Kaija Saariahos erste Oper L`amour de loin

Transcrição

Kaija Saariahos erste Oper L`amour de loin
Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts
an der Kunstuniversität Graz
Auf der Suche nach dem verborgenen Seelenleben:
L’amour de loin.
Orient – Okzident, Heimat – Exil, Traum – Wirklichkeit.
Harmonie-Klangfarbe und musikalisch-ästhetische Darstellung
der Antithesen in
Kaija Saariahos erster Oper
Betreuer: Ao.Univ.Prof. Mag.phil. Dr. phil. Harald Haslmayr
Institut für Musikästhetik
Vorgelegt von
Sara Papst B.A.
September 2013
Abstract:
Auf der Suche nach dem verborgenen Seelenleben: L’amour de loin.
Orient – Okzident, Heimat – Exil, Traum – Wirklichkeit.
Harmonie-Klangfarbe und musikalisch-ästhetische Darstellung der Antithesen in
Kaija Saariahos erster Oper
Die finnische Komponistin Kaija Saariaho, die seit über dreißig Jahren in Paris, ihrem „Wahlexil“,
lebt, hat sich spätestens mit ihrer am 15. August 2000 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführten
Oper L’amour de loin (Die Liebe aus der Ferne) innerhalb der klassischen Musikkulturszene etabliert.
Mittlerweile zählt sie zu den bekanntesten zeitgenössischen Komponistinnen, deren Werke in den
größten Opern- und Theaterhäusern aufgeführt werden. L’amour de loin nimmt eine besondere
Stellung in Saariahos Schaffen ein, zumal sie zu den wenigen Künstlern und Künstlerinnen ihrer Zunft
gehört, die sich im 21. Jahrhundert an die große Opernform wagen. Saariaho verpackt in der Oper
einen von dem libanesischen Librettisten Amin Maalouf aufbereiteten mittelalterlichen Stoff, der auf
der vida und den Liedern des im 12. Jahrhundert lebenden Troubadours Jaufré Rudel beruht, in eine
zeitgenössische Form. Ihre stetige Suche nach Antithesen finden in dieser Oper, in der es um die
Gegensatzpaare Heimat-Exil, Orient-Okzident, Nähe-Distanz, Leben-Tod, Diesseits-Jenseits, EkstaseMelancholie, Starre-Lebendigkeit, Traum-Wirklichkeit u.a. geht, einen fruchtbaren Boden.
Charakteristisch für ihren Kompositionsstil ist neben der sogenannten Harmonie-Klangfarbe als
zugrundeliegende Basis das Auffächern, Zerlegen, Verwandeln, Verdichten und Ausdünnen des
Klanges. Saariaho versucht die Emotionen, das verborgene Seelenleben, tiefsitzende Gedanken und
unbewusst ablaufende Prozesse der drei Figuren auf einer musikalisch-klanglichen Ebene
auszudrücken. Die Analyse und Betrachtung dieser musikalischen Gestaltung sowie deren enge
Verzahnung mit dem Text beweist Saariahos kompositorische Meisterleistung und erklärt den Erfolg
ihrer doch für den klassischen Rezipienten auf den ersten Höreindruck „unkonventionell“ anmutenden
Musik.
Abstract
In search of secret inner life: L’amour de loin.
Orient-Occident, home-exile, dream-reality.
Harmonic-timbre and musical-aesthetic description of the antitheses in
Kaija Saariaho’s first opera
L’amour de loin, the acclaimed first opera of the Finnish composer Kaija Saariaho, who has lived for
more than thirty years in her self-elected exile Paris, had its debut performance on the 15th of august
2001 at the Salzburger Festspiele. In the meantime she has become one of the most famous
contemporary composers, whose works are performed in the biggest operas and theatres of the world.
L’amour de loin, the “Love from afar”, is of great importance in her oeuvre as she is one of the very
few artists in the 21st century, who dare to compose this complex form of musical work. The opera is
based on a medieval plot, the vida and the lyrics of the French troubadour Jaufré Rudel, arranged by
the Lebanese author Amin Maalouf. Saariahos permanent search for contradictions is satisfied in this
opera by the antithetic topics like home-exile, Orient-Occident, closeness-distance, life-death, this
world-hereafter, euphoria-melancholy, numbness-vitality, dream-reality etc. Her composition style,
based on the harmonic-timbre, is characterized by expanding, deconstructing, metamorphosing,
compacting and fragmenting the sounds. Saariaho tries to express emotions, the inner life, deep-rooted
thoughts and unconscious processes of the three figures in a musical way. The analysis of the
compositional creation and its close links to the text proves Saariahos extraordinary talent and the
success of her masterstroke among the audience of classical music.
Inhaltsverzeichnis
1.
EINLEITUNG ........................................................................................................................ 1
2.
LEBEN UND WERK DER KOMPONISTIN UND DES LIBRETTISTEN....................................... 4
2.1. Kaija Saariaho........................................................................................................................... 4
2.2. Amin Maalouf........................................................................................................................... 9
2.3. Heimat – Exil: Eine starke Verbindung zwischen Saariaho und Maalouf.............................. 14
3.
REZEPTIONSGESCHICHTE ................................................................................................. 17
4.
DIE HISTORISCHE FIGUR DES TROUBADOURS UND KREUZRITTERS JAUFRÉ RUDEL: SEIN
EINFLUSS AUF DIE LYRIK UND DER ZUSAMMENHANG ZU OPERN DES 18. - 21.
JAHRHUNDERTS ................................................................................................................ 22
4.1. Biografie ................................................................................................................................. 22
4.2. Fin’amor – das Liebeskonzept der Troubadours .................................................................... 23
4.3. Die Legende des Troubadours Jaufré Rudel ........................................................................... 26
4.4. Lanqand li jorn son lonc en mai – Wenn die Tage lang sind, im Mai .................................... 28
5.
FASZINOSUM ORIENT UND OKZIDENT: „AMOR DE LOING“ IN LYRIK UND MUSIK......... 32
5.1. Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi et Clorinda .............................................. 34
5.2. Heinrich Heines Ballade: Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripolis ................................. 35
5.3. Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail ...................................................... 37
5.4. Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte .............................................................................. 38
5.5. Richard Wagners Tristan und Isolde ...................................................................................... 39
5.6. Tausendundeine Nacht Musik: Nikolai Andrejewitsch Rimsky-Korsakovs Scheherazade ... 40
6.
DIE OPER L’AMOUR DE LOIN............................................................................................. 42
6.1. Vorbereitende und hinführende Werke auf die Oper L’amour de loin ................................... 45
6.2. Libretto: Die interkulturelle Dimension der wahren Liebe .................................................... 48
6.3. Form und Instrumentarium ..................................................................................................... 52
6.4. Inhalt ....................................................................................................................................... 54
6.4.1. 1. Akt ................................................................................................................................... 54
6.4.2. 2. Akt ................................................................................................................................... 55
6.4.3. 3. Akt ................................................................................................................................... 56
6.4.4. 4. Akt ................................................................................................................................... 57
6.4.5. 5. Akt ................................................................................................................................... 58
7.
KOMPOSITIONSSTIL KAIJA SAARIAHOS........................................................................... 59
7.1. Auf der Suche nach Gegensatzpaaren .................................................................................... 59
7.2. Graphische Notizen ................................................................................................................ 61
7.3. Rhythmus ................................................................................................................................ 62
7.4. Aller Anfang ist der Einzelton: Metabolismus als kompositorisches Grundprinzip .............. 64
7.5. Harmonie-Klangfarbe – ein kompositorisches Charakteristikum........................................... 64
8.
MUSIKALISCHE TOPOI BEI KAIJA SAARIAHO: ZU DEN EMOTIONALEN UND ......................
ÄSTHETISCHEN KOMPONENTEN IN DER OPER L’AMOUR DE LOIN ................................... 69
8.1. Ouvertüre – „Traversée“: Eine Miniatur des musikalischen Dramas ..................................... 70
8.2. Musikalische Charakteristika der Figur Jaufré Rudel ............................................................. 73
8.3. Musikalische Charakteristika der Figur Clémence ................................................................. 74
8.4. Musikalische Charakteristika der Figur des Pilgers ............................................................... 75
8.5. Das Lautenspiel Jaufré Rudels................................................................................................ 77
8.6. Wut – Angst – hoffnungsvolle Liebessehnsucht des Troubadours: Ein Spiel mit den
Emotionen...................................................................................................................................... 80
8.7. Der Pilger: Ein ewig umherreisender Vermittler zwischen zwei Liebenden sowie den
Kulturen des Okzident und Orient ................................................................................................. 86
8.8. Clémence: Die im Exil lebende Entwurzelte .......................................................................... 90
8.9. Traum...................................................................................................................................... 96
8.10. Sturm .................................................................................................................................. 100
8.11. Konstruktion und De-Konstruktion des idealen Frauenbildes Jaufré Rudels ..................... 102
8.12. Sterbeszene ......................................................................................................................... 106
9.
ZUSAMMENFASSUNG ....................................................................................................... 112
10. LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................... 116
1. Einleitung
...ich komponiere, also bin ich...
Dieser Tagebucheintrag 1 stammt von Kaija Saariaho, einer der bekanntesten lebenden
Komponistinnen des 21. Jahrhunderts. Wie eng das Komponieren – für sie mitunter eine
hauptberufliche Tätigkeit – mit ihrer Identität, ihren Gefühlen, ihren Empfindungen, ihren
Gedanken und ihrer Individualität zusammenhängt, wird durch diese fünf Worte zum
Ausdruck gebracht.
Saariaho,
deren
aktive
Kompositionszeit
mittlerweile
vierzig
Jahre
(inklusive
Studienzeiten) andauert, hat den schwierigen Weg innerhalb der musikalisch-künstlerischen
Bewegungen, Entwicklungen, Umformungen und den damit verbundenen technologischen,
stilistischen und soziokulturellen Veränderungsprozessen in grandioser Weise gemeistert. Ihre
mitunter für den ,klassischen‘ Hörer auf den ersten Höreindruck ungewohnt wirkenden und
avantgardistisch anmutenden Werke werden in den berühmtesten Musikkulturzentren wie
Wien, Salzburg, Amsterdam, London, Berlin, Paris u.a. in den großen Opern- und
Theaterhäusern zur Aufführung gebracht. Saariaho ist in ihren Kompositionen stets auf der
Suche nach jenem Klang, der tiefliegende Gefühle, innere Prozesse, unbewusste Elemente,
verborgene Gedanken und das Seelenleben des Menschen musikalisch auszudrücken und
widerzuspiegeln vermag. In ihren Kompositionen vereint sie je nach Besetzung den Klang
sämtlicher Orchesterinstrumente mit dem erweiterten Percussionsinstrumentarium (die
Erweiterung bezieht sich vor allem auf außereuropäische Instrumente, wie chinesische
Zimbeln u.a.), mit unterschiedlichen (alten und neuen) Sprachen und Stimmcharakteren sowie
elektronisch generierten Klang- und Distributionsverfahren.
Die aus Finnland stammende und seit über dreißig Jahren im ,Exil‘ – in Paris – lebende
Komponistin hat mit ihrer ersten Oper L’amour de loin, uraufgeführt im August 2000 bei den
Salzburger Festspielen, die große Opernform gewonnen und sich spätestens damit in der
internationalen Musikszene einen Namen gemacht.
Dem Werk L’amour de loin wurde in der bisherigen musikwissenschaftlichen Forschung
noch nicht die angemessene Bedeutung eingeräumt – vor allem der Fokus auf die Konnexion
zwischen Inhalt, den darin liegenden Emotionen und der musikalischen Gestaltung wurde
1
Kaija Saariaho, In der Musik, über die Musik, in die Musik hinein. Tagebuchblätter, in: MusikTexte. Zeitschrift
für neue Musik, Nr.110, hg. von Ulrich Dibelius u.a., Köln 2006, S. 32.
1
bisher noch wenig Beachtung geschenkt. Ziel dieser Arbeit ist es demnach, diese
Zusammenhänge herauszuarbeiten und anhand entsprechender musikalischer Beispiele und
den diesen zugrundeliegenden Libretto-Stellen zu veranschaulichen.
Da – wie das eingangs erwähnte Zitat von Saariaho zeigt – die Musik und die
zugrundeliegende Geschichte immer etwas mit ihrer Person zu tun haben, wird im zweiten
Kapitel der Biografie der Komponistin viel Platz eingeräumt. Auch der Librettist Amin
Maalouf, dessen persönliche Lebensgeschichte eng mit dem Thema Orient-Okzident und
Heimat-Exil verbunden ist, bekommt an dieser Stelle viel Raum.
Nach einem kompakten Überblick über die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes im dritten
Kapitel bezieht sich das folgende auf die historische Figur des Jaufré Rudel aus dem 12.
Jahrhundert, der als französischer Troubadour aufgrund seiner außergewöhnlichen
Liebesgesänge und seiner Biografie in die Geschichte einging. Um die Oper in ihrer
Symbolhaftigkeit zu verstehen und interpretieren zu können, ist es wichtig, das
troubadoureske Liebeskonzept der „fin’amor“ näher hinterfragt zu haben – auch das unter
anderem der Oper zugrundeliegende Gedicht Jaufré Rudels, Lanqand li jorn son lonc en mai,
findet an dieser Stelle Beachtung.
Eines der Bilder, mit dem die Suche nach dem verborgenen Seelenleben nach außen
getragen wird, ist ein Jahrtausende altes Thema: Die Beziehung, Abwendung, Interesse,
Belagerung und Bekämpfung zwischen dem Orient und dem Okzident. Diese magische
Anziehung hat nicht nur in der (sozial- und kulturkritischen) Geschichtsfachliteratur und
Belletristik große Bearbeitung gefunden, sondern auch die abendländische Musik – vor allem
jene des 18. und 19. Jahrhunderts – hat die Klänge und Märchen des Orients aufgenommen.
Einige musikalische Beispiele werden in dem fünften Kapitel besprochen.
Das sechste Kapitel widmet sich den vorbereitenden Kompositionen Saariahos, dem Inhalt
und dem Libretto der Oper L’amour de loin.
Der Kern dieser Arbeit stellt das siebente und achte Kapitel dar: Saariahos Kompositionsstil
sucht seinesgleichen – die klangliche Umsetzung spezifischer Stimmungen, Peripetien und
Entfaltungen
mittels
Mikrotonalität,
schwebenden
Streicher-
und
Bläserklängen,
elektronischen Filtern und Naturgeräuschen in Verbindung mit diatonischem Material lassen
langsame Wechsel, metabolische Prozesse und offene Schlüsse zu.
In der Geschichte der Oper L’amour de loin geht es weniger um eine spannungsgeladene,
schnell fortschreitende Handlung mit aktiven äußeren Impulsen, sondern dieses ,musikalische
Märchen‘ erhält seine Lebendigkeit und Spannung durch die emotionalen Prozesse (Wut,
Aggression, Traurigkeit, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst, Liebe,...) und das
2
verborgene Seelenleben der drei auf engste in Verbindung stehenden Figuren. Wenn man sich
Saariahos persönliches Ziel ihrer Arbeit vor Augen hält, nämlich tiefsitzende Gefühle,
unbewusste Anteile und nicht ausgesprochene Gedanken des einzelnen Menschen
musikalisch darzustellen und auszudrücken, scheint die Geschichte von der Liebe aus der
Ferne geradezu ideal für Saariahos musikalisches Denken geschaffen zu sein.
Zugunsten einer leichteren Lesbarkeit wird auf die parallele Anwendung der männlichen und
weiblichen Schreibformen verzichtet, sondern ausschließlich weibliche Endungen (zum
Beispiel „Komponistinnen“) verwendet. Diese Schreibweise schließt selbstverständlich
männliche Personen nicht aus.
3
2. Leben und Werk der Komponistin und des Librettisten
2.1. Kaija Saariaho
Musik ist meine Art, mich dem Göttlichen zu nähern.
Ich versuche, in die Tiefen unserer Existenz zu schauen.2
Kaija (Anneli) Saariaho3 wurde am 14. Oktober 1952
in Helsinki geboren. Da Saariaho immer wieder
bereit war, in Form eines dialogischen Interviews
von
ihrem
Leben,
ihrem
Werdegang
als
Komponistin und ihrer Musik zu erzählen, erscheint
es für den Leser am lebendigsten, ihre persönlichen
Worte in diesem Zusammenhang zu „hören“ bzw. zu
lesen. Saariaho zeigt in musikalischen oder persönlichen Belangen Authentizität: Die
folgenden Übersetzungen4 aus einem Interview, das Tom Service mit Saariaho geführt hat,
sollen nicht nur biografische Informationen liefern, sondern vor allem einen Einblick in jene
Erfahrung bieten, die so viele Interviewpartner in der Begegnung mit ihr mach(t)en: Saariaho,
– eine der bekanntesten lebenden Komponistinnen – deren Musik von Wärme und Sensibilität
durchströmt ist und zugleich vor immenser Kraft sprüht, scheint ein Spiegel ihrer Musik zu
sein – oder umgekehrt. Sie ist zurückhaltend, höchst aufmerksam, vielmehr einen Freiraum
als eine Distanz vom Gegenüber fordernd und in höchstem Maße präsent – „ihre Musik ist ihr
2
Zitat von Kaija Saariaho, online verfügbar unter Zander, Margarete: „Ich möchte nicht elitär sein“ Die
finnische Komponistin Kaija Saariaho ist „composer in residence“ von KLANG! http://www.klanghamburg.de/die-projekte/composer-in-residence/kaija-saariaho-0809/ (Datum der Einsichtnahme für alle
Internetangaben: 14.8.2013)
3
Portrait von Kaija Saariaho online verfügbar unter http://www.klang-hamburg.de/die-projekte/composer-inresidence/kaija-saariaho-0809/
4
Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho:
Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 3-14.
Diese Übersetzungen stammen von der Autorin dieser Arbeit. Ferner wurden für diesen Biografieabschnitt
weitere Informationen aus folgender Quelle entnommen: Sanna Iitti, Art. Saariaho, Kaija (Anneli), geb.
Laakkonen, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von
Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2005, Personenteil Bd.
14, Sp. 733-737.
4
Leben und ihr Leben ist ihre Musik, das eine das andere schaffend, beides verbunden durch
ein sozusagen organisches Band“5.
Saariahos Eltern stammen aus armen Familien aus dem östlichsten Teil Finnlands. Ihre
Mutter bleibt bei den drei Kindern (Saariaho hat eine jüngere Schwester und einen älteren
Bruder), während der Vater in der Metallindustrie arbeitet. Ihre Herkunftsfamilie hat wenig
Bezug zur Musik, daher ist sie Saariahos „eigene“ Sache, ihr eigenes Universum – es gibt
daher niemanden, der sie in dieser Lebensphase musikalisch leitet. Als Kind hört sie die
Musik aus dem alten Radio ihrer Eltern, aber in der Nacht – so glaubt sie – eine andere Musik
aus ihrem Polster zu hören. Das sensible Kind bittet oft die Mutter, diesen „Polster doch
abzuschalten“, da sie ob der Musik in ihrem Kopf nicht schlafen kann. In einem schönen
Sommerhaus in Karelia bekommt Saariaho erstmals Musik von Johann Sebastian Bach zu
hören und ist fasziniert von dieser Musik inmitten der Natur. Dieser Namen sollte ihr im
Gedächtnis erhalten bleiben und in der Rudolf Steiner Schule, in der sie Deutsch lernt, erfährt
sie, dass Bach „kleiner Fluss“ heißt – sie findet das wundervoll und so unglaublich
korrespondierend zu dem, was sie sich beim Hören seiner Musik vorstellt. Saariaho beginnt
als Kind Violine zu lernen, jedoch fühlt sie sich aufgrund der Inkompetenz ihres damaligen
Lehrers sehr verloren. Im Alter von 12-13 Jahren beginnt sie, alleine Konzerte in Helsinki zu
besuchen – das ist ihr „persönliches Abenteuer“. Der Musikbann bleibt die folgenden Jahre
ungebrochen und sie hört alles, was es zu hören gibt („alle“ Musik, die es auf LPs in Helsinki
zu kaufen gibt). Auch Dieter Schnebels Musik ist darunter. Saariaho spricht in den Interviews
oftmals ihre fehlende kulturelle Prägung bzw. Erfahrung an. Sie war (ist) ein sehr scheuer
Mensch. Sie lernt zwar Klavier am Konservatorium in Helsinki, fühlt sich aber, ähnlich wie
bei der Violine ein paar Jahre zuvor, nicht wohl damit – auch die notwendigen Prüfungen
werden zwar mehr oder weniger erfolgreich absolviert, jedoch empfindet sie sich nicht gut
und kompetent im Musizieren. Das macht sie noch unsicherer in ihrem Selbstgefühl. Sie hat
zwar zu dieser Zeit bereits die Vision und ein echtes Bedürfnis, sich musikalisch
auszudrücken, aber nachdem sie eine „schlechte“ Instrumentalistin ist, geht sie davon aus,
dass sie als Komponistin noch schlechter wäre. Sie erinnert sich immer wieder daran, über
Mozart gelesen zu haben, der schon alles in ihrem Alter konnte und schließt daraus, das
Komponieren nie zu schaffen. Das Gefühl, dass die Musik viel zu wichtig ist, als dass sie –
eine kleine unscheinbare Person – diese „anpatzen“ und „schmutzig“ machen dürfe,
manifestiert sich. Sie glaubt, das Talent nicht zu haben. Mit 9 oder 10 Jahren beginnt sie zwar
5
Anne Grange, Kaija Saariaho: Esquisse d’un portrait (Kaija Saariaho: Ein Versuch eines Portraits), ins
Deutsche übersetzt von Gerda Gensberger, in: Kaija Saariaho/Amin Maalouf: L’amour de loin, Programmheft
der Salzburger Festspiele, Salzburg 2000, S. 12.
5
am Klavier selbst komponierte Lieder zu spielen – doch ihre Mutter ist äußerst irritiert ob des
nicht zarten, weichen („smoothly“) Klangs und fragt sie, warum sie denn nicht die Musik
spielt, die sie zu spielen habe? Also lernt sie mit 13 Jahren auch Gitarre, da sie dieses
Instrument (unbemerkt) in ihrem Zimmer spielen kann – aus dieser Zeit stammt ihr erstes
Stück Yellow and Nervous. Es ist sehr interessant, dass sie offenbar bereits in diesem (jungen)
Alter im Titel des Musikstücks den Charakter (sie ist immer auf der Suche nach dem
Charakter in der Musik) und die Farbe sucht und findet. Die Wahrnehmung der Farbe ist bei
Saariaho immer präsent. Mit der Zeit beginnt sie, sich selbst auszudrücken, indem sie
Gedichte und Lieder schreibt. Die Unsicherheit versuchte sie durch die scheinbare Sicherheit
in Form von äußerer Schönheit zu erhalten. Aber das äußere Selbstbewusstsein stärkt nicht
das innere. 1972, mit 18 Jahren, heiratet sie den Architekten Markku Saariaho, um weg von
ihren Eltern zu kommen. Obwohl sie anfangs denkt, es sei die wahre Liebe, findet sie sich
schon bald in einem anderen Gefängnis wieder. Die Ehe zerbricht nach kurzer Zeit, weitere
Liaisons mit einem Maler und einem berühmten finnischen Künstler folgen. Diese Zeit ist
Saariaho als besonders schwer und mit viel Schmerz belastet in der Erinnerung. Die
Studienzeit beginnt 1972: Sie studiert bis 1974 an der Hochschule für industrielle Kunst und
Design sowie Musikwissenschaft an der Universität in Helsinki. 1976 folgt der Entschluss,
die Sibelius Akademie zu besuchen – eine Entscheidung, die ihr Vater nicht goutiert und das
Leben seiner Tochter damit als ruiniert betrachtet.6
Doch Saariaho hält an diesem Weg fest: sie studiert von 1976 bis 1981 Komposition bei
Paavo Heininen an der Sibelius-Akademie und setzt ihre Ausbildung in Deutschland fort7.
Dort wird sie an der Freiburger Musikhochschule von Persönlichkeiten wie Brian
Ferneyhough und Klaus Huber, die zwar „knorrig“ und selbstbewusst ihren eigenen
Mythologien folgen, aber in ihren Schülern die selbstständigen Impulse nicht unterdrücken,
unterrichtet. Saariahos Haltung gegenüber ihrem Lehrer Ferneyhough ist auf ihre Weise
eindeutig: Obgleich seine Musik sie fasziniert, hat sie nie das Gefühl, ein Vorbild in ihm
entdeckt zu haben. Saariaho empfindet Widerstand gegen dessen zu komplizierten Aufbau,
Vertauschungen und versteckten Strukturen, die nur aus einer Analyse heraus nachvollziehbar
sind 8 . In Frankreich orientiert sie sich schließlich – bei aller Bewunderung für die
6
Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho:
Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 3-6.
7
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S.13.
8
Pierre Michel, „Musique pour les oreilles“. De „Korvat auki“ à „Château de l’âme“ („Musik zum Hören“.
Über Kaija Saariahos Werk. Von „Korvat auki“ zu Château de l’âme), ins Deutsche übersetzt von Gerda
Gensberger, in: Kaija Saariaho/Amin Maalouf: L’amour de loin, Programmheft der Salzburger Festspiele,
Salzburg 2000, S. 20.
6
Spektralisten Tristan Murail und Gérard Grisey, die Spuren in ihrem Oeuvre hinterlassen –
doch stärker an einem Künstler aus der Ferne, dem Literaten Amin Maalouf.9 1982 lässt sie
sich in Paris nieder und findet im IRCAM („Institut de Recherche et Coordination Acoustique
et Musique“), dem berühmten Zentrum für zeitgenössische Musik, den richtigen Ort, um sich
musikalischen Parametern zu widmen, die in der konventionellen tonalen Musik eher als
zweitrangig gelten. Die Klangfarbe, die sie in weiterer Folge zur französischen Spektralmusik
führt, zählt wohl zu den Idiomen in Saariahos musikalischen Werken. Ferner fasziniert
Saariaho stets die Spannung zwischen Klang und Geräusch – für sie ein Äquivalent zu
Konsonanz und Dissonanz.10
Im IRCAM arbeitet Saariaho mit den ihr zur Verfügung stehenden Computern, was
zunächst zur Folge hat, sich immer mehr von dem Einbezug der menschlichen Stimme zu
entfernen. Dennoch bemerkt sie, dass synthetische Klängen langweilig werden, wenn man sie
nicht beständig variiert – diese Entdeckung führt zurück zur intensiveren Beschäftigung mit
der menschlichen Stimme. Dieses dem Menschen von Natur aus gegebene ausgestattete
Instrumentarium zeichnet sich durch eine ständige, ununterbrochene Variation und
Modulation aus. Aus diesem Erkenntnisprozess heraus beginnt Saariaho, sich auf die
Partialtöne der Stimme, sowie einzelner Instrumente (beispielsweise analysiert sie den Ton
des Violoncellisten Anssi Karttunen oder der Flötistin Camilla Hoitenga) zu konzentrieren.
Aus dieser Forschungszeit ergeben sich für Saariaho drei wesentliche Punkte im Hinblick auf
die nachfolgenden Kompositionen:
(1) Das Vibrato der Stimme und der Druck eines Violoncello-Bogens wird zu den die
Struktur bestimmenden Faktoren.
(2) Der Computer wird mit Material versehen, das nicht unmittelbar gegeben ist und
deshalb auch nur das Resultat erbringt, das in seinen Möglichkeiten liegt.
(3) Die Live-Elektronik wird zu einem effizienten Mittel, die von Musiker hervorgerufenen
Töne wirkungsvoll zu verändern, um dadurch zu neuen Resultaten zu kommen.11
Saariaho nutzt zwar die Computer-Programme, aber sie weiß, die Technologie, die Maschine,
kann nur das zurückspielen, was man in sie hineingibt – die Maschine kann demnach nicht
9
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die
Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 16-17.
10
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 13.
11
Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei
den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 30-31.
7
komponieren, sie kann es nicht besser machen. Saariaho ist es immer besonders wichtig,
dass sie und nicht die Maschine komponiert. Sie selbst will komponieren und etwas
Komplexes und Wundervolles schaffen – das sollte nicht die Technik übernehmen. Harmonie,
Textur und Klangfarbe – diese Dinge sind im Herzen ihres musikalischen Denkens. Die
Herausforderung liegt in dieser intensiven Zeit der Beschäftigung und Analyse des Klanges
darin, genug Handwerkszeug und Erfahrung zu haben, um dieses Denken, diese Ideen, in
Musik und musikalische Notation zu übersetzen – ein schwerer kompositorischer Prozess, der
mit harter Arbeit verbunden ist. Als sie jedoch die zugrundeliegenden intellektuellen
Werkzeuge gefunden hat, um sich selbst für die Musik zu öffnen, empfindet sie sich reif,
diese Art von Musik (große Werke) zu schreiben. Einen besonderen Meilenstein stellt in
diesem Zusammenhang ihr erstes Werk für großes Orchester: ...à la fumée, ein
neunzehnminütiges Stück für Altflöte, Violoncello und Orchester dar. Es verbindet und
beinhaltet all ihre damaligen Ideen betreffend musikalische Form, Evolution und
Transformation. Dieses Werk markiert Ende und gleichzeitig Anfang einer neuen
Kompositionsperiode. Sie fühlt sich nun bereit, nicht mehr in linearen Transformationen zu
denken, sondern sucht nach dramatischen Lösungen und Situationen für ihre Musik. Wichtig
für diesen Prozess ist die intensive Zusammenarbeit mit Solisten. Sie komponiert für den
Violinisten Gidon Kremer und lernt in dieser Zeit Dawn Upshaw, jene Sopranistin, der sie
nicht nur einige Werke widmen sollte, sondern den Gesangspart der Figur der Clémence in
der Oper L’amour de loin speziell auf ihre Stimme (einer äußerst „biegsamen“ Stimme12) und
den ihr zugrundeliegenden charakteristischen Eigenschaften abstimmt, kennen. Damit ergibt
sich eine neue Herausforderung in der kompositorischen Weiterentwicklung: Musik für diese
großartigen Instrumentalistinnen und Sängerinnen zu schreiben. Die besondere Aufgabe
besteht nicht mehr darin, kompositorische Werkzeuge für sich selbst zu konstruieren, sondern
diese für andere als durchführbar zu kreieren. Alle Werke, die speziell für einen Solisten
geschrieben sind, haben etwas ganz Persönliches von diesem Musiker oder dieser Sängerin.
Diese Werke werden – manchmal mehr, manchmal weniger – Portraits dieser Menschen.13
Zeitgleich zu dieser für die Manifestation des Genres Oper in Saariahos Schaffen so
wichtige Entdeckung, etabliert sich die Ausnahmekomponistin in den musikkulturellen
Zentren Wien und Salzburg. Die Verleihung besonderer Auszeichnungen und Preise lässt
daraufhin nicht lange auf sich warten: 2003 gewinnt Saariaho den Grawemeyer Award of
12
Siehe dazu auch die Ausführungen in: Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum,
in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 3536.
13
Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho:
Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 11-12.
8
Music Composition 14 für ihre erste Oper L’amour de loin. Mit L’amour de loin ist das Gefühl
verknüpft, dass alles, was sie bisher geschrieben hat, in diesem Werk vorhanden ist. All das
Material, ihre Suche nach Harmonie, nach Textur – „alles von allem“ war darin. Damit
markiert diese Oper wieder einen wichtigen End- und Startpunkt in ihrer kompositorischen
Biografie. Dies zeigt sich in dem Flötenkonzert Aile du songe, jenem Werk, das nach der
ersten Oper entsteht: Es besticht durch Klarheit, formale Freiheit und neue Ausdruckskraft.
