegangen war das jüdische Passahfest, das am 14. des Monats Nisan, also zur Vollmondzeit gefeiert wird. Außerdem war der Nisan der Frühlingsmonat. Es bildete sich daher als Regel für das Osterdatum heraus: Das Osterfest wird an demjenigen Sonntag gefeiert, der dem Tag des ersten Vollmonds im Frühling folgt, kurz: am Sonntag nach Frühlingsvollmond. Es muß demnach zunächst der Frühling beginnen. Die Regel nimmt an, ja setzt geradezu fest, daß das Frühlingsäquinoktium am 21. März einzutreten habe. Als zweites muß der Mond voll werden. Dann wird am folgenden Sonntag Ostern gefeiert. 20 Die Osterregel verknüpft in dreifacher Weise die Auferstehung mit dem Kosmos: Mit der Sonne (Frühlingsanfang), dem Mond (Vollmond) und dem Sieben-Tage-Werk der Schöpfung (Sonntag). So soll deutlich werden, daß Jesus Christus durch die Auferstehung Himmel und Erde miteinander versöhnt hat. Die Regel wird dem Ersten Ökumenischen Konzil von Nikaia (lat. Nicaea, Nicäa, Nizäa, heute türkisch Iznik) des Jahres 325 zugeschrieben. Die Konzilsakten sind jedoch nicht mehr erhalten. Aufgrund von Sendschreiben, z. B. Kaiser Konstantins, geht hervor, daß es dem Konzil vor allem um die Einigkeit im Osterdatum ging. Es wendet sich gegen zwei Gruppen von Christen, die abweichende Ostertermine begingen, – gegen die Quartodezimaner, die „Vierzehner“, die Ostern stets am 14. Nisan feierten – ohne Rücksicht auf den Wochentag. Ihnen wurde beschieden, daß Ostern stets am Sonntag nach dem 14. Nisan zu feiern sei. Und – gegen die Protopaschisten, die Ostern stets am Sonntag nach dem jüdischen Passahfest feierten. Da der jüdische Kalender das Äquinoktium aber nicht genau beachtete, feierten sie das Fest häufig einen Monat zu früh. Das Konzil ordnete daher an, daß der 14. Nisan nie vor das Äquinoktium fallen dürfe. 20 Wollte der Verfasser nach demselben Grundgedanken seinen Geburtstag beschreiben, so ist er am „Freitag vor dem letzten Vollmond des Sommers” geboren. Er würde dann diesen Geburtstag jährlich variierend zwischen dem 15. August und dem 21. September unseres Kalenders feiern. Phänomen Zeit 37 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Erst in den folgenden Jahrhunderten bildete sich die Osterregel heraus. Die Gelehrten des Patriarchats von Alexandrien waren führend in der Berechnung des Termins und der Zusammenstellung der Daten zu Ostertafeln. Im 6. Jahrhundert berechnete Dionysius Exiguus in Rom Ostertafeln auf der Basis eines Zyklus von 532 Jahren (s. u. und Anhang D) und führte dabei die Inkarnationsära ein. Durch den englischen Historiker Beda Venerabilis wurden die Ideen des Dionysius im 8. Jahrhundert Allgemeingut im christlichen Erdkreis. Die genauen Zeitpunkte von Äquinoktium und Vollmond sind nur sehr schwierig durch astronomische Beobachtungen zu bestimmen. Eine ad-hoc-Bestimmung des Festtermins kommt daher nicht in Frage. Außerdem möchte die Gemeinschaft für das Hohe Fest und die damit zusammenhängenden beweglichen Nebenfeste (z. B. Karneval!) im voraus planen. Die exakte Berechnung der Bahnen von Erde und Mond wurden jedoch erst im Anschluß an Johannes Keplers (1571 – 1630) Harmonice Mundi, Harmonie der Welt, des Jahres 1619 entwickelt. Es blieb daher nur die Möglichkeit, die altbekannten Zyklen hervorzuholen und diese dem neuen Kalender mit verbessertem Kalenderjahr und der besseren Kenntnis der Lunationsdauer anzupassen. Diese Zyklen sind – der (Sonnenzyklus, in dem nach 28 Jahren auf jeden der Jahrestage wieder der gleiche Wochentag fällt (7 Wochentage, jedes 4. Jahr ein Schaltjahr, also 7 × 4 = 28) – bis ein Säkularjahr ohne Schalttag nicht mehr mitspielt, und – der schon beschriebene → Metonische Zyklus (siehe Kapitel 4.3), bei dem nach 19 Jahren an jedem Tag des Jahres beinahe die gleiche Mondphase wieder eintritt. 21 Die Zahl, die ein Jahr im Sonnenzyklus einnimmt, wird als dessen → Sonnenzirkel bezeichnet; die Ordnungszahl innerhalb eines Zyklus des Meton ist die → Goldene Zahl des Jahres. Offensichtlich ist, daß im Julianischen Kalender nach einem „Osterzyklus“ von 19 × 28 = 532 Jahren die Osterfeste jeweils wieder auf das gleiche Datum fallen. Die Osterrechnung der Gregorianischen Reform ist ziemlich schwierig. Im Prinzip läuft bei den Berechnungen „im Hintergrund“ immer das Mondjahr von 354 Tagen unter gelegentlichen Einschüben ganzer Monate mit, wie wir es in ähnlicher Art beim jüdischen Kalender nachvollziehen können. Wichtig wird die Zahl der Tage, um die das Gemeinjahr das Mondjahr übersteigt, die → Epakte. 22 Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855) ist es im Jahre 1800 gelungen, die Berechnung des Osterdatums in einer Formel, der Gaußschen Osterformel, zusammenzufassen. 21 Gelegentlich wird auch der Zyklus des Kallippos (4. Jahrhundert v. Chr.) zugrunde gelegt, der vier Perioden des Meton zu einem verbesserten Zyklus von 76 Jahren mit 940 Monaten und 27,759 Tagen zusammenfaßt. 22 griech. επακτοζ (epaktos), herbeigeholt 38 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Das Osterdatum kann frühestens auf den 22. März fallen (Häufigkeit von 0,25 %). Wenn nämlich am 21. März, dem gesetzten Frühlingsanfang, der Vollmond eintritt und dieser Tag ein Samstag ist, dann wird am nächsten Tag Ostern gefeiert. Tritt der Vollmond aber am 20. März ein, dann ist erst 29 Tage später, also am 18. April, Eintritt des Frühlingsvollmonds. Ist dieser Tag ein Sonntag, dann wird erst am folgenden Sonntag, dem 25. April Ostern gefeiert (1,00 % aller Fälle, das nächste Mal im Jahre 2038). Am häufigsten wird mit 4,25 % der 31. März als Osterdatum angenommen. Die Osterfestrechnung der orthodoxen Kirchen ist ziemlich unübersichtlich. Interne Versuche zur Vereinheitlichung und eventuellen Anpassung an die (westliche) Gregorianische Regel schlugen bisher fehl. Diejenigen Kirchen, die den Revidierten Julianischen Kalender (siehe Kapitel 4.4) übernommen haben, ziehen zumeist den (wahren) astronomischen Vollmond für den Meridian von Jerusalem heran. Viele Kirchen bleiben jedoch beim Osterdatum im Rahmen des Julianischen Kalenders. Da aber zur Zeit der Julianische 21. März (als Fixdatum für den Frühlingsanfang) dem Gregorianischen 3. April entspricht, feiert die Ostkirche zumeist das Osterfest später als Katholiken und Protestanten im Westen. Im Jahre 2004 fiel das Osterfest ausnahmsweise gemeinsam auf den 11. April – nach Passah am 6. April. Im Jahre 2005 jedoch feiert der Westen am 27. März und der Osten erst am 1. Juni, während Passah zwischen diesen Terminen am 24. April begangen wird. Eine vorzügliche und detaillierte Einführung in die Osterrechnung, Übersetzung der Bulle Inter gravissimas und eine Erläuterung der Gaußschen Formel gibt N. A. Bär [Internet (1)]. Sonnenquadrant Kaiser Friedrich III. Johannes von Gmunden, 1438 Wien, Kunsthistorisches Museum Phänomen Zeit 39 Kalenderkunst 5 Wilhelm Seggewiß Internet Es gibt eine kaum übersehbare Fülle von Internetseiten zum Thema Kalender. Herbert Metz (3) hat sich die Mühe gemacht, über 250 Links wohlgeordnet zusammenzustellen. (1) Bär, Nikolaus A.: Chronologie und Kalender http://www.nabkal.de (Bär bietet einen einfachen Umrechner zwischen unterschiedlichen Kalendern und einen Osterfestrechner. Neben einer guten Abhandlung über den islamischen Kalender gibt er eine unglaublich profunde Einführung in den „Abendländischer Kalender“) (2) Ekrutt, Joachim W.: Der Kalender im Wandel der Zeiten – 5000 Jahre Zeitberechnung http://www.geocities.com/CapitolHill/Lobby/2554/kalender.htm (HTML-Version des gleichnamigen Bandes 274 der Kosmos-Bibliothek, FranckhKosmos, Stuttgart 1982) (3) Metz, Herbert: Kalender – Computus http://www.computus.de (Wichtig wegen der umfangreichen Seiten mit Literaturlisten und Internetlinks zum Thema Kalender; dazu ein Kalenderrechner und eine gute Einführung in den Julianischen und den Gregorianischen Kalender) (4) Oertel, Holger: Verschiedene Kalender http://www.ortelius.de/kalender/index.php (Übersichtliche, kurze Einführung in viele Kalendersysteme der Weltkultur) (5) Phyikalisch-technische Bundesanstalt (PTB): Wissenswertes zur Zeit http://www.ptb.de/de/blickpunkt/infoszurzeit/index.html (Wirklich Wissenswertes aus „erster Hand“ über die Sekunde als Maßeinheit, Atomuhren und die Funkübertragung des Zeitsignals) Bestimmung einer Turmhöhe durch Triangulation Aus: Collectanea astronomica Johannes de Gmundia et alii, Wien, Mitte 15. Jahrhundert 40 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß 6 Kalenderkunst Literatur Wiederum bietet Herbert Metz [siehe Internet (3)] eine lange Liste von Publikationen, die er zumeist auch kommentiert. Hier folgt eine kurze Liste von Büchern, die der Verfasser gern zu Rate zieht. Borst, Arno: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. dtv 30746. München: dtv 1999 Doggett, L. E.: Calendars. In: Seidelmann, P. K. (Herausgeber): Explanatory Supplement to the Astronomical Almanac. Mill Valley, CA: Univ. Sci. Books 1992, S. 575 Dohrn-van Rossum, G.: Die Geschichte der Stunde. München: Carl Hanser Verlag 1992 Ginzel, F. K.: Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie – Das Zeitrechnungswesen der Völker. Bde I – III. Leipzig: Hinrisch’sche Buchhandlung 1906 (Bd I), 1911 (Bd II), 1914 (Bd III) Grotefend, H.: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. 2 Bde. Hannover 1891 – 1898; im Internet unter http://www.manuscripta-mediaevalia.de/gaeste/grotefend/grotefend.htm Grotefend, H.: Taschenbuch der Zeitrechnung. Hannover: Hahnsche Buchhandlung 1991. 13. Auflage Katalog Geburt der Zeit. Ausstellung der Staatl. Museen Kassel im Museum Fridericianum Kassel, 1999/2000. Wolfratshausen: Edition Minerva 1999 Keller, H.-U.: Kosmos Himmelsjahr 2002. Stuttgart: Franckh-Kosmos 2001 (und alle weiteren Jahrgänge) Keller, H.-U.: Zeitdefinition heute: Die Dynamische Zeit. In: Astronomie + Raumfahrt 39 (2002), 8 Khoury, A. Th.; Hagemann, L.; Heine, P.: Islam-Lexikon. Spektrum TB 4036. Freiburg: Herder Verlag 1991 Lange, Ludwig: Paradoxe Osterdaten im Gregorianischen Kalender. Sitzungsber. Bayer. Akad. Wiss., Philosoph.-philolog. hist. Klasse, 9. Abh. (1928) Lichtenberg, Heiner: Das anpassbar zyklische, solilunare Zeitzählungssystem des gregorianischen Kalenders. Math. Semesterberichte 50 (2003), 45 Maier, H.: Die christliche Zeitrechnung. Spektrum TB 4018. Freiburg: Herder Verlag 1991 Meyers Großes Konversations=Lexikon. Leipzig und Wien: Bibliogr. Institut 1905 – 1908. 6. Auflage Meyers Handbuch Weltall. Krautter, J. et al. (Herausgeber). Mannheim: Meyers Lexikonverlag 1994. 