gütersloher verlagshaus
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vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 1 : GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 2 : vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 3 : Marie Katharina Wagner DIE PIRATEN Von einem V i LLebensgefühl b fühl zum Machtfaktor Gütersloher Verlagshaus vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 4 : Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Munken Premium Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden. 1. Auflage Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagmotive: Bulls-Eye © lassedesignen – Fotolia.com, Holzwand mit Rissen © Kara – Fotolia.com Druck und Einband: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-579-06645-5 www.gtvh.de vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 5 : INHALT DIE WELT DER PIRATEN 7 WER SIE SIND Club Mate, Rollenspiel, My Little Pony: Die Nerd-Kultur der Piraten 11 Flauschen, Flamen, #mimimi: Twitter und die Sprache der Piraten 22 Aus dem Schoß der Chaosfamilie: Warum die Piraten keine Hackerpartei sind 39 WOHER SIE KOMMEN Als Raubkopieren politisch wird: Der Fall »The Pirate Bay« 47 Aus dem Forum nach Darmstadt: Der Anfang in Deutschland 54 »Zensursula« und »Stasi 2.0«: Der Sommer der Piraten 65 Mühen der Ebene: Das Chaos von Bingen 72 Berlin-Wahl 2011: Die Piraten-WG im Abgeordnetenhaus 78 So sehen Sieger aus: Der Marsch durch die Parlamente 89 WORAN SIE GLAUBEN Grüne und Piraten: Zwei Anti-Parteien-Parteien im Vergleich 97 vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 6 : Das eigentliche Programm: Die Software »Liquid Feedback« 105 Keiner für alle und alle für keinen: Wie das Programm entsteht 118 Linksliberalsoziallibertär: Der Kampf gegen Schubladen 139 Immer dem Bauchgefühl nach: Die Suche nach Sinn 144 WIE SIE STREITEN Grenzen der Toleranz: Gefangene der Meinungsfreiheit 153 Durchsichtig und undurchschaubar: Tragikomik einer Transparenzpartei 164 Geschlecht war gestern: Von Pirat*innen, Maskulinisten und Eichhörnchen 174 WOHIN SIE GEHEN 183 LITERATUR 189 vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 7 : DIE WELT DER PIRATEN Um die Piratenpartei zu verstehen, muss man in ihre Welt eintauchen. Es ist eine seltsame, bunte, fantasievolle Welt – voller kindlicher Hobbys, seltsamer Ausdrucksweisen und einem eigenartigen, auch bösen Humor. Eine Welt, die im Internet entstanden ist, und mit ihr eine eigene Sprache: Sie muss man lernen. Man muss verstehen, was es heißt, wenn ein Pirat einen anderen »flauscht«. Man muss wissen, dass ein »Flausch« eine virtuelle Umarmung ist, ein Sympathiebeweis, und zugleich ein Gegenpol zum »Shitstorm«, dem gezielten Angriff auf eine Person durch aggressive Kommentare auf Twitter. Man muss wissen, wozu das Bällebad da ist, das auf jedem Bundesparteitag steht, gefüllt mit bunten Plastikkugeln. Dass es für die Piraten Entspannung bedeutet, dort für eine Viertelstunde den hitzigen Parteitagsdebatten zu entkommen, mit ihren Laptops abzutauchen, vor sich hinzutwittern oder im Netz zu surfen. Man muss verstehen, dass die Piraten zwischen Online- und Offline-Zeit nicht mehr unterscheiden. Dass das Internet ihr Lebensraum geworden ist, in dem sie Freunde finden, sich verlieben, streiten, arbeiten, schreiben und lesen, sich langweilen. Das Internet ist ihre Welt, die sie bedingungslos lieben. Dieses Buch soll dabei helfen, diese Welt zu verstehen. Als sich um das Jahr 2009 herum Politiker anschicken, mit Maßnahmen wie den Netzsperren und der Vorratsdatenspeicherung in die Netzsphäre einzugreifen, scheint sie in Gefahr. Ihre Bewohner verbünden sich gegen den Feind. Um ihre Welt zu verteidigen, betreten sie eine andere, die ihnen bis dahin fremd ist: die Politik. Sie hatten nicht vorgehabt, politisch zu 7 vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 8 : werden. Doch nun haben sie keine Wahl. Es gilt, ein Lebensgefühl zu bewahren. Inzwischen, drei Jahre später, gibt es diesen Feind nicht mehr. Auch die anderen Parteien bemühen sich um Verständnis für die »Netzkinder«. Für die Piraten ist das ein Problem – weil sie nur wenig haben, das sie zusammenhält. Auch darum geht es in diesem Buch: Woran glauben die Piraten eigentlich? Stimmt es, dass