Saariaho ermöglicht der Solistin in diesem Solokonzert mehr Freiheit als in allen anderen
zuvor. Auch verzichtet sie auf elektronische Verfahren, wodurch sich für die Instrumentalistin
keine zeitlichen Einschränkungen mehr ergeben.15
2.2. Amin Maalouf
Amin Maalouf16 wird am 25. Februar 1949 in Beirut in Libanon in eine
Journalistenfamilie mit arabischem und gleichzeitig christlichem
Hintergrund hineingeboren. 17 Die andauernden Kämpfe in Beirut, die
damit verbundene permanente Angst und Perspektivenlosigkeit
zwingen ihn und seine damals schwangere Frau, die ruinierte Stadt zu
verlassen. 1976 fliehen beide nach Paris, einer Stadt, die ihn und seine
Familie freundlich aufnimmt. Die schriftstellerische Laufbahn Amin
Maaloufs beginnt schon 1971 in Libanon – als Journalist einer Beiruter Tageszeitung. Als er
nach Paris flüchtet, hat er sich in diesem Metier bereits etabliert und bekommt sogleich die
Möglichkeit, für das Magazin Jeune Afrique nicht nur Auslandsreisen in über sechzig Länder
zu unternehmen, sondern ebenfalls die Funktion des Chefredakteurs innezuhaben. Parallel zu
den journalistischen Schreibtätigkeiten nimmt das Bedürfnis, sich dem literarischen Schreiben
zu widmen, immer mehr zu. Seinen ersten Publikumserfolg erlangt er 1986 mit Léon
l’Africain (Leo Africanus), einem Reisebericht aus dem 16. Jahrhundert und es folgen weitere
Werke: Unter anderem die fiktiven Romanbiografien Samarcande (1988, Samarkand), Les
14
Siehe dazu auch die Onlinequelle http://grawemeyer.org/music/previous-winners/2003-kaija-saariaho.html
Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho:
Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 13.
16
Portrait Amin Maaloufs online verfügbar unter http://word.world-citizenship.org/wp-archive/778
17
Sämtliche die Biografie und Werke betreffende Inhalte in diesem Kapitel sind aus folgenden Quellen
entnommen: Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf
und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und
Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 298-299 sowie die Onlinequelle
http://aminmaalouf.narod.ru/.
15
9
jardins de lumiére (1991) und Le premier siècle après Béatrice (1992, Das erste Jahrhundert
nach Béatrice). Das Buch Le rocher de Tanios (Der Felsen des Tarnios), einer Chronik des
dörflichen Lebens in einem libanesischen Bergdorf des 19. Jahrhunderts, macht ihn 1993 zum
Goncourt-Preisträger. Mit Les Échelles du Levant (Die Häfen der Levante) erscheint 1996 ein
flammendes Plädoyer für die Verständigung zwischen Arabern und Juden im ausgehenden 20.
Jahrhundert. Zu erwähnen sind ferner die historischen Romane L’homme de Mésopotamie
(Der Mann aus Mesopotamien), Le retour du scarabée (Die Wiederkehr des Skarabäus)
sowie Le Périple de Baldassare (2000, Die Reisen des Herrn Baldassare). Die wichtigste
Publikation ist wohl Les Croisades vues par les Arabes (Der Heilige Krieg der Barbaren. Die
Kreuzzüge aus der Sicht der Araber), mit dem er sich bereits 1983 einen Namen als
Schriftsteller macht.
Das Phänomen der Interkulturalität macht Maalouf in seinen Romanen an wiederkehrenden
Themen und Motiven fest: So vereinen seine Figuren oftmals mehrere Identitäten in ihrer
Abstammung und lassen sich keiner kulturellen Gemeinschaft zuordnen. Sehr oft halten sie
sich im Exil auf (so wie es auch in der Oper L’amour de loin der Fall ist), sind in ihrer Heimat
Außenseiter.
Zahlreiche
Begegnungen
finden
zwischen
Personen
unterschiedlicher
Religionen oder Kulturen statt und meist werden auf den Handlungsschauplätzen
interkulturelle Konflikte ausgetragen. Ein weiteres Charakteristikum für die interkulturelle
Dimension ist jenes der Reise (dies ist zentral in der Saariahos Oper). Der Großteil der
Maaloufschen Protagonistinnen pendelt zwischen verschiedenen Welten (Orient und Okzident,
Nord- und Südufer des Mittelmeeres) hin und her. Die Fahrten zum jeweils anderen Ende
werden meist mit dem Schiff bestritten und diese Fahrten symbolisieren immer einen
besonderen Wendepunkt im Leben der Protagonistinnen.18 In allen Werken konzentriert sich
Maalouf darauf, zu zeigen, wie seine Protagonistinnen als Einzelpersonen ihre multiple
Identität integrieren oder sich in Gesprächen dem fremden Anderen nähern 19. Ferner haben sie
folgendes gemeinsam: Sie gehen auf zeitliche, geschichtliche, geografische und politische
Aspekte den Orient und Okzident betreffend ein. Die kulturelle und ökonomische Spaltung in
einen „orientalischen“ Osten und einen „europäischen“ Westen und das Gemisch aus Fakten
und Bildern sowie die Komplexität auf der einen Seite und die Einseitigkeit auf der anderen
Seite sind dabei von zentraler Bedeutung. Das Erforschen der Ursachen dieser
18
Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in
Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen,
hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 40-41.
19
Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in
Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen,
hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 48.
10
soziokulturellen Spaltungen, der Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung dieser Welten,
ihrer Unterschiede sowie Ähnlichkeiten inspiriert Amin Maalouf zu subtilen Bildern, die er in
seinen Romanen literarisch zu malen weiß. Die Gabe seiner Erzählkunst führt ihn 1985 zum
Entschluss, sich ausschließlich als freischaffender Autor dem Schreiben zu widmen. Maalouf
liegt es besonders am Herzen, einen Gegenpol zum Denken in Nationen und nationalen
Identitäten zu schaffen – Traditionen des Austauschs, der Urbanität, des flexiblen Umgangs
mit dem Fremden zählen für ihn zu entscheidenden offenen Verhaltensweisen.
Grenzziehungen, Druck, Intoleranz, mangelnder sozialer Raum für Selbstkritik und
konstruktiven Austausch führen zu menschlicher, sozialer und kultureller Destruktion.
Maalouf sieht gerade den Westen durch seine Überheblichkeit anderen gegenüber und die
starre Ausgrenzung ganz nach dem antiken Konzept „Wir und die Barbaren“ charakterisiert.
Dem entgegen wirken kann der Umgang mit vielen Sprachen, mit Menschen
unterschiedlicher Herkunft und den Religionen, wobei Maalouf immer wieder auf die
westliche Konstruktion des Orients Bezug nimmt:
Es ist offensichtlich, [...] dass die weltweite Zirkulation von Bildern und Ideen, die immer
schwindelerregendere Ausmaße annimmt und offenbar von niemandem mehr kontrolliert
werden kann, unsere Kenntnisse, Verhaltensweisen und Ansichten fundamental und in –
zivilisationsgeschichtlich betrachtet – sehr kurzer Zeit verändern wird. Ebenso grundlegend
wird sie wahrscheinlich unsere
Selbstwahrnehmung sowie
Zugehörigkeiten und unserer Identität verändern.
Wahrnehmung
unserer
20
Dass sich Amin Maaloufs Interesse, sich mit den Fragen der Identität des Menschen zu
beschäftigen, in all seinen Werken widerspiegelt, ist auf die Lebenserfahrungen und
Lebensumstände in seiner Kindheit und jungem Erwachsenenalter zurückzuführen: Soziale,
kulturelle, religiöse und politische Unterschiede waren Nährboden für mitunter gewaltsame
und grausame Konflikte innerhalb der Gesellschaft. Die Frage der Herkunft interessiert ihn
seit seiner Kindheit,
gleichzeitig hat sich aber das starke Empfinden herausgebildet, dass vermischte, viele
Faktoren einschließende Identitäten keinesfalls bloß Menschen wie mich betreffen, die in
exemplarisch „multikulturelle“ Situationen hineingeboren sind. Es betrifft letztlich jeden von
20
Zit. nach Christian Reder, online verfügbar unter http://aminmaalouf.narod.ru/
11
uns. Wer hat schon eine einfache, klar abgegrenzte Identität? Wird das behauptet, wird
zugleich vieles ausgegrenzt oder verdrängt.21
Maalouf betrachtet nicht nur ethnische und soziale Faktoren als ausschlaggebende Anlässe für
Konflikte, vielmehr bedarf es einer tiefergehenden – der Psychoanalyse analogen –
Betrachtungsweise. Das mangelnde Bewusstsein des Menschen über die Kategorienbildung
„normal“ und „nicht normal“ beschäftigt ihn. Er geht dazu in einem Interview von folgender
Frage aus und beantwortet sie aus einer psychologischen Sicht heraus:
Aus welchen Gründen werden die kulturelle Prägung einer Person, ihr Aussehen, jedes
Zeichen von Herkunft um so viel wichtiger genommen als andere Aspekte? Die Tendenz, sich
auf ein Merkmal zu konzentrieren, ist sicher sehr stark; es ist aber bloß mieses Benehmen,
wenn religiöse oder ethnische Zugehörigkeiten als das Dominante gesehen werden. Zugleich
ist klar, dass es schwer fällt, die eigentlichen Persönlichkeitselemente wahrzunehmen. Wir
schleppen unsere Prägungen mit, die jedem Beruf bestimmte Attribute zuweisen, jede Nation
irgendwie charakterisieren, die Geschichte, Kriege, Animositäten zum Teil der Traditionen
[deklarieren]. Langsam aber sollte klar werden, dass wir gerade dabei sind, die Phase, in der
Nationen die Weltbilder – und die Bilder von Fremden – geprägt haben, zu verlassen. Sie ist
genauso an Simplifizierungen gebunden wie die angesprochene Typisierung bestimmter
Berufe. Es ist einfacher, das angeblich Typische […], wie ein Markenzeichen
[wahrzunehmen]. Vieles oder etwas nur „halb“ zu sein, erleichtert Diskriminierungen. Wie die
jeweils anderen Teile geschätzt werden, hängt vom kulturellen Kontext ab.22
Maalouf wird nicht müde, Vermittler zwischen den Kulturen zu sein. In diesem
Zusammenhang muss nochmals auf sein Werk Der Heilige Krieg der Barbaren. Die
Kreuzzüge aus der Sicht der Araber, also jenem, mit dem er sich als Schriftsteller etabliert hat,
hingewiesen werden. Es verlangt deshalb große Beachtung, da es in einem interessanten
Spannungsfeld zur Oper L’amour de loin steht, handelt es sich doch um eine Chronik –
beginnend mit dem Jahr 492 nach arabischer Zeitrechnung – der blutigen Eroberung
Jerusalems durch die Kreuzritter aus der Erlebenswelt der arabischen Bewohner. Maalouf
verdeutlicht mit diesem Werk, dass die zweihundert Jahre andauernden Kreuzzüge ein
Trauma bei den Arabern und eine epochale Erschütterung in ihrem Selbstverständnis
21
Zitat aus dem Interview zwischen Christian Reder und Amin Maalouf im Juli 2001, online verfügbar unter
http://aminmaalouf.narod.ru/
22
Zitat aus dem Interview zwischen Christian Reder und Amin Maalouf im Juli 2001, online verfügbar unter
http://aminmaalouf.narod.ru/.
12
hinterlassen haben. Aus der Sicht der Araber waren die Kreuzzüge ein Beispiel für den
vielleicht ersten und entscheidenden Bruch der Beziehung zwischen Orient und Okzident und
können durchaus als Ursache für den jahrhundertelangen schwelenden, und immer wieder
aufkeimenden Konflikt zwischen dem Christentum und dem Islam betrachtet werden. Dass
dieser Bruch bis heute nachwirkt, zeigen nicht zuletzt die Ereignisse des 11. September 2001.
Maalouf wendet sich in seinem Roman vor allem dem Erleben der Araber zu, die die
Kreuzritter als Invasoren und Krieger und im eindringenden Abendländer, den Franzosen den
„Français“ sehen. Im heutigen Sprachgebrauch der Araber, so Maalouf, werden vor allem die
Franzosen als Menschen aus dem Okzident betrachtet. Damit unterscheidet sich deren Bild
des Okzident von unserem: Wir (die in der westlichen, europäischen Kultur Aufgewachsenen),
definieren den Okzident als den Westen (nicht ausschließlich Frankreich), während die
Araber mit dem Begriff Okzident meist die französischen Eindringlinge verbinden. Umso
verständlicher ist es, dass Maalouf sich in dem Libretto zur Oper L’amour de loin gerade mit
der die „Français“ repräsentierenden Welt, also dem Pilger, der Gräfin von Tripolis sowie
dem Kreuzritter und Troubadour Jaufré Rudel zuwendet. Dahinter liegt Maaloufs
Unermüdlichkeit, sich für die Toleranz zwischen den Kulturen einzusetzen. Er fungiert mit
seinen literarischen Werken, und nicht zuletzt mit der Oper L’amour de loin als (Ver)Mittler
zwischen Okzident und Orient und appelliert damit – und nicht zuletzt aufgrund seiner
persönlichen Vergangenheit – an die Bereitschaft zur Koexistenz mehrerer Identitäten.
Andrea Oberhuber sieht, betrachtet man die persönliche und schriftstellerische Biografie
Maaloufs, vier Anknüpfungspunkte für die Wiederaufnahme und Neubearbeitung des Stoffes
von L’amour de loin: Erstens bietet der Libanon als zweitwichtigster Schauplatz des
Geschehens einen Projektionsraum der Rudelschen Fernliebe. Zweitens eröffnet sich durch
die Opposition von Orient und Okzident ein Spannungsfeld zweier Kulturen und Denkweisen.
Drittens gibt es psycho-biographische Parallelen zwischen dem Schriftsteller, Historiker und
Essayisten des 20. Jahrhunderts und dem mittelalterlichen Dichter, der auf der Suche nach
dem „Glück auf Erden“ sein Land verlässt. Viertens birgt die Geschichte ein zeitlichkulturelles Differenzpotential, das Rolle und Status der Frau in zwei unterschiedlichen
Gesellschaftssystemen über eine Zeitspanne von beinahe acht Jahrhunderten hinweg in sich
birgt.23
23
Andrea Oberhuber, „Ja mais d’amor no-m jauziray/Si no-m jau d’est’amor de lonh“. Höfisches Liebeskonzept
und Liebesdiskurs am Beispiel von Jaufré Rudel und seiner Reaktualisierung in Amin Maaloufs Libretto zu
L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter,
Innsbruck 2003, S. 58.
13
Dass Maalouf mit seiner persönlichen Geschichte und seinem Interesse, die Geschichte des
Orients und Okzidents, die verschiedenen Kulturen und deren Begegnungen literarisch zu
bearbeiten, wie geschaffen für das Schreiben des Librettos ist, wird (wenn nicht bereits an
dieser Stelle) auch in den Besprechungen einzelner Szenen (siehe Kapitel 8) deutlich.
2.3. Heimat – Exil: Eine starke Verbindung zwischen Saariaho und
Maalouf
Wurzeln sind dazu da, dass Menschen, egal wo sie sich befinden, sich im Innersten immer
verbunden fühlen: Verbunden mit den eigenen Vorfahren, verbunden mit der Natur,
verbunden mit der Menschheit – transzendent betrachtet – verbunden mit dem Kosmos.
Maalouf hat eine besondere, schwierige – oder vielleicht besser ausgedrückt – ambivalente
Beziehung zu seinen Wurzeln. In seiner Familienchronik erklärt Maalouf, warum er Wurzeln
nicht mag. Ich erlaube mir, in folgendem Zitat in eckigen Klammern nicht nur meine Sicht
der
Wurzeln
einzufügen,
sondern
meine,
damit
ebenso
Saariahos
Zugang
zur ,Verwurzelung‘ und vermeintlicher ,Wurzellosigkeit‘ zu vermitteln:
Wurzeln graben sich in die Erde, ziehen sich durch den Morast, entfalten sich in der
Finsternis; sie halten den Baum von Anfang an fest und versorgen ihn auf Kosten einer
Erpressung [Symbiose]: ‹Wenn du dich losreißt, wirst du sterben!› Der Baum muss sich fügen,
er braucht seine Wurzeln; der Mensch nicht [auch!]. Wir atmen Licht, wir strecken uns nach
dem Himmel, und wenn wir in die Erde sinken, verwesen wir. Der Saft der Heimaterde steigt
[durch unsere Nahrung] nicht durch unsere Füße nach oben, unsere Füße dienen uns einzig
zum Gehen. Für uns zählen die Wege [Die Wege sind wie die Äste und Blätter des Baumes,
sie eröffnen uns neue Sichtweisen, neue Perspektiven, eine ,andere‘ Luft zum Atmen]. […]
Sie geben uns Hoffnung, sie tragen uns, sie bringen uns voran, schließlich verlassen wir sie.
Wir sterben also, wie wir geboren wurden, am Rande eines Weges, den wir nicht ausgesucht
haben.24
Maaloufs Sicht der Wurzeln, des Ursprungs des einzelnen Menschen ist angesichts der Werke,
die er schreibt, in denen es vordergründig um das Finden seiner eigenen Identität geht,
eigentlich verwunderlich, obwohl nicht alle seine Figuren (aber die meisten) in deren
24
Zit. nach Wolfgang Sandner, Die Kraft der Litanei. Über Kaija Saariahos erste Oper „L’amour de loin“, in:
Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 49. Dies ist
der Beginn der Familienchronik Amin Maaloufs, in der er erklärt, warum „er Wurzeln nicht mag“. Im
französischen Original mit dem Titel Origines und auf Deutsch Die Spur des Patriarchen.
14
Geschichte eine friedvolle und befriedigende Auflösung ihrer Suche erfahren. Betrachtet man
das oben angeführte Zitat Maaloufs als eine sehr negative Sicht der menschlichen und der
eigenen Wurzeln, könnte man davon ausgehen, dass er offenbar für sich noch nicht jene
Hürde gemeistert hat, die so viele Figuren in seinen Romanen zu beschreiten fähig gewesen
sind. Auch Maaloufs Biografie und das, was er in diversen Interviews über sich und seine
Werke sagt, steht in Widerspruch zu diesem ,Baum-Wurzel-Bild‘.
Das Phänomen, dass einem manches erst durch die Trennung vom Ursprung bewusst wird,
ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert bekannt. So haben Goethe und Herder, als sie in Italien
weilten, nicht nur über das Land der Gastgeber, sondern auch über ihre nördliche Heimat
räsoniert. Auch Ende des 19. Jahrhunderts entdecken finnische Intellektuelle und Künstler in
Paris und Berlin die Idee „Finnland“ neu. 25 Die eigene Identität zu spüren wird durch die
Melancholie des Heimwehs erleichtert.26 Saariaho, die in der ultramodernistischen Mitte von
Paris lebt, nimmt, wenn sie über ihre Heimat Finnland spricht, vor allem auf klangliche,
farbliche und auditive Besonderheiten, die sich aufgrund der klimatischen Besonderheiten
zeigen, Bezug. So spricht sie über den „Klang“ Finnlands:
Ich lebte bis zum Alter von 26 Jahren in Finnland. Und obwohl ich seit zwanzig Jahren in
Paris wohne, bin ich eine Finnin. Wenn ich an Finnland denke, erinnere ich mich an
wunderbare Veränderungen des Lichts. Alles ist markant. Der Winter ist unglaublich dunkel.
Der Sommer ist berauschend. Die Natur schafft sich ihre eigene Akustik. Insbesondere im
Frühjahr und Sommer. Ich bewundere diesen magischen Augenblick, wenn im Wald, nach
dem Regen, sich die Vögel durch die feuchten Blätter bewegen und singen. Oder wenn es sehr
kalt ist, wenn der Schnee wie feiner weicher Puder ist, es verursacht eine ganz besondere Stille.
Und dann gibt es die Akustik des feuchten, schweren Schnees: Alles ist tönende Atmosphäre
und hängt eng mit speziellen klimatischen Bedingungen zusammen.27
Je länger Saariaho in Frankreich verweilt, desto mehr fühle sie sich als Finnin. Damit erlebt
Saariaho wohl selbst die prekäre Integration im Fremden – dennoch meistert Saariaho jenen
Weg, den Maalouf offenbar noch vor sich hat: Sie erkennt ihre eigenen Wurzeln und in
diesem Erkennen ist große Weiterentwicklung möglich. Dennoch stellt gerade diese
Fokussierung auf die Identitätssuche, Wurzelsuche, auf das (Er)Leben im Exil, das Leben in
25
Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von
Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 21.
26
Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von
Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 22.
27
Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von
Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 22.
15
einem fremden Land – auf den ersten Blick also fern von den eigenen Wurzeln zu sein – die
Gemeinsamkeit zwischen Saariaho und Maalouf dar.
Maalouf wird zu ihrem bevorzugten literarischen Mentor und Librettisten ihrer drei Opern
L’amour de loin, Adriana Mater und Émilie. Zwei Menschen aus entfernten Weltgegenden –
Saariaho aus dem Okzident auf der einen Seite und Maalouf aus dem Orient auf der anderen
Seite – haben sich in Frankreich, ihrer fremden Heimat, gefunden.28
Vielleicht liegt gerade in dieser gemeinsamen Erfahrung die Kraft, dass Saariaho und
Maalouf in gewisser Weise die gleiche Sprache sprechen und diese verstehen: Maalouf drückt
sie in Form literarischer Texte und Saariaho in Form des Klanges aus.
28
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die
Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 12.
16
3. Rezeptionsgeschichte
Saariaho setzt Werke in die Welt, die gleichsam aus sich heraus leuchten und durch ihr Dasein
ihre Umgebung bereichern und verändern, die Rezeption herausfordern. 29
Saariaho gewinnt vom „Jahrtausendende an die große Opernform“. Die Wendung in ihrem
Schaffen bedeutet „Zuwachs an Resonanz, zumal die großen Opernereignisse in Salzburg und
Paris nicht öffentlichkeitswirksamer hätten in Szene gesetzt werden können.“ 30 Mitte der
1990er Jahre, als sich Saariaho in Paris im IRCAM der Analyse und Bearbeitung von Klang
widmet, beginnt sie sich in der musikkulturellen Szene in Wien und Salzburg als Komponistin
zu positionieren. Die Entscheidung, eine Oper zu schreiben, wird vor allem durch die
Möglichkeit der künstlerischen Begegnung gestärkt. Der Entschluss, die Rolle der Clémence
mit Dawn Upshaw zu besetzen, ist einer der ersten Meilensteine in der Entstehung der Oper.
Für die Sopranistin hat Saariaho zu dieser Zeit bereits zwei Werke geschrieben: Château de
l’âme, am 9. August 1996 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, und Lonh, am 20.
Oktober 1996 beim Festival Wien modern uraufgeführt – der Boden für das OpernGroßprojekt war somit bereitet. Gerald Finley (Jaufré Rudel) und Monica Groop (Pilger)
kommen hinzu und bereichern Saariahos Kompositionsprozess mit ihren Ideen.31
Am 15. August 2000 feiert Saariahos erste Oper bei den Salzburger Festspielen in einer
Koproduktion mit dem Théâtre du Châtelet, Paris und der Santa Fe Opera unter der
musikalischen Leitung von Kent Nagano Premiere. Regie führt Peter Sellars32, ein im Laufe
der Zeit von Saariaho sehr geschätzter US-amerikanischer Theaterregisseur. Der
mittelalterliche Stoff in modernem Gewand bringt einen Großteil der „Kritik zum Schwärmen
und das Publikum zum Träumen“33. Die Aufführungen in Salzburg (15., 19., 22., 27. und 30.
August) sollten nicht die einzigen gewesen sein: L’amour de loin spielt im Stadttheater Bern
(Premiere 13.3.2001), im Théâtre du Châtelet (16.11.-2.12.2001) und 2002 im Opernhaus von
Santa Fe. Eine konzertante Aufführung findet im Frühjahr 2006 in Berlin statt, ferner in der
English National Oper (2009, hier allerdings in einer absolut konträren Inszenierung).
29
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die
Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 16.
30
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die
Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 17.
31
Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 12.
32
Weitere Informationen zur Zusammenarbeit zwischen Saariaho und Sellars siehe Kapitel 6.
33
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 291.
17
Zur Uraufführung in Salzburg: Sellars und der Bühnenbildner George Tyspin lassen in dem
kolosseumhaften Theater der Felsenreitschule die beiden durch ein Wasser (das Meer)
voneinander getrennten Pole des Okzidents und Orients entstehen. Diese beiden Welten
werden durch zwei hohe gläserne Türme dargestellt: auf der einen Seite (im „Westen“ – als
zur linken Hand des Publikums, dessen Blick ,nördlich‘ ausgerichtet ist) steigt Jaufré Rudel
mit einem Lift auf und ab, stets mit Blick Richtung Meer, auf die andere Seite, dem Osten
zugewandt. Dort, im fernen Orient, auf der anderen Seite des großes Wassers, befindet sich
der Turm 34 der Gräfin Clémence, die, auf der sich um die eigene Achse drehende
Wendeltreppe stehend, gefangen wirkt in dieser ihr so fremden Welt. Dazwischen, in diesem
zwar „leeren“ aber nicht unwesentlichen Raum, auf dem Wasser, stets der Pilger in einem
gläsernen Boot unterwegs und vor den Türmen anhaltend, um seine Botschaften
weiterzutragen und zu erhalten.
Martin Anderson von der Cambridge University
Press beschreibt die erste Oper Saariahos als „a
gigantic metaphor, a comment on the nature of
love, selfdeception, inspiration and illusion,
human relationsships – like all important works
of art, it can`t be pinned down to a single
meaning. Instead, it resonates in your mind long
after its two hours are up.“35
Gérard Mortier, damaliger Intendant
Salzburger
Festspiele,
erklärt
in
36
der
seinem
Einführungsvortrag, dass, obgleich die Oper
altmodisch und naiv wirken mag, in unserer Zeit,
in der Sexualität oft ohne alle Tabus in einer
krudesten Weise dargestellt wird, das Bild der
reinen Liebe wieder evoziert werden sollte.37
Zum außergewöhnlichen Klang Saariahos Musik äußerten sich die meisten Presse- und
Kritikerstimmen positiv – die „innere Spannung“ und die Ähnlichkeit mit französischen
34
Das folgende Bild des Turmes, in dem Clémence steht, während sich der Pilger und der sterbende Jaufré
Rudel auf dem Boot befinden, ist online verfügbar unter http://www.salzburgerfestspiele.at/geschichte/2000
35
Martin Anderson, London, Barbican: Saariaho’s L’amour de loin, Cambridge University Press, S. 43, online
verfügbar unter http://www.jstor.org/stable/3878578.
36
Gérard Mortier war von 1991-2001 Intendant der Salzburger Festspiele.
37
Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei
den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 36.
18
Klängen Debussys werden oftmals erwähnt: Für Maria Deppermann bezieht die Musik „ihre
innere Spannung aus der musikalischen Meditation, der sinnlichen Sensibilität des Klanges,
der in immer neuen Teppichen ausgebreitet wird.“38 Und zum Klang:
Manche Klangmosaike atmen [Debussys] Sensibilität, manche Klangflächenkomposition mag
sogar an Wagners Rheingold-Töne erinnern, die auch Debussy inspirierten. Die differenzierten
Klangfarben sind immer wieder versetzt mit Lebensgeräuschen, selbst mit dem Flüstern von
Engeln, die sich Nachrichten zutuscheln, die an John Cage erinnern. Auch orientalische Musik
klingt an. Doch nie so kraftvoll, dass sie [...] den Gegensatz und die Verbindungslinien von
Orient und Okzident nachhaltig beim Hören symbolisieren.39
Wolfgang Sandner stellt den Klang der Oper in Bezug zum Meer und zum Orient: Für ihn
kommen und gehen die Klänge „wie die Wellen des Meeres, Bruitismen fügen sich in den
diatonischen Organismus ein. Tonkombinationen und Klangverbindungen wuchern wie in
einem kompositorischen Garten Eden.“ 40 Er bezieht also auch den Garten Eden 41 – das
Paradies – in seine Beschreibung der Musik Saariahos ein.
Mitunter lassen sich kritische Stimmen vor allem in Bezug auf die von Saariaho oftmals
erwähnte (scheinbare) Unkomplexität bzw. leichte Erkennbarkeit ihrer Musik finden. So
meint Tilman Seebaß, dass, obgleich Saariaho Gespür dafür hat, was hörbar ist, ihre Musik
nicht „einfach“, „unvermittelt“ erlebbar ist, sondern eine langwierige Annäherung voraus
setzt.42
Besonderen Anklang findet die Stimme der Sopranistin in den Pressestimmen – dies
bestätigt Saariahos Weg, die Musik Clémences speziell auf die Eigenheit der Stimme
Upshaws und ihrer technischen und musikalischen Qualitäten und Fähigkeiten abzustimmen.
Die Sopranistin „verleiht mit ihrer kristallenen Stimme und entrückten Erscheinung auf der
Bühne der tripolitanischen Gräfin jene archetypische Aura des Weiblichen, die Fernstenliebe
weckt“ 43, so Deppermann.
38
Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 25.
39
Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 25.
40
Wolfgang Sandner, Die Kraft der Litanei. Über Kaija Saariahos erste Oper „L’amour de loin“, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 53.
41
Ausführliches zum Garten Eden folgt in Kapitel 6.2. sowie 8.12.
42
Tilman Seebaß, Oper heute – für wen und wozu? Vor der Folie einer anregenden Vergangenheit, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 77.
43
Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 23.
19
Theo Hirsbrunner beschreibt Upshaw als „singuläre Sängerpersönlichkeit“ mit folgenden
Qualitäten:
Dawn Upshaw ist ein Sopran, den viele Hörer als kalt empfinden könnten, wäre da nicht eine
zauberische Helligkeit im sparsam eingesetzten Vibrato der äußerst biegsamen Stimme. Sie
erzeugt den Eindruck einer träumerisch verspielten Kindfrau, einer Melusine oder Mélisande,
wie sie Debussys Oper adäquat wäre. Das sich einer großen, pathetischen Emotion ständig
Entziehende ist nicht ohne Dämonie; sie wirkt nie offen böse, könnte einem heftig
Besitzansprüche Erhebenden aber dennoch gefährlich werden.44
Für Saariaho gibt es eine Differenzierung innerhalb der Pressekritiken. In einem Interview
nimmt sie zu diesem Thema Stellung: Zwischen dem Erfolg ihrer drei Opern in Frankreich
und den französischen Kritiken gibt es eine große Diskrepanz. Auf der einen Seite waren die
drei Opern L’amour de loin, Adriana Mater und Émilie in Frankreich sehr erfolgreich, auf der
anderen Seite hatte sie nie so dermaßen schlechte Kritiken, wie jene von den französischen
Kritikern eingefahren. Für Saariaho ein sehr „interessanter Widerspruch“ („interesting
contradiction“), da sie grundsätzlich in Frankreich sehr geschätzt würde, und sie auch viel
Wärme und Respekt in der Musikwelt erfahre. Aber manche französischen Kritiker haben
Probleme mit ihren Opern: Sie wollen sehr intellektuelle und moderne Opern. Ihre drei Opern
handeln um große Themen wie Liebe, Krieg und Existenz. Es sei wichtig, so Saariaho, dass
die Komponistin in der Oper etwas schreibt, das alle Menschen berührt. Alle ihre Opern
transportieren persönliche, private Musik, mit der sie mit der inneren Welt des Zuhörers
kommunizieren möchte, so, als ob die Musik ihre eigene innere Vorstellung („inner
imagination“) ausdrücken würde.45
Dass Saariahos erste Oper grundsätzlich von großem Erfolg gekrönt ist, ist unter anderem
auch daran zu erkennen, dass sie in den darauffolgenden dreizehn Jahren nicht nur zahlreiche
internationale Preise bekam, sondern zwei weitere Opern in Auftrag gegeben wurden.