7. Auflage Phänomen Zeit 41 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Seidelmann, P. K. (Herausgeber): Explanatory Supplement to the Astronomical Almanac. Mill Valley, CA: Univ. Sci. Books 1992, S. 575 Whitrow, G. J.: Die Erfindung der Zeit. Hamburg: Junius 1991 Darstellung der Himmelssphäre Johannes von Gmunden, 1428 42 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Anhang A Zählung, Beginn und Einteilung des Tages.............................................................. A.1 Zählung der Tage .................................................................................................. A.2 Tagesbeginn ........................................................................................................... A.3 Einteilung des Tages ........................................................................................... B Beginn und Einteilung des Jahres .............................................................................. 48 B.1 Jahresbeginn .......................................................................................................... 48 B.2 Einteilung des Jahres ........................................................................................... 50 C Römische Tageszählung und Schalttag ..................................................................... 52 C.1 Römische Tageszählung ...................................................................................... 52 C.2 Schalttag ................................................................................................................. 53 D Entstehungsgeschichte der Inkarnationsära ............................................................. 55 E Kalender- und Osterstreit ............................................................................................. 57 F Außergewöhnliche Osterdaten ................................................................................... 59 G Weltzyklen ....................................................................................................................... 61 H Erdrotation, Polbewegung und Atomzeit.................................................................. H.1 Erdrotation ............................................................................................................. H.2 Polbewegung ......................................................................................................... H.3 Atomzeit ................................................................................................................. I Zonenzeiten ..................................................................................................................... 68 Phänomen Zeit 44 44 45 46 64 64 65 66 43 Kalenderkunst A Wilhelm Seggewiß Zählung, Beginn und Einteilung des Tages A.1 Zählung der Tage Homer zählte die Tage nach der Zahl der Morgendämmerungen. So heißt es in der „Ilias“, seinem berühmten Epos der Eroberung der Stadt Troja: Die zwölfte Morgenröte leuchtet mir erst, seitdem ich in Ilios’ Mauern zurückkam. (Homer, 8. Jahrhundert v. Chr., Ilias, Gesang XXI, 80–81) Im Englischen werden die „14 Tage“ als „fortnight“ bezeichnet, also „14 Nächte“; hier wurde früher die Zahl der verflossenen Nächte gezählt. Im modernen Kalender werden die Tage durchgezählt, und zwar in der Woche von 1 bis 7 (siehe Kapitel 3.1), im Monat von 1 bis 28 oder 31 (siehe Kapitel 3.2) und im Jahr von 1 bis 365 oder 366 (siehe Kapitel 2.2). Eine Sonderstellung nehmen die Astronomen ein: Sie zählen die Tage fortlaufend seit dem 1. Januar 4713 v. Chr. 23 Sie kümmern sich dabei gar nicht um größere Zeiteinheiten wie das Jahr. Dieses sogenannte Julianische Datum JD, ursprünglich auf Vorschlag von Joseph Scaliger im Jahre 1581 eingeführt (und nicht nach Julius Caesar sondern nach Scaligers Vater Julius benannt), beginnen die Astronomen um 12 Uhr Mittag der Weltzeit UT (Universal Time). Der Grund ist einfach: Astronomen arbeiten nachts, und sie möchten während ihrer Arbeitseinheit, d. h. in einer fortlaufenden Beobachtungsreihe, einen Datumswechsel vermeiden. 24 Am 1. Januar 2004 um 1200 Uhr Weltzeit begann der Julianische Tag JD 2.453.006. 23 Warum gerade dieses Jahr 4713 v. Chr.? In diesem Jahr waren die → Goldene Zahl, die → Römerzinszahl und der → Sonnenzirkel alle gleich 1 – und das geschieht nur alle 19 × 15 × 28 Jahre = 7.980 Jahre. 24 Seitdem jedoch überall auf der Erde, insbesondere an den Großobservatorien in den USA, in Chile, Australien und auf Hawaii der Himmel beobachtet wird, trifft dieses Argument allerdings nicht mehr zu. 44 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst A.2 Tagesbeginn Der Tagesbeginn wird in unterschiedlichen Kulturen sehr unterschiedlich festgesetzt – das ist eine Frage der Übereinkunft (siehe Tabelle 6). Aus der Bibel wissen wir, daß im Judentum der Tag mit der Dämmerung des Vorabends beginnt. Gleiches gilt für den religiösen Kalender des Islam. Die Römer begannen im „täglichen“ Leben den Tag mit der Morgendämmerung – und so hielt man es auch im Mittelalter. Der genaue Zeitpunkt des Tagesbeginns war nicht festgelegt. Wenn der Mesner die Morgenglocke läutete, begann für den Bauern und den Handwerksmeister der Tag. Die Mägde, Knechte, Gesellen und Lehrbuben mußten allerdings schon beim ersten Hahnenschrei, also noch in der Dunkelheit, aus den „Federn“! Im antiken Rom begann der Tag offiziell, d. h. im sakralen und juristischen Bereich, um Mitternacht, so wie es heute im globalisierten Gregorianischen Kalender wieder geschieht. Der Tagesbeginn Judentum, Islam Dämmerung des Vorabends Rom, im Alltag Morgendämmerung Rom, juristisch, sakral Mitternacht Mittelalter Morgendämmerung Neuzeit Mitternacht – jeweils um 1 Stunde versetzt in den 25 Zeitzonen rund um die Erde Astronomie Julianisches Datum Mittag Weltzeit (UT) z. B. 18.01.2002, 12 Uhr UT = JD 2 452 293.0 Tabelle 6: Der Tagesbeginn in der geschichtlichen Entwicklung Phänomen Zeit 45 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß A.3 Einteilung des Tages Mit der Beschreibung der Tageseinteilung betreten wir ein weites, aber höchst interessantes Feld. Die Römer führten zunächst größere Abschnitte der Nacht ein, indem sie diese in vier Wachen (lat. vigiliae) einteilten. Dahinter steckt natürlich das Militär! Wachen sind auch in der Schifffahrt eine stete Notwendigkeit. Dort gibt es Wachen zu je vier Stunden, bei denen jede halbe Stunde durch das Schlagen einer Glocke eingeläutet wird. Man nennt den Halbstundenschlag das „Glasen“, denn ursprünglich maß man auf See die Zeit mit einem Stundenglas, also einer Sanduhr mit einer etwa halbstündigen Rieseldauer. Bei „acht Glasen“ war dann eine vierstündige Wache beendet. Die den Landratten geläufige Einteilung des Tages ist die „Stunde“. Sie hat eine lange Geschichte, sie geht auf die altägyptische Zeit zurück. Die Ägypter nämlich teilten den hellen Tag von der Morgendämmerung bis zur Abenddämmerung in 12 gleichlange Stunden. Mit der dunklen Nacht machten sie das gleiche: 12 Nachtstunden (siehe Kapitel 2.1). Wohlgemerkt, der helle Tag wurde in 12 gleiche Stunden eingeteilt. Das bedeutet aber, daß die Stunde eines Sommertages viel länger währte als die Stunde eines Wintertages. Für unsere Breiten dauert diese „ungleiche Stunde“ (lat. hora inaequalis) 25 im Sommer 1h 22m im Winter 0h 40m bzw. einschließlich Dämmerung 26 1h 29m, bzw. einschließlich Dämmerung 0h 46m. Man spricht hier von den Temporalstunden. Das europäische Mittelalter hat bis ins 14. Jahrhundert – bis zum Aufkommen der Räderuhren mit Schlagwerk – die Temporalstunden beibehalten. Sicherlich, für die Naturwissenschaft, für Physik und besonders für die Astronomie, waren die Temporalstunden völlig unbrauchbar. Aber im Mittelalter mußte man im Sommer sehr lange arbeiten, nämlich solange es tageshell genug war, um Arbeiten verrichten zu können. Demgegenüber waren an trüben Wintertagen die Arbeitsstunden recht kurz, und man verbrachte die langen Nachtstunden im Bett – während ja heute unsere Schlafenszeiten im Sommer und im Winter sich eigentlich nicht unterscheiden. Man muß allerdings anmerken, daß in Ägypten, dem Ursprungsland der Temporalstunden, wie überhaupt näher am Äquator, der Unterschied zwischen den Sommer- und den Winterstunden weit weniger groß ist. Im einigen Bereichen des christlich-religiösen Leben wird der Tageslauf durch die Stundengebete in Abschnitte von je etwa drei Stunden geteilt. Grundlage bildet die Regula Sancti Benedicti, die Regel des hl. Benedikts von Nursia (um 480 – 547), die der Vater des abendländischen Mönchtums um 529 seiner religiösen Gemeinschaft auf dem Monte Cassino gab. 27 25 Die Zahlenangaben beziehen sich auf die geographische Breite von 50° N (z. B. auf den Ort Mainz) 26 Dämmerung bezeichnet hier die sogenannte „bürgerliche” Dämmerung, i. e. Sonne 6.5° unter dem Horizont. 27 Die Regel läßt sich leicht im Internet finden und herunterladen! 46 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Vorgeschrieben werden sieben Gebetszeiten mit Psalmengesang: Matutin, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Die Matutin 28 sollte bei Tagesanbruch gesungen werden und zur „ersten Stunden“, lat. prima hora, also etwa gegen 6 Uhr unserer Tageseinteilung, die Prim und dann folgend in jeweils etwa drei Stunden Abstand die übrigen Gebetszeiten. Dazu verfügte Benedikt, daß zur achten Nachtstunde, also gegen 2 Uhr nachts, die Vigilien zu beten und singen seien. Natürlich mußte es im Winterhalbjahr Verschiebungen der Nacht- und Frühgebete gegenüber der Sommerzeit geben. So folgt im Sommer auf die Vigilien schon „nach einer kurzen Pause für die natürlichen Bedürfnisse der Brüder“ (Kap. 8, 4) die Matutin; im Winter rücken dann Matutin und Prim aneinander. 28 Zur Matutin werden die Lobgesänge, lat. laudes, gesungen. Deshalb werden Matutin und Laudes meist synonym als Bezeichnung des Frühgebetes gebraucht. Phänomen Zeit 47 Kalenderkunst B Wilhelm Seggewiß Beginn und Einteilung des Jahres B.1 Jahresbeginn In Laufe unserer Geschichte waren recht unterschiedliche Anfänge des Jahres in Gebrauch. Wenn wir in der Geschichte der Zeitrechnung unseres Kulturraumes zurückgehen, dann sehen wir zunächst einmal, daß in Rom vor Gaius Julius Caesar und seiner Kalenderreform das Jahr am 1. März begann. Denn nur so machen ja die Monatsnamen September, Oktober, November und Dezember, also der 7., 8., 9. und 10. Monat des Jahres, einen Sinn. Im Jahresbeginn „März“ kommt wohl der Beginn der Feldarbeit nach der Winterruhe zum Ausdruck. Plutarch berichtet, daß schon der altrömische König Numa Pompilius den Januar an die Spitze gestellt habe; der März ist ja nach dem Kriegsgott Mars benannt, er wolle aber der Verehrung des friedliebenden Gottes Ianus (daher „Januar“) den Vorzug geben. Außerdem ist Janus der Gott mit den zwei Gesichtern (lat. Deus biceps, doppelköpfiger Gott), der gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft, ins alte und ins neue Jahr schaut. Caesar bestimmte dann den Januar als ersten Kalendermonat, wie wir ihn heute auch begehen. Man beachte aber, daß der 1. Januar 0 Uhr, also „Neujahr“, auf den Uhren der Menschen in Abhängigkeit von der → Zonenzeit schrittweise in Abständen von 1 Stunde eintritt und von Ost nach West über den Globus wandert (siehe dazu Anhang I). Um diese Mehrdeutigkeit auszuschließen, hat die Astronomie nach einem Jahresbeginn gesucht, der zum gleichen Moment auf der ganzen Erde eintritt. Zu Ehren des großen deutschen Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel (1784 – 1846) wurde der Jahresbeginn dieses Besselschen Jahres (auch annus fictus genannt) auf den Zeitpunkt gelegt, an dem der Mittelpunkt der → Mittleren Sonne die → Rektaszension 18h 40m (= 280°) hat. Dieser Zeitpunkt liegt stets nahe dem 1. Januar; so begann z. B. das Besselsche Jahr 2004 am 0. Januar (= 31. Dezember 2003) um 7h 32m UT. Andere Jahresanfänge (siehe Tabelle 7): – Der Weihnachtsanfang am 25. Dezember: Die kaiserliche Kanzlei (im Hl. Römischen Reich Deutscher Nation) begann das Jahr stets am Weihnachtstag, und zwar von den Karolingern bis in die 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts. – Der Osteranfang: In Frankreich begann bis zum Jahre 1564 das Jahr stets mit dem Osterfest, so daß man unterschiedliche Jahreslängen hatte. – Der byzantinische Jahresanfang: In Byzanz/Konstantinopel, solange es denn christlich war, begann man das Jahr am 1. September. – Das Marienjahr (Jahresbeginn am 25. März, „Annunciationsstil“): Neun Monate vor Weihnachten feiert die Kirche das Fest der Verkündigung der Geburt Jesu an Maria, neun Monate währt ja eine Schwangerschaft. Das Fürstbistum Trier (mit seinem Suffraganbistum Metz) begann das Jahr am 25. März. Man nannte das den „Mos Treverensis“, also den Trierer Stil – und dieser Stil wurde bis zum Jahre des Westfälischen Friedens 1648 befolgt. 