sie sich, wie sie immer wieder beteuern, politisch nicht einordnen lassen? Es gibt manches, was die Piraten eint. Zum Beispiel eine tiefe Dankbarkeit dem Internet gegenüber. Es hat ihnen eine Welt eröffnet, in der jeder gleichbehandelt wird, in der jeder selbst bestimmen kann, wie die anderen ihn sehen. Ein Raum, in dem nur Meinungen zählen, in dem es für jede noch so obskure Ansicht eine Nische gibt. Ein Raum, der sich selbst kontrolliert: Fällt jemand unangenehm auf, kann der »Schwarm« ihn per »Shitstorm« maßregeln. Dabei gibt es keine Hierarchie, keine Kontrollinstanzen, keine »Chefs« und Untergebenen. Jeder hat den gleichen Zugang zu Informationen, die meisten Daten sind transparent und frei. Aus diesen Bedingungen speist sich das Lebensgefühl, auf das die Piraten glauben, ein Anrecht zu haben. Als sie darum herum ihre Partei aufbauen, übertragen sie all das, was sie sich im Netz angewöhnt haben, auf die Politik: Auch dort soll es hierarchie- und diskriminierungsfrei zugehen, mit gleichem Zugang für alle. Zunächst scheint genau das den Sehnsüchten vieler Menschen zu entsprechen: Nach der Berlin-Wahl im September 2011 werden die Piraten als unverbrauchte, gesellschaftliche Kraft gefeiert, für ihren revolutionären Politikstil, für ihr Anderssein. Tausende werden Mitglieder, weil sie hoffen, an der Entstehung von etwas Neuem beteiligt zu sein, einem Gegenentwurf zu der grauen Funktionärsmasse der anderen Parteien. Doch im Sommer 2012 macht sich Ernüchterung breit, die Umfragewerte sinken. Die Piraten scheinen nur noch zu strei- 8 vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 9 : ten, ein Graben tut sich auf zwischen den vielen Neumitgliedern und den Gründungsgenerationen. Die »neuen«, von denen viele nicht aus der Netzwelt kommen, kennen die Codes nicht, ihnen fallen keine ironischen Kommentare und Pointen ein, die einem im Netz Gehör verschaffen. Sie durchschauen die komplizierte Meinungsbildungssoftware »Liquid Feedback« nicht, mit der jedes Parteimitglied von zu Hause aus mitentscheiden soll. Sie merken, dass es auch bei den Piraten Hierarchien gibt. Die Partei gelangt an einen Wendepunkt: Passt sie sich weiter dem Politikbetrieb an? Oder versucht sie, mit radikaler Transparenz gegen Hinterzimmerpolitik und Netzwerke anzugehen? Einige Fälle von Kungelei hat es schon gegeben. Das Misstrauen der Mitglieder hat Gründe. Die meisten Probleme der Piraten haben mit Übersetzungsfehlern bei ihrem Sprung aus der digitalen in die reale Welt zu tun. Vieles funktioniert in der Realität nicht so gut wie im Internet. Das fängt mit dem ruppigen Umgangston an, der in der Anonymität von Chats und Mailinglisten entstanden ist und viele Außenstehende abschreckt, und führt bis zu einer alles durchdringenden Abscheu vor Hierarchien. Sie hat zur Folge, dass sich charismatische und schlaue Köpfe kaum hervortun können. Außerdem glaubt die Partei, ohne Ideologie auszukommen, ohne Vision oder Gesellschaftsbild. Ihre inhaltlichen Forderungen sind deshalb nur Trippelschritte auf einem Weg, dessen Ziel niemand kennt. Das liegt auch daran, dass alles in der Partei wie im Netz »work in progress« ist und sich minütlich, je nach Laune des Schwarms, in andere Richtungen entwickeln kann. Das Einzige, worauf sich die Piraten einigen können, ist das Wohl und die Freiheit des Einzelnen, für die sie kämpfen. Ihre Politik entsteht nicht aus dem Gedanken heraus, für die Gesellschaft als Ganze oder für andere, vielleicht schwächere, eine bessere Zukunft zu schaffen. Es geht immer darum, die Bedingungen des Individuums zu verbessern. Der Staat wird dabei geschröpft, so weit es geht – und soll ansonsten seine »gängelnden« Eingriffe 9 vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 10 : unterlassen. Sind die Piraten also eine egoistische Partei ohne jeden Gemeinschaftssinn? Sie selbst würden das nicht so sehen. Sie empfinden sich sogar als sehr sozial: »Sharing is Caring«, die Lieblingsfloskel der File-Sharer, bringt dieses Gefühl zum Ausdruck. Die Piraten sehen sich, nicht nur im Urheberrecht, auf der Seite der Schwachen – etwa der mittellosen Downloader im Kampf gegen die verhasste »Verwertungsindustrie«. Dieses FreundFeind-Denken schafft in der Netzpolitik einen Grundkonsens, ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber was ist mit den anderen Themen, die sie beschäftigen und die ihre Zukunft bestimmen werden – mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, mit ihrer Haltung zu Europa? Dort fehlt ihnen eine gemeinsame Grundlage, dort zerfasert die Partei in Grüppchen und Flügel, die sich erbittert und vor aller Augen streiten. Man könnte den Eindruck bekommen, als geschähe bei den Piraten längst das Gleiche wie bei den anderen Parteien: Postengeschacher, Flügelkämpfe, Richtungsstreit. Hat die Partei ihre Andersartigkeit schon verloren, bevor sie ihr Versprechen einlösen konnte, den Politikstil zu verändern? Oder war sie nie anders – weil ihre Mitglieder eben doch nur Menschen sind, die sich nicht programmieren lassen? Eine Besonderheit – neben Bällebad und Shitstorm – hat die Partei noch. Es ist ihr Angebot an die Wähler, möglichst viele gleichberechtigt an einem radikal transparenten politischen Prozess zu beteiligen. Diesen Zustand zu erreichen ist ihr größtes Versprechen. Halten die Piraten es nicht ein, dann haben sie sich schon bald überflüssig gemacht. Auch das will dieses Buch zeigen. 10 vg554951ad554951_10 : Wagner, 023 06645 0072 1 4100157457 Die Piraten 29-OCT-12 : Seite: 11 : WER SIE SIND CLUB MATE, ROLLENSPIEL, MY LITTLE PONY: DIE NERD-KULTUR DER PIRATEN Es gibt ein Wort, das man kennen sollte, wenn man die Piratenpartei verstehen will. Es heißt »Nerd«. Vor 20 Jahren nannte man so die klugen, für Teenagerthemen unempfänglichen Außenseiter, die sich in den Schulpausen im Computerraum das Programmieren beibrachten. Sie wurden für ihr technisches Wissen respektiert, aber auch mit Skepsis betrachtet, da man nur darüber spekulieren konnte, wofür sie es eigentlich brauchten. Heute wissen wir es: »Nerds« haben all die sozialen Netzwerke, Online-Einkaufsläden und Apps programmiert, die fast jeder täglich nutzt. Heute sind »Nerds« cool, sie sind Avantgarde und Subkultur. Dieser Wandel ist in Deutschland auch den Piraten zu verdanken: Sie fomten aus der Masse verhuschter Einzelgänger eine selbstbewusste politische Kraft, die offensiv für ein Lebensgefühl eintritt – das Lebensgefühl der Nerds. 1997 erscheint im Satiremagazin »Titanic« ein Text des Schriftstellers Max Goldt: »Ein gutes und ein schlechtes neues Wort für Männer«. Goldt schreibt, er habe von einer Amerikanerin erfahren, dass man dort für den plötzlich aufgetauchten Begriff dankbar sei »wie für einen lang herbeigesehnten Regenschauer«, denn es habe bisher kein passendes Wort für diesen Typ Mensch gegeben, für die »weniger beliebten Kommilitonen auf der High-School«. Goldt charakterisiert Nerds folgendermaßen: »Sie haben eine sogenannte Bettfrisur, das heißt irgendwie platt gelegene Haare, auch abends, und ge- 11 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Marie Katharina Wagner Die Piraten Von einem Lebensgefühl zum Machtfaktor Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 13,5 x 21,5 cm ISBN: 978-3-579-06645-5 Gütersloher Verlagshaus Erscheinungstermin: November 2012 Partei oder Lebensgefühl? Sind die Piraten überhaupt politisch - oder doch nur eine Protestbewegung? Die Piraten wehen wie eine frische Brise durch die politische Landschaft in Deutschland. Dabei machen sie den Volksparteien reihenweise Wähler abspenstig – entsprechend nervös reagieren die etablierten Kräfte auf den neuen und rasend schnell wachsenden Machtfaktor. Als sie gegründet wurden, waren die Piraten noch eine reine Nerd-Partei, verbunden durch die Angst vor dem Eingriff des Staates in ihr Lebensbiotop – das Internet. Mit dieser Agenda sprechen sie die Ansprüche einer ganzen Generation an, aber noch viel mehr: inzwischen sind die Piraten auch zur Stimme der Protest- und Wutwähler geworden, denen es kaum oder gar nicht um die Forderungen der Partei geht. Wie politisch ist ihr Engagement also? Gerne erklären die Piraten, dass sie auf viele Fragen keine Antworten wissen. Ihr Parteiprogramm formuliert kein gesellschaftliches Ziel, sondern ein Plädoyer für ein Lebensgefühl. Marie Katharina Wagner beobachtet und begleitet die Piraten seit Jahren. Mit ihrer fundierten Analyse geht sie der plötzlichen Piraten-Begeisterung auf den Grund und wagt eine Prognose, wohin der Hype die Partei und Deutschland führen könnte.