Saariahos
Kompositionsstil,
ihre
Musik
ist
ohne
Frage
für
den
klassischen
Opernbesucher ,gewöhnungsbedürftig‘, oder besser gesagt, auf den ersten Blick bzw.
Höreindruck ,ungewohnt’ und vielleicht sogar ,befremdlich‘. Saariahos Musik braucht jedoch
keine unzähligen Stunden des Einhörens, geschweige denn vertiefende musikalische und
musiktheoretische Analysen – nein – die Stärke in Saariahos Musik liegt vor allem in ihrer
44
Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei
den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 35.
45
Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho:
Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 13-14.
20
emotionalen Qualität: Ihre Musik transportiert etwas, das unter Umständen nicht sofort
begriffen, einordbar oder verstehbar, wie in den kritischen Stimmen angemerkt, jedoch
fühlbar ist – und Gefühle und Stimmungen haben den Vorteil, dass sie auch ohne
(musikalischen) Verstand, ohne Ratio wahrnehmbar sind.
21
4. Die historische Figur des Troubadours und Kreuzritters Jaufré Rudel:
Sein Einfluss auf die Lyrik und der Zusammenhang zu Opern des 18. - 21.
Jahrhunderts
Die Geschichte des Troubadours Jaufré Rudel 46, die auf seiner Biografie, der sogenannten
vida, seinen Gedichten, sowie anderen historischen Quellen beruht, gab Saariaho den nötigen
Stoff in die Hand, um eine ganze Oper über Liebe und Tod zu kreieren.47
4.1. Biografie
Über das Leben und die Person Jaufré Rudels, dem Fürst von Blaya48 (princeps de Blaia), der
als Troubadour altokzitanischer Sprache in die Literaturgeschichte einging, ist wenig bekannt.
Seine Lebensdaten werden in diversen Quellen unterschiedlich angegeben, jedoch wird
vermutet, dass er von 1120 bis 1148 lebte.
Jaufré Rudel zählt zu den bedeutendsten
Troubadouren – er ist einer der ersten, dessen Musik überliefert ist. Durch sein Lied Lanqand
li jorn son lonc en mai49 (Wenn die Tage lang sind im Mai) mit seinem Refrain „amor de
loing“ (Liebe aus der Ferne), dessen Melodie die meist aufgeführte und aufgenommene
mittelalterliche Melodie war, und durch seine abenteuerliche Biografie wurde er zu einem der
gefeiertsten Repräsentanten höfischer Liebe.50
Jaufré Rudel ist ein authentischer Prinz – seine Vorfahren, die Herren von Blaya, führen
ihren Titel schon in Dokumenten des 11. Jahrhunderts. Vermutlich hat er sich 1148 seinem
Onkel und Lehnsherrn, den Grafen Guilhem VI. Taillafer von Angoulême, angeschlossen und
ihn auf dem Zweiten Kreuzzug (1147-1149) begleitet. Die Spuren von Jaufré Rudel verlieren
sich im April 1148 im nur 200 km von Tripolis entfernten Akkon, einer zu Zeiten der
Kreuzzüge (11.-13. Jahrhundert) wichtigsten und schwer umkämpften Hafenstadt in Israel.
Über den Beweggrund, sich den Kreuzrittern anzuschließen, herrschen unterschiedliche
46
Der Name des Troubadours Jaufré Rudel wird in den Quellen mit Akzent („Jaufré Rudel“) oder ohne („Jaufre
Rudel“) geschrieben. Die Autorin hat sich für die einheitliche Schreibweise „Jaufré Rudel“ entschieden.
47
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 42-43.
48
In diversen Quellen wird diese Stadt in verschiedenen Varianten geschrieben: „Blaya“, „Blaye“ oder „Blaia“.
Die Autorin hat sich für die einheitliche Schreibweise „Blaya“ entschieden.
49
In der Literatur herrscht eine Inkonsistenz in Bezug auf die Schreibweise „Lanqand“ vor. Die französische
Übersetzung „Lanquan“ wird von der Autorin nicht übernommen, sondern im Sinne einer einheitlichen
Schreibweise ausschließlich das originäre altokzitanische „Lanqand“ angeführt.
50
John Haines, Art. Jaufre Rudel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der
Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a.
2005, Personenteil Bd. 9, Sp. 963-964.
22
Auffassungen. Unter anderem wird vermutet, dass ihn die Liebe zur Gräfin von Tripolis zur
Kreuzfahrt bewegt habe. Tripolis ist zu jener Zeit eine von den Grafen von Toulouse im
Libanon gegründete christliche Grafschaft. Im fraglichen Zeitraum zwischen 1127 und 1152
lebt die Gräfin Odiarne mit ihrem Ehemann Raimon II. und ihrer Tochter, der Gräfin
Melisenda. Der Tod in den Armen einer der beiden Gräfinnen (Odiarne oder Melisenda) ist
historisch nicht belegt, allerdings auch nie widerlegt worden. Das tragische und mitunter
herzzerreißende Ende des Troubadours in den Armen seiner Geliebten wird in einer
Handschrift des 14. Jahrhunderts in einer Miniatur51 illustriert.52 Dass Rudel an dem Zweiten
Kreuzzug (1147-1149) teilgenommen haben soll, wird im Gedicht des aus der Gascogne
stammenden Jongleurs Marcabu (1129-1150) bestätigt, das dieser seinem Dichterfreund im
selben Jahr mit der Widmung „A’N Jaufre Rudel oltra mar“ („An Jaufré Rudel jenseits des
Meeres“) ins Heilige Land nachgeschickt haben soll. Das heroenhafte Abenteuer sichert
Rudel im kulturellen Gedächtnis einen doppelten Platz: einerseits stirbt er als „Märtyrer aus
Liebe“ und andrerseits als der für Gott stets bereit zu sterbende Kreuzritter.53
4.2. Fin’amor – das Liebeskonzept der Troubadours
Im 12. Jahrhundert entsteht in Südfrankreich eine Singkunst, mit der die Gefühle der Liebe
und Zuneigung zu einer Frau in Wort und „klingendem Ton“ auszudrücken versucht wurde.
Mit Wilhelm IX. aus Aquitanien (1086-1127) wird die Kunstepoche des Minnegesangs
eingeleitet. Mit Jaufré Rudels berühmtem Liebeslied an die ferne Geliebte beginnt sich die
neue Liedkunst durchzusetzen.
54
Sein Werk macht auch die Komplexität in der
soziokulturellen Ordnung des Mittelalters bewusst: Für Martin Diz Vidal stellt seine Person
und sein Liebeslied einen Beweis dafür dar, dass der Minnesang durchaus kein Phänomen des
mündlichen Vortrags von Straßenmusikern und Gauklern ist, die die unteren sozialen
Schichten zu unterhalten pflegen. Auch der Einfluss der klerikalen Obrigkeit in so manch
profanem Liebeslied – die Lobpreisung der Heiligen Jungfrau Maria sollte die größte Priorität
im Liebeslied sein – wird überschätzt. Gerade der provenzalische Minnegesang (im
51
Siehe Abbildung 1, Kapitel 4.2.
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 292.
53
Andrea Oberhuber, „Ja mais d’amor no-m jauziray/Si no-m jau d’est’amor de lonh“. Höfisches Liebeskonzept
und Liebesdiskurs am Beispiel von Jaufré Rudel und seiner Reaktualisierung in Amin Maaloufs Libretto zu
L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter,
Innsbruck 2003, S. 57.
54
Friedrich Gennrich, Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistergesang, in: Das Musikwerk. Eine
Beispielsammlung zur Musikgeschichte, hg. von Karl Gustav Fellerer, Neuausgabe, Band 9, Laaber 2010, S. 5.
52
23
geographischen Wirkungsbereich Jaufré Rudels) sowie der iberische Minnegesang nehmen
zwischen 1150 und 1300 eine entscheidende gesellschaftliche Bedeutung ein: Die hier
auserwählten Vertreter der Singkunst sind hochrangige Fürsten und ihre Lieder übermitteln
oppositionelle Tendenzen zur kirchlichen Ordnung, beispielsweise den Umgang mit der Frau
betreffend. Gerade die Liebeslieder der Minnesänger zeigen einen Mann, der gerade nicht die
typisch dem Mann zugesprochenen Charaktere, wie Kraft, Ausdauer, Härte und Ratio
aufweist. Neue historische und literaturwissenschaftliche Studien belegen, dass vor allem
unter Malern, Musikern und Literaten des Mittelalters die Vorstellung zweier strikt
voneinander getrennter Geschlechter nicht existiert. Es wird eher davon ausgegangen, dass
beide Geschlechter sowohl männliche als auch weibliche Merkmale in sich tragen. In
manchem befindet sich die Frau gegenüber dem Mann sogar im Vorteil: Jegliche Art
körperlicher Ausscheidung (vor allem über das Blut) stellte in der mittelalterlichen
Vorstellung eine Form der Seelenreinigung dar. Somit wird den Männern empfohlen, sich
Blutegel auf die Knöchel zu setzen, um diesen Reinigungsprozess regelmäßig durchführen zu
können. Nicht zu vergessen ist auch die Tatsache, dass es in Südfrankreich eine Reihe
weiblicher Troubadours, genannt Trobairitz, gegeben hat.55
Die Besonderheit im Liebeslied Lanqand li jorn56 liegt vor allem an seinem Refrain „amor
de loing“ – der Liebe aus der Ferne. Diese „amor de loing“ ist eine Unterform der fin’amor,
des komplexen Liebeskonzepts der Troubadours. In der gesamten Troubadourlyrik gibt es
einen kleinen gemeinsamen Nenner: Die beständige Spannung zwischen Euphorie und
Disphorie ist durchwegs präsent. Durch diese permanente Aufrechterhaltung dieser Spannung
wird der Liebesdiskurs überhaupt erst ermöglicht. Das Liebeslied ist innerhalb der
Troubadourtradition das genuinste Ausdrucksmittel dieses Liebeskonzepts. Die innere
Spannung wird in der fin’amor aufrechterhalten vom Hindernis, das die Liebenden trennt bzw.
gibt es immer einen Umstand, der die Liebenden an der Erfüllung ihrer Wünsche hindert. Die
geografische Distanz kann nur eines der vielen Hindernisse sein, es können auch
gesellschaftspolitische und standesgemäße Normen (zum Beispiel Heirat zwischen Personen
unterschiedlicher Gesellschaftsschichten oder sich bereits im Bündnis der Ehe Befindlichen
55
Martin Diz Vidal, Liebe und Leid der Minnesänger: Figurationen von Männlichkeit bei Jaufré Rudel und
Alfonso el Sabio, in: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, hg. von Judith
Klinger und Susanne Thiemann, Potsdam 2006, S. 235-241.
56
Zur genauen Analyse dieses bekanntesten Werkes Jaufré Rudels siehe Kapitel 4.4.
24
usw.) die Ursache für die Verunmöglichung der Zusammenkunft sein. Gerade diese
Nichterfüllung bewegt den Troubadour zu seiner lyrischen Fixierung.57
Das Konzept der höfischen Liebe impliziert eine rigide Ethik mit den Grundpfeilern
gesellschaftlicher Anerkennung, persönlichem Wert und Tüchtigkeit, vornehmem Benehmen
und sprachlicher Gewandtheit. Die Liebe der mit einer überirdischen Macht ausgestatteten
Dame zu erwerben, gilt als höchstes Gut in der höfischen Werteskala. Der Angebeteten mit
Worten und Taten geduldig zu dienen und damit die Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu
erfüllen, bedeutet, das höchste moralische Qualitätskriterium erfüllt zu haben. Dem jungen
Mann bietet sich mit der Aufrechterhaltung der Spannung durch Entsagen des Liebesgenusses
und dem von Seiten der Dame wohldosiertem Wechselspiel von Zugeständnissen (merce,
Gnade) und Rückzug (orguelh, Hochmut) die Möglichkeit, seinen Geist und Körper, sein
Begehren beherrschen zu lernen.58
In Jaufré Rudels Lied, gesungen im 1. Akt der Oper L’amour de loin, hören wir von den
Tugenden der fremden Dame („Schön ohne den Hochmut der Schönheit, vornehm ohne den
Hochmut des vornehmen Standes, fromm ohne den Hochmut der Frömmigkeit“). Das größte
Hindernis, die besungene Dame zu treffen, liegt (anfangs) in der geografischen Distanz. Wie
wir später sehen werden, wird das „psychosomatische“ Leiden des Prinzen größer, je geringer
die Distanz zu ihr wird.59
Für Pierre Bec ist eine Überhöhung der fin’amor und der amor de loing in das Mythische
durch seine Transzendenz 60 gegeben: Wie bereits erwähnt, ist zu bezweifeln, dass Jaufré
Rudel in den Armen der Gräfin Tripolis gestorben ist. Ebenfalls ist die Identität der Gräfin
Tripolis unklar: Manche Forscher meinen, die Ehefrau Raimund’s II. von Tripolis darin zu
erkennen, andere Kritiker wiederum sehen in Jaufrés „amor de loing“ die Jungfrau Maria oder
57
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 293-294.
58
Andrea Oberhuber, „Ja mais d’amor no-m jauziray/Si no-m jau d’est’amor de lonh“. Höfisches Liebeskonzept
und Liebesdiskurs am Beispiel von Jaufré Rudel und seiner Reaktualisierung in Amin Maaloufs Libretto zu
L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter,
Innsbruck 2003, S. 60-63.
59
Genaueres dazu siehe diverse Unterkapitel des Kapitels 8.
60
Siehe französische Zitate von Pierre Bec in: Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines
schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten
des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 294.
25
Gott.61 Auf jeden Fall steht die geliebte Frau als Chiffre für ein dem Menschen unerreichbares
als erfüllte Liebe gedachtes irdisches Glück.62
4.3. Die Legende des Troubadours Jaufré Rudel
Berühmt macht den Troubadour Jaufré Rudel außerdem der mittelalterliche Bericht über seine
Liebe zur Gräfin von Tripolis, für die er, wie im Kapitel 4.1. beschrieben, die Kreuzfahrt
überhaupt erst unternommen haben soll. Aus seiner vida, die ein anonymer mittelalterlicher
Biograf nach seinem Tod verfasst hat, ist folgende Legende 63 , die als Grundlage für das
Libretto zu L’amour de loin dient, überliefert:
Jaufre Rudel von Blaja war ein sehr edler Mann, ein Prinz von Blaja. Und er verliebte sich in
die Gräfin von Tripolis, ohne (sie) zu sehn, wegen des Guten, das er die Pilger von ihr sagen
hörte, welche von Antiochia 64 kamen. Und er machte über sie manche Lieder mit guten
Melodien und kurzen Versen. Und aus dem Wunsche sie zu sehen, nahm er das Kreuz und
begab sich auf das Meer. Und es ergriff ihn eine Krankheit auf dem Schiff und er wurde für
todt nach Tripolis in eine Herberge gebracht. Und es wurde der Gräfin zu wissen gethan und
sie kam zu ihm an’s Bett. Und er merkte (= es kam ihm zum Bewusstsein), dass es die Gräfin
war, da erlangte er das Hören und das Riechen wieder (= kam wieder zu Sinnen) und lobte
Gott, dass er ihm das Leben erhalten hatte, bis er sie gesehen hätte. Und so starb er zwischen
ihren Armen und liess ihn mit großer Ehre im Hause des Tempels begraben. Und dann wurde
sie an jenem Tage Nonne wegen des Schmerzes, welchen sie über seinen Tod hatte.“65
61
John Haines, Art. Jaufre Rudel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der
Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a.
2005, Personenteil Bd. 9, Sp. 964.
62
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 294.
63
Die Legende ist in drei verschiedenen Rezensionen, die sich nur marginal voneinander unterscheiden,
überliefert worden. Im Folgenden wird die wahrscheinlich älteste Fassung übernommen.
64
Heutige Stadt Antakya in der Türkei.
65
Albert Stimming, Der Troubadour Jaufre Rudel, sein Leben und seine Werke, Berlin 1873, S. 12.
26
Abbildung: Jaufré Rudel stirbt in den Armen seiner Geliebten.
66
Jaufré Rudels Legende und seine Werke haben für das Verständnis über das Sozialgefüge im
Mittelalter eine große Bedeutung. Martin Diz Vidal fasst folgende Komponenten 67 der
Liebesdichtung am Beispiel des Troubadours Jaufré Rudel zusammen:
-
Die fiktionale Umkehrung der Geschlechterhierarchie: Der Troubadour unterwirft sich
innerhalb seiner Dichtung der Angebeteten und idealisiert sie.68
-
Die Aufhebung der politischen Hierarchie: Iberische Könige und provenzalische Adelige wie
Jaufré Rudel stehen als Troubadour auf einer Stufe mit Dichtern niederen sozialen Ranges.
-
Die troubadoureske Liebeskonzeption ist ein Gegenpol zur kirchlichen Ordnung, da sie andere
Formen von Liebe, wie zum Beispiel die Verehrung einer verheirateten Frau, zulässt.
-
Die höfische Kultur weltlicher Gesänge und Spiele wird von der Kirche zwar missbilligend
geduldet, jedoch bedeutet sie streng genommen ein Gegenkonzept zur asketischen Ordnung
der christlichen Religion.
66
Jaufré Rudel stirbt in den Armen der Gräfin von Tripolis. Dieses Bild liegt in der Bibliothèque nationale de
France auf und ist online unter http://gallica.bnf.fr/anthologie/surprise.php?t=17&i=4 einsehbar.
67
Martin Diz Vidal, Liebe und Leid der Minnesänger: Figurationen von Männlichkeit bei Jaufré Rudel und
Alfonso el Sabio, in: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, hg. von Judith
Klinger und Susanne Thiemann, Potsdam 2006, S. 242-243.
68
Dies ist im Besonderen im Gedicht Lanqand li jorn (siehe Kap. 4.4) ersichtlich.
27
4.4. Lanqand li jorn son lonc en mai – Wenn die Tage lang sind, im Mai
Jaufré Rudels sehnsuchtsvollen Liebesliedern wird ein hoher dichterischer Rang
zugeschrieben. Über die Anzahl der Gedichte, die eindeutig Jaufré Rudel zugeordnet werden
können, besteht in der Forschung Uneinigkeit. Es wird von sechs bis sieben Gedichten
(cansos) ausgegangen. Eindeutig belegt sind folgende Gedichte mit Vertonung: Can li rieu de
la fontana, Can lo rossinhols el folhos, Lanqand li jorn son lonc en mai und No sap chantar
qui so non di.69
Bei Lanqand li jorn son lonc en mai handelt es sich um eine klassische Troubadourkanzone
mit sieben Strophen zu je sieben Versen mit dem gleichen Reimschema ababccd und einer
Geleitstrophe zu drei Versen mit dem Reimschema ccd. Jaufré Rudels Kanzone ist die älteste
dieser Bauform und dürfte stilbildend auf die anderen gewirkt haben.70
Der Reiz des wohl bekanntesten Gedichtes des Troubadours Jaufré Rudel liegt vor allem in
dessen Rätselhaftigkeit. Wer oder was ist mit dieser Liebe aus der Ferne gemeint? Ist es die
Jungfrau Maria, das Heilige Land, das himmlische Jerusalem, die historische Gräfin von
Tripolis, oder vielleicht eine nie gelebte idealisierte Minneherrin? Oder ist die Deutung der
Fernliebe als profane Liebe zu einer unerreichbar scheinenden, fernen, noch nie gesehenen
Dame doch die naheliegendste?71 Die Antworten auf diese Fragen sind historisch nie belegt
worden.
Im Folgenden wird das berühmteste Gedicht des Troubadours Jaufré Rudel, das in den
letzten 850 bis 900 Jahren immer wieder Grundlage diverser Dichtungen und Vertonungen
wurde, auf Provenzalisch72 und Deutsch73 abgebildet:
69
John Haines, Art. Jaufre Rudel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der
Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a.
2005, Personenteil Bd. 9, Sp. 964.
70
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 302.
71
Dietmar Rieger, Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I. Lieder der Trobadors. Provenzalisch/Deutsch, Reclam,
Stuttgart 1980, S. 243-244.
72
Die provenzalische Kultur oder Literatur umfasst alle südfranzösischen Landschaften, deren Sprache sich
durch bestimmte charakteristische Lauterscheinungen vom Französischen grundlegend unterscheidet. In den
1970er Jahren war dies in zwei Fünftel Frankreichs (in 30 von 89 Départements) der Fall. Siehe dazu auch:
Joachim Storost, Die Kunst der provenzalischen Trobadors, in: Der provenzalische Minnegesang, hg. von
Rudolf Beahr, Darmstadt 1967, S. 3-4.
73
In dieser Übertragung werden ausschließlich die wörtlichen Übersetzungen genommen, um dem Originaltext
möglichst getreu zu bleiben. Die vom Übersetzer integrierten Übersetzungserläuterungen werden zugunsten des
Leseflusses weggelassen.
28
Lanqand li jorn son lonc en mai
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
Lanqand li jorn son lonc en mai
m’es bels douz chans d’auzels de loing,
e qand me sui partitz de lai
remembra•m d’un’amor de loing.
Vauc, de talan enbroncs e clis,
si que chans ni flors d’albespis
no•m platz plus que l’inverns gelatz.
Ja mais d’amor no•m gauzirai
si no•mgau d’est’amor de loing,
que gensor ni meillor non sai
vas nuilla part, ni pres ni loing.
Tant es sos pretz verais e fis
que lai el renc dels sarrazis
fos eu, per lieis, chaitius clamatz!
Iratz e gauzens m’en partrai
qan veirai cest’amor de loing,
mas non sai coras la•m veirai
car trop son nostras terras loing.
Assatz i a portz e camis!
E, per aisso, non sui devis ...
Mas tot sia cum a Dieu platz!
Be•m parra jois qan li qerrai
per amor Dieu, l’amor de loing;
e, s’a lieis plai, albergarai
pres de lieis, si be•m sui de loing!
Adoncs parra•l parlamens fis
qand, drutz loindas, er tan vezis
c’ab bels digz jauzirai solatz.
Ben tenc lo Seignor per verai
per Q’ieu veirai l’amor de loing;
mas, per un ben que m’en eschai,
n’ai dos mals, car tant m’es de loing...
Ai! car me fos lai peleris
si que mos fustz e mos tapis
fos pelz sieus bels huoills remiratz!
Dieus, qe fetz tot qant ve ni vai
e fermet cest’amor de loing,
me don poder, qu•l cor eu n’ai,
q’en bre veia l’amor de loing,
veraiamen, en locs aizis,
si qe la cambra e•l jardis
mi resembles totz temps palatz!
Ver ditz qui m’apella lechau
ni desiran d’amor de loing,
car nuills autre jois tant no•m plai
cum jauzimens d’amoir de loing.
Mas so q’eu vuoill m’es tant ahis
q’enaissi•m fadet mos pairis
q’ieu ames e non fos amatz!
Mas so q’ieu vuoill m’es tant ahis!
Totz sia mauditz lo pairis
qe•m fadet q’ieu non fos amatz!
Wenn die Tage lang sind, im Mai
74
Wenn die Tage lang sind, im Mai,
gefällt mir der süße Vogelgesang von fern,
und wenn ich mich von dort, dem Vogelgesang, gelöst habe,
erinnert es mich einer Liebe in der Ferne.
Ich gehe, von Verlangen niedergedrückt und gebeugt,
so, dass nicht der Gesang noch die Weißdornblüte mir mehr gefällt
als der eisige Winter.
Niemals mehr werde ich mich der Liebe erfreuen,
wenn ich mich nicht dieser Liebe in der Ferne erfreue,
denn ich weiß keine lieblichere und bessere,
gegen keine Seite hin, weder nah noch fern.
Ihr Wert ist so wahrhaftig und vollkommen rein,
daß ich dort, im Reich der Sarazenen, um ihretwillen ein Gefangener
genannt werden würde!
Traurig und freudig werde ich mich von ihr trennen,
wenn ich diese Liebe in der Ferne sehen werde,
aber ich weiß nicht, wann ich sie sehen werde,
denn unsere Länder sind zu weit entfernt.
Sehr viele Engpässe und Wege gibt es da!
Und ich bin deshalb kein Prophet ...
Aber alles sei, wie es Gott gefällt!
Wohl wird mir Freude zuteil erscheinen,
wenn ich sie, um der Gottesliebe willen, um die Liebe in der Ferne
bitten werde;
Herberge nehmen, obschon ich aus der Ferne bin!
Dann wird das vollkommene Gespräch erscheinen,
wenn ich, der ferne Geliebte, so nah sein werde,
daß ich mit schönen Worten das Vergnügen genießen werde.
Wohl halte ich den Herrgott für wahrhaftig,
durch dessen Hilfe ich die Liebe in der Ferne sehen werde;
aber für einen Nutzen, der mir davon zuteil wird,
habe ich zwei Übel, denn so weit ist sie von mir entfernt ...
Ach! wäre ich doch dort ein Pilger,
so daß mein Pilgerstab und mein Pilgergewand
von ihren schönen Augen betrachtet würde!
Gott, der alles schuf, was da kommt und geht,
und diese Liebe in der Ferne festlegte,
gebe mir die Macht – denn Herz dazu habe ich - ,
daß ich binnen kurzem die Liebe in der Ferne wahrhaftig an einem
geeigneten Ort sehen kann,
so daß die Kammer und der Garten
mir immer als Palast erschiene!
Die Wahrheit sagt, wer mich begierig und
sehnsüchtig nach der Liebe in der Ferne nennt,
denn keine andere Freude gefällt mir so sehr
wie der Genuß der Liebe in der Ferne.
Aber das, was ich will, ist mir so widrig,
denn mit einem solchen Schicksal begabte mich mein Pate,
daß ich lieben würde und nicht geliebt werden würde.
Aber das, was ich will, ist mir so sehr verwehrt!
Ganz verflucht sei der Pate,
der mich mit dem Schicksal begabte, daß ich nicht geliebt werden
würde!
74
Dietmar Rieger, Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I. Lieder der Trobadors. Provenzalisch/Deutsch, Reclam,
Stuttgart 1980, S. 40-43.
29
Jaufré Rudel erweitert die dem Minnesang ureigene Unerfüllbarkeit einer Liebessehnsucht
aus gesellschaftlichen Gründen um den Aspekt der geographischen Distanz. Eine weitere
Besonderheit liegt darin, dass in diesem Gedicht die Unterwerfung des lyrischen Ichs
übersteigert dargestellt wird (besonders in Strophe VII ausgedrückt) und durch diese
Offenlegung des Liebesleids wird ein Bild von Männlichkeit entworfen, das der patriarchalen
Ordnung entgegensteht. In der Strophe VIII spricht der Troubadour sogar Flüche aus („Ganz
verflucht sei der Pate, der mich mit dem Schicksal begabte, daß ich nicht geliebt werden
würde!“). Der Pilgerstab (Strophe V) repräsentiert einerseits den soziokulturellen Hintergrund,
die Kreuzzüge und Pilgerfahrten, gleichzeitig ist er ein Symbol des Phallus. Damit preist der
christliche Jaufré Rudel den zu ehrenden Gott, den Schöpfer alles Lebens und gleichzeitig
verweist er auf das sinnliche Begehren. Damit wirken die zuvor ausgedrückten Lobpreisungen
des Herrn der Schöpfung nur vordergründig als Zeichen eines religiösen Diskurses. Jaufré
Rudel figuriert in diesem Werk Männlichkeit nicht als Demonstration von Macht und Stärke,
sondern wandelt vielmehr zwischen Anbetung und Unterwerfung sowie sexuellem Begehren.
Er ersetzt mit dieser Vermengung religiöser und erotischer Topoi nicht den klerikalen Diskurs
durch einen profan-sinnlichen, sondern zeigt damit auch die soziokulturellen Normen und
Geschlechterrollen zur Zeit des Mittelalters auf.75
Jaufré Rudels Gedicht ist ein außergewöhnliches Beispiel eines weiteren Charakteristikums
der Troubadourlyrik: Es enthält eine Vielzahl von Liebesparadoxien, da die „Liebe aus der
Ferne“ die Pole Sehen–Nichtsehen, Besitzen–Nichtbesitzen, Wirklichkeit–Traum76, die durch
die begrifflichen Gegensatzpaare nah–fern, warm–kalt, Ärger–Freude, drinnen–draußen,
lieben–nicht geliebt ausgedrückt werden77. Rohr betrachtet die Troubadouren als jene, die die
„äußere Welt unter dem Schleier des Traums“ wahrnehmen. Deshalb lässt sich die Ansicht
der Troubadouren zum Verhältnis Wahrheit und Wirklichkeit folgendermaßen ausdrücken:
„Die Wahrheit als das Wesentliche ergibt sich ihnen aus der Innenschau, die Wirklichkeit, als
das Unwesentliche, tritt in den Hintergrund zurück.“78
75
Martin Diz Vidal, Liebe und Leid der Minnesänger: Figurationen von Männlichkeit bei Jaufré Rudel und
Alfonso el Sabio, in: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, hg. von Judith
Klinger und Susanne Thiemann, Potsdam 2006, S. 244-248.
76
Zit. nach Rupprecht Rohr, Zur Interpretation der altprovenzalischen Lyrik, in: Der provenzalische
Minnegesang, hg. von Rudolf Baehr, Darmstadt 1967, S. 89-90.
77
Martin Diz Vidal, Liebe und Leid der Minnesänger: Figurationen von Männlichkeit bei Jaufré Rudel und
Alfonso el Sabio, in: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, hg. von Judith
Klinger und Susanne Thiemann, Potsdam 2006, S. 244-245.
78
Rupprecht Rohr, Zur Interpretation der altprovenzalischen Lyrik, in: Der provenzalische Minnegesang, hg.
von Rudolf Baehr, Darmstadt 1967, S. 90.
30
In der vida wird Jaufré Rudel beschrieben als einer, der „viele Lieder mit guten Melodien
gemacht habe“ („e fez [...] mains vers ab bons sins, ab paubres motz“). Vier Gedichte 79 von
Jaufré Rudel sind mit musikalischen Aufzeichnungen versehen. Seine Melodien weisen alle
die für die frühe Troubadour Musik typische schlichte Barform (ABABA’CB bei Lanqand li
jorn) auf. Die Besonderheit in Jaufrés Melodien liegt wohl in ihrem dramatischen Ausdruck:
Der Abgesang von Lanqand li jorn beginnt dramatisch, in dem der Stollen zu den ersten
Worten der Strophe „vau de talan embroncs e clis“ (Ich bin beladen und gebeugt vor
Sehnsucht) eine Quinte höher imitiert wird. Diese Passage dient dazu, den melodischen
Ausdruck von Jaufrés schmerzlicher und distanzierter Liebe zu verstärken. 80 Jaufré Rudels
Melodie wird in der Literatur mit mehr oder weniger kleinen Abweichungen unterschiedlich
transkribiert. Folgende Übertragung
81
stammt von Friedrich Gennrich, der viele
mittelalterliche Melodien gesammelt und ediert hat.
Auf eine mögliche Paraphrasierung bzw. Zitate der mittelalterlichen Melodie im Gesangspart
der Figur des Jaufré Rudels in der Oper L’amour de loin wird im Kapitel 8.2. Bezug
genommen.
79
Can li rieu de la fontana, Can lo rossinhols el folhos, Lanqand li jorn son lonc en mai und No sap chantar qui
so non di.
80
John Haines, Art. Jaufre Rudel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der
Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a.
2005, Personenteil Bd. 9, Sp. 964-965.
81
Friedrich Gennrich, Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistergesang, in: Das Musikwerk. Eine
Beispielsammlung zur Musikgeschichte, hg. von Karl Gustav Fellerer, Neuausgabe, Band 9, Laaber 2010, S. 12.