48 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Trier war nicht allein mit seinem „mos Treverensis“, denn auch in England begann man seit dem 12. Jahrhundert das Jahr am 25. März, und das bis zum 1. Januar 1752, dem Jahr der Einführung des Gregorianischen Kalenders in England. – Das Kirchenjahr tritt hinzu – mit dem 1. Adventssonntag als Anfang. – Der Beginn des jüdischen Weltjahres schwankt zwischen Anfang September und Anfang Oktober unseres Jahres, da es im jüdischen Kalender Schaltmonate gibt. – Das islamische Jahr ist ca. 11 Tage kürzer als unser Jahr. Sein Beginn wandert in 33 Jahren rückwärts durch unser Jahr. Der Jahresbeginn Rom, vor Caesar 1. März Rom, seit dem Jahre 45 v. Chr. 1. Januar Weihnachtsanfang 25. Dezember Osteranfang 22. März bis 25. April Byzanz 1. September Marienjahr (Mos Treverensis) 25. März Kirchenjahr 1. Adventssonntag Besselsches Jahr Sonnenrektaszension = 280° *** Beginn des Weltjahres Anf. Sept. bis Anf. Oktober Islamisches Neujahr wandert in 33 Jahren rückwärts durch unser Jahr Tabelle 7: Der Jahresbeginn Wir stellen also fest, daß bis ins 18. Jahrhundert hinein in unserem Kulturraum eine große Vielfalt beim Jahresbeginn bestand, die größte Aufsplitterung, zeitlich wie räumlich, finden wir natürlich in deutschen Landen – in denen zudem noch der Gregorianische Kalender zu recht unterschiedlichen Zeiten eingeführt wurde. Für den Historiker gibt es hier eine echte Herausforderung, wenn er Angaben aus unterschiedlichen Chroniken miteinander vergleichen muß. Ein Beispiel: Der „1. Februar 1601“ in einer Trierer Chronik bedeutet nach Datierung der Reichskanzlei und nach heutiger Rechnung „1. Februar 1602“, da die Trierer ja erst an ihrem Neujahrstag, dem 25. März, die Jahreszahl um 1 erhöhten. Phänomen Zeit 49 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß B.2 Einteilung des Jahres Neben den Monaten, die an mehreren Stellen ausführlich diskutiert werden (siehe Kapitel 2.3, 3.2, 4.4), sind für uns die vier Jahreszeiten eine geläufige Einteilung des Jahres. Die Jahreszeiten gründen auf der Neigung der Erdachse von 23,5° relativ zur Erdbahnachse. Sie bringen uns den Großwetterwechsel und die Fruchtfolge in der Landwirtschaft. Durch die elliptische Bahn, die die Erde mit wechselnder Geschwindigkeit durchläuft, sind Frühling und Sommer einige Tage länger als Herbst und Winter (siehe Tabelle 8). Dauer der Jahreszeiten Beginn der Jahreszeit Datum MEZ Dauer von Frühlingsanfang 2004 März 20 0749 92,76 d Frühling Sommersonnenwende 2004 Juni 21 0157 93,65 d Sommer Herbstanfang 2004 Sept. 22 1730 89,84 d Herbst Wintersonnenwende 2004 Dez. 21 1342 88,99 d Winter Frühlingsanfang 2005 März 20 1333 365,24 d Jahr Tabelle 8: Die Jahreszeiten 2004/2005 und ihre Dauer Ein kurzer Blick auf die astrologische Praxis ist hier angebracht: In der Astrologie wird das Jahr nach der Verweildauer der Sonne in den 12 Tierkreiszeichen geteilt. Die in unserer Gesellschaft herumirrende Astrologie kann bis in die Anfänge der altmesopotamischen Reiche zurückgeführt werden. Die Horoskop-Astrologie entstand im neubabylonischen Reich der Chaldäer-Dynastie um 600 v. Chr. und erhielt ihre dogmatische Ausformung durch den Tetrabiblos des Klaudios Ptolemaios um 150 n. Chr. in Alexandrien. Damals wurde die → Ekliptik, der scheinbare Lauf der Sonne vor den Sternen, in 12 gleiche Teile, „Zeichen“, zu je 30° geteilt, beginnend im → Frühlingspunkt. Die Zeichen entsprachen damals annähernd der Lage von 12 Sternbildern längs der Ekliptik, die zumeist Tiere symbolisierten, daher der Name Tierkreissternbilder. Zu chaldäischer Zeit trat die Sonne bei Frühlingsanfang in das Sternbild Widder, daher wird der Frühlingspunkt (das Frühlingsäquinoktium) bis heute Widderpunkt genannt. Sommersonnenwende (Solstitium) der Nordhemisphärenbewohner der Erde ereignete sich beim Eintritt der Sonne in das Sternbild Krebs; daher der Name Wendekreis des Krebses für die geographische Breite 23,5° auf der Nordhalbkugel der Erde. Entsprechend kennen wir den Waagepunkt zu Herbstanfang und den Wendekreis des Steinbocks im Süden. 50 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Tierkreiszeichen und ihre Sternbilder in den Jahren 2003/2004 Nr. Name (lat.) Aufenthaltszeitraum Tage der Sonne im Zeichen im Sternbild 1 Widder Aries 21.03. – 20.04. 19.04. – 14.05. 25 2 Stier Taurus 20.04. – 21.05. 14.05. – 22.06. 39 3 Zwillinge Gemini 21.05. – 21.06. 22.06. – 21.07. 29 4 Krebs Cancer 21.06. – 23.07. 21.07. – 11.08. 21 5 Löwe Leo 23.07. – 23.08. 11.08. – 17.09. 37 6 Jungfrau Virgo 23.08. – 23.09. 17.09. – 31.10. 44 7 Waage Libra 23.09. – 23.10. 31.10. – 23.11. 23 8 Skorpion Scorpius 23.10. – 22.11. 23.11. – 30.11. 7 9 Schlangenträger Ophiuchus ––– 30.11. – 18.12. 18 10 Schütze Sagittarius 22.11. – 22.12. 18.12. – 20.01. 33 11 Steinbock Capricornus 22.12. – 20.01. 20.01. – 16.02. 27 12 Wassermann Aquarius 20.01. – 18.02. 16.02. – 12.03. 25 13 Fische Pisces 19.02. – 20.03. 12.03. – 18.04. 37 Tabelle 9: Die Aufenthaltsdauer der Sonne in den Tierkreiszeichen im Vergleich zur ihrem Aufenthalt in den Tierkreissternbildern der Jetztzeit am Beispiel 2003/2004 (Daten für 2004 in kursiver Schrift), nach Keller [2001] Nun präzediert allerdings die Erdachse, und der Frühlingspunkt schreitet pro Jahr um ca. 50" auf der Ekliptik zurück (i. e. gegen die Laufrichtung der Sonne). Das bedeutet aber, daß nach ca. 70 Jahren die Sonne erst einen Tag später eine bestimmte Position auf der Ekliptik einnimmt. Seit der Zeit der Chaldäer hat sich die Sonne also um ca. 23 Tage vom damaligen Frühlingspunkt entfernt. Er liegt nicht mehr im Sternbild Widder, sondern in den Fischen und wandert auf den Wassermann zu, den er in etwa 700 Jahren erreichen wird. Insgesamt haben sich die Tierkreiszeichen um ungefähr ein Sternbild relativ zur ursprünglichen Lage verschoben. Berücksichtigt man auch die recht unterschiedliche Ausdehnung der Sternbilder und die Tatsache, daß auch das Sternbild Schlangenträger in die Ekliptik hineinragt, so ergeben sich für die heutige Zeit die Eintrittsdaten der Sonne in die Tierkreissternbilder nach Tabelle 9. Einerseits beharrt die Astrologie auf den obsoleten Eintrittsdaten aus chaldäischer Zeit. Andererseits bereiten sich manche esoterische Kreise schon jetzt auf den Eintritt des Frühlingspunktes in das (tatsächliche!) Sternbild Wassermann vor – als den Beginn des Wassermann- oder Aquarius-Zeitalters, einer Art Endzeit voll Friede, Freude, Harmonie (siehe auch Anhang G). Warten wir die 700 Jahre ab! Phänomen Zeit 51 Kalenderkunst C Wilhelm Seggewiß Römische Tageszählung und der Schalttag C.1 Römische Tageszählung Die Tage eines Monats wurden von den Römern her bis ins Mittelalter (siehe Kapitel 4.4) nicht einfach von 1 bis 30 durchgezählt. Man zählte die Tage auf gewisse Fixpunkte des Monats hin. Diese Punkte waren – der Monatsanfang (die „Kalenden“, Kalendae), – die Monatsmitte (die „Iden“, Idus) und – die Nonen (Nonae). In den Monaten März, Mai, Juli und Oktober waren die Nonen der 7. und die Iden der 15. Tag, in den übrigen Monaten die Nonen der 5. und die Iden der 13. Tag. Die Tage unmittelbar vor diesen Fixtagen hießen stets pridie, Vortag. Beispiele: – 28. Januar = ante diem quintum Kalendas Februarias (abgekürzt: a.d.V Kal. Febr.); auch: dies quintus ante Kalendas Februarias. N. B.: Start- und Zieltag, also 28. Januar und 1. Februar, werden mitgezählt, daher „5 Tage vor Anfang/Kalenden des Februars“; – 29. April = ante diem tertium Kalendas Maias (a.d. III Kal. Mai.); – 24. Februar = ante diem sextum Kalendas Martias (a.d. VI Kal. Mart.); – 12. März = ante diem quartum Idus Martias (a.d. IV Id. Mar.); aber – 12. Juni = pridie Idus Iunias (pr. Id. Iun.); – 3. September = ante diem tertium Nonas Septembres (a.d. III Non. Sept.). Es werden unterschiedliche Ursachen zur Entstehung der die römischen Tageszählung genannt. Zum einen könnte es sich auf ein Hinzählen auf die ursprünglich im Monat verankerten Mondphasen handeln. Die Kalenden bezeichnen dann den Neumond, die Nonen das 1. Viertel und die Iden den Vollmond. Zum anderen könnte auch auf die Tage bis zum nächsten Steuer- und Abgabentermin hin gezählt worden sein. 52 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst C.2 Schalttag Caesar ließ den Schalttag seines Julianischen Kalenders nach dem 23. Februar, also vor dem 24. Februar (a.d. VI Kal. Mart., der 6. Tag vor den Kalenden des März; s. o.) einfügen. An dieser Stelle wurden schon in vorcaesarischer Zeit die Schaltmonate eingeschoben. Am 23. Februar (a.d. VII Kal. Mart.) wurde zudem der hohe Festtag der Terminalien (lat. terminus, der Grenzstein) gefeiert, ein Fest für Jupiter als Schützer von Recht und Treue – und ein Ruhetag danach war sicher wünschenswert. Wenn wir die rückwärts gewandte Zählung berücksichtigen, ist der Schalttag also ein „zweiter“ 6. Tag vor Anfang März: ante diem bis sextus Kalendas Martias 29 (oder dies bis sextus ante Kalendas Martias), also der 24. Februar und keineswegs der 29. Februar (siehe Tabelle 10). Der 29. Februar ist der gleiche Tag wie in den Gemeinjahren der 28. Februar, nämlich der letzte Februartag = der Tag vor Anfang März = pridie Kalendas Martias. Römische Zählung im Schaltjahr Normaljahr Schaltjahr VIII ante Kal. Martias 22. Februar 22. Februar VII 23. Februar 23. Februar VI bis 24. Februar VI 24. Februar 25. Februar V 25. Februar 26. Februar IV 26. Februar 27. Februar III 27. Februar 28. Februar Pridie Kal. Mart. 28. Februar 29. Februar Kalendae Martiae 01. März 01. März VI ante Nonas Martias 02. März 02. März Tabelle 10: Der Kalender in der Umgebung des Schalttages 29 In Frankreich heißt noch heute das Schaltjahr année bissextile. Phänomen Zeit 53 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Der kirchliche Festkalender bestätigte früher diese Regelung. So wurde z. B. das Fest des hl. Matthias, der als einziger der Apostel sein Grab nördlich der Alpen, nämlich in Trier, haben soll, in den Gemeinjahren am 24. Februar, in den Schaltjahren folgerichtig am 25. Februar, also jeweils a.d. VI Kal. Mar., gefeiert. Allerdings folgte Deutschland 1975 mit der DIN 1355 der von der International Organization for Standardization (ISO) vorgegebenen Regel, strich das Wort „Schalttag“ und verordnete dem Februar „im Gemeinjahr 28, im Schaltjahr 29 Kalendertage“ – und ließ damit die Frage nach dem Schalttag offen. Und die „römische“ Kirche? Sie folgte bereits in ihrem Römischen Generalkalender von 1969 der ISO und (oh Schreck für Trier!) verlegte das Fest des hl. Matthias kurzerhand auf den 14. Mai; doch sie erlaubt der Diözese (oh Glück für Trier!), weiterhin den hl. Matthias am 24. Februar feiern zu dürfen – doch auch im Schaltjahr an diesem Datum. 