31
5. Faszinosum Orient und Okzident: „amor de loing“ in Lyrik und Musik
Die Oper L’amour de loin beschreibt die Seereise von Westen nach Osten, vom Okzident in
den Orient, eine Dichotomie, die das Werk aufzulösen versucht.82 Das Bindeglied zwischen
den Kulturen ist der Pilger, der von Stadt zu Stadt, Land zu Land wandert und den Menschen
von dem „Anderen“ erzählt. Die Unwissenheit, Entfernung, das Unbekannte entfernter
Länder und Kulturen machen neugierig und sehnsüchtig. Edward W. Said hat 1978 mit
seinem Werk Orientalismus das Bild des Westens vom Orient nachgezeichnet und den
Begriff „Orientalismus“ als spezifische Umgangsweise vor allem der Westeuropäer
(Franzosen, Deutsche, Italiener, Spanier, Portugiesen, Schweizer, aber auch Russen) mit dem
Orient definiert. Für Said war der Orient gewisser Maßen eine europäische Erfindung – der
Orient hat seit der Antike als ein „Märchenland voller exotischer Wesen gegolten, das im
Reisenden betörende Erinnerungen an traumhafte Landschaften und eindringliche Erlebnisse
hinterließ.“ Der Orient, der an Europa grenzt, war mitunter auch Ort der ältesten, größten und
reichsten Kolonien und wird als Quelle menschlicher Zivilisation und Sprachen betrachtet. Im
Orient fanden die Europäer ein „kulturelles Gegenüber“, ein „Gegenbild“, eine
„Gegenpersönlichkeit“ und entwarfen das Bild „des Anderen“.83
Diese Bilder des Orients stehen auch in enger Verbindung mit Jaufré Rudels Legende und
Werk. Über Jahrhunderte hinweg regt seine Person immer wieder Dichter – und wie wir bei
der Oper L’amour de loin sehen, auch Librettisten – zur Wiederaufnahme dieser Liebe aus
der Ferne an. Nicht nur das Leben des wahren Jaufré Rudels ist in vielerlei Hinsicht
undurchsichtig – auch der Begriff „amor de loing“ (Provenzalisch) oder „amour de
loin“ (Französisch) lässt mehrere Bedeutungen zu: Die „Liebe aus der Ferne“ oder die „ferne
Geliebte“ könnte sowohl eine „in der Ferne Lebende“ als auch eine „nie gesehene
Schöne“ sein. Dass der Dichter zu dieser „nie gesehenen Frau“ vor Liebe entbrennt, könnte
über ein Bild („Bild-Variante“84), das er von ihr gesehen hat oder, so wie es bei der Oper
L’amour de loin der Fall ist, viel subtiler, über die Berichte eines Pilgers („Pilger-Variante“)
entstanden sein. Die „Bild-Variante“ war zwar in der Literatur der Troubadours vorhanden,
jedoch wurde die „Pilgervariante“ in der Troubadourlyrik meist bevorzugt.85
82
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 15.
83
Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 22010, S. 9-10.
84
Die Begriffe „Bild-“ und „Pilger-Variante“ stammen von Angelica Rieger, siehe dazu ausführlich Kapitel 5.3.
85
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 296.
32
Die Geschichte des Troubadours und die unerreichbare Liebe sind immer wieder innerhalb
der westlichen literarischen Geschichte in Form von Novellen und Dramen aufgetaucht. So
verarbeitet beispielsweise Petrarch (1304-74) Jaufré in seinen Sonetten, während Jehan de
Notredame 1575 die Geschichte in die Biographie des Troubadours einbezieht. Jaufré Rudels
Geschichte hat aber auch seinen Platz in Werken der Dichter der Romantik, wie Algernon
Charles Swinburne, Giosuè Carducci, Ludwig Uhland, Heinrich Heine und Stendhal. Das
Thema wird auch berührt in Monteverdis Combattimento di Tancredi et Clorinda (1624). 86
Vor allem markiert das 18. Jahrhundert die Wiederentdeckung der arabischen Welt und
ihrer Literatur – und dies nicht nur in der Dichtkunst, in der die „Märchen aus 1001
Nacht“ eine Renaissance erleben, sondern vor allem in der Musik87. Die musikalischen Werke
der letzten 300 Jahre, die den Klang, das Thema oder Geschichten aus dem Orient in sich
tragen, aufzuzählen und zu besprechen, würde den Rahmen dieser Arbeit weit sprengen.
Nasser Al-Taee hat in ihrer Publikation die westliche Musik sowie Dichtungen auf
orientalische Bezüge hin eingehend untersucht und stellt somit einen kompakten Überblick
dar. Folgende Aufzählung der von ihr besprochenen Werke versteht sich als kleiner Einblick
ihres Analysebogens: Paul Wranitzkys romantisches Singspiel Oberon, König der Elfen
(1789), die romantische Oper Oberon (1826) von Carl Maria von Weber, Oberon von
Anthony Burgess (1985), Haydns Symphonie in G-Dur „Militärsymphonie“ (Hob. 100, 1794),
Mozarts Thamos, König in Ägypten (KV 345, 1774), das Finale im Violinkonzert Nr. 5 in ADur (KV 219, 1775), Zaide (KV 344, 1780), Entführung aus dem Serail (KV 384, 1782),
„Rondo alla Turca“ (dritter Satz der Klaviersonate in A-Dur, KV 331, 1783/84), Zauberflöte
(KV 620, 1791), Georges Bizets Carmen (1875), Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie
(1824), in der im Finale ebenso alla turca vorkommt, Die Ruinen von Athen (1811), in dem
der „Chor der Derwische“ und ein „Marcia alla turca“ für die charakteristisch orientalische
Musik sorgen sowie Camille Saint-Saëns Samson und Dalila (1877) usw.
Der türkische, orientalische oder „exotische“ Teil der Musik ist meist durch einen schnellen
Wechsel in einen 2/4 Rhythmus, höhere Dynamik und Akzente (oft fp oder sfz), Wechsel in
eine Molltonart und den Einsatz von spezifisch dem Orient zugeschriebenen Instrumenten,
wie die Piccolo, Zimbeln, Triangeln und großen Trommeln charakterisiert. Ziel ist es, den
schrillen, lauten, kreischenden Klang der einziehenden Armee der Osmanen (die „Ottoman
Army“) nachzuahmen – Gewalt und Lärm werden vor allem im 18. Jahrhundert mit der
86
Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho:
Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114.
87
Siehe dazu auch: Alain Patrick Olivier, Exilé, Pélerin, Conteur (Amin Maalouf: Emigrant, Pilger und
Erzähler), ins Deutsche übersetzt von Gerda Gensberger, in: Kaija Saariaho/Amin Maalouf: L’amour de loin,
Programmheft der Salzburger Festspiele, Salzburg 2000, S. 14-16.
33
furchterregenden Janitscharenmusik, der Militärmusik der Osmanen, assoziiert. Al-Taee sieht
diese Musik aber zugleich – vor allem in Beethovens Verwendung des alla turca Stils
(insbesondere in der Neunten Sinfonie) – als eine Form, pure Freude, Erhabenheit, Größe,
Würde und ausgelassene Feierstimmung auszudrücken mit dem Ziel, eine bedeutende
Nachricht an die Menschheit zu richten: Die Ankunft bzw. das Annehmen einer vereinigten
Welt, ohne Ausgrenzung des Anderen – Al Taee betrachtet Beethovens Musik demnach als
einen Apell und ein Symbol für eine friedliche, universelle Einheit und Brüderlichkeit.88
Im Folgenden werden einige wichtige Werke vorgestellt, die einen besonderen Bezug zu
der hier im Zentrum stehenden Oper L’amour de loin haben.
5.1. Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi et Clorinda
Die Oper L’amour de loin und Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi et Clorinda
haben gewisse Gemeinsamkeiten. Beide Geschichten spielen in der Kreuzfahrerzeit und
(teilweise) im Orient. In beiden geht es um die Beziehung zwischen Mann und Frau, deren
Liebe sich nicht erfüllt, weil einer der beiden stirbt.89
Das zugrundeliegende Libretto ist ein Auszug aus der epischen Dichtung La Gerusalemme
liberata von Torquato Tasso. Monteverdi (1567-1643) erprobt in diesem Werk erstmals den
stile concitato: Dieser „erregte Stil“ sollte die drei heftigsten Grundaffekte der menschlichen
Seele – Zorn (ira), Mäßigung (temperanza) und Demut/Flehen (umilità o supplicatione) –
ausdrücken.90
In Combattimento fordert Kreuzritter Tancredi die als Mann verkleidete flüchtende
Clorinda, mit der ihn eine große Liebe verbindet, zum Zweikampf auf und verletzt sie tödlich.
Auch ihnen wird das gemeinsame Glück auf Erden durch den frühen Tod (im Gegensatz zu
L’amour de loin) der Frau verwehrt. Für Tilman Seebaß ist das Drama in beiden Fällen auf
einer ähnlichen, intimen Personenkonstellation mit den beiden Liebenden und einem
„Testo“ aufgebaut. Der Testo ist bei Monteverdi der Rezitator, der gleichzeitig erzählt,
bezeugt und kommentiert. In L’amour de loin teilt Maalouf die Funktionen auf: Zum Einen
hat der Pilger die Rolle des schicksalhaften Hermes, dem Götterboten über, und zum Anderen
88
Siehe dazu Nasser Al-Taee, Representation of the Orient in Western Music. Violence and Sensuality, Ashgate
2010, S. 117-121.
89
Tilman Seebaß, Oper heute – für wen und wozu? Vor der Folie einer anregenden Vergangenheit, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 73.
90
Denis Morrier, Monteverdi. Le Huitième Livre de Madrigaux (Monteverdi. Das VIII. Madrigalbuch, übersetzt
von Heidi Fritz), in: Monteverdi. Madrigal guerrieri ed amorosi. Concerto Vocale, harmonia mundi, Begleitheft
der CD, S. 29-30.
34
hat der Chor einen kommentierenden Part, der Gedanken, Gefühle und Handlungsweisen der
Protagonisten hinterfragt.91
5.2. Heinrich Heines Ballade: Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripolis
Auch Heinrich Heine war offenbar die Legende des Troubadours Jaufré Rudel bekannt. Er
kreierte seine Variante der Legende Jaufré Rudels und sah in Melisande, einer wahren
historischen Person (die Tochter von Odiarne, der Gräfin von Tripolis und ihrem Gatten
Raimon II) die Geliebte seines „Geoffroy“ und schrieb folgende Ballade (1851 in Romanzeros.
Erstes Buch. Historien., herausgegeben von Heinrich Heine):
Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripolis
In dem Schlosse Blay erblickt man
Die Tapete an den Wänden,
So die Gräfinn Tripolis
Einst gestickt mit klugen Händen.
Ihre ganze Seele stickte
Sie hinein, und Liebesthräne
Hat gefeyt das seidne Bildwerk,
Welches darstellt jene Scene:
Wie die Gräfin den Rudèl
Sterbend sah am Strande leigen,
Und das Urbild ihrer Sehnsucht
Gleich erkannt’ an seinen Zügen.
Auch Rudèl hat hier zum ersten
Und zum letzten Mal erblicket
In der Wirklichkeit die Dame,
Die ihn oft im Traum erzücket.
Ueber ihn beugt sich die Gräfinn.
Hält ihn liebevoll umschlungen,
Küßt den todesbleichen Mund,
Der so schön ihr Lob gesungen!
91
Tilman Seebaß, Oper heute – für wen und wozu? Vor der Folie einer anregenden Vergangenheit, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 73.
35
Ach! der Kuß des Willkomms wurde
Auch zugleich der Kuß des Scheidens,
Und so leerten sie den Kelch
Höchster Lust und tiefsten Leidens.
In dem Schlosse Blay allnächtlich
Giebt’s ein Rauschen, Knistern, Beben,
Die Figuren der Tapete
Fangen plötzlich an zu leben.
Troubadour und Dame schütteln
Die verschlafnen Schattenglieder,
Treten aus der Wand und wandeln
Durch die Säle auf und nieder.
Trautes Flüstern, sanftes Tändeln,
Wehmuthsüße Heimlichkeiten,
Und posthume Galantrie
Aus des Minnesanges Zeiten:
»Geoffroy! Mein todtes Herz
Wird erwärmt von deiner Stimme,
In den längst erloschnen Kohlen
Fühl’ ich wieder ein Geglimme!«
»Melisande! Glück und Blume!
Wenn ich dir in’s Auge sehe,
Leb’ ich auf – gestorben ist
Nur mein Erdenleid und –Wehe.«
»Geoffroy! Wir liebten uns
Einst im Traume, und jetzunder
Lieben wir uns gar im Tode –
Gott Amur that dieses Wunder!«
»Melisande! Was ist Traum?
Was ist Tod? Nur eitel Töne.
In der Liebe nur ist Wahrheit,
Und dich lieb’ ich, ewig Schöne.«
»Geoffroy! Wie traulich ist es
Hier im stillen Mondscheinsaale,
Möchte nicht mehr draußen wandeln
In des Tages Sonnenstrale.«
»Melisande! theure Närrinn,
Du bist selber Licht und Sonne,
Wo du wandelst, blüht der Frühling,
Sprossen Lieb’ und Mayenwonne!«
Also kosen, also wandeln
Jene zärtlichen Gespenster
Auf und ab, derweil das Mondlicht
Lauschet durch die Bogenfenster.
36
Doch den holden Spuk vertreibend
Kommt am End die Morgenröthe –
Jene huschen scheu zurück
92
In die Wand, in die Tapete.
In Heinrich Heines Ballade wird dem Liebespaar zwar – genauso wie in Jaufré Rudels
Gedicht – die Liebe auf irdischem Boden verwehrt, jedoch ist das Liebespaar bei Heine im
Tode vereint. Heine lässt den Leser am nun gemeinsamen „Leben“ der beiden Toten teilhaben,
indem er ihre Wanderungen, Seite an Seite durch die tiefe Nacht, beschreibt. Einzig und
alleine das Tageslicht zwingt die beiden Gestalten wieder „in die Wand, in die Tapete“ – wo
sie warten werden, um nach Sonnenuntergang wieder gemeinsam die Nacht zu durchstreifen.
Damit ist gelebter Liebe – wenn auch in einem transzendenten Zustand – kein Hindernis mehr
im Wege. Heinrich Heines Ballade ist demnach weniger charakterisiert durch die für die in
der französischen Troubadourlyrik so wichtige innere Spannung, genährt von dem Hindernis
der großen Distanz (bei Jaufré Rudel), sondern gewinnt ihren Reiz vielmehr durch die
malerische und romantische Beschreibung des Liebesglücks: Traum, Tod, Leben – Begriffe,
die Heines „Geoffroy Rudèl“ zu relativieren weiß und in der Liebe die Wahrheit allen Seins
erkennt.
5.3. Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail
Das Singspiel Die Entführung aus dem Serial (1782) – das Libretto stammt von Johann
Gottlieb Stephanie – hat nicht nur aufgrund seiner Handlung einen starken Bezug zum Orient
(eine Liebesgeschichte ist ebenso enthalten, wie ein Exilthema 93 ), sondern Wolfgang
Amadeus Mozart (1756-1791) nimmt in diesem Werk vor allem einen starken musikalischen
Bezug zu dieser (Musik)Kultur. Die Ouvertüre und weitere Stücke lassen jene türkische
Musik anklingen, wie man sie sich im 18. Jahrhundert vorstellt. Mozart erweitert das
Orchester um die der türkischen Marschmusik zugeordneten Instrumente: die Piccoloflöte,
die große Trommel, die Triangel und das Becken und zitiert die sogenannte
Janitscharenmusik, die Militärmusik der Osmanen, mit ihrem raschen Tempo, antreibendem
Charakter und spezifischem Rhythmus.
92
Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Band 3/I:
Romanzero Gedichte. 1853 und 1854. Lyrischer Nachlaß. Text, Hamburg 1992, S. 47-49.
93
Bassa Selim (Sprechrolle) wurde ursprünglich aus seiner westlichen Existenz vertrieben und ins Exil zu einer
ihm fremden Kultur gezwungen.
37
5.4. Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte
Auch in Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte (1791) nimmt die ferne Liebe eine zentrale
Stellung ein. Angelica Rieger nennt deshalb die bereits erwähnte „Bild-Variante“, das heißt
das Phänomen, dass ein Mann in Liebe zu einer Frau verfällt, die er nur auf einem Bild
erblickt, auch „Zauberflöten-Variante“94.
Paminas Bild veranlasst Tamino, in eine Liebessehnsucht zu fallen und den Wunsch, diese
bezaubernde Frau sein eigen nennen zu dürfen, wahr werden zu lassen. Der Librettist
Emanuel Schikaneder benötigt für diesen inneren Wandel und diesen daraus resultierenden
inneren Antrieb, dieses Ziel zu erreichen, acht Verse, um mit weiteren sechs Versen der
schmerzerfüllten Sehnsucht des Liebenden Ausdruck zu verleihen.
Dies Bildnis ist bezaubernd schön,
Wie noch kein Auge je gesehn!
Ich fühl’ es, wie dies Götterbild
mein Herz mit neuer Regung füllt.
Dies Etwas kann ich zwar nicht nennen,
doch fühl’ ich’s hier wie Feuer brennen.
Soll die Empfindung Liebe sein?
Ja, ja! Die Liebe ist’s allein. –
Oh, wenn ich sie nur finden könnte!
Oh, wenn sie doch schon vor mir stände!
Ich würde – würde – warm und rein –
Was würde ich? – Ich würde sie voll Entzücken
an diesen heißen Busen drücken,
und ewig wäre sie dann mein.95
94
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 296.
95
Wolfgang Amadeus Mozart. Die Zauberflöte. Text und Erläuterung zum vollen Verständnis des Werkes, hg.
von Kurt Pahlen, München 1979, S. 25.
38
5.5. Richard Wagners Tristan und Isolde
Auch diese Geschichte handelt von Liebe und Tod, von Begegnungen und der Unmöglichkeit,
die Liebe zu leben. Die Nähe von L’amour de loin zum Mythos von Tristan und Isolde ist
aber auch deshalb evident, da er wahrscheinlich auch in Aquitanien, am Hofe der Königin
Aliénor entstand96. Tristan, sehnend nach dem erlösenden Tod, stirbt in den Armen seiner
Geliebten Isolde. Sowohl in Tristan und Isolde (1865) als auch in L’amour de loin geht es um
Eros und Thanatos, um die absolute und deshalb tödliche Liebe. Der Unterschied liege darin,
so Deppermann, dass Jaufré seine Liebe in Verse fasse und sein Begehren sich ausschließlich
in Sehnsucht, Liedern und dem Lobpreis Gottes im Anblick der Geliebten erschöpfe.
Deppermann fügt weiter an, dass sich die Liebe zwischen Jaufré und Clémence nicht erfülle,
sondern sie letztlich beide in den „imaginären Zitadellen des neuen Codes der höfischen
Liebe gefangen“ bleiben. Für Deppermann ist Jaufrés Tod ein einsamer Tod. 97 Diese Meinung
entspricht nicht jener der Autorin dieser Arbeit, da es Jaufré nicht zuletzt mit dem Schritt ins
Boot des Pilgers gelingt, über moralische und kulturelle Grenzen hinwegzusteigen und er in
der wahren Begegnung mit Clémence alles andere als einen einsamen Tod erfährt.
Zurück zu Richard Wagner (1813-1883) und seiner Oper Tristan und Isolde, zu der er
selbst das Libretto verfasste: Die starken Liebesgefühle zwischen Tristan und Isolde basieren
auf dem ihnen verabreichten Liebestrank. Ihre Liebe gipfelt in sinnlich ekstatischer Erfüllung
und im Todeswunsch im Namen ekstatischer Lebensintensität, denn „alle Lust will Ewigkeit,
will tiefe, tiefe Ewigkeit“. Die Liebe wird jedoch geächtet und als Isolde übers Meer zum
sterbenden Tristan kommt, sinkt sie – wie verklärt – auf seinen Leichnam. Eros und Thanatos
verschwistern sich in beiden Opern auf verschiedene Art.98
96
Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich,
in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt:
Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller,
Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 204.
97
Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 26. Weitere
ausführliche Gegenargumente und Erläuterungen hierzu folgen in dem gesamten Kapitel 8 und 9.
98
Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 26.
39
5.6. Tausendundeine
Nacht Musik: Nikolai Andrejewitsch Rimsky-
Korsakovs Scheherazade
Die Quellen für die 1888 komponierte sinfonische Dichtung Nikolai Andrejewitsch RimskiKorsakovs beruhen auf vier Märchen aus der Geschichtensammlung TausendundeineNacht,
wobei das Märchen Scheherazade wohl zu den bekanntesten zählt. In dieser Suite vereint
Rimsky-Korsakov (1844-1908) russische Musik mit einer farbenfrohen Instrumentation und
erzeugt orientalisches Flair. Das Märchen Scheherazade erzählt von dem Sultan Schahrayâr,
der von seiner Frau betrogen wurde. Er ist davon überzeugt, dass es keine treue Frau auf
Erden gibt und fällt den Entschluss, sich nie wieder von einer Frau betrügen zu lassen. Er
heiratet daher jeden Tag eine neue Frau, die er am Morgen nach der Hochzeitsnacht
umbringen lässt. Eines Tages wird Scheherazade seine Frau – sie erzählt ihm 1001 Nächte
lang Märchen, dessen Fortgang der Sultan jedes Mal mit Freuden erwartet. So rettet sie ihr
Leben, denn nach 1001 Nächten – in einem Zeitraum, in dem drei Kinder zur Welt kommen –
ist der Sultan davon überzeugt, dass er sich geirrt hat und lässt Scheherazade am Leben.99
Rimski-Korsakov unterteilt die symphonische Suite in vier Teile:
1. Das Meer und Sinbads Schiff
2. Die Geschichte des Prinzen Kalender
3. Der junge Prinz und die junge Prinzessin
4. Das Fest in Bagdad – Das Meer – Das Schiff zerschellt an einer Klippe unter einem bronzenen
Reiter
Orientalische Musik wird assoziiert mit Bildern des Ozeans, mit schönen, fließenden
Melodien (Scheherazades Melodienthema zählt wohl zweifelsfrei dazu) und brillanter
Orchestration. Nicht weniger bekannt ist wohl die Melodie des Sultans, der einen bösen
Charakter in sich trägt und blind vor Wut ist. Ähnlich wie Mozarts Osmin aus der Entführung
aus dem Serail, wird der Sultan gelenkt von seiner Wut, die in ihm gewalttätiges,
aufbrausendes, irrationales und launisches Verhalten fördert. Beide – sowohl Osmin als auch
der Sultan – handeln und in unseren Augen grausam. Rimsky-Korsakov lässt den Sultan
deshalb musikalisch laut und bombastisch auftreten:100
99
Siehe dazu auch Onlinequelle verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Scheherazade
Nasser Al-Taee, Representation of the Orient in Western Music. Violence and Sensuality, Ashgate 2010, S.
239-240.
100
40
Diesem Motiv gegenüber steht Scheherazades Violinenmelodie: die Violine, ein Instrument,
das im Klang der menschlichen Stimme sehr nahe kommt, Schönheit und emotionale Zartheit
präsentiert, ist besonders geeignet, die lyrische, brillante, aber auch dramatische Seite von
Scheherazade musikalisch auszudrücken. Ihre Melodie wird von Harfenakkorden begleitet.
Die
Harfe
mit
ihren
himmlischen
Klängen
kommt
oft
in
„magischen“
oder
„märchenhaften“ Momenten zum Einsatz. Für Al-Taee ist die Harfe auch ein Instrument, das
die Assoziation zum antiken Griechenland, zum mittelalterlichen Arabien und Europa erlaubt,
uns also in jene Zeit zurückversetzt, in der Reisende von Land zu Land pilgerten, um ihre
Geschichten – instrumental begleitet – weiterzuerzählen. Al-Taee sieht Scheherazade ebenso
verbunden mit der Orpheus Legende. Orpheus, benutzt ebenfalls seine Leier (bei Glucks
Orfeo ed Eurydice imitiert die Harfe die Leier), um die Wächter des Hades zu besänftigen.101
Die Harfe als Instrument der „Prinzessin“ begegnet uns auch in der Oper L’amour de loin –
Clémence,
die
Gräfin
von
Tripolis,
wird
häufig
von
diesem
zart
besaiteten ,Himmelsinstrument’ begleitet.
101
Nasser Al-Taee, Representation of the Orient in Western Music. Violence and Sensuality, Ashgate 2010, S.
241.
41
6. Die Oper L’amour de loin
Die Oper L’amour de loin nimmt in Kaija Saariahos Schaffen aus zweierlei Hinsicht eine
besondere Stellung ein. Zum Einen hat sich die finnische Komponistin mit diesem Werk
erstmals der Gattung Oper gewidmet – einer Gattung, die von zeitgenössischen
Komponistinnen eher zu den vermiedenen Vorhaben zählt. Zum Zweiten hat die
Uraufführung dieser Oper die lebendige Verbindung zwischen älterer und neuester
französischer Literatur sichtbar gemacht: Sie packte einen mittelalterlichen Stoff in ein
modernes Gewand und brachte damit die Kritik überwiegend zum Schwärmen und das
Publikum zum Träumen.102 Obgleich die Gattung Oper von der musikalischen Avantgarde
der 1960er Jahre verworfen wurde, und viele Generationskollegen Saariahos den Untertitel
„Oper“ in ihren Werken vermeiden und durch Begriffe wie „akustisches Theater“,
„Monodram“, „Kammerfantasie“ etc. ersetzen, sucht Saariaho die Gattung Oper mittels ihrer
eigenen kompositorischen Sprache neu zu gestalten. Dabei verzichtet sie nicht auf die
traditionelle Erzähltechnik, also auf die literarische Teleologie des Librettos.103
Gérard Mortier, der damalige Intendant der Salzburger Festspiele, entschließt sich, die Oper
L’amour de loin im Jahr 2000 in das Programm der Salzburger Festspiele aufzunehmen. Über
Mortier kommt Saariaho in Kontakt mit dem Librettisten Amin Maalouf. Gemeinsam mit
dem Regisseur Peter Sellars sind diese drei Herren wichtige Entscheidungshilfen, vor allem
was den Entschluss, sich für die Oper als zeitgenössische Kunstform zu entscheiden und in
weiterer Folge Fragen künstlerischer Belange betrifft. Mit dem Regisseur Sellars kommt
Saariaho erstmals 1989 bei einem Besuch seiner Inszenierung von Don Giovanni in Kontakt.
Nachdem sie 1992 eine weitere Inszenierung von ihm (Messians Saint-François d’Assise) und
dem musikalischen Leiter Esa-Pekka Salonen sieht, reift in ihr der sichere Entschluss, eine
Oper zu schreiben. Sellars und Salonen sind stets Quell der Inspiration geblieben. Gewidmet
ist die Oper L’amour de loin dem belgischen Theater- und Opernintendanten und damaligen
künstlerischen Leiter der Salzburger Festspiele Gérard Mortier.104
L’amour de loin sollte für Saariaho nicht der einzige Ausflug in die Gattung Oper sein – die
Pariser Bastille-Oper beauftragt sie mit der Komposition von Adriana Mater, einer
102
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 291.
103
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 37.
104
Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 12.
42
abendfüllenden Oper, die am 3. April 2006 Premiere feiert.105 Ihre dritte Oper Émilie, ein 9szeniges Monodram für Sopransolo basierend auf einem Maaloufschen Libretto, wird am 1.
März 2010 in der Opéra nationale de Lyon uraufgeführt.
Die beiden ersten Opern erzählen Geschichten, sind somit narrative Opern, wenngleich
Adriana Mater eher als ein „musikalisches Drama“ mit besonderer ethischer Dimension und
L’amour de loin als eine „Operndichtung“ bezeichnet werden könnte. 106 Was beide Opern
jedenfalls gemeinsam haben, ist die Integration der neuesten Entwicklungen der
Kompositionstechnik in Verbindung mit der neuesten Technologie innerhalb der Gattung der
zeitgenössischen sinfonischen Oper.107 Die Narration im Libretto ermöglicht es, die Oper als
eine Abfolge aus individualisierten sinfonischen Bildern, Dichtungen oder Szenen zu
strukturieren und gestalten.108 Die dritte Oper Émilie beruht auf dem Leben und den Schriften
der Marquise Émilie du Châtelet (1706-1749).
In der Oper L’amour de loin geht es, wie der Titel schon besagt, um die Liebe aus der Ferne,
um deren Willen es sich lohnt zu sterben. Liebe und Tod sind durchaus übliche Themen im
Operngenre – man könnte meinen, diese Grundaspekte der Menschheit würden ob der
enormen Anzahl innerhalb der rund 400 jährigen Operngeschichte im 21. Jahrhundert
geradezu Langeweile erzeugen, jedoch ist dieses scheinbar banale Thema geradezu deshalb so
prädestiniert für die Gattung Oper, da „es die Musik erlaubt, den größten Geheimnissen oder
Rätseln der menschlichen Existenz auf den Grund zu gehen.“ 109 Saariaho gibt selbst
Aufschluss darüber, warum sie sich für die Gattung Oper und warum gerade für diese
Geschichte entschieden hat:
Die Oper ist eine besondere Gattung innerhalb einer abstrakten Form der Musik, denn, im
besten Falle, reflektiert sie mit den dargelegten Ereignissen unser eigenes Leben.
Überzeugende, anrührende Figuren werfen ein neues Licht auf unser Dasein. Liebe und Tod,
Themen, die die Menschen im Innersten betreffen, stehen daher auch in der Oper im
Vordergrund. Auf diese starken Themen wollte ich mich konzentrieren, wollte musikalischen
105
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 13.
106
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 37.
107
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 37-38.
108
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38.
109
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43.
43
Gefühlen nachspüren, die sie hervorrufen, und über die Musik ihrem unbekannten Reich näher
kommen.110
Saariaho erkennt später, als sie sich bereits mitten in den Kompositionsarbeiten befindet, dass
nicht sie diejenige sei, die die Geschichte ausgesucht hat, sondern die Geschichte sie
auswählte – „the story has chosen me“ – sie erkennt, dass der Troubadour und seine
Angebetete Clémence zwei Seiten ihrer Persönlichkeit darstellen und mit Hilfe der Musik
versucht sie, diese beiden Seiten einander näher zu bringen.111
Zentral in der Geschichte ist immer der „Weg zum Anderen“112: von Aquitanien über das
Meer nach Tripolis. Die 13 dialogisch oder monologisch aufgebauten Szenen, in denen die
Geschichte erzählt wird, wirken wie eine musikalische Dichtung. Die Szenen spiegeln jeweils
das tiefste Innere des Gefühlslebens des Prinzen Jaufré Rudel, der Gräfin Clémence und des
Pilgers, der die Funktion des Vermittlers und des Fährmannes innehat, wider. Die Oper ist
keine Handlungsoper – was die äußere szenische Handlung betrifft, wirkt sie geradezu
statisch. Aktion steht im Hintergrund, die nötige Spannung entsteht vor allem durch das
vielschichtige Seelenleben der Protagonisten113. In diesem „Stationsdrama“ – wie Stoïanova
die Oper nennt – kommt der Musik die dynamische, bewegende Rolle zu: Sie übernimmt die
„besonders aktive und raffinierte Entwicklung der Emotionen: die kleinsten inneren
Bewegungen, die feinsten Oszillationen und Steigerungen der Emotion, das subtile Leben des
liebenden Begehrens, der Hoffnung, der Freude, der Verzweiflung, der Empörung, der seligen
Liebe aus der Ferne“.114 Saariaho wollte für das Genre Oper weder etwas zu Kompliziertes,
noch eine gewöhnliche Alltagsgeschichte:
Ich suchte nach einer abstrakten Geschichte, die von Liebe und Tod handelt und von der Art
und Weise, wie Menschen auf den Tod eines geliebten Menschen reagieren. – Ich wollte diese
110
Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 11-12.
111
Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und
bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 87.
112
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43.
113
Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 12.
114
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43.