54 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß D Kalenderkunst Entstehungsgeschichte der Inkarnationsära Der Frage nach der Entstehung der Inkarnationsära soll hier kurz nachgegangen werden. Im Jahre 525 erhielt der römische Abt Dionysius Exiguus (ca. 470 – 550), ein Skythe von Geburt, von Papst Johannes I. den Auftrag, die Ostertafeln ab dem Jahre 532 neu zu berechnen – eigentlich müßte man sagen: ab dem Jahre 248 der Diokletianischen Ära. Denn Kaiser Diokletian (regierend 284 – 305) hatte mit seinem Regierungsantritt im Jahre 284 n. Chr. eine neue Jahreszählung (Ära) begründet, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts immer noch gebraucht wurde 30 – wie z. B. in den nunmehr auslaufenden Ostertafeln des Kyrillos, Patriarchen von Alexandria 412 – 444. Diokletian hatte eine letzte große Christenverfolgung inszeniert, und Dionysius argumentiert: Wir wollen unseren Osterzyklus nicht mit der Erinnerung an diesen Gottlosen und Christenverfolger verbinden, sondern haben es vorgezogen, zu Beginn die Zeit nach Jahren seit der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu notieren. (Libellus des Dionysius Exiguus, zitiert nach Maier, 1991) Es galt daher für Dionysius, den genauen Zeitpunkt der Geburt Jesu zu bestimmen. Dabei hat er sich nun keineswegs verrechnet, wie viele Historiker immer wieder behaupten. Denn Dionysius betrieb „Geschichtsforschung“ nicht auf Grund von Königslisten, mit Auszählen von Baumringen oder der Carbon-14-Methode. Für ihn vollzog sich Geschichte nicht nach der „Atomuhr“, d. h. im Sinne eines ständig fortschreitenden, präzisen Zeitmaßes, sondern für ihn vollzog sich nachchristliche Geschichte in Zyklen, in einer ewigen Wiederkehr von Kreisläufen, die der Schöpfergott selbst vorgegeben hatte und die man aus der Natur ablesen konnte. 31 Er kombinierte den (Sonnenzyklus, bei dem nach jeweils 28 Jahren des Julianischen Kalenders jeder Tag des Jahres wieder den gleichen Wochentag besitzt (siehe Tabelle 14), mit dem → Metonischen Mondzyklus von 19 Jahren, bei dem nach 19 Jahren auf jeden Jahrestag ungefähr wieder die gleiche Mondphase fällt. Dann fällt nach 28 × 19 Jahren, also nach 532 Jahren, das Osterfest wieder auf den gleichen Tag des Jahres. Als Tag der Auferstehung, Ostern, galt für die kirchlichen Autoritäten der 25. März. Dionysius suchte daher nach einem Osterdatum, das auf den 25. März fiel; das war im Jahre 563 nach heutiger Zählung und 1316 a.u.c. der Fall. Also mußte Christus am 25. März des Jahres 1316 – 532 = 784 a.u.c., entsprechend 31 der neuen Zeit, auferstanden sein. Da weiterhin die Mehrzahl der Kirchenväter annahm, daß Jesus Christus 30 Jahre alt geworden sei, 32 mußte seine Geburt auf das Jahres 784 – 30 = 754 a.u.c. fallen. 30 Die diokletianische Aera (auch Aera Martyrum genannt – wegen der diokletianischen Christenverfolgung) beginnt formal am 29. August 284 n. Chr, dem Regierungsantritt Diokletians. 31 Aber natürlich: Diese Zyklen sind eingebettet in den linearen Gesamtverlauf der Weltgeschichte – von der Schöpfung über Geburt, Tod und Auferstehung Christi bis hin zum Weltgericht. 32 Der Evangelist Lukas berichtet: „Jesus war bei seinem ersten Auftreten ungefähr 30 Jahre alt” (Lk 3.23). Nach dem ältesten, dem Markusevangelium, hat das Wirken Jesu nicht einmal ein Jahr gedauert. Johannes Kepler dagegen tritt, fußend auf dem Johannesevangelium, in seiner Streitschrift „Ad Epistolam Sethi Calvisii” 1614 energisch für 33 Lebensjahre Jesu ein. Phänomen Zeit 55 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Mit diesem Jahr beginnt die christliche Ära, die Zählung der Jahre „1 nach Christus“, „ab incarnatione domini nostri Iesu Christi“, „nach der Fleischwerdung unseres Herrn Jesus Christus“, daher auch Inkarnationsära. Gebräuchlich werden Kurzbezeichnungen wie AD (Anno Domini, im Jahre des Herrn), nach Christi Geburt oder nach Christus (n. Chr.). Sonnenzyklus – 28 Jahre (Julius Caesar, 45 v. Chr.) 7 Wochentage; jedes 4. Julianische Jahre besitzt einen Schalttag → nach 7 × 4 = 28 Jahren fällt auf jeden Jahrestag wieder der gleiche Wochentag Mondzyklus – 19 Jahre (Meton, Ende 5. Jahrhundert v. Chr.) 235 synodische Monate entsprechen 19 Sonnenjahren → nach 19 Jahren fällt auf jeden Jahrestag wieder die gleiche Mondphase Osterzyklus – 532 Jahre (Dionysius Exiguus, 6. Jahrhundert n. Chr.) Kombination beider Zyklen → nach 28 × 19 = 532 Jahren fällt Ostern auf den gleichen Tag des Jahres Auferstehung und Geburt Christi (Dionysius Exiguus, 6. Jh. n. Chr.) Ostern am 25. März des Jahres 1316 a.u.c. (heute 563 n. Chr.) → Auferstehungs-Ostern 1316 – 532 = 784 a.u.c. (= 31 n. Chr.) → Geburt Christi im Jahre 784 – 30 = 754 a.u.c. (das sei 1 n. Chr.!!!) Tabelle 14: Der Osterzyklus mit Auferstehung und Geburt Christi Die Vorgehensweise des Dionysius Exiguus ist in sich schlüssig – auch wenn wir nach heutigen historischen Maßstäben wohl ein anderes Geburtsjahr für Jesus annehmen müssen als 1 AD. 33 Mit den Ostertafeln des Dionysius zu Beginn des 6. Jahrhunderts war aber diese Inkarnationsära noch keineswegs Allgemeingut geworden. Vor allem zählte die Geschichtsschreibung die Jahre „vor Christi Geburt“ noch lange nach anderen Ären, meist nach der Welterschaffungsära, deren Beginn meist auf das Jahr 3761 v. Chr. angesetzt wurde. Erst im Hochmittelalter, gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurde die retrospektive Inkarnationsära, das Zählen „vor Christi Geburt“, zunächst noch sehr zögerlich, dann mehr und mehr in die Geschichtsschreibung eingeführt. Populär wurde sie jedoch erst mit dem Buchdruck, also zu Ende des 15. Jahrhunderts. 33 56 Aber Achtung: Der Stern von Bethlehem der Magiererzählung des Matthäus (Kap. 2) ist keine verschlüsselte astronomisch-astrologische Festlegung des Geburtsjahres dieses Jesus von Nazareth. Die Kindheitsgeschichte Jesus des Lukas (ebenfalls dessen Kap. 2) gibt keine chronologische Einordnung des Geburtsjahres. Beides sind heilsgeschichtliche Erzählungen, aber keine historischen Darstellungen. Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß E Kalenderkunst Kalender- und Osterstreit Der Gregorianische Kalender wird 1582 in den katholischen Ländern praktisch sofort eingeführt. In den protestantischen Ländern jedoch erhebt sich ein Sturm der Entrüstung. Die einfachen Leute befürchten, daß ihnen 10 Tage ihres Lebens gestrichen würden. Die protestantische Intelligenz erkennt zwar die Qualität des neues Kalenders an, kann aber das Vorpreschen des Papstes nicht akzeptieren. Kurfürst August von Sachsen (1526 – 1586) bringt es in einem Schreiben an den Landgrafen Wilhelm IV. von HessenKassel (1532 – 1592), übrigens ein ausgezeichneter Astronomen und Erbauer der ersten Sternwarte Deutschlands in Kassel, auf den Punkt: Wan aber gleichwol die Kayserliche Maiestet … unns unnd andern Stenden Augßburgischer Confession befehlen würde, solchen Calendarium in unsern Land vorzustellen, so hette es keines bedenckens. [Kat. Geburt der Zeit 1999] Denn, so argumentiert August, auch das Konzil von Nikaia, das die Osterregel festgelegt habe, sei schließlich nicht durch den Papst sondern durch den Kaiser einberufen worden. Nach langen Diskussionen führen die deutschen protestantischen Länder auf Rat der Theologen des Corpus Evangelicorum ab dem Jahre 1700 den Gregorianischen Kalender unter dem Titel „Verbesserter Kalender“ ein. 11 Tage müssen nun gestrichen werden; auf den 18. Februar folgt der 1. März des Jahres 1700. – Wie bekannt, fand die russische „Oktober“-Revolution nach unserem Kalender erst am 7. November 1917 statt. Aber schon im Januar des folgenden Jahres bestimmte der Volkssowjet die Übernahme des nicht mehr gar so neuen Kalenders (vom 31. Januar auf den 14. Februar 1918, denn 13 Tage müssen nun gestrichen werden): Zum Zwecke der Einführung der mit fast allen Kulturvölkern gleichen Zeitrechnung auch in Rußland … [Kat. Geburt der Zeit 1999] Die Berechnung des Osterdatums wird jedoch im Jahre 1700 nicht zusammen mit dem Gregorianischen Kalender von den Protestanten übernommen. Führende Astronomen und Mathematiker, darunter Erhard Weigel (1625 – 1699) aus Jena und sein berühmter Schüler Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), fordern, Frühlingsanfang und Ostervollmond nicht aufgrund von Zyklen sondern astronomisch streng zu berechnen. Als Grundlage sollen die von Johannes Kepler berechneten Tabulae Rudolphinae (1627) der Örter von Sonne, Mond und Planeten und der Meridian von Tycho Brahes Sternwarte Uranienborg auf der Insel Hven gelten. So kam es in den Jahren 1704, 1724 und 1744 34 zu unterschiedlichen Festtagsdaten, was vor allem zwischen den „Herren Katholici und den Herren Augsburger-Confession-Verwandten“ am Reichskammergericht in Regensburg, aber auch in Landesteilen mit gemischtkonfessioneller Bevölkerung zu ernsten Auseinandersetzungen Anlaß gab. 34 Im Jahre 1724 beispielsweise fiel der astronomische Vollmond auf Samstag, den 8. April, der zyklische aber auf Sonntag, den 9. April. Die Evangelischen feierten demnach am 9. April, die Katholischen am 16. April 1724 das Osterfest. Phänomen Zeit 57 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Sie alle hatten vergessen, was Johannes Kepler 35 im Jahre 1613 in seinem Dialog über den Gregorianischen Kalender den unparteiischen Mathematicus sagen ließ: „Ostern ist ein Fest vnd khein Stern“. Durch Einwirkung Friedrichs des Großen gingen die Protestanten dann im Jahre 1775 doch auf die zyklische Osterfestrechnung über, nannten den Kalender aber nicht den Gregorianischen, sondern den „Verbesserten Reichkalender“. – Mehr zum Kalenderstreit findet man bei J. Hamel in [Kat. Geburt der Zeit 1999, S. 292] Darstellung von Mondfinsternissen Al-Qazwini, Mitte 13. Jahrhundert 35 58 Kepler, Johannes: Opera Omnia, Bd. 4. Herausgeber Ch. Frisch. Frankfurt a. M. und Erlangen 1863 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß F Kalenderkunst Außergewöhnliche Osterdaten Das Datum des Osterfestes wird nach Vorschriften des Gregorianischen Kalenders aufgrund von Zyklen und der Festsetzung des Frühlingsanfangs auf den 21. März berechnet (siehe Kapitel 4.5). Hier soll überprüft werden, ob es Abweichung von streng astronomischer Rechnung, wie Weigel und Leibniz sie gefordert hatten (siehe Anhang E), gibt. Als erstes Beispiel sei das Jahr 1974 gewählt (alle Angaben in MEZ, Wochentage sind nach dem Datum in Klammern vermerkt). Beispiel 1: Das Jahr 1974 Frühlingsäquinoktium, astron. März 21 (Do.) 01h 07m Frühlingsvollmond, astron. April 06 (Sa.) 22h 00m Osterdatum folglich April 07 (So.) ??? Ein Blick in den Kalender zeigt aber, daß das Osterfest erst am 14. April gefeiert wurde. Es liegt also ein Verstoß gegen die Osterregel vor, wenn wir sie streng astronomisch interpretieren, denn der 7. April ist bereits der erste Sonntag nach dem Frühlingsvollmond. Das Osterdatum ist anormal. Ein weiteres Beispiel, das Jahr 1967: Beispiel 2: Das Jahr 1967 Frühlingsäquinoktium, astron. März 21 (Di.) 08h 37m Frühlingsvollmond, astron. März 26 (So.) 04h 21m Osterdatum März 26 (So.) Im Jahre 1967 wurde Ostern also bereits am Tag des Frühlingsvollmonds gefeiert und nicht, wie die Regel es verlangt, am Sonntag danach. Und schließlich findet man für 1962: Beispiel 3: Das Jahr 1962 Frühlingsäquinoktium, astron. März 21 (Mi.) 03h 30m Frühlingsvollmond, astron. März 21 (Mi.) 08h 56m Osterdatum April 22 (So.) Phänomen Zeit 59 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Hier treten Äquinoktium und Vollmond nacheinander am 21. März auf. Ostern müßte bereits am 25. März gefeiert werden; offensichtlich ergab die zyklische Rechnung als Frühlingsvollmond den 20. April (Fr.), so daß eine anormale Verspätung von 4 Wochen eintrat. Im Jahre 1666, als Frühlingsanfang und -vollmond nacheinander am 20. März, einem Samstag, eintraten, hätte Ostern bereits am 21. März gefeiert werden müssen, wurde aber mit fünfwöchiger Verspätung erst am 25. April begangen. Schließlich setzt die Regel ja den 21. März zum Frühlingsäquinoktium, auch wenn astronomisch gesehen eine starke Tendenz zum 20. März besteht. Übrigens sieht man leicht, daß das Osterdatum von 1974 nicht für alle Erdbewohner außergewöhnlich war. Denn bei Eintritt des Frühlingsvollmondes am Samstag, dem 6. April, 22 Uhr MEZ oder 21 Uhr UT schrieb man z. B. in Moskau bereits Sonntag, den 7. April, 0 Uhr; das Osterdatum fällt also dort zurecht erst auf den 14. April. Die Grenze des anormalen Datums liegt bei genau 45° östl. Länge, entsprechend den 3 Zeitstunden zwischen Frühlingsvollmond und April 07, 0h in Greenwich bei 0° Länge. In fast ganz Asien, Australien und östlich bis zur Datumsgrenze ist das Osterdatum normal. – Ähnlich sieht man bei Beispiel 2, daß für alle Orte westlich von 50,25° westl. Länge (entsprechend 3h 21m) das Osterdatum normal ist, weil dort noch der 25. März als Datum geschrieben wird. – Das Osterdatum des Jahres 1962 (Beispiel 3) ist offensichtlich für alle Orte der Erde anormal. Ludwig Lange 36 hat alle Osterdaten von 1582, dem Jahr der Einführung des Gregorianischen Kalenders, bis zum Jahre 2200 n. Chr. untersucht und 52 anormale Daten gefunden, im Mittel also für jedes 12. Jahr eine Anormalität. Wegen der „Ortsabhängigkeit“ einiger Anormalitäten (s. o.) sind seine Angaben auf den „Gregorianischen“ Meridian von Venedig (12,5° östl. Länge, wie übrigens auch für Leipzig) bezogen. 36 Lange, Ludwig: Paradoxe Osterdaten im Gregorianischen Kalender. Sitzungsber. Bayer. Akad. Wiss., Philosoph.-philolog. hist. Klasse, 9. Abh. 1928 60 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß G Kalenderkunst Weltzyklen Hier sollen einige Bemerkungen zum größten Zeitzyklus überhaupt, zur „Weltzeit“, folgen. Gemeint sind damit die Ideen der Völker über den Lauf der Zeit als Ganzes – über Jahrzehnte, Jahrtausende hinweg, über die gesamte Geschichte ihrer „Welt“. Ganz generell kann man sagen, daß sich die meisten alten Völker und Kulturen den Verlauf der Weltgeschichte zyklisch dachten: eine ständige Wiederholung eines Kulturabschnittes, dessen Zeitdauer zumeist aus Himmelsereignissen abgeleitet war. Man findet – recht kurze Perioden, wie den 19-jährigen → Metonischen Zyklus der Griechen, der eine Eigenschaft des Mondes repräsentiert, – lange Zyklen, wie die ägyptische Sothis-Periode von 1460 Jahren, die die Dauer angibt, nach der Sirius im altägyptischen Kalender wieder an einem bestimmten Tag aufgeht (siehe Kapitel 4.1), – oder sehr lange Perioden, wie den kosmischen Zyklus von 4.320.000 Jahren der Inder, gebildet aus 12.000 göttlichen Jahren zu je 360 Sonnenjahren, wobei 1000 kosmische Zyklen eine kalpa ergeben, die wiederum nur einem Tag im Leben des Brahma entspricht (vgl. Whitrow 1991). Eine alte Kultur aber macht eine dezidierte Ausnahme von dieser zyklischen Geschichtsvorstellung, nämlich das Judentum. Die Juden sehen in der Geschichte einen linearen Prozeß, der mit der Weltschöpfung Gottes beginnt und hinführt auf die Ankunft des Messias, des Gesandten Gottes, der ein herrliches, freud- und friedvolles Endreich Israel errichten wird. Das Christentum hat den Messiasgedanken übernommen, jedoch ist für die Christen der Messias in der Geburt des Jesus von Nazareth bereits erschienen. Das (End-) Reich Gottes ist bereits angebrochen, derzeit gleichwohl noch verborgen in den Herzen der Gläubigen. Aber die Geschichte treibt auf die Wiederkehr des Messias zu, der dann nach einem großen Endgericht das Gottesreich endgültig aufrichten wird. Die Weltgeschichte ist also zweigeteilt; die Zäsur ist die Geburt des Messias, des Christos, und folglich nimmt das christliche Abendland diesen Wendepunkt als Ausgang seiner Jahreszählung und zählt die Jahre vor und nach Christi Geburt. Innerhalb des linearen Gesamtverlaufs kann die Zeit durchaus in Zyklen ablaufen, wie die Berechnung des Geburtsjahres Jesu durch Dionysius Exiguus (siehe Anhang D) lehrt. Zyklisch ist das Gedenken an das einmalige Geschehen von Geburt, Tod und Auferstehung Christi. Augustinus lehnt zyklische Geschichtstheorien, die sich ohne Anfang und Ende stetig wiederholen, leidenschaftlich ab. 37 37 „So also rechnen diese Philosophen mit Zeitumläufen, in denen sich in der Natur der Dinge das Gleiche immer wieder erneuert und wiederholt habe, und so auch fürderhin und ohne Unterlaß der Ring der Welten, wie sie kommen und vergehen, sich schließen müsse; (…) Und von diesem Spiel vermögen sie nicht einmal die unsterbliche Seele auszunehmen, selbst wenn sie schon die Weisheit gekostet: als laufe sie ohn Unterlaß zur falschen Seligkeit und laufe von ihr wieder ohn Unterlaß zurück ins echte Elend. (…) So ließen sich dann doch die Zeitumläufe, so seltsam falsch, von falschen, trügerischen Weisen ausgedacht, vermeiden, auf graden Weg und in gesunder Lehre.” (Augustinus, Civitas Dei XII, 14) Phänomen Zeit 61 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Aber, unserer innere Zeitvorstellung stellt dann an ihn sofort die Frage: Was war vor dem Anfang, dem Zeitpunkt der Schöpfung, welche Zeit herrschte denn dort. Unsere Anschauung treibt uns ja immer weiter zurück in die Vergangenheit, ohne einhalten zu können – und ebenso vorwärts in eine nicht endende Zukunft: und danach, und danach …? Immerhin drosselt Augustinus seine Leidenschaft ein wenig und sagt: Ich antworte nicht mit dem oberflächlichen Scherz anderer Theologen, die der Wucht der Frage ausweichen wollen: „Gott hat die Hölle für die Leute eingerichtet, die solche dummen Fragen stellen.“ (Augustinus, Confessiones XI, 12, 14) Augustinus antwortet schlicht: Gott hat mit dem Kosmos auch die Zeit erschaffen. (Augustinus, Conf. XI, 12 und 13) Zwei Phasen der Weltgeschichte also ursprünglich! Aber: Es gab und gibt noch immer eine folgenschwere Variante. Gemeint sind die Ideen des Abtes Joachim aus dem süditalienischen Zisterzienserkloster Fiore. Dieser Joachim von Fiore – er lebte in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts (um 1130 – 1203) – sah die Weltgeschichte in drei Reiche eingeteilt: Das erste Reich unter der Herrschaft Gottes, des Vaters, war für Joachim das bereits vergangene Reich des Alten Testamentes, des Judentums. Das zweite Reich, das Joachim Jesus Christus zuordnet, ist das Reich des Neuen Testamentes – unter der Führung der Papst- und Klerikerkirche. Am Horizont sieht Joachim ein Neues Reich heraufkommen, ein Reich des Hl. Geistes, ohne ein geschriebenes Testament, unter Führung einer Mönchskirche. Dieses Reich des Hl. Geistes (mit einer nicht-hierarchisch aufgebauten, dagegen in Gleichheit und Armut lebenden Kirche) scheint immer noch nicht angebrochen. Aber die Idee eines Dritten Reiches von tausendjähriger Dauer ist seit nunmehr 800 Jahren nicht mehr aus den Köpfen des Abendlandes wegzudenken. 38 Die Idee wird auch als Chiliasmus 39 bezeichnet. Selbst Newton beschäftigt sich mit Joachim von Fiore. Lessing beispielsweise sieht ein 3. Reich anbrechen, in dem die philosophische Wahrheit regieren wird. Hegel und Nietzsche wären zu nennen. Selbst Lenin denkt im Jahre 1919 bei seiner Gründung der Dritten (sic!) Internationalen Arbeiterbewegung auch an die Vorstellung einer nun endgültigen Verwirklichung des Kommunismus. Und, natürlich, die unselige Zeit des Dritten Reiches der Nationalsozialisten; sie hat der Erde tiefe Wunden aufgeprägt – obwohl das Reich nicht 1000, sondern nur 12 Jahre überdauert hat; aber auch das waren 12 Jahre zuviel. Heute spukt die Idee eines 3. Reiches, eines Gottesreiches, noch in den Köpfen mancher Randgruppen des Christentums, wie etwa der Mormonen oder der Zeugen Jehovas. Freilich sehen sie inzwischen davon ab, sich auf ein Übergangsdatum festzulegen, das für uns die Katastrophe, für sie selbst aber den Beginn des herrlichen Endreiches bedeuten würde. 38 Für Einzelheiten siehe K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Urban-Bücher 2. Stuttgart: Kohlhammer 1953 39 griech. χιλιοι (chilioi), tausend 62 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Anzumerken ist auch, daß Eugen Drewermann auf dem Katholikentag in Ulm, Juni 2004, energisch die Abschaffung der Klerikerkirche forderte, nachdem er 1991 bereits auf genau 900 Seiten seine Abrechnung mit den Klerikern publiziert hatte. 40 Neuerdings glauben einige esoterische Kreise an das Heraufziehen des Wassermann(Aquarius-) Zeitalters, wenn der Frühlingspunkt aus dem Sternbild Fische in das Tierkreissternbild Wassermann tritt (siehe Anhang B.2). Nach dem ersten Zeitalter, dem des Widders, werde nun das zweite Zeitalter der Fische als eine Epoche des Schwertes, einer Ära von „Aberglaube (sic!), geistiger Knechtschaft und blindem Glauben“, abgelöst von einer Ära der „Liebe und Selbstlosigkeit“, von „Wissenschaft und Altruismus“ (siehe Tausende von Seiten im Internet, oder siehe besser nicht, denn: „Getretener Quark wird breit, nicht stark!“). Tierkreis Aus: Breviari d’amor, Matfre Ermengaud, Toulouse 1354 40 Eugen Drewermann: Kleriker. Olten: Walter-Verlag 1991 Phänomen Zeit 63 Kalenderkunst H Wilhelm Seggewiß Erdrotation, Polbewegung und Atomzeit Zwei terrestrische Effekte erschweren die Festlegung eines konstanten Zeitmaßes (z. B. des Tages und der Sekunde) und die Einrichtung eines allgemeinen Zeitsystems (z. B. der Universal Time, der Weltzeit): die variable Rotationsdauer der Erde um ihre Achse und die ständige Verlagerung der Erdachse im Erdkörper, bekannt auch als Polbewegung. H.1 Erdrotation Schon vor 1878 bemerkte der große amerikanische Astronom Simon Newcomb (1835 – 1909), daß er den Mond am Himmel nicht dort fand, wo er aufgrund der Berechnungen der Mondbewegung hätte stehen sollen. Er schloß auf eine ungleichförmige Rotation der Erde. Die Gemeinschaft der Astronomen (in der Astronomischen Gesellschaft und der Internationalen Astronomischen Union) richtete ständige optisch-astronomische Beobachtungen ausgewählter Himmelskörper (Mond, Planeten, Sterne, Galaxien) ein. Seit Mitte der 1960er Jahre sind diese abgelöst durch Laser Ranging des Mondes und künstlicher Satelliten (i. e. Entfernungsbestimmung mittels Laufzeiten reflektierten Laserlichts) und durch Radiobeobachtungen der Positionen entfernter Galaxien mittels erdweiter Zusammenschaltung großer Radioteleskope (Very Long Baseline Interferometry, VLBI). Kleinste Effekte der variablen Erdrotation können zwar erfaßt werden, aber generell ist es nicht möglich, verläßliche Vorhersagen zu machen. Das Wesentliche kann man so zusammenfassen: – Es gibt eine langzeitige Abbremsung der Erdrotation, für die die Gezeitenreibung durch Ebbe und Flut verantwortlich gemacht wird. Sie beläuft sich auf etwa 2,5 Millisekunden pro Tag in 100 Jahren. 41 Formal würde damit der Tag in 144 Millionen Jahren um eine Stunde länger. – Unvorhersehbar sind irreguläre Änderungen, für die man tektonische Bewegungen im Erdinneren verantwortlich macht. – Schließlich gibt es kleinere jahreszeitliche Schwankungen, wohl meteorologisch bedingt, z. B. durch die Verlagerung von Wasser auf der Erdoberfläche. Durch Vergleich von heute berechneten Finsternissen von Sonne und Mond mit Datierungen der Babylonier um 600 v. Chr. kann abgeschätzt werden, daß sich die Verlangsamung der Erdrotation in diesen 1400 Jahren zu etwa 5 Stunden aufsummiert hat (Seidelman 1992). 41 64 Die Änderung ω der Winkelgeschwindigkeit ω der Erdrotation beträgt ω / ω = (29 ± 2) · 10–9 / 100 a (H. Enslin, in: Landolt-Börnstein, N. S., Gruppe VI, Bd. 2a. Berlin 1981) Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst H.2 Polbewegung Der Bonner Astronom Friedrich Küstner (1856 – 1936) entdeckte im Jahre 1884, 42 daß die Erdpole nicht festliegen und die Erdachse ständig im Erdkörper wandert. Seit 1899 wird die Polbewegung systematisch verfolgt. In einem erdumspannenden Netz von Beobachtungsstationen längs des Breitengrads 39° 08' N wurde zunächst ständig die Zenitdistanz des Nordpols gemessen. Heute benutzt man geodätische Messungen mittels Raumsonden. Man findet eine periodische Bewegung des Nordpols um einen mittleren Pol innerhalb eines Kreises von etwa 10 m Radius. Daneben bemerkt man unregelmäßige Schwankungen aber auch säkulare Bewegungen des mittleren Pols. Die Polbewegung bewirkt als unangenehmer „Sekundäreffekt“, daß sich die geographischen Koordinaten aller Erdorte ständig ändern, also auch die Koordinaten des Royal Observatory in Greenwich, dessen geographische Länge der Nullmeridian für die Weltzeit darstellt. 42 Bonner Astronomen haben sich 1984 vergeblich bemüht, zum 100. Jahrestag dieser bedeutenden Entdeckung die Herausgabe einer Sonderbriefmarke zu erwirken. Phänomen Zeit 65 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß H.3 Atomzeit Ein erstes von Himmelserscheinungen unabhängiges, aber ziemlich brauchbares Zeitmeßgerät war die Wasseruhr. Älteste Exemplare sind aus der 18. Pharaonendynastie Ägyptens, also etwa aus dem Jahre 1400 v. Chr. erhalten. Im antiken Griechenland wurden Wasseruhren zwischen dem 8. und 2. Jahrhundert v. Chr. zu verläßlichen Chronometern fortentwickelt. Erst seit Beginn des 14. Jahrhunderts n. Chr. sind in Europa mechanische Uhren in Gebrauch. Großen Fortschritt brachte 1656 die Einführung des Pendels als Taktgeber durch den niederländischen Physiker Christiaan Huygens (1629 – 1695). Die Entdeckung des piëzoelektrischen Effekts bei Kristallen 1880 durch die Brüder Jacques (1855 – 1941) und Pierre Curie (1859 – 1906) legte die Grundlage für die Entwicklung der Quarzuhren, von denen brauchbare Exemplare allerdings erst 1933/34 entwickelt wurden. Mit Quarzuhren erreicht man eine Genauigkeit von etwa 1 : 1.000.000. Dieser Wert erscheint im Hinblick auf neuere Phänomene aus Physik, Astrophysik und Kalenderkunst, die nunmehr die variable Erdrotation und die variabler Lage der Erdachse zu berücksichtigen hat, als zu gering. Als Zeitgeber bietet sich noch die elektromagnetische Strahlung an. Man muß daher nach einer geeigneten Strahlung als Frequenzgeber suchen und die technische Handhabung entwickeln. Nach mancherlei Versuchen fiel die Wahl auf das Cäsiumatom und eine seiner Möglichkeiten, Strahlung zu erzeugen. Andere gelegentlich benutzte Frequenzgeber sind z. B. Wasserstoff-Maser und Rubidiumdampf-Zellen. Das Spektrum des Cäsiums zeigt neben Strahlung im sichtbaren, ultravioletten und infraroten Spektralbereich auch Strahlung bei einer Wellenlänge von 3,3 cm, also im Bereich der Radiostrahlung. Es handelt sich, physikalisch gesprochen, um die Strahlung beim Übergang innerhalb der sogenannten „Hyperfeinstruktur des Grundzustandes“ – Strahlung von 3,3 cm Wellenlänge oder 9.192.631.770 Hz (kurz: ca. 9.2 GHz), und das mit „beliebig“ hoher Stabilität. Ein kurzer Ausflug in die Physik des Cäsiumatoms sei erlaubt (siehe Penselin 43): Das Atom besitzt in seinem Grundzustand außerhalb abgeschlossener Schalen ein 5s-Elektron, so daß sein Grundzustand mit 2S1/2 beschrieben ist. Die Quantenzahl des Gesamtdrehimpulses des Atoms ist also J = 1/2. Die Kerndrehimpulsquantenzahl ist I = 7/2. Es gibt nun eine magnetische Dipolwechselwirkung, bei der das magnetische Kerndipolmoment des 133Cs-Kerns an das atomare Magnetfeld gekoppelt ist, das von dem Valenzelektron des Cäsiumatoms am Ort seines Kern erzeugt wird. Die Kopplung bewirkt, daß sich die Drehimpulse von Hülle (J) und Kern (I) zu einem Gesamtdrehimpuls des Atoms (F) zusammensetzen, wobei die Quantenzahl F nur die Werte F = I + J = 4 und F = I – J = 3 annehmen kann („Hyperfeinstruktur“). Das Kernmoment kann sich also parallel oder antiparallel zum Magnetfeld der Elektronenhülle einstellen. 43 Penselin, S.: Probleme der Zeitmessung. In: AG für Forschung des Landes NRW, Heft 188, S. 37. Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag o. J. 66 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst In diesen beiden Orientierungen besitzt das Atom eine unterschiedliche Gesamtenergie, wobei der Energieabstand ∆W der beiden Zustände als „HyperfeinstrukturWechselwirkungsenergie“ bezeichnet wird. Der Energieabstand beträgt ∆W = 3,8 · 10–5 eV. Beim Übergang zwischen den beiden Zuständen F = 4 → F = 3 wird diese Energie als Strahlung von über 9 Milliarden Hertz ausgesendet. Da die Erdrotation kein gutes Zeitmaß liefert (siehe Kapitel 2.4), ging die Naturwissenschaft im Jahre 1967 dazu über, die Sekunde durch die Hyperfeinstrukturschwingung des Cäsiumatoms zu definieren. Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt PTB in Braunschweig ist in Deutschland mit der Wahrung der Sekunde betraut (siehe [Internet (5)]). Die Atomuhren der PTB liefern per gesetzlichen Auftrag das Zeitmaß für Deutschland. Zeitsignale dieser Uhren werden über den Langwellensender DCF77, der in Mainflingen bei Frankfurt steht, verbreitet (77,5 kHz Sendefrequenz). Damit werden Funkuhren bis zu einem Radius von ca. 1500 km um Mainflingen gesteuert, heute sogar Funkuhren am Armband. Die Genauigkeit der Schwingung der Cäsium-Atome ist besser als 5 · 10–12. Die Mutteruhr der PTB gibt ihre Sekunden mit einer Abweichung von der idealen Sekunde von sogar nur 1,5 Nanosekunden pro Tag ab (1,5 · 10–9 s/d, also eineinhalb Milliardstel Sekunde pro Tag). Dies ist rein rechnerisch das gleiche wie 1 Sekunde in 2 Millionen Jahren. Phänomen Zeit 67 Kalenderkunst I Wilhelm Seggewiß Zonenzeiten Wir alle wissen durch unsere ausgedehnten Kontinental- und Weltreisen, daß die Sonne bei unserem Aufbruch nach Westen später aufgeht als in unserer geliebten Heimat; nach Osten gewandt, geht die Sonne früher auf. Oder: Wenn am Heimatort ein neuer Tag (um Mitternacht) beginnt, dann hat er im Osten, etwa in Moskau, längst begonnen, im Westen wird er später beginnen, beispielsweise 6 Stunden später in den nordamerikanischen Neuenglandstaaten. Die Ursache ist klar: Die Erde rotiert um ihre Achse. Dadurch beschreibt die Sonne – von einem festen Ort der Erde aus gesehen – eine scheinbare Bahn mit Aufgang im Osten, Höchststand im Süden (im sogenannten → Meridian) 44 und Untergang im Westen. Schon ein kleines Schrittchen nach Ost oder West, und wir verschieben die Zeitskala, da die Sonne ein wenig früher oder später aufgeht, früher oder später im Süden kulminiert und im Westen untergeht. Zu Glück (!) haben aber alle Orte auf einem festen geographischen Längenkreis zum gleichen Zeitpunkt Mittag und Mitternacht; wir sagen: Sie haben die gleiche Ortszeit! Gerolstein beispielsweise liegt ca. 15 km westlich von Daun auf einem anderen Längenkreis und beginnt daher in seiner Ortszeit den Tag später, und zwar um ca. 20 Sekunden – und begann daher am 1. Januar 2001 n. Chr. auch 20 Sekunden später das 3. Jahrtausend in seiner Ortszeit! Noch in der Mitte das vorigen Jahrhunderts gab es in deutschen Landen ein unübersehbares Gewirr von Ortszeiten. Immerhin bestimmten die Landesfürsten in den kleineren deutschen Gebieten die Ortszeit ihrer Hauptstadt als Richtschnur für die Zeit in ihrem Reich, eine Art „Landeszeit“ also; Staatsgrenzen waren Zeitgrenzen – und das Deutsche Reich hatte 25 Staaten! Aber z. B. Preußen, reichend von Memel bis Aachen, schien für eine einheitliche Zeit viel zu ausgedehnt. Spätestens aber in einer Epoche, als die landeseigenen Eisenbahnnetze überregional verknüpft wurden, schienen die Zustände völlig unhaltbar. Man bedenke, es gab Bahnhöfe mit drei Uhren unterschiedlicher Zeiten, z. B. in Westfalen mit der eigenen Ortszeit, der Ortszeit von Berlin, dem Königssitz, und mit der Ortszeit von Münster, der Provinzhauptstadt. Verläßliche, klare, überregionale Fahrpläne aufzustellen, war schier unmöglich, obwohl die Bahn damals noch das Synonym für Pünktlichkeit war. Auch nach 1871, im kleindeutsch-bismarckischen Reich konnte man sich nicht einigen auf eine gemeinsame Zeit. Der Anstoß kam vielmehr von außen: Im Oktober des Jahres 1884 trafen sich 41 Delegationen in Washington, D. C., zur International Meridian Conference. Es war eigentlich die erste große internationale Staatenkonferenz auf unserer Erde. Man legte zunächst den Nullmeridian, also den Ausgangskreis für die Zählung der geographischen Länge fest, nämlich als Meridian durch das Hauptinstrument der Königlich-Britischen Sternwarte in Greenwich bei London – gegen den Willen Frankreichs, das für das Observatoire de Paris eintrat. In einer weiteren Resolution regte die Konferenz die Einführung von Zonenzeiten an: Ein jeweils 15° breiter Abschnitt in geographischer Länge sollte eine Zeitzone mit einer einheitlichen Zonenzeit bilden. 