44
existentiellen Themen mit meiner Musik ausdrücken und suchte nach einer Geschichte, die
mehr das Seelenleben von Menschen in den Vordergrund stellt als eine äußere Handlung.115
L’amour de loin entsteht in einer relativ kurzen Zeit: In 18 Monaten ist die Partitur fertig
gestellt, jedoch geht der schriftlichen Aufzeichnung der Musik eine lange Zeit der Überlegung
und Vorbereitung voraus. Saariaho beschäftigt immer wieder die Frage, was die Form der
Oper für sie bedeute und was sie ihr ermögliche, auszudrücken. Zentral in dieser
gedanklichen Vorbereitungszeit ist auch die Frage, wie sich Musik und Text geradezu nahtlos
miteinander verbinden lassen. Die Struktur sollte sich organisch aus dem Sujet und dem
Material ergeben. Saariaho sucht nach einem Weg, um die musikalische Identität der
Hauptcharaktere effizient zu entwickeln.116
Die Schönheit der Jahrhunderte alten Liebesgeschichte des Troubadours Jaufré Rudel und
der Prinzessin Clémence fesselt Saariaho von Beginn an. Je mehr sie sich mit dieser
Geschichte befasst, desto stärker wird ihr die Verbindung zu ihrer eigenen Geschichte
bewusst. In den drei Charakteren der Oper sieht sie sich selbst wieder: Jaufré ist ein
Komponist wie sie selbst es ist. Sie erkennt sich als Frau, die, wie Clémence, ihr Leben im
Exil verbringt. Genauso, wie der Pilger versucht, dieser beider Leben zusammenzubringen,
versucht Saariaho in gleicher Weise, ihr Leben als Frau und das einer Komponistin
miteinander zu vereinen.117
6.1. Vorbereitende und hinführende Werke auf die Oper L’amour de loin
1984 erklärt Saariaho in einem Interview, dass sie wahrscheinlich nie eine Oper oder eine
Symphonie im klassischen Sinne schreiben werde.118 Es scheint, als würden einige Werke und
Begegnungen mit bestimmten Menschen notwendig gewesen sein, um diesen großen Schritt
dennoch zu wagen. Saariaho komponiert vor ihrer ersten Oper einige Werke, die eng in Bezug
zur Oper stehen:
115
Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und
bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 87.
116
Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 11.
117
Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 12.
118
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 13.
45
Der Vokalzyklus Château de l’âme (1995 komponiert und 1996 uraufgeführt bei den
Salzburger Festspielen) für Solosopran, acht Frauenstimmen und Orchester – der Text ist auf
der alten hinduistischen und ägyptischen Tradition aufgebaut. Lonh119 (1996) für Sopran und
Elektronik – der Text beruht auf einem Minneliedtext des Troubadours Jaufré Rudel auf
Okzitanisch. Oltra Mar (1999-2000) für Chor und Orchester (Text von Maalouf und Abou
Said) sowie die neue Fassung für Vokalquartett und gemischten Chor von Nuits, adieux
(1997) sind ebenfalls mit der musikalischen Sprache der Oper eng verbunden. Das, was diese
Werke gemeinsam haben, sind die Sopranistin Dawn Upshaw, der Schriftsteller Maalouf (alle
basieren auf den Schriften dieses libanesischen Literaten), die okzitanische (provenzalische)
Kultur sowie die auf der Harmonie-Klangfarbe beruhende vokal-melodische solistische und
chorische Schreibweise. 120
Dass der Text und die Musik Saariahos gleichermaßen ihre sinnlichen und klanglichen
Qualitäten haben, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass alle Werke einen Titel tragen, der eine
gewisse Stimmung, Atmosphäre mit sich bringt: Es sind klingende Namen wie Lichtbogen,
New Gates („Neue Pforten“), Château de l’âme („Die Seelenburg“), die Ballettmusik Maa
(„Erde“), Lonh („weit weg“) oder eben Oltra Mar (provenzalisch: „Über das Meer“).
Das besondere an Oltra Mar und Château de l’âme liegt neben der engen musikalischen
und thematischen Verbindung zu L’amour de loin wohl auch darin, dass sie für Saariaho die
Herausforderung darstellen, erstmals für ein großes Orchester und Stimmen zu komponieren.
In diesen Werken beweist Saariaho ihre souveräne Handhabung des Vokalen, von der reich
differenzierten Solostimme bis zur Verschmelzung des Chors mit dem Orchester – dies
beweist ihre Sensibilität für die Ausdrucksfähigkeit der menschlichen Stimme als auch ihre
lange Erfahrung in der instrumentalen Klangforschung121.
Château de l’âme ist eine Expedition in das Innere des Klangs und gleichzeitig in die
Innenwelt, in die Burg der Seele und Liebe. Die facettenreich aufgefächerte Musik mit den
drei ineinandergreifenden Schichten (Sopranpart, Orchester, Chor) erhält zusammen mit den
Texten aus den indischen Veden und altägyptischen Zaubersprüchen eine geheimnisvolle
Aura.122
119
Für diesen Werktitel existieren mehrere Schreibweisen: „Lhon“, „Lohn“ oder wie hier angeführt „Lonh“. Die
Autorin dieser Arbeit verwendet der Einheit Willen die letztere, provenzalische Schreibweise.
120
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 42.
121
Michael Kurtz, Kaija Saariaho auf dem Weg zu ihrer Oper „L’amour de loin“. Musik und die visuelle Welt
und vielfältige Facetten der Stimme, in: Offizielles Programm der Salzburger Festspiele 2000, hg. von Friedel
Schafleitner, Salzburg/Wien 2000, S. 160.
122
Ellen Kohlhaas, Seelenschlösser oder Übergänge und Zwischenwelten. Ein Streifzug durch Kaija Saariahos
Vokalmusik, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz
2007, S. 60.
46
Die Musik von Oltra Mar (ein Werk, das ebenfalls die Liebe zum Hauptthema hat)
übernimmt Saariaho ohne große Änderungen in den Anfang des vierten Aktes der Oper
L’amour de loin.
Lonh komponierte Saariaho 1996 für das Wien Modern Festival. Es beinhaltet einen vom
historischen Jaufré Rudel inspirierten Liederzyklus für Sopran und Synthesizer.
„Lonh“ bedeutet so viel wie „weit weg“ oder „entfernt“ und stammt aus der alten
provenzalischen Sprache Okzitanisch. Saariaho verpackt in diesem Werk in den drei Sprachen
Okzitanisch, Französisch und Englisch Verse aus der ersten Strophe von Jaufré Rudels
altokzitanischem Gedicht Lanqand li jorn son lonc en mai123. Saariaho übernimmt die äußere
Form des Originalgedichts, in dem sie ihre Komposition ebenfalls in neun Abschnitte
unterteilt. Einige der in der mittelalterlichen Dichtung charakteristischen symmetrischen und
wiederholenden Aspekte werden von dem Sopranpart aufgegriffen, sodass der von Saariaho
kreierte Text als eine Textkollage basierend auf Jaufré Rudels Gedicht betrachtet werden kann.
Der elektronische Part des Stückes hat die Funktion, den Text in allen drei Sprachen hörbar zu
machen. Der okzitanische Text wird von dem Dichter Jacques Roubaud gelesen, der sich
intensiv mit diesem Gedicht beschäftigte und auch gemeinsam mit Julie Parsillé die
Übersetzung in das Französische lieferte. Die französische Fassung wird von Jean-Baptiste
Barrière und der englische Text von Dawn Upshaw gelesen. Ihre (aufgenommene)
Gesangsstimme ist ebenfalls Teil des akustischen Materials, das elektronisch distribuiert
wird.
Dieses vokale Material und andere konkrete Klänge, wie zum Beispiel Vogelgesänge,
Wind und Regen, laufen durch eine Vielzahl von elektronischen Programmen und Filtern
(„Ircam Transformations Program“, „Chant Program“, „AudioSculpt Program“, etc.), um
danach nach außen projiziert zu werden. Die Arbeit für den elektronischen Part wird am
IRCAM unter Mithilfe von Gilbert Nouno und Jean-Baptiste Barrière durchgeführt. Saariaho
versteht die Komposition Lonh als Prolog zu Oper L’amour de loin.124
123
Siehe dazu die ausführliche Darstellung und Besprechung dieses der Oper L’amour de loin
zugrundeliegenden Gedichts im Kapitel 4.4.
124
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 300 sowie Originaltext (auf Englisch) und Aufnahme des
Werkes von Kaija Saariaho online verfügbar unter http://www.youtube.com/watch?v=l7ZQTYhO4fM
47
6.2. Libretto: Die interkulturelle Dimension der wahren Liebe
Amin Maaloufs Lebensgeschichte, sein schriftstellerisches Können, sein historisches Wissen
und das persönliche Interesse, sich dem Orient und Okzident und den vielfältigen
Überlieferungen in den alten Schriften zu befassen, scheinen eine ideale Grundlage für die
gute und intensive Zusammenarbeit zwischen Saariaho und ihm zu sein.
Als Maalouf den Auftrag für das Libretto bekommt, macht er die Erfahrung, dass es einen
großen Unterschied zwischen dem literarischen Schreiben von (historischen) Romanen und
dem Verfassen eines Librettos für die Oper gibt. Er beginnt deshalb, viele Libretti zu lesen
und hört sich – dies ist außerordentlich hervorzuheben – die Musik früherer Werke Saariahos
an, um seine literarischen Fähigkeiten bestmöglich mit ihrer Musik verbinden zu können.
Sowohl Maalouf als auch Saariaho begeben sich mit diesem Projekt somit auf ein Neuland
und werden letztlich durch diese intensive Zusammenarbeit gute Freunde.125
Maalouf folgt in seinem Libretto grundsätzlich der vida Jaufré Rudels, er bringt aber mit
seiner Figurenkonstellation und den Einblicken, die seine Protagonistinnen in ihre
Lebenswelten gewähren, neue Akzente zum Vorschein. So stellt er den Pilger als ewig
ruhelosen Wanderer sowohl zwischen zwei Welten, als auch als Mittler zwischen dem
Troubadour und der Gräfin von Tripolis dar – beide aus selber Herkunft stammend
(Provenzalen). Die Gräfin von Tripolis, die hier den historisch nicht belegbaren Namen
Clémence trägt, stammt eigentlich aus dem Westen, befindet sich aber seit ihrem siebten
Lebensjahr fern der Heimat, im Orient. In ihr fließen somit Erfahrungen aus dem Orient und
Okzident zusammen – sie stellt jene im Exil lebende Person dar, die zwei Kulturen, zwei
Welten in sich trägt. Die Parallelen zwischen dieser Figur und der Lebenserfahrung des
Librettisten, der sich im Alter von 27 Jahren von seiner Heimat gezwungenermaßen
verabschieden musste und seither im Westen lebt126, aber in sich diese beiden polarisierenden
Identitäten mit sich trägt, sind deutlich erkennbar. Die dritte Figur, der Troubadour Jaufré
Rudel verkörpert mit seiner Liebe zu Clémence die Sehnsüchte des Okzidents nach den
märchenhaften Verheißungen des Orients – ganz nach den zauberhaften Märchen aus
Tausendundeiner Nacht. Den drei Protagonistinnen wird ein Chor zur Seite gestellt, der
125
Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und
bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 82.
126
Siehe dazu Kapitel 2.2.
48
entweder in der Funktion der Freunde Jaufré Rudels (Männerchor) oder der der Gefährtinnen
Clémences (Frauenchor) beratend, kritisierend oder mahnend eingreift.127
Der Aspekt der Interkulturalität wurde bereits im Kapitel 2.2. und 2.3. genauer erläutert,
jedoch ist es an dieser Stelle wichtig, diesen Aspekt im Libretto aufzugreifen. Generell sticht
in der gesamten Geschichte das Thema der Interkulturalität hervor, in der Überfahrtsszene
kommt es aber in dieser Hinsicht zu einer enormen Verdichtung: Beate Burtscher-Bechter, die
die Überfahrtsszene im 4. Akt vor dem Hintergrund kulturtheoretischer Überlegungen
analysiert, sieht darin den Beweis der interkulturellen Dimension des Librettos bestätigt. Mit
der Überfahrt tritt der Moment des Übertritts und der Überschreitung kultureller Grenzen ein.
Ferner verharrt Jaufré auf dem Meer in einem gewissen Zwischenraum. Er überschreitet in
dem Moment, als er – zum ersten Mal in seinem Leben – das Schiff besteigt, eine moralische
Grenze. Die geliebte Dame muss nach troubadouresken Regeln unerreichbar bleiben. Mit
dieser Überfahrt wird aber auch eine weitere Grenze überschritten – die der Kultur – und
damit wird der Eintritt in eine neue Welt überhaupt erst möglich. Das Mittelmeer ist dabei der
Zwischenraum, die reale und symbolische Grenze zwischen den beiden Welten des Okzidents
und des Orients. Bei der Interkulturation wird immer beides vorausgesetzt: einerseits gibt es
die Grenze zwischen den Kulturen und andrerseits deren Überschreitung.128 Für Jaufré beginnt
mit dieser Grenzüberschreitung ein neuer Lebensabschnitt, er selbst sagt:
Am Ende der Reise liegt Clémence,
liegt meine zweite Geburt,
das Taufwasser wird tief und kalt sein,
am Ende der Reise wird mein Leben beginnen. (IV, 75.)129
Burtscher-Bechter betrachtet diesen Zwischenraum als ausschlaggebenden Ort markanter
intrapersoneller Veränderungen bei Jaufré Rudel, da mit dem Eintritt in den Zwischenraum
seine Gedanken von Gegensätzlichem und Unvereinbarem beherrscht werden. Innere,
tiefgehende Prozesse werden durch die Konfrontation innerhalb dieses Überganges von einer
127
Vgl. zu diesem Abschnitt auch Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften
Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters
zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 300-301.
128
Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in
Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen,
hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 42-43.
129
Das Originallibretto auf Französisch ist erschienen in: Amin Maalouf, L’amour de loin. Livret, Paris 2001.
Sämtliche Zitate aus dem Libretto auf Deutsch stammen aus: kaija saariaho. L’amour de loin. Kent Nagano,
Ekaterina Lekhina, Marie-Ange Todorovitch, Daniel Belcher, Rundfunkchor Berlin, Deutsches SymphonieOrchester Berlin, Audio-CD, harmonia mundi, Begleitheft, Arles 2009, S. 32-107 und werden im Folgenden
zitiert mit (Akt, Seitenzahl).
49
Welt in die andere bzw. dieses Aufeinandertreffens von unterschiedlichen Kulturen, Werten,
Normen,... in Gang gesetzt. Pure und in sich widersprüchliche Angst („ich habe Angst, sie
nicht zu treffen, ich habe Angst, sie zu treffen...“130) manifestiert sich in Jaufré Rudel. Die
Angst des Troubadours vor den Konsequenzen der Begegnung mit der fremden Unbekannten
ist mindestens ebenso groß wie das Bewusstsein, gegen die höfischen Regeln gehandelt zu
haben. Burtscher-Bechter misst diesem inneren Hadern, diesem inneren Kampf große
Bedeutung zu:
Das Hadern von Jaufré kann als Auseinandersetzung mit jenen subjektiven und kollektiven
Erfahrungen, gemeinschaftlichen Interessen und kulturellen Werten gelesen werden, die sich
[in diesem Zwischenraum] gegenüberstehen.131
Für Jaufré gibt es keinen Weg zurück – er befindet sich auf dem Schiff auf hoher See. Der
Prozess des Aushandelns und Haderns ist dabei stets präsent. In diesem inneren Abwägen,
Aushandeln, sich Mut zusprechen, sich hoffnungslos fühlen, mit dem Schicksal, mit seinen
Entscheidungen Hadern geht es nicht darum, Widersprüche zu glätten oder aus dem Weg zu
räumen, sondern vielmehr darum, einen „Bewusstwerdungsprozess in Gang zu setzen und
einen möglichen Umgang mit den Antagonismen zu finden“ 132 . Während im selben Akt
anfangs – im obigen Librettoausschnitt gezeigt – Jaufré eine zweite Geburt vor seinen Augen
sieht, packen ihn kurz später, während der Sturm133 das Schiff beängstigend schaukeln lässt
und er sich totenbleich an der Reling anklammert, massive Zweifel:
Von ferne ist die Sonne Licht des Himmels,
von nahem aber ist sie Feuer der Hölle!
Ich hätte mich länger, länger von ihrem fernen Leuchten wiegen lassen sollen,
anstatt mich zu verbrennen!
Ich war Adam, und das Fernsein war mein irdisches Paradies.
Warum musste ich zum Baum gehen?
Warum musste ich die Hand nach der Frucht ausstrecken?
Warum musste ich mich dem gleißenden Stern nähern? (IV, 83-85)
130
Zur ausführlichen dramaturgischen und musikalischen Gestaltung hierzu siehe im Kapitel 8.6.
Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in
Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen,
hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 47.
132
Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in
Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen,
hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 47.
133
Zur detaillierten Auseinandersetzung mit dem Sturm, dem dritten Bild des vierten Aktes, siehe Kapitel 8.10.
131
50
Maalouf lässt hier Jaufré in einer höchst symbolischen Sprache sprechen: Was bedeutet in
diesem Fall Baum, Frucht, Adam, gleißender Stern? Um diese Bildsprache zu entschlüsseln,
muss nur vor Augen geführt werden, zu welchem faszinierenden Ort Jaufré die Reise antritt –
in den Orient: Für Christen und Juden beginnt die Menschheit im Garten Eden, den man im
Orient zu finden weiß. Für die Perser ist der Garten ebenfalls innerhalb des spirituellen
Lebens wichtig. Der Überlieferung nach suchten sie einen Hügel, auf dem sie einen Baum
inmitten von anderem Grün pflanzten und umgaben den Ort mit einer Mauer. Dieser Garten
sei Zufluchtsort für Körper und Seele. Auch im persischen Sufismus kommt dem Garten eine
große Bedeutung zu. In ihren Gedichten bezeichnet der Sufi-Poet diesen und seinen
Mittelpunkt, den Paradiesbaum Tuba, als einen Ort der Hoffnung.134 Der Garten Eden ist das
Paradies – ein idealer Aufenthaltsort, der mit mehreren Bildern assoziiert wird: Zum Einen ist
damit „ein schöner Garten mit üppigem Pflanzenwuchs und friedlicher Tierwelt gemeint, eine
Stätte des Friedens, des Glücks und der Ruhe, die nach dem biblischen Schöpfungsbericht den
Menschen von Gott als Lebensbereich gegeben wurde“, zum Zweiten bezeichnet dieser
Begriff auch „das Jenseits als Aufenthaltsort Gottes und der Engel, in den die Seligen nach
dem Tod aufgenommen werden, den Himmel.“ 135 Der Begriff „Eden“ stammt aus dem
Hebräischen und bedeutet so viel wie „Wonne“, aber auch „Ebene“ oder „Wüste“. In alten
Bibelstellen wird der Garten Eden deshalb auch als „Garten in Eden“ bezeichnet.136
Jaufré sieht sich als Adam, der bis vor kurzem im Paradies lebte – er hätte in diesem
Paradies (seinem Schloss in Toulouse) für immer weilen und sich seinen Träumereien
widmen können. Er hätte diesen sich lebendig anfühlenden Traum in dieser Wirklichkeit
aufrecht und bestehen lassen können, indem er seine entfernte Geliebte weiterhin besungen
hätte. Doch er konnte der Versuchung nicht widerstehen, von der „Frucht“ zu kosten – er ist
der Verlockung, der entfernten Geliebten noch näher sein zu können, erlegen. Seine
Liebeslieder an die ferne Geliebte waren, so lange er in seiner Heimat, fern von ihr weilte, ein
gelebter Traum inmitten der Wirklichkeit – nun findet er sich in einem wahren Albtraum
wieder, verstoßen aus dem Paradies.
134
Maryam Mameghanian-Prenzlow, Zwischen Wort und Bild. Iranische Literatur und Kunst der Gegenwart im
Austausch, in: Der Orient, die Fremde: Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, hg. von Regina
Göckede und Alexandra Karentzos, Bielefeld 2006, S. 113.
135
Zit. nach Wassilios Klein, Wer hat Sehnsucht nach dem Paradies?, in: Sehnsucht nach dem Paradies.
Paradiesvorstellungen in Judentum, Christentum, Manichäismus und Islam. Beiträge des Leucorea-Kolloquiums
zu Ehren von Walther Beltz, hg. von Jürgen Tubach u.a., Wiesbaden 2010, S. 4.
136
Online verfügbar unter http://www.duden.de/rechtschreibung/Eden
51
6.3. Form und Instrumentarium
Die Oper entspricht mit fünf Akten, drei Hauptfiguren und einem Chor einer konventionellen
Form dieser Gattung. Sie beginnt mit einer Ouvertüre, die das musikalische Material vorstellt,
hat als literarische Grundlage ein Libretto und ist von der Thematik der ersehnten und
unerfüllten Liebe „opernartig“. Die Geschichte wird durch eine Folge von 13 Szenen erzählt.
Im Laufe dieser 13 Szenen, die dem sinfonischen Gestus mit seinen Kontrasten und
teleologischen Entwicklungen entsprechen, geht es zentral um den Sog der Annäherung an
das Andere, an den Anderen bis zur glücklichen und zugleich tragischen Begegnung am
Ende.
137
Die musikalische Sprache der Oper ist allerdings eindeutig der Moderne
zuzurechnen.138
Anfangs hat Saariaho die Absicht, fünf Sänger und Sängerinnen als Hauptfiguren mit fünf
verschiedenen Tessituren nach dem Modell des vokalen Gleichgewichts in den Opern von
Mozart zu komponieren, jedoch wird die Handlung im Laufe der Zusammenarbeit mit dem
Librettisten Maalouf und dem Regisseur Sellars auf drei Hauptpersonen reduziert: der
Troubadour Jaufré Rudel, Prinz von Bleye (Bariton), Clémence, die Gräfin von Tripoli
(Sopran) und der Pilger (Mezzosopran), obgleich diese ,Reduzierung‘ vielmehr einer
Substituierung gleichkommt, da die beiden anderen Personen durch den Chor vertreten
werden. Die beiden Chöre – die Gefährten Jaufré Rudels als Männerchor sowie ein
Frauenchor, der die Frauen von Tripolis und Anhängerinnen der Gräfin Clémence
repräsentieren – dienen als organischer Bestandteil der musikalischen Substanz, der die
innigsten emotionalen Bewegungen der Protagonisten zum Ausdruck bringen. Die Chöre sind
somit nicht als distanzierter Kommentator des Geschehens „von außen“ konzipiert.139
Während Jaufré Rudel sowohl eine fiktive, als auch reale Person ist (siehe Kapitel 4.), ist
im Gegensatz dazu der Pilger (Mezzosopran in einer Hosenrolle) eine metaphorische Figur:
Sie trägt keinen Namen, handelt als Bote, als Hermes, vielleicht auch als Engel zwischen den
Liebenden.140
Saariaho verwendet alle Instrumente des großen Orchesters mit erweitertem Schlagzeug,
die durch zahlreiche Spielarten, wie Tremoli, Vibrati, dynamische Schwankungen,
137
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 44.
138
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 14.
139
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43.
140
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 15.
52
Mikrointervalle, tasto 141 , ponticello 142 , unterschiedlicher Bogendruck für die Streicher,
Dämpfer und Atemgeräusche für die Bläser143, zirkuläre Glissandi für die beiden Harfen, etc.
die klanglichen Möglichkeiten in hohem Maße erweitern. Auch die Sängerinnen nutzen die
verschiedenen Klangmöglichkeiten ihrer Stimme, indem sie kontinuierlich von einem Laut
zum anderen oder von einer Singart zu einer anderen übergehen, flüstern, sprechen, mit oder
ohne Vibrato singen etc.144
Ferner verwendet Saariaho elektronische Klänge, die gemeinsam mit dem Klang des
großen Orchesters und seinen mitunter oben beschriebenen unkonventionellen Spielarten
sowie den vielfältigen Facetten und klanglichen Möglichkeiten der menschlichen Stimmen
ein echtes Oszillogramm der Gefühle ermöglichen. Der Pianist bedient auch das Keyboard
und hat die Aufgabe, elektronische Klänge einzusetzen. Eine weitere Person ist für die
Balance zwischen den verschiedenen musikalischen Materialebenen zuständig. Saariaho lässt
in diesem Werk die Elektronik nur dann einsetzen, wenn die Klangfarbe und Orchestrierung
durch konkrete Geräusche erweitert werden soll, indem gefilterte Resonanzklänge und
Geräusche der Natur (zum Beispiel Vogelgesänge, Wind,...) der Orchestertextur angepasst
werden.145 Es geht Saariaho demnach nicht darum, elektronische Musik einzusetzen, um einen
elektronischen, virtuellen Klangeindruck zu erzeugen, sondern „es geht ausschließlich darum,
der Grundidee des spektralen Komponierens folgend Kontinuitäten zu schaffen, [...], die eine
reichere und subtilere Klangwelt ermöglichen“146.
141
Sul tasto meint eine bestimmte Spielart auf den Streichinstrumenten, bei der über dem Griffbrett gestrichen
oder gezupft wird. Effekt dieser Spielart ist die Reduktion von hohen Teiltönen. Siehe Art. Sulla tastiera, in: The
New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von Stanley Sadie, Bd. 18 (Spiridion-Tin whistle), New
York u.a. 1995, S. 355.
142
Sul ponticello meint eine bestimmte Spielart auf den Streichinstrumente, bei der sehr nah am Steg gestrichen
wird, um die unteren Teiltöne zugunsten der höheren zu vermindern. Effekt dieser Spielart ist ein dünner,
sphärischer Klang. Siehe Art. Sul ponticello, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von
Stanley Sadie, Bd. 18 (Spiridion-Tin whistle), New York u.a. 1995, S. 365.
143
Hier ist im Speziellen die Flöte – ein von Saariaho in ihren frühen Kompositionen bevorzugtes Instrument –
zu erwähnen, da der Flöte gleichzeitig Ton und Geräusch zu entlocken sind. „Der reine Ton der Flöte kann
unbegrenzt die Geräusche der unteren Register oder des Atems absorbieren [...]“: Ivanka Stoïanova, Kaija
Saariaho. Ein Komponistenporträt, in: Kritische Musikästhetik und Wertungsforschung. Otto Kolleritsch zum 60.
Geburtstag, hg. von Otto Kolleritsch, Wien/Graz 1996, S. 44.
144
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43.
145
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43-44.
146
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 44.
53
6.4. Inhalt
Die Oper erzählt in fünf Akten die Geschichte des im 12. Jahrhundert lebenden Troubadours
Jaufré Rudel, der sich, sehnend nach wahrer Liebe auf Erden, auf eine waghalsige und
letztlich tödliche Reise in den Orient wagt, um jene Frau kennenzulernen, die dieses
übermenschliche Glück zu verkörpern scheint.147
Die fünf Akte, denen ein Orchestervorspiel voran geht, bestehen aus zwei bis vier Bildern,
deren Titel – wie alle Werke Saariahos – bereits eine gewisse Stimmung, eine Assoziation,
einen bestimmten (bedeutenden) Namen oder Ort beschreiben:
Orchestervorspiel: Überfahrt
1. Akt, erstes Bild: Jaufré Rudel ; zweites Bild: Der Pilger
2. Akt, erstes Bild: Clémence ; zweites Bild: Der Pilger
3. Akt, erstes Bild: Im Schloss von Blaye ; zweites Bild: In Tripoli am Strand
4. Akt, erstes Bild: Indigofarbenes Meer ; zweites Bild: Traum ; drittes Bild: Sturm
5. Akt, erstes Bild: Der Garten der Zitadelle in Tripoli ; zweites Bild: Wenn doch der Tod
warten könnte ; drittes Bild: Ich hoffe noch ; viertes Bild: Zu dir, der so fern ist
6.4.1. 1. Akt
Der erste Akt basiert auf dem Eingangssatz der vida: „Et enamoret se de la comtessa de Tripol,
ses vezer, per lo ben qu’el n’auzi dire als pelerins que venguen d’Antiocha.“ – „Und er
verliebte sich in die Gräfin von Tripolis, ohne sie je gesehen zu haben, nur ob des Guten, das
er Pilger, die aus Antiochia zurückkehrten, von ihr hatte sagen hören.“148
Erstes Bild: Jaufré Rudel (Jaufré, Chor der Gefährten)
Der erste Auftritt gehört dem durch diffuse Sehnsüchte nach einer fernen Liebe getriebenen
Troubadour. „Ich lernte, vom Glück zu sprechen, aber glücklich zu sein habe ich nicht
gelernt“, gesteht sich Jaufré ein. Er ist des vergnügungssüchtigen, oberflächlichen Lebens
eines jungen Adeligen überdrüssig geworden. Seine Weggefährten erinnern ihn an die
147
Sämtliche Inhaltsbeschreibungen der Oper stammen von folgenden Quellen: Angelica Rieger, Amour de loin.
Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung –
Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und
Peter Ihring, Berlin 2005, S. 301-302 sowie Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München
2005, S. 16-18.
148
vida und deren deutsche Übersetzung online verfügbar unter http://www.literaturwissenschaft-online.unikiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/liebesdichtung_antike_barock/Troubadour_Folien.pdf
54
Leichtigkeit seines bisherigen Daseins, doch er entgegnet ihnen: „Diesen Jaufré, der jede
Nacht seinen Körper auf dem einer Frau wiegte, wird man nie mehr sehen.“ Vielmehr weiß er
nun: Die Frau seiner Sehnsüchte, die er in seinen Liedern besingt, „ist so fern, dass ich sie nie
umfangen werde ... Schön, ohne den Hochmut der Schönheit, vornehm ohne den Hochmut
des vornehmen Standes. Fromm ohne den Hochmut der Frömmigkeit.“ Seine Gefährten aber
verspotten
ihn.
Sie
appellieren
an
den
Liebeskranken,
sein
früheres
Leben
wiederaufzunehmen und insinuieren, die von ihm besungene ideale Geliebte existiere gar
nicht.
Zweites Bild: Der Pilger (Pilger, Jaufré, Chor der Gefährten)
Der Pilger erscheint und berichtet von der Existenz einer Frau, die den Sehnsüchten Jaufrés
entspricht. Auf einer seiner Reisen hat er sie in Tripolis getroffen. Jaufré ist von der
Erzählung des Pilgers völlig verzaubert: „Was hast du mit mir gemacht, Pilger? Du hast mir
die Quelle gezeigt, aus der ich nie trinken werde. Nie wird die ferne Dame mein sein, ich aber
bin der ihre für immer.“ Der Bericht des Pilgers versetzt den Prinzen erst in die Lage, seiner
„amor de lonh“ ein Gesicht zu geben.
6.4.2. 2. Akt
Dieser Akt hat keine Entsprechung in der vida.
Erstes Bild: Clémence (Clémence, Pilger)
Der Pilger kehrt über das Meer zurück in den Orient nach Tripolis und trifft auf Clémence,
die Gräfin von Tripolis, die jedes Schiff mit Spannung erwartet. Sie wurde einst im
Abendland, bei Toulouse geboren. Jedes ankommende Schiff erinnert sie an ihr Exil, jedes
ablegende Schiff an ihre Verlassenheit: „Das Land, wo ich geboren bin, lebt in mir, doch für
es bin ich gestorben. Wie glücklich wäre ich, würde eine einzige Mauer, ein einziger Baum
sich meiner erinnern.“ Doch ein Mann denke dort, im fernen Aquitanien an sie, berichtet ihr
der Pilger, ein Troubadour, der sie in seinen Liedern als unbekannte Schönheit, als „Liebe aus
der Ferne“ besingt. Mit welchem Recht tut er dies?, fragt sich Clémence befremdet.