44 68 Höchststand der Sonne im Süden für Bewohner der Nordhemisphäre der Erde, Höchststand im Norden für alle „Südmenschen”. Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Das ergibt dann zunächst 24 Zonenzeiten, jeweils um eine Stunde versetzt, die zusammen einen vollen Tag für eine Umdrehung der Erde relativ zur Sonne ausmachen. Eine volle Achsdrehung der Erde bedeutet zugleich das Beschreiben eines Vollkreises von 360°, und 360° geteilt durch 24 Stunden ergibt 15° pro Stunde. Warum es dann doch 25 Zeitzonen gibt, folgt aus der notwendigen Teilung der Zone um 180° geographische Länge (siehe unten). Der Tagesbeginn Ortszeiten Mitternacht – je nach geogr. Länge zu ganz unterschiedlichen Zeiten Zonenzeiten Mitternacht – in 25 Zonen in Abständen von 1 Stunde International Meridian Conference, Oktober 1884: Nullmeridian Royal Observatory in Greenwich bei London Zonenzeiten 24 Zonen zu je 15° geogr. Länge z. B. Weltzeit (Universal Time UT): England, Portugal, Westafrika Mitteleuropäische Zeit (MEZ): Mitteleuropa, -afrika Eastern Standard Time (EST): New York, Neuengland, Peru Achtung: Die Zone um 180° Länge ist zweigeteilt: Die Uhren gehen 12 Stunden vor bzw. nach UT (haben also unterschiedliche Daten!) Tabelle 11: Der Tagesbeginn nach Orts- und Zonenzeiten Auf diese Weise wurde z. B. die Greenwich-Zeit als Zonenzeit eingerichtet, auch Weltzeit (engl. Universal Time UT) genannt; sie gilt in England, Portugal und einigen westafrikanischen Staaten. Oder auch die Mitteleuropäische Zeit MEZ um den 15. Längengrad Ost herum, der, wie man weiß, ziemlich genau durch Görlitz an der Neiße geht. 45 Als weiteres Beispiel sei die Eastern Standard Time EST genannt, die für die Neuenglandstaaten Nordamerikas, also auch für New York, und für einige südamerikanische Staaten gilt. Im Deutschen Reich wurden am 1. April 1894 die Ortszeiten zugunsten der MEZ abgeschafft. Seit diesem Datum messen alle Deutschen die Zeit nach einer einheitlichen Uhr. 45 Nun ist das kontinentale Europa ein großer zusammenhängender Kultur- und Wirtschaftsraum, so daß viele Länder auch außerhalb eines 15° breiten Streifens um Görlitz sich der MEZ-Zone angeschlossen haben. Sie erstreckt sich daher von der Ostspitze Nordnorwegens bis zum Cabo Finisterre in Galicien, Spanien, über 40° in Länge. Das bedeutet z. B.: Wenn im Osten Polens oder Serbiens die Sonne aufgeht, ist es bei gleicher MEZ in Galicien noch stockdunkel, denn dort geht die Sonne etwa 2 1/2 Stunden später auf; andererseits haben wir die langen, hellen Abende in Santiago de Compostela, denn die Sonne geht mehr als 2 Stunden später unter als in Nisch an Serbiens Ostgrenze. Phänomen Zeit 69 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Die Karte zeigt die Verteilung der Zeitzonen in einer Mercator-Projektion der Erdkugel. Abb. 1: Die Zeitzonen der Erde: Die Zonen gruppieren sich um die zentrale Zone Z der UT um den Meridian von Greenwich und zählen von dort nach Osten von A bis M und nach Westen von N bis Y. Die Zonen M und Y zeigen dieselbe Zeit, unterscheiden sich aber um einen Tag im Datum. Einige Inselgruppen in der sog. Zone M+ beginnen den Kalendertag sogar um 26 Stunden früher als die Bewohner der Zone Y. Die minutengenaue aktuelle Karte findet man im Internet unter http://www.worldtimezone.com/ index24.html. Wir wollen ein kleines Gedankenexperiment machen: Es sei mittags 12 Uhr in Greenwich, also 12 Uhr UT längs der geographischen Länge von 0° (Zone Z). Wir wenden uns nach Osten. Dann ist es in Mitteleuropa 13 Uhr, in Moskau 15 Uhr, in Japan bereits 21 Uhr abends und in einem Streifen von Ostsibirien durch den Pazifik bis nach Neuseeland (Zone M) schlägt die Glocke Mitternacht 24 Uhr, gleich 0 Uhr und der neue, der nächste Tag beginnt. Lassen wir nun unsere Gedanken von London, 12 Uhr mittags, nach Westen fliegen: Die Stadt New York beginnt zu erwachen, es ist 7 Uhr morgens, in San Francisco erst 4 Uhr in der Nacht, und in Hawaii schlägt’s 2 (obwohl es eigentlich in der Ein-Uhr-Zone liegt). Noch eine Zone weiter westlich (Zone Y) beginnt um 0 Uhr unser heutiger Tag. Jedoch unmittelbar westlich dieser Zone, längs einer Nord-Süd-Linie („Internationale Datumsgrenze“), beginnt, wie wir zuvor gesehen haben, zur gleichen Zeit schon der nächste Tag. Diese Länge-180°-Zeitzone ist also zweigeteilt, westlich wie östlich der Grenze zeigen die Uhren die gleiche Zeit, aber der Westen (auf der Karte nach links!) ist um genau einen Tag im Datum voraus. Das eigenartige Phänomen Datumsgrenze muß man sich wohl einmal in einer ruhigen Stunde durch den Kopf gehen lassen, um es sich gedanklich zu eigen zu machen. 70 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß 8 Kalenderkunst Glossar Äquatoriales Koordinatensystem (Äquator-System): Es umfaßt die Koordinaten Rektaszension und Deklination, → Koordinaten Äquinoktium (lat. aequus, gleich und lat. nox, Nacht): Tag-und-Nacht-Gleiche zu Beginn des Frühlings und des Herbstes, → Frühlingspunkt Atomzeit, Atomsekunde, Atomuhr: Siehe Anhang H.3 Deklination: Koordinate von Himmelskörpern, → Koordinaten Ekliptik: Dieser Großkreis ist die scheinbare Bahn der Sonne an der → Himmelssphäre, (siehe Abb. 2) und gleichbedeutend mit dem Schnittkreis einer Ebene durch die Erdbahn mit der Himmelssphäre. Die Ekliptik ist um 23°27'08" gegen den Himmelsäquator geneigt („Schiefe der Ekliptik“). Allerdings ist die Schiefe der Ekliptik nicht konstant. Sie ändert sich gegenwärtig um ca. +0,47" pro Jahr und dürfte zwischen Extremwerten der Größenordnung 21°55' und 24°18' schwanken (Meyers Handbuch 1994). Ekliptikales Koordinatensystem: Es besteht aus den Koordinaten ekliptikale Länge und ekliptikale Breite, → Koordinaten. Epakte: Die Epakte wird in der Osterrechnung der Gregorianischen Kalenderreform benutzt und bezeichnet die Anzahl der Tage, um die das Kalenderjahr das Mondjahr von 354 Tagen übersteigt. Frühlingspunkt (Widderpunkt 첛): Er ist der Punkt an der → Himmelssphäre (siehe Abb. 2), in dem sich die Sonne auf ihrer Bahn, der → Ekliptik, am Frühlingsanfang (Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche, Äquinoktium) befindet und den Himmelsäquator von Süd nach Nord überschreitet. Er also einer der Schnittpunkte von Himmelsäquator und Ekliptik, der andere Schnittpunkt ist der Herbstpunkt. Am Frühlingsanfang betritt die Sonne das Tierkreiszeichen Widder, daher auch Widderpunkt genannt, zu Herbstanfang das Zeichen Waage, daher Waagepunkt (vgl. Anhang B .2). Nun vollführt die Achse des Kreisels „Erde“ eine Taumelbewegung (Präzession) und beschreibt dabei einen Kegelmantel mit einem Öffnungswinkel von 23°27', der Schiefe der Ekliptik, um die Achse der Ekliptik. Die unangenehme Folge der Präzession ist das Rückschreiten des Frühlingspunktes auf der Ekliptik um jährlich 50,37”, so daß sich die äquatorialen Koordinaten ständig ändern. Diese Rückwärtsbewegung des Frühlingspunktes hat auch zur Folge, daß der scheinbare Umlauf der Sonne relativ zu einem Stern, das siderisches Jahr, etwas länger dauert als das auf den Frühlingspunkt bezogene tropische Jahr (siehe Tabelle 12). Man errechnet leicht, daß sich die Verschiebung von 50,37"/a in ca. 25.800 tropischen Jahren zu einem vollen Kreis von 360° aufaddiert. Dieser Zeitraum wird Platonisches Jahr genannt. Phänomen Zeit 71 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Goldene Zahl (Mondzirkel): Sie bezeichnet die Nummer des Jahres im → Metonischen Zyklus und läuft daher von 1 bis 19 (meist I bis XIX notiert). Die alten Kalendermacher ließen den Zyklus mit dem Jahr 1 v. Chr. beginnen (Goldene Zahl I). Im Jahre 2004 leben wir daher im 105. Metonischen Zyklus und die Goldene Zahl beträgt X. (Denn man muß nur die Jahreszahl +1 durch 19 teilen, dann erhält man vor dem Komma die Nummer des Zyklus und als Rest die Goldenen Zahl.) Abb. 2: Die Himmelssphäre mit der Erde im Zentrum: N* und S* bezeichnen den nördlichen und südlichen Himmelspol. Himmelsäquator und Ekliptik schneiden sich im Frühlingspunkt (Widderpunkt) und Herbstpunkt (Waagepunkt). Rechts sind die äquatorialen Koordinaten Rektaszension α und Deklination δ des Gestirns G eingetragen. Heliakischer Aufgang (Frühaufgang): Dieser Aufgang bezeichnet das erste Sichtbarwerden eines Sterns in der Morgendämmerung vor Sonnenaufgang. Wie oben (→ Ekliptik) erläutert, bewegt sich die Sonne relativ zu den „Fixsternen“ in einem Jahr längs der Ekliptik rund um die Himmelssphäre. Das bedeutet ca. 1° pro Tag am Himmel (≈ 360° / 365 Tage) entsprechend 4 Minuten pro Tag (≈ 24 Stunden / 365 Tage; → Sternzeit) zeitlichen Vorrückens. Die Sonne, die einen Stern am Tageshimmel überblendet hat, entfernt sich also täglich um 1° nach Osten (nach „links“ am Himmel) von ihm, bis sie schließlich soweit östlich von ihm entfernt ist, daß der Stern morgens deutlich früher als die Sonne aufgeht und wenige Augenblicke sichtbar bleibt, bevor die aufgehende Sonne ihn wieder überstrahlt. Von Morgen zu Morgen geht der Stern relativ zur Sonne früher auf und die Sichtbarkeitszeiten vergrößern sich. Heliakische Aufgänge wiederholen sich im Rhythmus des siderischen → Jahres und wandern in einem Platonischen Jahr (→ Frühlingspunkt) durch alle Jahreszeiten. – Im Leben der Ägypter spielt der heliakische Aufgang des hellsten Fixsterns Sirius eine wichtige Rolle (siehe Kapitel 2.1) 72 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Himmelssphäre (mit Himmelsäquator und Himmelspolen): Die Himmelssphäre (Abb. 2) ist eine gedachte Sphäre (Innenansicht einer Kugeloberfläche) mit dem Erdmittelpunkt als Zentrum und beliebig großem Radius. Der Himmelsäquator ist der Schnittkreis der Ebene durch den Erdäquator mit der Himmelssphäre. Die Himmelspole N* und S* sind die Durchstoßpunkte einer Geraden durch die Erdachse NS mit der Himmelssphäre. Vom Himmelsäquator sind die Himmelspole (Nord- und Südpol) ± 90° an der Sphäre entfernt. Die Sterne scheinen an der Sphäre ortskonstant befestigt zu sein, daher Fixsterne genannt. Vor dem Hintergrund der Fixsternen bewegen sich an der Himmelssphäre die Wandelsterne, wie z. B. Sonne und Mond, große und kleine Planeten, Kometen, Meteore, künstliche Satelliten. Ein großes Problem besteht in der Festlegung von →Koordinaten für die Fix- und Wandelsterne. Jahr: Das Jahr ist, allgemein gesprochen, der Umlauf der Erde um die Sonne. Je nach Bezugspunkt, an dem der Umlauf der Erde bzw. der scheinbare Umlauf der Sonne an der →Himmelssphäre gemessen wird, ergeben sich mehrere unterschiedliche Definitionen (siehe Tabelle 12). Für den Kalender ist nur das