Zweites Bild: Liebe aus der Ferne (Pilger, Clémence)
Als der Pilger ihr – in französischer Sprache – Auszüge aus Lanqand li jorn son lonc on mai
vorsingt, bleibt die Gräfin, die zuerst gehörten Verse sinnend auf Okzitanisch wiederholend,
55
tief bewegt zurück. Clémence ist ergriffen und zugleich zweifelnd: „Wenn dieser Troubadour
mich kennen würde, hätte er mich dann so inbrünstig besungen? ... Troubadour, ich bin nur
schön im Spiegel deiner Worte.“
6.4.3. 3. Akt
Erstes Bild: Auf der Burg von Blaye (Jaufré, Pilger)
Der dritte Akt beginnt mit der Rückkehr des Pilgers an Jaufrés Hof und dessen Bericht von
seiner Begegnung mit der Gräfin von Tripolis. Jaufré befragt ihn begierig nach seiner fernen
Liebe. Zunächst erzürnt darüber, dass der Pilger der Unbekannten die Identität des Prinzen
preisgegeben hat, dessen Liebe gestand und es sogar wagte, dessen Gedichte zu rezitieren,
beschließt Jaufré, sich auf die Reise zu ihr zu begeben: „Es war angenehm, sie nach Muße zu
betrachten, ohne dass sie mich sah. Es war einfach, meine Lieder zu schreiben, da sie sie nicht
hörte. Aber jetzt müsste sie sie aus meinem und keinem anderen Munde hören.“ Dieses Bild
zeigt Jaufré Rudels aus der Auseinandersetzung mit den Freunden und dem Pilger
resultierenden Entschluss, sich einzuschiffen. Nur dieser Teil ist durch die vida motiviert, in
der es heißt: „Et per voluntat de leis vezer, el se croset e se mes en mar,“ („Und weil er sie
sehen wollte, nahm er das Kreuz und schiffte sich ein,“149).
Am Ende dieser Szene wird auch deutlich, dass die Gräfin ihren so ganz und gar nicht
okzitanischen Vornamen aus dramaturgischen Gründen trägt: Als der Pilger auf Jaufrés
Aufforderung hin gegen Ende dieses Bildes ihren Namen nennt: „Clémence, elle se
prénomme Clémence“ („Clémence, ihr Name ist Clémence“) lässt sich der Troubadour
prompt zu folgendem Wortspiel hinreißen: „Clémence, Clémence, comme le Ciel es clément!
Clémence, la mer clémente va se refermer devant moi, pour que je puisse la franchir á pied
sec jusqu’au pays où tu respires“ – „Clémence, Clémence, wie der Himmel gnädig ist!
Clémence, das gnädige Meer wird sich vor mir schließen, damit ich es trockenen Fußes
überqueren kann, um in das Land zu gelangen, in dem du atmest.“
Zweites Bild: In Tripolis am Strand (Clémence, Chor der Frauen von Tripolis)
Clémence singt auf Okzitanisch am Meer die beiden letzten vom Pilger gehörten Strophen
von Lanqand li jorn son lonc en mai. Die Frauen, die sie umgeben kommentieren kritisch den
besungenen Liebesbegriff der „amor de lonh“: „Welche Frucht kann diese Liebe aus der
149
vida und deren deutsche Übersetzung online verfügbar unter http://www.literaturwissenschaft-online.unikiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/liebesdichtung_antike_barock/Troubadour_Folien.pdf
56
Ferne tragen? ... Leidet ihr nicht darunter, dem Geliebten fern zu sein?“ Doch Clémence
scheint die Distanz wahren zu wollen: „Seine Lieder sind mehr als Zärtlichkeiten, und ich
weiß nicht, ob ich den Mann so lieben würde wie den Dichter ... Zweifellos würde ich leiden,
wartete ich auf diesen Mann und er käme nicht. Aber ich warte nicht auf ihn.“
6.4.4. 4. Akt
Der 4. Akt entwickelt das Motiv der Seereise parallel zu den wachsenden Ängsten Jaufré
Rudels vor der tatsächlichen Begegnung mit der fernen Liebe, seine Krankheit und die
Ankunft in Tripolis als Sterbender. Damit entspricht der vierte Akt eng der Vorgabe der vida,
in der geschrieben steht: „e pres lo malautia en la nau, e fo condug a Tripoli, en un alberc, per
mort“ („und auf dem Schiff wurde er krank, und er wurde nach Tripolis in eine Herberge
gebracht, wo man ihn für tot hielt“150), allerdings wird (im fünften Akt) die Herberge durch
den Hafen von Tripolis, am Fuße des Palastes der Gräfin ersetzt. Außerdem ist der vierte Akt
durch eine Traumvision Jaufré Rudels von der „Gräfin über den Wassern“ angereichert.
Erstes Bild: Indigofarbenes Meer (Jaufré Rudel, Pilger)
Jaufré Rudel fährt zum ersten Mal auf dem Meer. Der Pilger hingegen hat das Meer schon oft
bereist und schwärmt von der Weite des Himmels und dem Duft der Wellen. Für Jaufré gibt
es nur einen Gedanken: Die Reise endet bei Clémence.
Zweites Bild: Traum (Jaufré Rudel, Pilger)
Jaufré hat von seiner fernen Geliebten geträumt: „Sie wandte sich um und öffnete die Arme,
aber ich wagte nicht, zu ihr zu gehen.“ Er hat Angst, sie nicht zu finden, und Angst, sie zu
finden, Angst zu sterben und Angst zu leben. Der Traum ist ein in der Troubadourlyrik weit
verbreitetes, auch vom historischen Jaufré Rudel gern variiertes, ursprünglich erotisches
Motiv151.
Drittes Bild: Sturm (Jaufré Rudel, Pilger, Chor)
Jaufré fiebert der Ankunft bei seiner „Liebe aus der Ferne“ entgegen, doch er fürchtet sich
zugleich davor. Seine immer angstvoller werdenden Gedanken machen ihn krank. Je näher sie
150
vida und deren Übersetzung online verfügbar unter http://www.literaturwissenschaft-online.unikiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/liebesdichtung_antike_barock/Troubadour_Folien.pdf.
151
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 305.
57
Tripolis kommen, umso mehr bereut er seine Reise: „Ich war Adam, und das Fernsein war
mein irdisches Paradies. Warum musste ich zum Baum gehen? Warum musste ich nach der
Frucht greifen?“
6.4.5. 5. Akt
Erstes Bild: Garten auf der Zitadelle (Chor der Frauen von Tripolis, Clémence, Pilger)
Die Frauen von Tripolis verkünden die Ankunft Jaufré Rudels. Clémence ist in ihren
Gefühlen schwankend: „Also ist er gekommen. Der Liebestolle ist übers Meer gefahren, um
mich zu sehen, so wie ich bin ... Sollte ich fernbleiben, unnahbar? Oder mich im Gegenteil
nah zeigen?“ Der Pilger kommt und berichtet, dass Jaufré Rudel schwer krank ist und nur
Clémence seinen Tod noch aufhalten kann.
Zweites Bild: Wenn der Tod warten könnte (Jaufré Rudel, Clémence, Pilger, Chor der
Gefährten)
Alle sie umgebenden Bedenken sind verschwunden, als Clémence und der todkranke Jaufré
Rudel zusammentreffen. Sie gestehen sich gegenseitig ihre innige Liebe. Jaufré Rudel stirbt in
den Armen von Clémence mit den Worten: „In diesem Augenblick habe ich alles, was ich
begehre. Was mehr vom Leben verlangen?“
Drittes Bild/Viertes Bild: Meine Hoffnung bleibt/Zu dir, der so fern ist (Clémence, Chor,
Chor der Frauen von Tripolis, Pilger, Chor der Gefährten)
In ihrer Verzweiflung empört sich Clémence gegen Gott: „Ich hatte gehofft, dass Du einem so
liebenden Wesen noch mehr Liebe erweisen würdest.“ Die Stimmen des Chores – die Strafe
Gottes fürchtend – versuchen zu besänftigen. Clémence, die sich nun keinem anderen Mann
mehr hinzugeben vermag, beschließt, ins Kloster zu gehen. Ob sie am Ende ihre Gebet an
ihren fernen Gott oder an den fernen Geliebten richtet, bleibt offen: „Wenn Du Liebe heißt,
bete ich nur Dich an, Herr [...] Vergib mir meine Zweifel an Deiner Liebe [...] und Dir. Herr,
Du bist die Liebe, Du bist die Liebe aus der Ferne.“
58
7. Kompositionsstil Kaija Saariahos
Ich teile die Musik in verschiedene Kategorien, nach der Natur der Klänge, nach ihrer
Oberfläche, ist sie körnig oder weich, oder nach der Helligkeit des Spektrums, danach, ob das
Spektrum sehr klar und rein ist oder ob es komplex ist, je komplexer, um so mehr Anteile von
Geräusch hat der Klang in sich.152
Für Saariaho existiert eine enge Verbindung zwischen Musik und Visualität. Ob dies mit ihrer
zweiten Leidenschaft, der Malerei, die sie vor dem Kompositionsstudium zwei Jahre studierte,
zusammenhängt, kann sie selbst nicht bestätigen. Sie stellt sich Orchesterklänge immer in
Form von Farben oder Lichtnuancen vor. Bevor sie zu komponieren beginnt, macht sie sich
ein Gesamtbild der Komposition. Sie überlegt sich die Mittel, die sie für die Umsetzung
dieser Vorstellung benötigt. Die graphische Skizzenarbeit hilft ebenfalls, ein Gesamtbild
entstehen zu lassen, aus diesem in der Folge eine Gesamt-Atmosphäre der Arbeit und der
Einzelbausteine resultiert. Dieses imaginäre Gesamtbild bildet das Fundament für die
Komposition, erst danach beginnt sie, das konkrete Material zu entwickeln.153
Das Komponieren ist für Saariaho „ein stetiges Gespräch zwischen dem bewussten
Gedanken und dem Unbewussten.“154
7.1. Auf der Suche nach Gegensatzpaaren
Saariaho sucht „neuartige Gegensatzpaare, mit deren Hilfe [sie] das Denken und die Zeit, also
die Musik, gestalten bzw. strukturieren kann.“155 Charakteristisch für Saariahos Stil sind die
langsamen Wechsel und Verwandlungen, offenen Schlüsse und die Endlosigkeit. Die
Affinität zur melodischen Dimension ist erst Mitte der 1990er Jahre in ihren Kompositionen
bemerkbar – in diesen Jahren komponiert sie vermehrt Vokalwerke, wodurch die Melodie
152
Zitat von Kaija Saariaho, verfügbar in Onlinequelle unter Zander, Margarete: „Ich möchte nicht elitär
sein“ Die finnische Komponistin Kaija Saariaho ist „composer in residence“ von KLANG!: http://www.klanghamburg.de/die-projekte/composer-in-residence/kaija-saariaho-0809/.
153
Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und
bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 81-82.
154
Michael Kurtz, Kaija Saariaho auf dem Weg zu ihrer Oper „L’amour de loin “. Musik und die visuelle Welt
und vielfältige Facetten der Stimme, in: Offizielles Programm der Salzburger Festspiele 2000, hg. von Friedel
Schafleitner, Salzburg/Wien 2000, S. 158.
155
Zit. nach Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho,
hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 28.
59
eine größere Bedeutung für sie erhält.156 Theo Hirsbrunner sieht Saariahos Musik vor allem
durch die „Etablierung eines Kontinuums, das allmählich vom Geräusch zum Klang
kommt“157, charakterisiert.
Saariahos Kompositionsstil ist geprägt von der Idiosynkrasie gegenüber traditionellen
Kompositionskategorien, die nicht nur in der absoluten Verweigerung liegt, Stücke in
Sonatenform oder Fugentechnik zu schreiben, sondern viel weiter noch, in der teilweisen
Elimination von Melodie, Harmonik und Rhythmus als zentrale vertikal-horizontale
Zusammenhänge stiftende Kräfte. Jungheinrich spricht von der präzisen Strukturierung des
Ungefähren, das sie sich offensichtlich bei György Ligetis und Klaus Hubers
Vernetzungstechnik von Tonelementen sowie Brian Ferneyhoughs Zerstäubungsstrategie
abgeschaut hat.158
Während die Dualismen des Futurismus solche wie Technik und Natur, Kunst und
Wissenschaft sind, arbeitet Saariaho synthetisch und von der unkonventionellen, wahrhaftigen
menschlichen Psyche ausgehend, die Individualität des Einzelnen respektierend und ihre
eigene Individualität bedingungslos preisgebend.159
Saariahos Werke zeichnen sich ebenso durch synästhetisch–intermediale Komponenten aus.
Diese Dualismen transportiert Saariaho auf zwei unterschiedlichen Ebenen:
Zum Einen
arbeitet sie mit dem klassischen und erweiterten Orchester- und Schlagwerkapparat in
Kombination mit elektronischen Liveverfahren; zum Zweiten ist es Saariaho ein Anliegen, die
verschiedenen Prozesse, Peripetien der menschlichen Psyche und das gleichzeitige
Vorhandensein gegensätzlicher, aber dennoch in einem einzigen Individuum seienden
Emotionen mithilfe des Klanges auszudrücken.
Saariaho wird häufig gefragt, ob sie ihren Kompositionsstil als besonders „weiblichen“ Stil
beschreiben würde. Sie selbst will vom spezifisch „weiblichen“ Komponieren jedoch nichts
wissen160. Das Element einer weiblichen Ästhetik bei Saariaho könnte eventuell aufzuspüren
sein, indem man ihre Kompositionen mit den Komponenten des Pflanzenhaften, Organischen,
156
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 13.
157
Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei
den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 31.
158
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin?
Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 15.
159
Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von
Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 28.
160
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin?
Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S.13.
60
Nichtabrupten in Verbindung bringt. 161 Jedoch ist es nicht möglich, in der Partitur auf
Einzelheiten hinweisen zu können, von denen behauptet werden könnte, dass sie kein Mann
komponieren hätte können. 162 Saariaho möchte mit der Oper L’amour de loin eine „Art
Meditation über die Liebe und den Tod“ komponieren. Mit Musik, so Saariaho könne man
„Dinge ausdrücken, die man nicht so leicht mit konzeptuellem Denken und mit präziser
Sprache beschreiben kann.“163
7.2. Graphische Notizen
Neben ihrer Ausbildung in seriellen Kompositionstechniken ist Saariahos musikalisches
Denken durch die darstellende Kunst und vor allem durch die Farbenlehre von Johann
Wolfgang Goethe und Vasilij Vasil’evič Kandinskij geprägt. Sie inspirieren sie nicht nur dazu,
mit dem Übergang zwischen Vokalen und Konsonanten zu experimentieren und einen
Übergangsprozess zwischen Geräusch und Klang zu generieren 164 , sondern sie nutzt ihr
graphisches Denken vor allem in der Anfangsphase des Kompositionsprozesses, bevor eine
Note überhaupt geschrieben wird. Mit grafischen Hinweisen zur Gestaltung der
Geräuschepolyphonie arbeiteten auch die Futuristen Marinetti und Russolo.
165
Diese
Werkskizzen, die mehr an Zeichnungen als an eine Musiknotation erinnern, dienen dazu,
einen Überblick über den Verlauf der Form zu bekommen.166
Da für die Oper L’amour de loin keine graphischen Notizen als Kopien oder Autographe
zur Verfügung stehen, soll hier die erste Skizze 167 des Werkes Verblendung 168 abgebildet
werden, um einen kleinen Einblick in das bildhafte Denken der zu komponierenden Musik bei
Saariaho zu gewinnen:
161
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin?
Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 13-14.
162
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin?
Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 14.
163
Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und
bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 85.
164
Sanna Iitti, Art. Saariaho, Kaija (Anneli), geb. Laakkonen, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart.
Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von
Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2005, Personenteil Bd. 14, Sp. 733-737.
165
Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, Mainz
2007, S. 28.
166
Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich,
in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt:
Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller,
Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 204.
167
Pirkko Moisala, Kaija Saariaho, Urbana und Chicago 2009, S. 31.
168
In diesem Werk kombiniert Saariaho das erste Mal aufgenommene Musik mit Live-Musik.
61
7.3. Rhythmus
Während Rhythmus in den früheren Werken Saariahos ein weniger zentraler musikalischer
Parameter war, bezieht Saariaho seit mittlerweile über zehn Jahren das Element Rhythmus
immer mehr in ihre kompositorische Arbeit ein. Ein Unterschied ist hierbei zwischen den
beiden Opern L’amour de loin und Adriana Mater zu erkennen. Während in der Oper
L’amour de loin der klangliche Ausdruck von Emotionen im Vordergrund steht, ist Rhythmus
bei der zweiten Oper geradezu omnipräsent. Jungheinrich sieht den Rhythmus bei Saariahos
Musik zu L’amour de loin als kein Ausdrucksmedium, sondern vielmehr wachsen und
wuchern aus den elementaren, eine gewisse Raumsicherheit herstellenden Anfängen,
pflanzenartige musikalische Gestalten oder auch vielfältig opalisierende (glänzende), wie in
unendlichen Lichtreflexen zart sich verändernde Gesteinsformationen169. Den prononcierten
aktiven Rhythmus wählt sie, bei ihrer zweiten Oper Adrian Mater, so Jungheinrich, um
Gewalt und größte Spannung musikalisch adäquater darstellen zu können. Abgesehen davon
verwendet Saariaho in dieser zweiten Oper keine konkreten elektronischen Klänge, jedoch
nutzt sie elektronische Hilfsmittel, um die Musik aus dem Orchestergraben herauszuholen und
auf durchdachten Wegen durch das Publikum wandern zu lassen.170
169
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin?
Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 15.
170
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 45.
62
Saariaho selbst sieht indessen in der Oper L’amour de loin sehr wohl eine starke
Einbeziehung des Rhythmus. Jaufré, Clémence und der Pilger, drei unterschiedliche
Charaktere, haben ihr individuelles musikalisches Material, wobei sich jedes auch durch
seinen eigenen Rhythmus auszeichnet. Saariaho dazu:
Jaufré ist sehr aktiv. Bei ihm ist die Musik pulsierend und vorwärts bewegend. Im Gegensatz
dazu gibt es bei Clémence fast keinen Rhythmus, außer wenn sie zornig wird. Die Musik, die
sie charakterisieren soll, ist mehr eine räumliche Ausdehnung als eine zeitliche Bewegung.
Der Chor hingegen hat sehr oft aktive und primitive rhythmische Elemente. Das musikalische
Material weist also sehr unterschiedliche und gegensätzliche rhythmische Parameter auf.171
Nicht nur die Protagonistinnen sind durch ihren eigenen Rhythmus charakterisiert, sondern
der Orchesterklang scheint immer wieder das Pulsieren des Meeres aufzugreifen. Für Maria
Deppermann ist der Rhythmus in dieser Oper zwar schwer auszumachen, dennoch wird er als
„Pulsieren des Meeres, des Atems und des Herzens [...] hörbar“172 und die letzten Herztöne
Jaufré Rudels hört man im Orchester (Zimbeln und erste Violinen) zu seinen Worten:
Was könnte ich mehr vom Leben verlangen? (V, 99)
171
Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und
bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 84.
172
Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 25.
63
Nach den letzten Worten Jaufrés folgen noch drei „Herzschläge“ mit den Zimbeln, die
Violinen
173
beenden die Achtelbewegung auf h2 ebenfalls einen Takt später – eine
Generalpause lässt diesen Moment inne halten.
7.4. Aller Anfang ist der Einzelton: Metabolismus als kompositorisches
Grundprinzip
Ein weiteres Charakteristikum von Kaija Saariahos Kompositionsprozess ist der Beginn des
Werks mit nur einem Einzelton, der durch verschiedene Instrumente wandert, dabei oszilliert,
sich immer mehr verfärbt und lebhaft umspielt wird. Jungheinrich spricht in diesem
Zusammenhang von dem Begriff „Klangfarbenmelodie“, aber er würde diese musikalische
Form noch mehr als ein sich „Herausentwickeln von Formen und Gestalten aus einer
punktförmigen Latenz“ beschreiben.174 Saariaho lässt die Oper aus einem einzigen Akkord,
quasi einem Aggregat heraus entstehen, der das gesamte Werk durchdringt. In der Oper
L’amour de loin wird dieser Akkord bereits beim Orchestervorspiel Überfahrt an erste Stelle
gesetzt.175
7.5. Harmonie-Klangfarbe – ein kompositorisches Charakteristikum
Der Begriff der Harmonie-Klangfarbe (l’harmonie-timbre) ist zentral in Saariahos
Kompositionsschaffen. Das Streben nach einer einheitlichen, kohärenten Komposition ist
sowohl in ihren Werken allgemein, aber vor allem in den Opern zentral. Diese Einheit und
Kohärenz basieren auf der grundlegenden Harmonie-Klangfarbe. Diese Harmonie-Klangfarbe
definiert die musikalische Substanz, sie ist quasi ein gedachtes Konzentrat, ein
mehrschichtiger und mehrdeutiger Kern, aus dem die spezifischen musikalischen Charaktere
entstehen, so zum Beispiel die individualisierte Sprache der Protagonistinnen. Die HarmonieKlangfarbe ist so etwas wie eine „musikalische Grundfarbe der Szene“176. Die spezifischen
173
Sämtliche Musiknotenbeispiele sind entweder der Partitur Kaija Saariaho. L’amour de loin.
„high“ Clémence part. Full Score. Acts I-V, Chester Music 2005 (in der Folge zitiert mit Akt, Taktangabe,
Seitenzahl) oder des Klavierauszuges Kaija Saariaho. L’amour de loin. Vocal score. Chester Music 2002 (in der
Folge zitiert mit Akt, Taktangabe, KIA, Seitenzahl) entnommen.
174
Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin?
Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 14.
175
Siehe dazu im Kapitel 8.1.
176
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38.
64
musikalischen Charaktere erhalten erst durch das Entstehen und Herausarbeiten von Skalen,
Melodien, Imitationen, Akkorden, Geräuschen, von dichten Texturen, detaillierten Clustern
etc.
aus
der
zugrundeliegenden
Harmonie-Klangfarbe
ihre
Lebendigkeit.
Dieser
Entstehungsprozess nimmt in Saariahos Kompositionen meist durch einen einzelnen Klang –
sozusagen der präzisen Idee einer Harmonie-Klangfarbe, ihren Anfang.177 Diese präzise Idee
wird bereits am ersten Klang der Oper L’amour de loin musikalisch formuliert.178
In der Opernszene hängt diese musikalische Formentwicklung, dieses Entstehen, sich
Weiterspinnen eng mit der narrativen Handlung, mit der Bedeutung des Textes und vor allem
mit den inneren Gefühlszuständen des einzelnen Protagonistinnen bzw. mit den Peripetien
und Spannungen in der Handlung zusammen. Damit setzt Saariaho anstatt der thematischen
Einheiten und der abstrakten klassischen Formschemata in der klassischen und romantischen
Tradition den analysierten Klang, der sich in alle Richtungen ausbreiten kann, und sich damit
dynamische Formentfaltungen der musikalischen Materie ergeben, in den Mittelpunkt ihres
kompositorischen Schaffens. Der Begriff der grundlegenden Harmonie-Klangfarbe impliziert
jedoch nicht, dass es eine einzige im gesamten Werk gibt und sich daraus alle spezifischen
Charaktere ableiten, sondern jede Szene wird durch ihre Harmonie-Klangfarbe individuell
prägnant – dies nicht zuletzt deshalb, um individuelle Charaktere, Situationen und Gefühle
adäquat musikalisch zu schildern. Wichtig ist, dass trotz dieser dynamischen Entfaltung des
musikalischen Materials Zusammenhänge nachvollziehbar bleiben. Deshalb müssen die
Harmonie-Klangfarben leicht erinnerbar sein, damit dem Zuhörer die Projektionen,
Spreizungen und Entfaltungen als kohärenzschaffende, anziehende Kraft erkennbar werden.
Das heißt, die Harmonie-Klangfarbe erfüllt als Urgrund der musikalischen Idee sowohl die
Möglichkeit der freien „Explosion, Projektion oder Expansion in alle Richtungen“ als auch
eine präzise, sich auf sie beziehende Kraft, die eine Einheit und die Kohärenz des Gesamten
erkennbar gestalten lässt. Die Harmonie-Klangfarbe ist somit weder eine starre thematische,
noch eine unreflektiert flexible Substanz, sondern eine „Art Matrix, aus der musikalisches
Leben [...] entsteht.“ Das Charakteristikum dieser Matrix, die auf Grundlage der HarmonieKlangfarbe beruht, ist die Mehrdimensionalität.179
Das Komponieren auf Basis eines Klangspektrums oder einer Harmonieklangfarbe, die
sowohl eine Einheit bildet als auch Flexibilität durch metabolische Variationen zeigt, ist im
20. Jahrhundert bereits durch Arnold Schönbergs Kompositionen, vor allem durch das Stück
177
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38.
178
Siehe dazu Kapitel 8.1.
179
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 39.
65
„Farben“ aus den Sechs Orchesterstücken op. 16 bekannt. Überhaupt stellt dieses Stück, bei
dem die Akkordfärbungen durch polyphone Verschiebungen in den verschiedenen Schichten
der Orchestertextur sowie der detaillierten Instrumentierung des stets fünfstimmigen Akkords
entstehen, das erste Beispiel des Phänomens der Harmonie-Klangfarbe in der Geschichte der
europäischen Musik dar. 180 Dieses Stück beruht im Prinzip auf einer sich ständig, streng
kontrollierten Wechselbeziehung zwischen Harmonie und Klangfarbe. 181 Die Einheit des
musikalischen Materials und die Kohärenz der Großform ist durch die Harmonie gegeben. So
ähnlich wie Schönberg gewährleistet die grundlegende Harmonie-Klangfarbe bei Saariaho die
Einheitlichkeit des musikalischen Materials und die Kohärenz der musikalischen Form.
Während Schönberg die Kontinuität zwischen den beiden traditionellen, sich voneinander
abgrenzenden Parametern Tonhöhe (Harmonie) und Klangfarbe zurückgreift, schafft Saariaho
durch neue Technologien der elektronischen Musik und Klangsynthese Kontinuitäten, die die
konventionellen Parameter endgültig aufheben. Dadurch ist ihre Harmonie-Klangfarbe ein
flexibles Resultat des Zusammenwirkens mehrerer Parameter. 182 Stoïanova sieht Saariahos
Harmonie-Klangfarbe deshalb als:
[...] lebende musikalische Materie, die noch die geringsten Bewegungen der Tonhöhen, der
Klangfarben, der Dauern, der Lautstärken, der mit den Spielarten verbundenen Geräusche usw.
in ihrer ständigen Wechselbeziehung einschließt.183
Diese „organische Entfaltung“ des musikalischen Materials bzw. der Materie definiert
Stoïanova als „metabolische entwickelnde Variation“ bzw. als „metabolische Entfaltung“.
Saariaho sinfonisches Denken ist charakterisiert durch diese metabolische Entfaltung, die
grundsätzlich offen und flexibel ist, gleichzeitig weist sie eine starke Kohärenz zwischen den
einzelnen Entwicklungen auf.184
Dieses ständige Werden, sich Herausentwickeln, sich Entfalten ist eine sehr französische
Tendenz, wie sie beispielsweise die Musik Debussys zeigt. Zu erwähnen ist in diesem
Zusammenhang nochmals der Einfluss der Spektralisten Gérard Grisey und Tristan Murail,
180
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 39-40.
181
Ivanka Stoïanova, Kaija Saariaho. Ein Komponistenporträt, in: Kritische Musikästhetik und
Wertungsforschung. Otto Kolleritsch zum 60. Geburtstag, hg. von Otto Kolleritsch, Wien/Graz 1996, S. 61.
182
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 40.
183
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 40.
184
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 40.
66
von denen Saariaho die spektrale Kompositionstechnik kennenlernte. In den 1970er Jahren
beginnt Grisey, akustische Phänomene auf ihre Struktur der Partialtöne hin zu analysieren, um
daraus ein ganzes Stück abzuleiten. Tatsache ist, dass bereits Debussy und Maurice Ravel
zuvor mit Akkorden gearbeitet haben, deren Terzaufbau bis zum elften Partialton reichen.
Grisey und Murail gehen aber noch ein Stück weiter, indem durch Umschichtungen und
Transpositionen neue Akkordtypen, die weder als konsonant, noch dissonant einzustufen sind,
entstehen – damit lebt die typisch französische Ästhetik des schönen Klanges, wie ihn
Debussy und Ravel kultiviert haben, wieder auf. Saariaho kommt in ihrer Ausbildung durch
ihren Lehrer Olivier Messiaen, der quasi als Vermittler dient, in intensiver Berührung mit der
Kunst der Klangfarben, mit der Kunst der „accords de résonance“.185
Theo Hirsbrunner hat sich mit Debussys Klang und dessen Verwandtschaft mit Saariahos
Klang beschäftigt. Für ihn ist die Etablierung eines Klangfarben-Kontinuums ein wichtiges
kompositorisches Prinzip: Klangfarben werden in rhythmische Proportionen gebracht, die
wiederum eng mit der Natur der Farben verbunden sind. Tonfiguren und Motive in Richtung
eines Höhepunktes prozessual zu verarbeiten, war Debussy fremd:
[Debussy] suchte […] nach einem ständigen Werden der Klangmassen. Die Musik wird wie
neu erfunden und steigt aus einem Urplasma auf. Dieser Vorgang kann zum Beispiel sehr gut
verfolgt werden in Werken wie La mer (1905) und dem Anfang der Oper Pelléas et Mélisande
(1902), in der die Musik zum großen Teil mit dem stillen Wachstum des Waldes rund um die
Burg Allemonde vergleichbar ist: Symbol eines vegetativen Zustandes, vor dem alles
menschliche Wollen eitel erscheint.186
Obgleich die von Saariaho angewendete metabolische offene Variation an die Technik der
Ostinato-Schichten-Überlagerung187 erinnert, verzichtet sie auf das Grundprinzip des Ostinato,
nämlich die genaue, starre und systematische Wiederholung derselben musikalischen
Substanz. Dennoch ist die Idee der Wiederholung präsent,
[...] sie definiert aber eine spezifische Art von entwickelnder offener Variation. Die
Wiederholung in den verschiedenen Schichten der musikalischen Textur einer Szene
185
Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich,
in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt:
Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller,
Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 206.
186
Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei
den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 33.
187
Die Überlagerung von Ostinato-Schichten meint das Entstehen von Schichten durch Wiederholung eines
Musters.
67
absorbiert die Differenz, die Veränderung, die ständige Variation, um einheitliche, sich aber
immer erneuernde Klangtexturen zu schaffen, bei denen man die Wiederholung und die
polyphone Überlagerung beim Hören nicht mehr bemerkt. Diese Klangtexturen sind immer
kohärent, da sie auf ein und derselben harmonischen Basis gründen, und immer neu, weil sie
sich stets frei an die narrative Handlung anpassen.188
Stoïanova spricht auch von „variiertem Ostinato“ – und meint damit die zugunsten der
offenen sich entwickelnden Variation aufgehobenen Wiederholungen. Diese Flexibilität der
gesamten Textur wird unter anderem durch diese „Pseudo“-Ostinati ermöglicht, die sich
kontinuierlich verdichten, ein Crescendo bilden, sich allmählich verändern oder ganz
verschwinden, um in liegenden Klängen zu erstarren.189
Die gesamte Oper hindurch wird – meist von den Streichern – durch Liegetöne ein
Klangkontinuum erzeugt, das in vielen sich überlappenden und sich gegenseitig
verschleiernden Triolen, Sextolen, Quintolen, Repetitionstönen und Ostinati sowie Trillern
und Tremoli wie ein langsames Kontinuum, erinnernd an Nebelschwaden, voranschreitet.
Andreas Sandner spricht diesem Klang die „emotionale Kraft einer Litanei“ bzw. eines
„zweistündigen Ariosos im Tonfall orientalischer Märchen“ zu. Über diesen sich sukzessive
verändernden Klanggrund stechen die musikalischen Abweichungen besonders hervor.190
Neu sind die Klangtexturen unter anderem deshalb, weil Saariaho den Klang auf die
inneren, emotionalen Gemütszustände der einzelnen Figuren in der Oper sowie der Peripetien
der Handlung, die mit den inneren Gefühls-Bewegungen der handelnden Personen im Kontext
stehen, anpasst. Im folgenden Kapitel wird auf die musikalische Entfaltung der emotionalen
Bewegungen, des Seelenlebens der Protagonistinnen und deren Identitätsfindungsprozesse
eingegangen.
188
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 41.
189
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 42.
190
Wolfgang Sandner, Die Kraft der Litanei. Über Kaija Saariahos erste Oper „L’amour de loin“, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 52.
68
8. Musikalische Topoi bei Kaija Saariaho: Zu den emotionalen und
ästhetischen Komponenten in der Oper L’amour de loin
Saariahos Kompositionen bestechen durch ihre höchst emotionale und sensitive Komponente.
Sie selbst spricht von der gleichzeitigen Anwesenheit verschiedener Wirklichkeiten, die durch
die einzelnen unterschiedlichen Erfahrungen, die vielfältigen Blickwinkel und momentanen
Stimmungen zustande kommen. Obgleich daher immer eine Bewegung, ein Sich-Verändern,
einen Überfluss an „Material“ in der menschlichen Psyche und den Gedanken vorhanden sind,
gibt es dennoch einen einzigen Augenblick, der den Grundgedanken darstellt. Diesen
Grundgedanken, der sich durch alle „Schichten des Denkens, der Wahrnehmungsfähigkeit,
des Hörens, des Sehens“ 191 zieht und den Saariaho in der Zeit aufhält, um sich ihm in aller
Ruhe zu widmen, transportiert Saariaho musikalisch mit der kompositorischen Technik der
Klangfarben-Melodie.
Saariahos sinfonische Arbeit beruht auf einer präzisen Ausarbeitung von musikalischen
Charakteren, mit denen sie sich intensiv auseinandersetzt und die sie einander gegenüberstellt.
Ferner
schafft
sie
durch
Verdichtung,
Auflösung,
Ausweiten
und
Führen
von
Spannungsbögen ein dichtes Netz von Beziehungen, dessen narrative Inhalte ein kohärentes
Ganzes darstellen. 192 Für Ivanka Stoïanova zählt Saariaho somit zu den bedeutendsten
Vertretern des „starken Denkens“ in der Nachfolge der großen sinfonischen Komponisten der
europäischen Tradition.193
Musikalisches Material
Die mittelalterliche Figur des Troubadours Jaufré Rudel und seine der Oper zugrunde
liegende musikalische Dichtung Lanqand li jorn son lonc in mai lässt die Frage aufkommen,
ob die Komponistin einen musikalischen Bezug zu dem Künstlerkollegen aus dem 12.
Jahrhundert herstellt. Die Forschung ist sich darüber uneinig: Während Angelica Rieger und
wenige Musikkritikerinnen 194 keinen Rückgriff Saariahos auf die mittelalterliche Melodie
sehen, geht beispielsweise Hautsalo davon aus, dass die Komponistin zwar nicht direkt die
Melodie des historischen Jaufré Rudel übernimmt, diese dennoch in den Vokalpartien (vor
191
Zit. nach Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho,
hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 28.
192
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38.
193
Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38.
194
Angelica Rieger nennt hier einen gewissen Burton von der BBC sowie Frau Gabriele Luster, die für die
Zeitung Müncher Merkur die Musikkritik geschrieben hat.
69
allem in dem musikalischen Material der Figur des Troubadours) paraphrasiert 195. Auf die
Frage, wo und wie detailreich Saariaho das musikalische Material des historischen Jaufré
Rudel in die Musik der Oper integriert, wird in den einzelnen Unterkapiteln eingegangen.
Saariaho hat in ihrer Oper musikalische Stimmungsbilder eingebaut: Zusätzlich zur
Ouvertüre, die die atmosphärische Grundstimmung vermittelt, gibt es die beispielsweise das
Bild des Sturmes (4. Akt, 3. Bild) oder des Traumes (4. Akt, 2. Bild). In den folgenden
Unterkapiteln werden einzelne Szenen genauer analysiert, indem ein Fokus sowohl auf das
Libretto als auch auf die musikalische Gestaltung und Ausarbeitung dieses Texts sowie den
damit verbundenen emotionalen Gefühlswelten gesetzt wird.
Saariaho hat die Oper mit konventioneller Notenschrift und zusätzlichen Symbolen und
Abkürzungen abgebildet. Diese beziehen sich auf folgende spezifische Spielanweisungen der
Orchesterinstrumente:
M.V. molto vibrato (viel Vibrato)
S.V.
senza vibrato (ohne Vibrato)
Alle Triller (außer spezifisch angegeben) sollen mit dem höheren Halbton gespielt
werden.
S.P.
starkes sul ponticello Spiel der Streicher (nah am Steg streichen, um einen möglichst
scharfen Ton zu erzeugen)
S.T.
sul tasto der Streicher (weit weg vom Steg, am Bund streichen, um einen möglichst
gedämpften Ton zu erzeugen)
Erhöhung des Bogendrucks, um einen kratzenden Klang zu erzeugen, wodurch die
hörbare Tonhöhe allmählich vom Geräusch überdeckt wird.
Bogendruck verstärken, und wieder vom Geräusch zum Ton zurückkommen.
8.1. Ouvertüre – „Traversée“: Eine Miniatur des musikalischen Dramas
Eingeleitet wird die Oper von einer ausgedehnten Ouvertüre, die das musikalische
Hauptmaterial der Oper und das musikalische Drama als Miniatur präsentiert. Darauffolgende
Abschnitte schreiten in Form von musikalischer Prosa – dialogisch oder monologisch –
voran.
196
Die Ouvertüre wird von Saariaho als „Traversée“, demnach als eine
195
Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho:
Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114.
196
Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho:
Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S.113.
70
„Durchfahrt“ oder „Überfahrt“ bezeichnet. In ihr wird die tragische Geschichte mit all ihren
emotionalen Höhen und Tiefen in etwas mehr als fünf Minuten kompakt musikalisch
dargelegt. Saariaho lässt durch ihr „Traversée“ das Publikum in dieses emotionale
Spannungsfeld eintauchen. Das Orchestervorspiel ist in 12-taktige Abschnitte unterteilt, die
unterschiedliche Tempo- und Ausdrucksbezeichnungen (Lento, misterioso; Espressivo,
sempre calmo; Dolcissimo; Più grave u.a.) tragen.
Der Spektralklang, der quasi als Leitmotiv, als Leitakkord in der Oper fungiert, wird bereits
mit dem ersten Klang der Oper hörbar – er entspricht somit dem Ursprung der nachfolgenden
(Ver)Wandlungen, Entwicklungen und organischen Fortführungen. Dieser Spektralklang
bestimmt zwar nicht die gesamte Komposition (dies würde auch Saariahos Anspruch, die
inneren
emotionalen
auszudrücken,
und
psychischen
widersprechen),
jedoch
Prozesse
taucht
der
er
an
Protagonistinnen
Höhepunkten
musikalisch
in
deutlich
wiedererkennbarer Form auf: Der Beginn der Oper ist durch die ineinander verschachtelten
Partialtöne B und Fis markiert. 197 Folgende Abbildung 198 zeigt jenen Akkord, der sich im
Laufe der ersten zwölf Takte ausbreitet.
Er wird, beginnend mit den Kontrabässen, Harfen und Klavier, sukzessive mit dem
Hinzutreten weiterer Instrumente, wie Celli, Bratschen, Violinen und Flöten aufgebaut – quasi
aus dem Nichts entsteht in kurzer Zeit ein musikalischer Sog, der innerhalb von zwölf Takten
einen an berauschender Dichtheit kaum zu überbietenden Höhepunkt erfährt. Der
Klangteppich wird auf den Tönen b, d, e, fis, ais und h ausgebreitet.
197
Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich,
in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt:
Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller,
Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 207.
198
Pierre Michel, „Musique pour les oreilles“. De „Korvat auki“ à „Château de l’âme“ („Musik zum Hören“.
Über Kaija Saariahos Werk. Von „Korvat auki“ zu Château de l’âme), ins Deutsche übersetzt von Gerda
Gensberger, in: Kaija Saariaho/Amin Maalouf: L’amour de loin , Programmheft der Salzburger Festspiele,
Salzburg 2000, S. 25.
71
Nach diesen ersten zwölf Takten (die Anweisung lautet im T.13 „Espressivo, sempre calmo“)
beginnt sich inmitten dieses aufgefächerten Klanges eine bestimmte Melodienfolge
hervorzuheben. Einzeltöne dieser von den Vibraphonen ostinatohaft, fast tranceartig
durchgespielten Tonfolge, werden wiederum sukzessive von den Blech- und Holzbläsern
übernommen, wobei diese auf einem einzelnen Ton mehrere Takte verweilen, bis der Klang
eine bestimmte Schwelle an Dichtheit überschreitet, um sich wieder in eine neue Form zu
verwandeln – das Pflanzenartige, Metabolische, Organische, das Saariahos Kompositionsstil
eigen ist, zeigt bereits in den ersten dreißig Takten der Oper seine Ausprägung.
Die Piccoloflöten werfen immer wieder eine hohe 32stel-Figur ein, die an die (später
auftauchende) musikalischen Charakteristika von Clémence und an den Gesang einer
Nachtigall, die Jaufré im nachfolgenden Auftritt ruft, erinnert.
72
8.2. Musikalische Charakteristika der Figur Jaufré Rudel
Saariaho arbeitete die modale, aus der Feder des realen Troubadour Jaufré Rudel stammenden
Melodie Lanqand li jorn in die Oper, und vor allem in die Musik der Figur Jaufrés ein. Diese
Melodie ist bestimmt durch schrittweise Bewegung, orientalisch anmutende Verzierungen
und melodische Improvisation sowie Triolen-Figuren. Dass die Musik der Figur Jaufré Rudel
von der der Troubadoure abgeleitet ist, ist beispielsweise an dem arpeggierten Quart- und
Quintakkorden (in den Harfen) erkennbar.199 Saariaho paraphrasiert das musikalische Material
des historischen Jaufré Rudels, indem sie die diatonische modale Färbung in der
Klangidentität von Jaufrés Material übernimmt, wodurch ihm eine von den anderen beiden
Charakteren unterscheidbare Klangidentität verliehen wird. 200
Seine melodischen Linien bewegen sich im Ambitus einer Quinte oder Oktave und lehnen
sich an die mittelalterlichen Troubadourmelodien an, vermitteln aber gleichzeitig durch die
Halbtontriller bzw. Sechszehntelverzierungen einen an die arabische Musik erinnernden
Muezzingesang. Jaufré, der in diesem ersten Bild – auf der Suche nach musikalischer und
dichterischer Perfektion – hoch oben auf seinem Turm weilt, lässt schnell die Assoziation und
Stimmung des Orients aufkommen.
199
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 14.
200
Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho:
Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114.
73
8.3. Musikalische Charakteristika der Figur Clémence
Der Gesang der Clémence ist durch große Sprünge gekennzeichnet. Ferner gehören zu ihrer
Musik eine wiederholte aufwärts gerichtete Quintole, meist von den Harfen gespielt, und
kleinteilige, miteinander verschmelzende Motive, die in den Einleitungen zu ihren AuftrittsSzenen erklingen. Clémences Figur ist eng mit aufsteigenden Tonleitern verknüpft, die die
Interpretation nahe legen, in Richtung Himmel und zu Gott zu führen. 201 Clémence ist häufig
durch ein höheres Instrumentenregister, wie Triangel, Glocken, Piccolo, Harfe und Violinen
charakterisiert.202
Die Vokallinie Clémences hat stark ornamentalen Charakter mit langen Trillerpassagen in
hoher Lage.203 Meist enden ihre Melodiefiguren aufwärts (im Gegensatz zu jenen des Pilgers),
so wie es unten stehendes Beispiel zeigt, in dem Clémence ihre sehnsuchtsvolle Frage an den
Pilger richtet („Dieses Schiff, das gerade anlegt, wisst ihr, woher es kommt?“):
201
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 14-15.
202
Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho:
Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114.
203
Wolfgang Sandner, Die Kraft der Litanei. Über Kaija Saariahos erste Oper „L’amour de loin“, in: Woher?
Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 53.
74
Der Name Clémence geht auf das lateinische „clemens“ zurück und bedeutet so viel wie
„mild“ oder „gnädig“. 204 Im dritten Akt, erstes Bild lässt sich der Troubadour auf ein
dichterisches Wortspiel ein, als er vom Pilger den Namen der Prinzessin erfährt: „Clémence,
Clémence, wie der Himmel gnädig ist! Clémence, das gnädige Meer wird sich vor mir
schließen, damit ich es trockenen Fußes überqueren kann, um in das Land zu gelangen, in
dem du atmest.“ (III, 79). Für Angelica Rieger kommen auch andere dramaturgische
Überlegungen für die nichtokzitanische Namenswahl der Gräfin in Betracht, zumal zwei
Gräfinnen historisch belegbar sind: die Gräfin Odiarne oder deren Tochter Melisenda 205 .
Odiarne, so Angelica Rieger, sei für ein modernes Publikum kaum mehr als weiblicher
Vorname erkennbar und der Name Melisenda schon an die Titelheldin der einzigen Oper
Debussys, Pelléas et Mélisande (1902), vergeben.
8.4. Musikalische Charakteristika der Figur des Pilgers
Das musikalische Charakteristikum des Pilgers ist ein leicht identifizierbares abwärts
gerichtetes Motiv der vier Flöten und hat die Funktion, das Auftauchen des Pilgers zu
signalisieren:
In diesem Partiturbeispiel ist auch die von Saariaho hoch geschätzte, den Flöten
zugrundeliegende Ton-Geräusch-Vielfalt ersichtlich: Der schwarze Punkt über der
204
205
Namensbedeutungen über Onlinequelle verfügbar unter http://www.vorname.com/name,Clemence.html
Siehe dazu auch Kapitel 4.1.
75
Sextolenfigur der Alt-Flöte im Takt 326 signalisiert einen normale geblasenen Ton, der sich
im Laufe dieses Taktes zu einem „Luft/Atem-Ton“ („breath tone“) hin verändert.
Die Streicher werden in diesem Beispiel zu einem senza vibrato (S.V.; ohne Vibrato) bei
gleichzeitigem sul tasto (S.T.) Spiel angehalten.
Die Gesangspartie des Pilgers hat kein spezifisches Gepräge: Er ist eine musikalisch
transparente Figur, deren Material sich immer wieder verändert. Diese Veränderungen sind
abhängig davon, zu welcher der beiden Personen er sich in seiner Vermittlerfunktion nähert.
Der Gesang des Pilgers wird meist von den Mikrointervalle spielenden Streichern unterlegt206.
Die Mikrointervalle sind in der Partitur durch folgende Symbole gekennzeichnet:
206
Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin.
Begleitheft der DVD, München 2005, S. 14.
76
8.5. Das Lautenspiel Jaufré Rudels
Nach der musikalischen Einleitung wird das Publikum durch das erste Bild in die
mittelalterliche Welt der Troubadoure geführt: Jaufré Rudel, eine Leier in den Händen haltend,
ist im Begriff, ein Lied zu komponieren, aber es will ihm nicht so recht gelingen, den Text
und die Noten zu ordnen:
Ich lernte vom Glück zu sprechen, aber glücklich zu sein habe ich nicht gelernt.
(Er schüttelt verneinend den Kopf.)
Zu sprechen vom Glück habe ich gelernt, glücklich zu sein aber habe ich nicht gelernt.
[...] Ich sah eine Nachtigall auf dem Zweig, ihre Worte riefen die Gefährtin.
Meine Worte rufen nur weitere Worte, meine Verse rufen nur weitere Verse.
Sag mir, Nachtigall ... (Er hält inne) Nachtigall, sag mir, Nachtigall. (Er nickt). Nachtigall, sag
mir, Nachtigall. (I, 33)
Wie bereits im Kapitel 8.2. aufgezeigt, wird an dieser Stelle die Troubadourmusik des
historischen Jaufrés paraphrasiert und ein orientalisches Flair vermittelt. Sein Gesang wird
von Celli, Bratschen und Harfen begleitet – das Englisch Horn kommt an einzelnen Stellen
als musikalisches, fernes Echo zum Einsatz, indem es die Sechszehnteltriolenbewegungen
von Jaufrés Melodie imitiert.
Nach diesem dreimaligen, in dichterischen Liebesgefühlen getauchten Apell Jaufré Rudels an
die Nachtigall ertönt ein barsches „Nachtigall wird dir nichts sagen“ von seinen Gefährten.
77
Sie möchten ihren offensichtlich vom rechten Wege abkommenden, und seine Sinne
verlierenden Herren an das bisher von ihm gelebte Leben erinnern, in dem er glücklich war
und es ihm weder an Trank noch Frauen fehlte.
Die Einwürfe der Gefährten Jaufrés versetzt Saariaho musikalisch mit dem des Spektralklangs
inhärenten Intervalls der reinen Quinten, um so einen gewissen mittelalterlichen „couleur
locale“ entstehen zu lassen.207 Beispielsweise spielen Fagotte fis-cis1 (T. 150), Celli und Harfe
c-g, die Hörner Eis-His (alle T. 151). Rhythmus ist – wie bereits erwähnt – in dieser Oper
nicht allzu dominant, jedoch werden die Stimmen der Gefährten immer mit einem scharfen
Rhythmus (meist von den Streichern gespielt) unterlegt. Hautsalos Analyse zufolge, ist in
dieser Szene ein peitschender Tarantella-Rhythmus208 (6/8 Rhythmus in Kombination mit dem
Tamburin) zu hören, der somit die Welt der Gefährten, die offensichtlich in einer gänzlich
anderen Welt als in der des von Liebessehnsucht getränkten Troubadours (und seiner
troubadouresken Liebeslyrik und –musik) leben, musikalisch darlegt. Die Tarantella, eine aus
dem (einfachen) Volk stammende Musik, zeigt somit den Unterschied zwischen Jaufré, dem
sozial höher stehenden Prinzen und seinen Gefährten, die sich sozial auf niedrigerem Status
befinden, auf. Zur leichteren Übersicht wird hier ein Ausschnitt aus dem Klavierauszug
abgebildet:
207
Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich,
in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt:
Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller,
Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 208.
208
Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho:
Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114-115.
78
Doch Jaufré Rudel steht trotz penetranter und mitunter aggressiver Einwürfe seiner Gefährten
zu seinem Entschluss:
Vielleicht war ich glücklich, Gefährten, ja, vielleicht,
Doch von all den Nächten meiner Jugend bleibt mir nichts,
Von all dem, was ich trank, bleibt mir nur ein großes Dürsten,
Von all den Umarmungen bleiben mir nichts als zwei unbeholfene Arme.
Diesen Jaufré, den man in den Tavernen grölen hörte, den wird man nie mehr hören.
Diesen Jaufré, der jede Nacht seinen Körper auf der Wippe eines weiblichen Körpers wiegte,
Den wird man nie mehr sehen... (I, 37)
Der Troubadour steckt offenbar in einer tiefen Sinnkrise: die Jahre der jugendlichen
Leichtigkeit und Unbeschwertheit, gleichzeitig jene der Unreflektiertheit sind vorbei – seine
Seele dürstet nach dem wahren, erfüllenden Sein.
Von all den Nächten meiner Jugend bleibt mir nichts,
von all dem, was ich trank, bleibt mir nur ein großes Dürsten (I, 37)
Offenbar ist es Zeit, in der Krise die Muse zu entdecken, offenbar ist es Zeit, aus dem Erotik
liebenden jungen Mann den ekstatischen Asketen in sich zu entdecken. Die Hingabe an das
überirdisch zu sein Scheinende, an die Vollkommenheit im menschlichen Sein führt Jaufré in
die Liebe zum Fernsten: Er benötigt für die Aufrechterhaltung seiner Existenz und als Quelle
seiner Dichtung das Bild der unerreichbaren, idealen, himmlischen, mit übermenschlichen
Tugenden ausgestatteten Frau. Für seine Gefährten ist Jaufré am Rande des Wahnsinns und
als ein aktiv im Leben stehender Mensch praktisch erstarrt, als Dichter zeigt er in diesem
Moment höchste Lebendigkeit.
79
8.6. Wut – Angst – hoffnungsvolle Liebessehnsucht des Troubadours: Ein
Spiel mit den Emotionen
Kaija Saariahos Musik vermittelt und übersetzt tiefe Gefühle, Gefühlsausbrüche und
emotionale Peripetien. Besonders die Emotionen der Angst, der Furcht, der Unsicherheit
werden musikalisch dargestellt.
Im dritten Akt erschrickt der Troubadour, als ihm der Pilger darüber berichtet, dass die
Gräfin von Tripolis um seine Existenz und von seinem ihr gewidmeten Liebeslied weiß.
Dieses Wissen der Gräfin versetzt den Troubadour nicht ohne Grund in einen emotionalen
Ausnahmezustand: Zum Einen ist ihm damit bewusst, dass mit der Kenntnis seiner Existenz
die Verwirklichung seiner Sehnsüchte in den Bereich des Möglichen gerückt ist. Zum
Anderen wäre ihm – wenn er sich in diesem Moment der Gesetze der Liebeslyrik entsinnen
würde – klar, soeben seinem literarischen und menschlichen Todesurteil in die Augen
geblickt zu haben. Seine literarische und künstlerische Schaffenskraft ist nämlich durch die
Aufhebung des „existentiellen Spannungsbogens der Dialektik des sai et lai, des Hier und
Dort“209 massiv bedroht.
Während Jaufré Stück für Stück nachfrägt, was in der Begegnung zwischen dem Pilger und
der fernen Gräfin geschehen ist, was diese nun aufgrund der Antworten des Pilgers von ihm
weiß (dass er Dichter sei, dass er sie und ihre Schönheit besinge, wie er heiße, dass er sie
liebe), explodieren in ihm geradezu innerlich ambivalente Gefühle: Zum Einen bekommt er
Angst und wird unsicher ob des Wissens der Gräfin von seiner Existenz und seiner Taten,
zum Zweiten ist er gekränkt, als er erfährt, dass die erste Reaktion der Gräfin ebenfalls
Gekränktheit war und sie danach (scheinbare) Resignation und Desinteresse zeigte. Zum
Dritten fühlt er Hoffnungslosigkeit und Verbitterung in ihm aufkommen, als er erfährt, dass
sie sich „nur“ geschmeichelt fühlte. Saariaho unterlegt Jaufrés Fragen (und den damit
verbundenen Gefühlen) einen crescendo-decrescendierenden mikrotonalen Klangkörper, der
durch Klarinetten, Fagotte, Kontrafagott und Posaunen generiert wird. Wenn die Dichtheit
ihren Höhepunkt (allerdings im piano) erreicht, wirft Jaufré seine nächste Frage ein. Das
folgende Notenbeispiel zeigt dieses innere Aufflammen Jaufrés, das sich während der
Antworten des Pilgers entwickelt, um in weiterer Folge in die nächste Frage zu führen: Nach
dem Einwurf Jaufrés, der eigentlich ein großer Vorwurf gegen den Pilger ist (dieser hatte
den Namen des Prinzen an Clémence verraten) – „Warum, warum hast du mir das
209
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 307.
80
angetan?“ – übernehmen die Streicher den von den Bläsern zuvor aufgebauten Klangcluster
und lassen diesen decrescendierend auslaufen.
81
Saariaho übersetzt diese gefühlsgeladene Frage-Antwort-Szene, dieses Auf- und Abflammen
konträrer Gefühle und Gedanken in ein musikalisches An- und Abschwellen, das, obwohl es
nie in exakter Weise wiederholt wird, einen Wiedererkennungscharakter hat. Es ist durch den
Einsatz des Flötenmotivs voraushörbar, dass der Pilger mit seinen Antworten folgt; durch das
Bläser-Streicher-Aufflammen und wieder Abebben wird Jaufrés innerer Gefühls- und
Gedankensturm charakterisiert. Es ist eindeutig hörbar, dass hier ein wichtiger
Entscheidungsprozess im Prinzen vonstatten geht, der ihn letztlich dazu führt, alle bis dahin
zu groß erschienenen Schwellen zu überwinden. Eine für diesen Schritt notwendige
Verwandlung
der
im
Dialog
aufkeimenden
Gefühle
der
Unsicherheit,
Angst,
Hoffnungslosigkeit in die Wut – einem emotionalen Zustand, der sehr stark mit dem Ego
verwurzelt ist und weniger aus einem Seelenschmerz resultiert, aber große Antriebskraft in
sich hat – erfolgt mit dem Wissen Jaufrés, dass der Pilger seine troubadouresken Worte, die
er in einer anstrengenden, plagenden Stunde der dichterischen Muse geschaffen hat, „à peu
prés“ („in etwa“) der Gräfin repetiert hatte. Damit wird auch wiederum die bedeutende Rolle
des Pilgers ersichtlich, der durch seine in diesem Fall unvorsichtige Antwort einen
folgenreichen zornigen Gefühlsausbruch bei Jaufré auslöst:
Hast du ihr meine Gedichte vorgetragen?
Pilger:
Ich besitze kein so gutes Gedächtnis, ich habe sie ihr in etwa [„à peu prés“ – so ungefähr]
vorgesummt...
82
Jaufré:
In etwa! Was meinst du mit „in etwa“? Ich verbringe Tage und Nächte damit, meine Lieder zu
komponieren, jede Note und jeder Reim muss die Feuertaufe bestehen, zwanzigmal,
dreißigmal ziehe ich mich aus und wieder an, bevor ich das richtige Wort finde, das seit aller
Ewigkeit da war, am Himmel hängend, auf seinen Platz wartend. Und du, du sagst sie „in
etwa“ auf? Du hast sie „in etwa vorgesummt?“ Unglückseliger! Unglückseliger! Wie kannst
du mich so verraten und dich danach noch als mein Freund ausgeben? (III, 65-67)
Es kommt im Vergleich zu den vorigen Fragen und Antworten sowohl rhythmisch als auch
dynamisch zu einer Verdichtung: Der peitschende Tarantella-Rhythmus der Streicher, Harfen,
Fagotte und Kontrafagotte signalisiert Jaufrés innere Aggressivität, aber auch eine in diesem
Falle Nichtentsprechung des den sozial höher stehenden Menschen zugewiesenen
Verhaltenskodex – von der Kontrolliertheit und des bedachtsamen Sinnierens und
Überdenkens in der Wahl der Worte, wie es einem Troubadour geziemt, ist hier nichts mehr
vorhanden. Natürlich erinnert dieser Rhythmus auch an die Gefährten Jaufrés, die ihn im
ersten Akt in Begleitung dieses Motivs auslachten, als er die Nachtigall und die ferne Geliebte
besang. In einem sforzato entfährt es dem verblüfften, in höchstem Maße irritierten Jaufré,
dessen hohe Dichtkunst er mit dem „in etwa“ in unwürdigster Weise mindergeschätzt sieht,
ein fast schreiendes „À peu près!“ Das, was von Jaufré in diesem Augenblick in voller Kraft
aus ihm herausbricht, ist das Ergebnis eines spannungsgeladenen, von Gefühlen
überströmenden Dialoges zwischen dem Pilger und ihm.
83
Rieger sieht in diesem Fall zwei wesentliche Beweggründe, die den Troubadour dazu
veranlassen, die weite Reise, die im Originallied nur eine hypothetisch ins Auge gefasste ist,
zu unternehmen: In erster Linie muss er geradezu zur Gräfin reisen, um seine gekränkte
Dichterehre wieder herzustellen – eine Reise quasi im Sinne einer dichterischen
Rehabilitation. Erst in zweiter Linie fasst er in diesem Moment den Entschluss zur Reise für
die ferne Liebe.
210
An dieser Stelle ist es sinnvoll, nochmals in die Regeln der
Troubadourlyrik einzutauchen. Der Troubadour – ein Sprach-, Wort- und Reimkünstler –
strebt nach der Konkordanz von vollendeter Form und höfischem Inhalt, von formaler
Schönheit und konzeptueller Wahrheit. Originalität und Perfektion ist Grundlage seines
poetologischen Selbstverständnisses und das Publikum muss in metrischer, stilistischer,
musikalischer und inhaltlicher Hinsicht überzeugt werden. 211 Vor diesem Hintergrund wird
der Gefühlsausbruch Jaufré Rudels verständlich.
210
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 307.
211
Andrea Oberhuber, „Ja mais d’amor no-m jauziray/Si no-m jau d’est’amor de lonh“. Höfisches
Liebeskonzept und Liebesdiskurs am Beispiel von Jaufré Rudel und seiner Reaktualisierung in Amin Maaloufs
84
Der Pilger, der den Wutausbruch mit einem beleidigenden „Vielleicht ist es besser, wenn ich
gehe“ (III, 67) kommentiert, wird von einem schlagartig von schlechtem Gewissen geplagten
Jaufré Rudel zurückgehalten:
Nein, warte, verzeih mir! Alles, was passiert ist, hat mein Blut in Wallung gebracht.
Verzeih mir, mein Freund, ich werde dich nicht verärgert gehen lassen.
Wenn ein Mensch hienieden mir gegenüber Rechte besitzt, bist du es allein, Pilger, mein
Freund, der mir zuerst von ihr berichtet hat.
Doch was du mir sagst, erschüttert mich, weil ich nicht mehr an sie denken kann, ohne zu
denken, dass auch sie mich von ferne betrachtet.
Es war angenehm, sie nach Muße zu schauen, ohne dass sie mich sieht.
Es war einfach, meine Lieder zu schreiben, da sie sie nicht hörte.
Aber jetzt, jetzt ... (er denkt lange nach.)
Aber jetzt müsste sie sie aus meinem Mund hören,
Ja, aus meinem Mund und keinem anderen.
Wenn sie beim Hören meines Liedes errötet, möchte ich sie erröten sehen,
Wenn sie erbebt, möchte ich sie erbeben sehen,
Wenn sie seufzt, möchte ich sie seufzen hören.
Sie ist nun nicht mehr so fern, und du kannst ... du kannst mir sogar ihren Namen zuflüstern.
Pilger:
Clémence, ihr Name ist Clémence.
Jaufré:
Clémence, Clémence, wie gnädig der Himmel ist!
Clémence, das gnädige Meer wird sich vor mir schließen,
damit ich es trockenen Fußes überqueren kann, um in das Land zu gelangen, in dem du atmest.
(III, 67-69)
An dieser Stelle, in der Jaufré den Namen seiner besungenen Angebeteten erfährt, werden die
am Beginn der Oper markierten Partialtöne B und Fis besonders präsent. Sie erklingen hier in
aufsteigender (während im Moment Jaufrés Tod der selbe Akkord in absteigender Folge
erklingt) Form – sie bilden eine Art Aura um den Namen Clémence 212 . Der peripetische
Charakter, der dieser Musik inneliegt – kurz zuvor hatten wir es mit einem wütenden,
Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 64.
212
Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich,
in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt:
Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller,
Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 208.
85
ausrastenden und in dichterischem Stolz gekränkten Prinzen zu tun – ist nicht zu überhören:
Jaufrés Rück-Wandel in seine im ersten Akt präsente Weichheit, Zartheit und feminine Seite
des sich in Liebessehnsucht verlierenden Troubadours, der seine volle Aufmerksamkeit seiner
Vision widmet, wird durch die Violoncelli und Posaunen (Fis), den Kontrabässen und Tuben
(B1) repräsentiert. Über diesen liegenden Partialtönen erklingen die aufsteigende, jeweils
zählzeit- sowie tonhöhenversetzte Melodienfolge der Crotales, Vibraphone und des Klaviers –
sie könnte als die von Jaufré gesetzten Schritte über das große Wasser interpretiert werden,
sie könnte gleichzeitig eine ,Himmelstreppe‘ symbolisieren, die der Troubadour mit dem nun
sicheren Entschluss betritt, seiner Clémence im irdischen Leben begegnen zu wollen.