tropische Jahr maßgebend. Für Genauigkeitsfetischisten sei angefügt, daß „zur Zeit“ sein bester Wert auf der Basis von Beobachtung und Theorie in Tagen zu 86.400 SI-Sekunden lautet: 365,242.189.669.8 – 0.000.006.153.59 T – 7,29 · 10–10 T2 + 2,64 · 10–10 T3 mit T = (JD – 2.451.545,0)/36525, wobei JD die Nummer (i. e. der ganzzahlige Anteil) des → Julianischen Tages ist (Doggett 1992). T könnte man auch als Anzahl der Julianischen Jahrhunderte seit dem Jahr 2000 bezeichnen, denn JD = 2.451.545,0 ist das Julianische Datum des 1. Januar 2000, 12 Uhr UT und 36525 ist die Anzahl der Tage in 100 Jahren des Julianischen Kalenders. Aber Achtung: Neue Beobachtungen und verbesserte Theorien der überaus komplizierten dynamischen Verhältnisse im Sonnensystem könnten den obigen Wert bald wieder korrigieren. Jahreszeitenjahr: Hilfsbegriff, der den astronomischen Terminus „tropisches → Jahr“ erhellen soll. Julianisches Datum JD: Fortlaufende Tageszählung seit dem 1. Januar 4713 v. Chr. 12 Uhr UT. Der 1. Januar 2004, 12 Uhr UT, hat JD 2.453.006; siehe auch Anhang A.1. Konjunktion: Man spricht von der Konjunktion zweier Himmelskörper des Sonnensystems, wenn sie in Bezug auf die → Ekliptik in gleicher Richtung am Himmel stehen, also ihre ekliptikalen Längen gleich sind. Bei Neumond sind Mond und Sonne in Konjunktion. Stehen zwei Himmelskörper in „entgegengesetzten“ Richtungen relativ zur Erde, spricht man von einer Opposition; Beispiel ist der Vollmond und die Sonne. Phänomen Zeit 73 Kalenderkunst Jahr Wilhelm Seggewiß Zeitintervall Länge Abstand zwischen zwei … Tropisches Jahr … Durchgängen der Sonne durch den → Frühlingspunkt 365,242.199 d Siderisches Jahr … Vorübergängen der Sonne an einem festen Stern 365,256.366 d Anomalistisches Jahr … Durchgängen der Erde durch ihr Perihel Finsternisjahr 365,259.626 d … Durchgängen der Sonne 346,620.032 d durch denselben Mondknoten Tabelle 12: Astronomische Definitionen des Jahres (Meyers Handbuch, 1994) Zusätzliche Begriffe: Perihel: sonnennächster Punkt einer elliptischen Bahn um die Sonne; Mondknoten oder Drachenpunkte: Schnittpunkte zwischen → Ekliptik und Mondbahn Koordinaten: Durch zwei Werte („sphärische Koordinaten“) wird die Position (der „Ort“) von Himmelskörpern an der → Himmelssphäre festgelegt. Äquatoriale Koordinaten: Der Himmelsäquator dienst als Ausgangsbasis des (bewegten) „Äquator-Systems“. Dabei projiziert man die Position eines Himmelskörpers G senkrecht herunter auf den Himmelsäquator (siehe Abb. 2 rechts) und bildet folgende Koordinaten: (1) Der Winkelabstand des Projektionspunktes auf dem Äquator vom → Frühlingspunkt ist die Koordinate „Rektaszension“ α, gemessen gegen die tägliche Drehung der Sphäre, entweder im Zeitmaß (0 bis 24 Stunden) oder Bogenmaß (0° bis 360°; also 1h = 15°). [Anmerkung: Beginnt man die Zählung im Meridian, messend Richtung Westen, nennt man die Koordinate den „Stundenwinkel“ im „festen“ Äquator-System.] (2) Der senkrechte Abstand des Himmelskörpers vom Äquator heißt „Deklination“ δ, laufend von 0° für Himmelskörper auf dem Äquator bis zu ± 90° an den Polen. Leider ist der Ausgangspunkt der Zählung, der Frühlingspunkt, kein Fixpunkt an der Himmelssphäre wegen seiner Wanderung aufgrund der Präzession der Erdachse. Daher ändern sich die Koordinaten ständig. Ekliptikale Koordinaten: Die Ekliptik dient als Basis des ekliptikalen Koordinatensystems. Ähnlich wie beim Äquator-System werden für ein Gestirn G zwei Koordinaten definiert, und zwar die „ekliptikaler Länge“ l (gemessen auf der Ekliptik von 0° bis 360°, beginnend am Frühlingspunkt) und „ekliptikaler Breite“ b (senkrechter Winkelabstand, gemessen von 0° auf der Ekliptik bis ± 90° an den sogenannten Polen der Ekliptik). 74 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Lunation (lat. luna, Mond): Wechsel des Mondes von Neumond zu Neumond, auch Zeitdauer dieses Mondwechsels; identisch mit dem synodischen → Monat Meridian (Mittagskreis, lat. meridies, Mittag): Er ist der Großkreis an der → Himmelssphäre, der durch den Zenit und die Himmelspole verläuft; auch Nord-Süd-Kreis genannt. Zur mittäglichen wahren → Ortszeit steht die Sonne im Meridian, in der Umgangssprache „im Süden“. Metonischer Zyklus (Mondzyklus): Zeitraum von 19 Jahren. Der griechische Astronom Meton (5. Jahrhundert v. Chr.) erkannte, daß 19 tropische Jahre dem Ablauf von 235 synodischen Monaten entsprechen. Der Unterschied beträgt nur 2h 04m. Die Folge ist: Alle 19 Jahre fallen dieselben Mondphasen ziemlich genau auf dieselben Kalendertages des Jahres; weitere Details in Kapitel 4.3. Mittlere Sonne, mittlerer Sonnentag: → Sonnentag Monat: Der Monat ist, allgemein gesprochen, der Umlauf des Mondes um die Erde. Je nach Bezugspunkt ergeben sich unterschiedliche Definitionen (siehe Tabelle 13). Für den Kalender ist nur der synodische Monat maßgebend. Auch hier sei mit ähnlichen Warnungen wie für das tropische Jahr der zur Zeit beste Wert für die Dauer des synodischen Monats in Tagen gegeben: 29,530.588.853.1 + 0,000.000.212.621 T – 3,64 · 10–10 T2 mit T = (JD – 2.451.545,0) / 36.525 (zur Erläuterung → Jahr). Monat Zeitintervall Länge Synodischer Monat Wechsel von Neumond zu Neumond 29,530.6 d Tropischer Monat Anwachsen der ekliptikalen Länge des Mondes um 360° 27,321.6 d Siderischer Monat Bahnumlauf des Mondes relativ zu einem Stern 27,321.7 d Drakonitischer Monat Durchgänge des Mondes 27,212.2 d durch den aufsteigenden Knoten Anomalistischer Monat Durchgänge des Mondes durch sein Perigäum 27,554.6 d Tabelle 13: Astronomische Definitionen des Monats (Meyers Handbuch 1994). Zusätzliche Begriffe: Ekliptikale Länge: → Koordinate längs der Ekliptik; Knoten oder Drachenpunkte: Schnittpunkte zwischen Ekliptik und Mondbahn; Perigäum: erdnächster Punkt einer Satelliten-/ Mondbahn um die Erde Phänomen Zeit 75 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Mondmonat: Hilfsbegriff, der den astronomischen Terminus „synodischer → Monat“ erhellen soll. Neulicht: Erstes Sichtbarwerden der jungen Mondsichel am Abendhimmel nach → Neumond; ursprünglich der Beginn eines neuen Monats im jüdischen und im islamische Kalender Neumond: Mondphase, bei der der Mond zwischen Erde und Sonne tritt; oder Zeitpunkt der Konjunktion von Sonne und Mond. Befindet sich der Mond dann nahe eines Knotens seiner Bahn, d. h. nahe des Schnittpunktes von Ekliptik und Mondbahn, so tritt eine Sonnenfinsternis ein. Ortszeit: Eine auf den Meridian eines Ortes bezogene Zeit. Alle Orte eines geographischen Längenkreises haben dieselbe Ortszeit; siehe Anhang I. Platonisches Jahr: Dauer der Präzessionsumdrehung der Erdachse um die Achse der Ekliptik; ca. 25.800 Jahre, → Frühlingspunkt. Präzession: Sie bezeichnet die Taumelbewegung der Erdachse (→ Frühlingspunkt), aufgrund deren der Frühlingspunkt in einem → Platonischen Jahr einen Umlauf vor der Fixsternsphäre vollendet. Rektaszension: Koordinate von Himmelskörpern, → Koordinaten Römerzinszahl (Indiktion): Sie wurde von Kaiser Konstantin im Jahre 313 n. Chr. (auch schon im Jahre 3 v. Chr. bezeugt) für die Steuerschätzung eingeführt und läuft stets von 1 bis 15; ohne Bezug zur Astronomie. Im Jahre 2004 beträgt die Zinszahl 12. Sonnenjahr: Hilfsbegriff, der das tropische Jahr der Jahreszeiten erhellen soll. Sonnentag, wahrer und mittlerer Sonnentag, wahre und mittlere Sonnenzeit: Der Sonnentag ist definiert als die Rotationsdauer der Erde in Bezug auf die Sonne, gleichbedeutend mit der Dauer des Umlaufs der Sonne an der → Himmelssphäre, gemessen zwischen zwei Durchgängen der Sonne durch den → Meridian. Dieser „wahre“ Sonnentag, dessen Stundenlauf uns eine Sonnenuhr gibt, ist aber leider ein periodisch veränderliches Zeitmaß. Ursache sind zwei Umstände: (1) Die Sonne läuft nicht im Himmelsäquator sondern in der Ekliptik, bedingend eine Zeitverschiebung gegenüber einer konstant laufenden Uhr mit halbjähriger Periode nach Kurve b in Abb. 3. (2) Die Sonne läuft dazu noch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit wegen des 2. Keplerschen Gesetzes für Ellipsenbahnen, resultierend in Kurve a der Abb. 3 mit jährlicher Periode. Um eine gleichmäßig ablaufende Zeit zu gewinnen, definiert man eine „mittlere“ Sonne, die (a) mit gleichförmiger Geschwindigkeit und (b) im Himmelsäquator umläuft, die sich dann aber nach einem tropischen Jahr wieder mit der wahren Sonne trifft. Der Unterschied zwischen wahrer und mittlerer Sonnenzeit heißt Zeitgleichung. Sie bewegt sich zwischen ca. ±15 Minuten (Summenkurve c in Abb. 3). 76 Phänomen Zeit Wilhelm Seggewiß Kalenderkunst Abb. 3. Die Zeitgleichung, Kurve c. Sie setzt sich aus den Kurven a und b zusammen (→ Sonnentag). Oberhalb der Nullinie geht die wahre Sonnenzeit, repräsentiert durch die Sonnenuhr, vor, unterhalb der Nullinie geht die Sonnenuhr gegenüber der mittleren Zeit nach. Sonnenzirkel (Sonnenzyklus): Ein Periode von jeweils 28 Jahren im Julianischen Kalender, nach der jeder Kalendertag des Jahres wieder den gleichen Wochentag besitzt. Im Jahre 2004 beträgt die Zahl im Sonnenzirkel 25. Sonntagsbuchstabe: Er beruht auf einer immer wiederholten Zählung der Wochentage eines Jahres von A bis G, stets beginnend mit A für den 1. Januar. Der Buchstabe, den dann alle Sonntage des Jahres erhalten, ist der Sonntagsbuchstabe. Komplizierter hält man es im Schaltjahr: Der Schalttag (jetzt der 29. Februar) erhält denselben Buchstaben wie der vorangegangene Tag, so daß ab dem Schalttag der Sonntagsbuchstabe sich um eins nach vorn verschiebt. Sonntagsbuchstaben des Jahres 2004 sind also D bis zum 22. Februar und C ab dem 29. Februar 2004. Sterntag, Sternzeit: Der Sterntag ist die Rotationsdauer der Erde in Bezug auf den → Frühlingspunkt. Der Sterntag ist um ca. 4 min kürzer als der → Sonnentag, bedingt durch das Fortschreiten der Erde in ihrer Bahn um die Sonne. Sternzeit ist der Verlauf des Sterntages in einer Einteilung von 24 Stunden. Genaue Umrechnung: 1 Sterntag = 24 Stunden Sternzeit = 23h 56m 04,090.5s Sonnenzeit, 1 Sonnentag = 24 Stunden Sonnenzeit = 24h 03m 56,555.4s Sternzeit. Phänomen Zeit 77 Kalenderkunst Wilhelm Seggewiß Weltzeit, Universal Time UT: Die Weltzeit ist eine auf den Meridian des historischen Royal Observatory in Greenwich bei London (gesetzt als 0° geographischer Länge) bezogene Zonenzeit. Zeiteinheit ist die Atomsekunde (siehe Kapitel 2.4); 86.400 Sekunden bilden einen Tag. Zur Angleichung des UT-Tages an den mittleren → Sonnentag wird aufgrund eingehender astronomischer Beobachtungen gelegentlich eine Sekunde zugefügt oder abgezogen. Auf diese Weise entsteht die Koordinierte Weltzeit UTC (Universal Time Coordinated). Man beachte, daß die modernen Kalendermacher nicht einmal eine einzige Sekunde Abweichung zwischen dem Kalendertag und dem mittleren Sonnentag tolerieren. Zeitgleichung: Unterschied zwischen wahrer und mittlerer Sonnenzeit, → Sonnentag Zonenzeit: Die Zeit innerhalb einer der 24/25 Zeitzonen der Erde; siehe Anhang I. Taschenuhr mit Zonenzeiten Rousier Melly, Genf um 1780 78 Phänomen Zeit