8.7. Der Pilger: Ein ewig umherreisender Vermittler zwischen zwei
Liebenden sowie den Kulturen des Okzident und Orient
Während in Lanqand li jorn son lonc en mai der Pilger als ein „Gestalt gewordener Vertreter
[...] einer anonym auftretenden Gruppe“213 vorkommt, bekommt diese Figur im Libretto und
der Oper eine neue Rolle: Er selbst beschreibt sich als ewig Getriebenen und den
213
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 308.
86
Verlockungen und Zauber des Orients Erlegenen. Der Pilger kennt somit nicht nur die Kultur
des Orients und die des Okzidents – ist damit Mittler zwischen den Kulturen – sondern findet
sich in der zum Scheitern verurteilten Rolle des Vermittlers zwischen zwei Menschen wieder.
Auch Said äußerst sich zur Figur des Pilgers, der in Bezug auf das Zeichnen eines
spezifischen ,Orientbildes‘ im Westen eine wesentliche Rolle spielte: „Jeder Pilger sieht die
Dinge auf seine Weise, doch die Möglichkeiten einer Wallfahrt sind ebenso begrenzt wie die
Wahrheiten, die sie offenbaren kann.“214 Wie begrenzt letztlich die Handlungsmöglichkeiten
und Möglichkeiten der Offenbarung des Pilgers sind, wird spätestens am Ende der Oper
ersichtlich. Auch Clémence ist irritiert darüber, dass jemand die Heimat (freiwillig) verlässt –
sie fragt den Pilger, ob die ihr ferne Heimat ihn verjagt, im Stich gelassen oder gedemütigt
habe. Er antwortet:
Nichts von alledem, Gräfin.
Ich habe dort meine Teuersten zurückgelassen.
Aber ich musste über das Meer fahren,
um mit eigenen Augen zu betrachten,
was der Orient an Geheimnissen birgt.
Konstantinopel, Babylon, Antiochia,
Die Meere aus Sand, die Flüsse aus Glut,
die Bäume, die Tränen aus Weihrauch weinen,
die Löwen in den Bergen Anatoliens
und die Stätten der Titanen. (nach einer Weile)
und vor allem, vor allem musste ich das Gelobte Land kennenlernen. (II, 47)
Dieser Satz des Pilgers macht zum einen deutlich, was einen „Pilger“ von einem
„Normalreisenden“ unterscheidet: Der Begriff „Pilger“ stammt aus dem lateinischen
„peregrinus“, der Fremde, oder „peregrinari“, in der Fremde sein215. Ein Pilger ist also eine
Einzelperson, die aus religiösen Gründen (Buße, Erhörung von Gebeten, Heilung von
Krankheit,...) in die Fremde, an einen Wallfahrtsort geht. Der westliche Pilger ist ein
christlich gläubiger Mensch, dessen größter Wunsch das Betreten des heiligen Bodens, des
Gelobten Landes, ist. Der Pilger in der Oper L’amour de loin ist ein ewig Umherziehender:
Nicht nur zwischen vielen verschiedenen Ländern, sondern auch zwischen zwei Kulturen und
– zwischen zwei Liebenden. Besonders glücklich, zufrieden und erfüllt scheint diesem Pilger
214
215
Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 22010, S. 197.
Siehe dazu auch Onlinequelle, verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Pilger
87
sein Leben nicht zu sein – er „muss“ aus einem inneren Drang heraus, seine Liebsten
zurücklassen und auf Reisen gehen. Es scheint, als ob der Drang danach ihm von außen
auferlegt wurde. Dieser in der Fremde seiende und stets sich auf dem Weg befindliche Pilger
steht in engster Verbindung zum Ahasvermythos, der im Folgenden kurz dargestellt wird:
Ahasver, der ewig umherziehende Jude, der dazu verdammt wurde, auf ewig durch die
Welt zu reisen und das Wort Gottes zu verkünden, sieht seine auferlegte Aufgabe als Fluch
des nie zur Ruhe Kommenden. Ahasver – der ewig Umhertreibende, gehört (sowie Faust,
Hamlet und Don Juan) zu den in immer wieder neuen Metamorphosen wiederkehrenden
Repräsentanten des Weltschmerzes 216. Der Legende (1602) zufolge habe der Schuhmacher
Ahasver um das Jahr 30 in Jerusalem gelebt, Jesus von Nazareth für einen Ketzer gehalten
und alles getan, um dessen Verurteilung durch den Sanhedrin und die Kreuzigung durch
Pontius Pilatus zu erreichen. Er sei es gewesen, der das Volk zu der Forderung Kreuzige ihn!
aufgestachelt habe. Nachdem Jesus zum Tod verurteilt war und sein Kreuz selbst zur
Hinrichtungsstätte Golgota tragen musste, habe Ahasver Jesus auf dem Kreuzweg eine kurze
Rast an seiner Haustür verweigert. Darauf habe Jesus ihn angesehen und zu ihm gesagt: „Ich
will stehen und ruhen, du aber sollst gehen!“ Mit diesem Fluch sei Ahasver zur ewigen
Wanderschaft durch die Zeit verdammt worden, ohne sterben zu können. Seither wandere er
durch alle Herren Länder, wo ihn immer neue Zeugen sähen und mit ihm redeten. Er spreche
immer die Landessprache und zeige Demut und Gottesfurcht.217
Demut und Gottesfurcht, der Drang, immer wieder den Orient zu bereisen, dabei die
„Teuersten“ in der Heimat zu verlassen und letztlich den Fluch des Gescheiterten nicht
loszuwerden – dies alles spiegelt sich in dem Pilger der Oper wider. Wie fragil dieser
Vermittlerstatus ist, wird hier sehr deutlich: Dem Pilger kann zwar nicht die alleinige
Verantwortung des Entschlusses von Jaufré, sich auf die für ihn tödliche Reise zu begeben,
zugesprochen werden, dennoch hat er mit seinen zum Teil unachtsam und aus einer gewissen
Unsicherheit resultierenden, unüberlegt ausgesprochenen Worten einen erheblichen Anteil an
der letztlich tödlichen Katastrophe. Auf der einen Seite zeigt er sich mit einem sehr
bescheidenen und ruhigen Charakter ausgestatteten Menschen, dem offensichtlich viel daran
liegt, zwei gebrochene Herzen zueinander zu führen. Auf der anderen Seite erhebt auch er
seine Stimme zu Gott – verzweifelnd fragend und gleichzeitig schmerzvoll klagend – als
Jaufré stirbt und Clémence sich entscheidet, das Leben in der Einsamkeit des Klosters
weiterzuführen:
216
Dieter Borchmeyer, Ahasvers Wandlungen: Der fliegende Holländer und seine Metamorphosen, in: Richard
Wagner, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt am Main 2002, S. 121.
217
Online verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Ewiger_Jude
88
Pilger: (erschüttert vom Schicksal seines Freundes, aber gefasster als Clémence, bekundet
auch er seine Verbitterung. Es ist kein Dialog, es sind eher zwei parallele Monologe, den
Blick zum Himmel gerichtet)
Und ich, Herr, warum hast du mich für diese Aufgabe erwählt?
Von einem Ufer zum andern, von einer vertraulichen Mitteilung zur andern,
glaubte ich, die weißen Fäden eines Hochzeitskleides zu weben,
aber ohne es zu wissen, webte ich ein Leichentuch.
(Er entfernt sich wie ein gefallener Engel oder erstarrt wie eine Salzsäule) (V, 105)
Des Pilgers Gesang, der sich mit dem Clémences verwebt, erscheint als einsamer,
schmerzvoller Klagegesang – immer wieder werden die Worte von der zweigestrichenen
Oktave in die eingestrichene geführt, so lange, bis dieser Klagegesang auf dem cis1 verebbt.
Das Schicksal des Pilgers zeigt mit der Zerbrechlichkeit des Status’ des Mittlers zwischen den
Liebenden auch jenen des Botschafters zwischen den Kulturen. Maaloufs Libretto basiert
zwar auf der vida und dem Gedicht des historischen Jaufré Rudel, jedoch hat der Pilger in
seiner Fassung eine enorme Aufwertung erfahren. Er ist zwar namenlos, aber sowohl Jaufré,
als auch Clémence brauchen ihn für die Weiterentwicklung und Fortführung ihres inneren
Prozesses. Die Figur des Pilgers und Maalouf stehen in einer sehr engen Verbindung
zueinander: Auch Maalouf ist Zeit seines Lebens Vermittler zwischen Menschen, Kulturen,
Ländern – wie zerbrechlich, fragil, schwierig, oftmals zum Scheitern verurteilt dieser Status
89
ist, zeigt sowohl die Geschichte des Pilgers, als auch das Leben desjenigen, der sie in dieser
opernhaften Form kreierte.
Für Saariaho hat der Pilger eine wichtige Rolle, obgleich sie ihn sich weder als Person,
noch als menschliches Wesen vorstellt – er verkörpert in der Oper das Schicksal. Dies ist auch
der Grund dafür, dass die Musik in den Dialogen zwischen Jaufré und dem Pilger und
zwischen Clémence und dem Pilger jeweils eine andere ist. Der Interpretation, dass das
Geschlecht des Pilgers keine Rolle spielt, da er bei Clémence eine Frau und bei Jaufré einen
Mann zu verkörpern scheint, ist viel Raum gegeben. Wichtig ist, dass er ein guter Freund von
Jaufré ist und dass er auch Clémence liebt.218 Der Pilger ist somit eine androgyne Gestalt, die
notwendig ist, zwischen den beiden Einsamen als Dritter zu intervenieren. Er ist zwar
unscheinbar, aber er ist jenes Element, das ständig in Bewegung ist, zwischen den Polen
lebendig hin- und herpendelt. Für Deppermann stellt der Pilger den dritten fehlenden Teil der
göttlichen Trinität dar: Zwischen den beiden einsamen Ichs, zwischen dem Orient und
Okzident bedarf es des „Herzstücks der Vermittlung“, das die „Liebe durch Wort und
Musik“ (und nicht wie bei Mozarts Tamino durch das Bild) weiterträgt. Dass der Pilger ein
„doppelter“ Pilger ist, wird nicht zuletzt mit dem „Kostümcode“, der der Oper eine
„semantische Ausstrahlung, die unser Auge zum visuellen Mitdenken anregt“ verleiht,
transportiert: Unterwegs von Osten nach Westen mit nackten Armen und verschnürt von
Gebetsriemen und unterwegs von Westen nach Osten verhüllt in der Kutte des Mönchs.219
8.8. Clémence: Die im Exil lebende Entwurzelte
Die Figur der Clémence erfährt in Maaloufs Libretto große Veränderungen im Vergleich zu
den historischen Vorlagen220. Dass er Clémence zu einer Schwester des Grafen von Tripolis
macht221, zählt dabei nur zu den kleineren Adaptionen. Die Figur der Clémence ist nicht auf
den idealen, von den Troubadouren verehrten und besungenen Frauentypus begrenzt, so wie
218
Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und
bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 87.
219
Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im
Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 20.
220
Siehe dazu auch den Aspekt der Verwandtschaft (die Gräfin wird bei Maalouf zur Schwester des Grafen von
Tripolis) in: Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf
und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und
Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 309-310.
221
Der Pilger erzählt bei der ersten Begegnung mit Clémence, dass er zu dieser Zitadelle gekommen ist, um
„dem Grafen, Eurem Bruder, ein langes Leben zu wünschen“. (II, 47).
90
es im Gedicht Lanqand li jorn son lonc en mai der Fall ist. Maalouf kreiert eine in ihrer
Identität zutiefst entwurzelte Frau, die sich in ihrer Wahlheimat Tripolis als Fremde fühlt.
Auch zu ihrer Heimatstadt Toulouse ist das entfremdete Gefühl im Vordergrund. Clémence
ist eine Christin, die einem inneren Identitätskonflikt gegenüber steht. Dies ist insofern
interessant, als dass dies üblicherweise unter umgekehrten Vorzeichen gelebt wird: 222 Aus
dem Orient kommende Menschen suchen im Westen eine neue Heimat zu finden und sind mit
diesen Identitätskonflikten stark konfrontiert. Maalouf gibt bereits bei der ersten Begegnung
zwischen dem Pilger und Clémence dem Gefühl der Heimatlosigkeit einer im Exil Lebenden
den entsprechenden Raum. Zuerst fährt sie den Pilger barsch an, der offensichtlich aus freien
Stücken seine Heimat verließ, eine Wahl, die ihr in jungen Jahren nicht zur Verfügung stand.
Hat es eure Heimat verdient,
dass ihr sie so im Stich lasst?
Hat sie euch hungern lassen?
Hat sie euch gedemütigt?
Hat sie euch verjagt?
Diesem kurzen anklagenden Gefühlsausbruch folgt, die verneinende Antwort des Pilgers so
gut wie nicht beachtend, in einem fast somnambulen Zustand ihre Klage:
(Clémence wendet sich an ihn, aber ebenso an den Himmel wie an sich selbst)
So viele Menschen träumen davon, in den Orient zu kommen,
und ich träumte nur davon, hier wegzukommen.
Im Alter von fünf Jahren habe ich Toulouse verlassen,
und seither bin ich untröstlich.
Jedes Schiff, das anlegt, erinnert mich an mein eigenes Exil,
jedes Schiff, das ablegt, gibt mir das Gefühl verlassen worden zu sein. (II, 47-49)
Den Einwurf des Pilgers, dass ihr doch Tripolis gehöre und ihre Eltern hier begraben seien,
ändern nichts daran, dass sie weiterhin gefangen in Erinnerungen bleibt und noch immer im
Schmerz der damaligen Trennung verhaftet ist.
Dieses Land ist mein? Mag sein. Aber ich, ich bin nicht sein.
222
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 310.
91
Meine Füße gehen auf hiesigem Grund, aber alle meine Gedanken tummeln sich in fernen
Gründen. Wir träumen beide von der Ferne jenseits des Meeres,
aber Eure Ferne ist hier, Pilger, und meine ist dort.
Meine Ferne liegt bei Toulouse, wo die Rufe meiner Mutter und mein Kinderlachen
widerhallen.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich barfuß auf einem Steinweg einem Kater nachjagte.
Der Kater war jung, er ist vielleicht noch am Leben und erinnert sich an mich.
Nein, er dürfte tot sein, oder er hat mich vergessen, wie mich die Steine des Weges vergessen
haben.
Ich erinnere mich an meine Kindheit, aber nichts aus der Welt meiner Kindheit erinnert sich
meiner.
Das Land, in dem ich geboren bin, lebt noch in mir, doch für es bin ich tot.
Wie glücklich wäre ich, würde eine einzige Mauer, ein einziger Baum sich meiner erinnern.
(II, 49)
Als der Pilger von einem Mann erzählt, der an sie denkt, ist sie anfangs irritiert und verärgert.
Sie möchte immer wieder wissen, wer ihm das Recht gibt, von ihr zu sprechen? Diese Wut
wandelt sich im Dialog zwischen dem Pilger und ihr zu einem Gefühl der Hoffnung. Die
entfernte Liebe vermag die Brücke zu ihrer Heimat zu werden. Rieger sieht an dieser Stelle
eine egoistische Hoffnung über dem Gefühl der Liebe stehen: Durch und mit dem Lied des
Troubadours, so Rieger, wird ein Stück Heimat greifbarer223.
Gegen diese These der rein aus einem Egoismus heraus resultierenden Zuneigung zum
Troubadour sprechen mehrere Details: Nachdem der Pilger in französischer Sprache die
Verse 2, 5 und 7 der Kanzone Lanqand li jorn son lonc on mai rezitiert, verrät das Zittern in
ihrer Stimme, dass ihr die Botschaft dieses Mannes und seine Gefühle zu ihr als Person nicht
gleichgültig sind. Sie fragt nach weiteren Strophen und möchte sich laut Libretto gerne
weniger erschüttert zeigen, als sie es tatsächlich ist224. Maalouf macht nicht zuletzt mit seinen
Regieanweisungen deutlich, dass Clémence einen emotionalen Prozess beginnend von
anfänglicher Verwirrung („troublée“) über Empörung („outrée“) beschreitet, um schließlich
innerste Betroffenheit und Tränen in den Augen („qui a des larmes aux yeux“225) zu zeigen.
Und obwohl sie nicht imstande ist, dem Pilger eine Antwort an den Prinzen von ihr
auszurichten, beginnt sie, die vom Pilger vorgetragenen Verse auf Okzitanisch (!) zu singen.
223
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 310.
224
II, 55.
225
II, 50, 52, 54.
92
Sie wechselt damit in eine andere Sprache – in „ihre“ Sprache, in die Sprache ihrer Heimat.
Sie ist zwar nach wie vor örtlich weit entfernt von ihrer Heimat, jedoch hat sie ein
ursprüngliches Element ihrer Heimat – die Sprache, mit der sie aufgewachsen ist,
zurückgewonnen. Es scheint, dass die okzitanische Rezitation eine Art Echo ist – ein Echo
des Klanges ihrer Heimat.
In dieser Szene spielen sich hoch emotionale und psychologisch tiefgreifende Prozesse in
Clémence ab, die musikalisch in äußerst differenzierter Form zum Ausdruck gebracht werden:
Als Clémence die Möglichkeit eröffnet wird, über den Pilger eine Botschaft von ihr
persönlich in ihre Heimat, zu diesem entfernten sie besingenden Prinzen zu schicken, hält sie
plötzlich inne, sie ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht fähig, diese Schwelle – von der Distanz
in die Nähe – zu überschreiten. Saariaho lässt dieses Innenhalten, dieses unsichere Abwägen,
das im Bruchteil von Sekunden geschieht, in zartester, jedoch höchst spannungsgeladener
Form musikalisch geschehen. Die quälende Nachdenkpause Clémences wird von den Flöten
in einer zarten abwärtsgehenden Triolenbewegung eingeleitet und führt über einen sich rasch
von den Streichern, der zweiten Harfe und dem Klavier aufbauenden dissonanten Akkord (dfis-g-gis-a-b-c) zur Entscheidung: „Nein, sagt ihm nichts“.
93
Danach geschieht in Clémence jene Schwellenüberschreitung, zu der sie gerade eben noch
nicht fähig war, in gewisser Weise doch noch – aber auf einer anderen Ebene: Maalouf und
Saariaho heben in dieser Szene die Gräfin nämlich auf eine besondere sprachliche Ebene:
sie spricht auf einmal die alte Sprache der Liebeslyrik, der Liebesgedichte der Troubadoure
und gleichzeitig die Sprache ihrer Heimat. Clémence hat unter Umständen anfangs den
entfernten Troubadour und seine Lieder ausschließlich als Brücke zu ihrer Heimat angesehen,
jedoch spätestens an der Stelle des Rezitierens seiner Gesänge in okzitanischer Sprache wird
spürbar, dass die Gräfin nicht aus einem egoistisch geleiteten Gefühl heraus diesem Prinzen
ihre Aufmerksamkeit schenkt. Ganz im Gegenteil – sie lässt bereits an dieser Stelle, räumlich
weit entfernt von diesem Prinzen, sehr viel Nähe zu, indem sie mit all ihrem Herzen und tiefer
emotionaler Rührung die Sprache ihrer Heimat und die des Prinzen von sich gibt. Clémence
94
singt hier die ersten vier Zeilen des 2. Verses von Lanqand li jorn son lonc en mai. Sie
rezitiert die Melodie des Pilgers, die generell einen Ganzton höher gesetzt ist, in leicht
abgewandelter Form und reichert diese mit Verzierungen an. Ihr Liebesgesang ist von einer
sehr zarten Violinenbegleitung unterlegt; ein Harfenarpeggio (es-a-fis1-g1-cis2), das in einem
ausgedehnten, lang nachklingenden fis2 in der Oboe endet, lässt die Assoziation zu
Himmelsklängen und Engelsstimmen zu. Elektronisch wird dieser Trancezustand, diese Reise
Clémences in ihre Vergangenheit, in ihren Ursprung mit Vogelstimmen und Flüsterklängen
(„whispers“) angereichert.226
226
Interessant ist, dass der Pilger die Verse 2, 5 und 7 des Gedichts rezitiert, das er von Jaufré vernommen haben
soll – der Rezipient hört in der Oper diese Verse nie aus dem Munde Jaufrés.
95
8.9. Traum
Während in den ersten drei Akten sich Jaufré und Clémence räumlich in großer Distanz
befinden, bringt der vierte Akt durch den Aufbruch des Prinzen eine bis dahin noch nicht
dagewesene Bewegung ins Geschehen. Dieser Akt besticht geradezu durch so viel
„Bewegung, Spannung und Unruhe, die sich vor dem Hintergrund der ,langen Überfahrt‘ [vor
der der Pilger eindrücklich warnt] kontrastreich abheben.“227
Während der Seefahrt verfällt Jaufré Rudel in einen Traum, in dem er seine Liebe aus der
Ferne sieht. Maalouf greift hier ein in der Troubadourlyrik weit verbreitetes und vom
historischen Jaufré Rudel gern variiertes Motiv des (ursprünglich erotischen) Traumes auf:
Ich habe sie gesehen, Pilger, ich habe sie gesehen, wie ich dich sehe!
[...] Sie war hier, und ihr Körper und ihr Antlitz und ihr weißes Gewand erhellten die Nacht.
Sie sang ein Lied, das ich für sie geschrieben habe. (IV, 77)
Der Pilger versucht mit „Es ist tiefste Nacht, und du hast geträumt“ den Troubadour zu
beruhigen, jedoch bleibt Jaufré Rudel seiner Vision treu. Während Jaufré dem Pilger vom
Traum erzählt, betritt Clémence die Bühne und der Traum materialisiert sich. Man sieht
Clémence in einem weißen Kleid am Meer entgegengehen, Jaufré dabei ein Zeichen gebend,
ihr zu folgen und man hört sie singen...
„Deine Liebe beschäftigt meinen Sinn im Wachen wie im Traum,
doch ich ziehe den Traum vor, denn im Traum gehörst du mir!“ (IV, 79)
Clémence erscheint in dieser Szene als höchst ambivalente Figur: Zum Einen erinnert sie an
eine Sirene, die den Geliebten durch ihren verführerischen Gesang vom Wege abbringen
möchte, zum Anderen scheint sie Jaufré wie eine göttliche Gestalt, die über das Wasser
wandelt. Der Dichter bekommt es angesichts der beiden präsenten Bilder der todbringenden
Verführerin und der Mariengestalt mit der Angst zu tun.228
Er lässt sich von den beruhigend auf ihn einredenden Worten des Pilgers nicht beeinflussen
und berichtet weiter:
227
Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in
Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen,
hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 42.
228
Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in
Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen,
hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 42.
96
Als ich ihr in die Augen schaute, lächelte sie und bedeutete mir, ihr zu folgen.
[...] Ich bin ihr gefolgt, doch plötzlich sah ich, wie sie sich vom Schiff entfernte
und auf dem Wasser ging, wie unser Herr, ohne unterzugehen.
Sie drehte sich nach mir um, öffnete ihre Arme,
aber ich wagte nicht, mich ihr zu nähern. (IV, 79)
Ab diesem Moment mutiert der Traum, der die entfernte Liebe so nah wie nie zuvor zu Jaufré
Rudel brachte, in einen Albtraum und spätestens hier wird der Anfang vom Ende des
Troubadours eingeleitet:
Ich blieb wie festgewurzelt an der Reling stehen,
brachte nicht den Mut auf, ihr nachzugehen,
und ich weinte vor Scham ob meiner Feigheit.
Beim Erwachen standen mir Tränen in den Augen,
und sie war verschwunden. (IV, 79)
Das mittelalterliche Liebeskonzept der Troubadourlyrik ins Auge fassend, wird an dieser
Stelle klar, dass diese Peripetie im Traum geradezu geschehen muss: Dem Troubadour bleibt
das Erreichen seiner im Lied offenbarten Wünsche verwehrt – sogar im Traume. Mit dem
Scheitern im Traum beginnt wieder die Angst, Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit in Jaufré
Rudel zu keimen. Diese Gefühle sind wiederum Nährboden für die Ingangsetzung des nun
eintretenden Krankheitsprozesses, der letztlich dazu führt, das Liebeskonzept der fin’amor
aufrechtzuerhalten.
Der Traum kann aber nicht nur in Zusammenhang mit dem troubadouresken Liebesmotiv
gebracht werden, sondern ist auch für die Komponistin selbst ein wichtiges Motiv, das sich in
einigen Werken229 Saariahos wiederfindet. Die Komponistin selbst sieht Träume als „Brücken
zum Unbewussten“230 – und führt über ihre eigenen Träume Buch:
229
Im Traume (1980), From the Grammar of Dreams („Aus der Grammatik der Träume“, 1988), Grammaire des
rêves („Grammatik der Träume“, 1988-1989). Aile du songe (2001) und Teile des Tempest Songbook (19922004). Zu den vier letzten Werken siehe auch: Ellen Kohlhaas, Seelenschlösser oder Übergänge und
Zwischenwelten. Ein Streifzug durch Kaija Saariahos Vokalmusik, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija
Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 57-61 sowie in derselben Publikation Éve Pintér,
Was die Träume erzählen. Textdeutungen in den Vokalwerken von Kaija Saariaho, S. 75-83.
230
Anni Oskala, Träumen über Musik, Musik über Träume, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik, Nr.110,
hg. von Ulrich Dibelius u.a., Köln 2006, S. 46.
97
Ich bin ein Mensch, der sich an viele Träume erinnert. Manchmal gibt es in meinen Träumen
Musik, die haften bleibt. Zuweilen hinterlässt ein Traum auch nur eine Erinnerung an eine
Stimmung oder irgendeine Klangfarbe. Aber ich schreibe keine träumerische, umhertreibende
Musik. Die Träume sind eher Türen zu verborgenen Existenzformen wie Tod und Liebe, zu
grundlegenden Dingen, von denen wir nicht wissen.231
Anni Oskala hat Saariahos Werke, denen Traummotive zugrunde liegen, analysiert, indem sie
die Gemeinsamkeiten der kompositionstechnischen Eigenschaften in diesen Werken
festmacht und mit Saariahos Aussagen über Traumstrukturen in ihrer Musik sowie
Traumtheorien mit dem Schwerpunkt der Freudschen psychoanalytischen Traumdeutung
sowie jener David Foulkes verknüpft. Saariahos Interesse am Traum liegt vor allem in seiner
strukturellen Unberechenbarkeit – ein Element, das sie in ihrem kompositorischen Werdegang
höchst inspiriert und beeinflusst hat. Auch die Hartnäckigkeit von sich wiederholenden
Traumgedanken im einzelnen Traum als auch die oftmalige Wiederkehr bestimmter Träume
hat Saariaho stets fasziniert und in ihre Musik eingebaut. Sie selbst glaubt den Grund in
diesen Wiederholungen darin zu erkennen, dass der Träumer die unbewusste Botschaft des
Traumes noch nicht verinnerlicht hat und deshalb solange immer wieder auftauchen muss, bis
dieser Prozess der Verinnerlichung abgeschlossen ist. Jaufré Rudel befindet sich als
Troubadour, der ständig von einem Liebestraum singt, quasi in einer endlosen Träumerei –
dies aber nicht im Schlaf, sondern eigentlich in einem wachen, singenden, dichtenden Zustand.
In der hier angesprochenen Szene wird Jaufré von seinen Tagesphantasien auch in der Nacht,
im Traum eingeholt. Damit drehen sich sowohl Jaufrés Wach- als auch Traumgedanken
geradezu zwanghaft und ausschließlich um Clémence. Die dichterischen Traumbilder in
seinen Liedern werden nachts durch real wirkende Traumbilder von Clémence abgelöst.232
Saariaho lässt vor allem durch eine bestimmte Melodie der Oboe das Element des immer
wiederkehrenden Traumes in die Oper einfließen. Oskalas Analyse zufolge kommt dieses
Oboenmotiv, Teile oder Variationen davon, in allen Akten vor: Sie nennt es das „Love from
Afar“ Thema233:
231
Anni Oskala, Träumen über Musik, Musik über Träume, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik, Nr.110,
hg. von Ulrich Dibelius u.a., Köln 2006, S. 46.
232
Siehe dazu auch Anni Oskala, Träumen über Musik, Musik über Träume, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue
Musik, Nr.110, hg. von Ulrich Dibelius u.a., Köln 2006, S. 46-49.
233
Anni Oskala, Dreams about Music, Music about Dreams, in: Kaija Saariaho: Visions, Narratives, Dialogues,
hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 41-60.
98
Saariaho lässt den Anfang der Traumszene in ruhiger Atmosphäre beginnen – sowohl Jaufré,
als auch sein Begleiter schlafen. Doch diese Stimmung verwandelt sich durch eine rhythmisch
verdichtende Musik rasch in einen aufgewühlten und aufwühlenden Zustand, der die Unruhe
Jaufrés und auch die des Meeres (es folgt im nächsten Bild der Sturm) widerspiegelt. Das
Klanggewebe wird dichter und die Dynamik steigt. Erste Flöte und Vibraphon beginnen mit
wechselnden Achtelbewegungen fis-g. Dieses Grundpendeln von zwei Tönen (und später von
drei bis vier Tönen) im kleinen Sekundintervall wird sukzessive von anderen Instrumenten (2.
und 3. Flöte, Harfe, Crotales234 und z.T. Violinen) angereichert, wobei sich zusätzlich eine
rhythmische Verdichtung durch sich wiederholende, beinahe hypnotisierende Triolen-,
Sextolen-, Sechzehntel- und Zweiundreißigstelbewegungen ergibt. Die Oboe wirft immer
wieder ein bekanntes Motiv, oder besser gesagt, ein bestimmtes Profil ein (die Töne d, b, a,
cis) – es erinnert an die Gesangsmelodie Clémences. Zusammen mit der mehr und mehr
aufwühlenden Rhythmik, der sich erweiternden Harmonik (fis, g, a, b, cis, d,) und dem Chor
zeigt Saariaho musikalisch Jaufrés Erinnerungen und Phantasien, die sich im Traume
miteinander in einer alptraumhaften Form verschmelzen.
234
Dies sind sogenannte antike Zimbeln, die Bestandteil des Perkussionsensembles sind.
99
Der Traum hat zur Folge, dass der Troubadour von massiven Existenzängsten geplagt wird –
er befindet sich in diesem Augenblick in einem Dilemma, das er nicht zu bewältigen imstande
ist. Aus ihm spricht in diesem Zustand größter Aporie die pure Angst:
Ich habe Angst, Pilger, ich habe Angst.
Du bist die Stimme der Vernunft, aber die Angst hört nicht auf die Stimme der Vernunft.
Ich habe Angst, sie nicht zu finden, und ich habe Angst, sie zu finden.
Ich habe Angst, auf See verloren zu gehen, bevor ich Tripoli erreiche, und ich habe Angst,
Tripoli zu erreichen.
Ich habe Angst zu sterben, Pilger, und ich habe Angst zu leben, verstehst du? (IV, 81)
Der Troubadour ist sich seiner ausweglosen Lage bewusst – er hat sich in ein Dilemma
hineinmanövriert, dem er weder mit Hilfe seines Verstandes, noch mit der seines Herzens,
seiner Intuition, zu entrinnen vermag. Seine Gefühle stehen ständig im Widerspruch
miteinander. Aus psychologischer Sicht befindet er sich in einem Zustand größter Disbalance
– zwischen Todessehnsucht und Lebenswille hin- und herpendelnd.
8.10. Sturm
Dem Albtraum folgt ein weiterer Tag auf unruhiger See: Das Meer tost und Jaufré, der
leichenblass an der Reling lehnt, stürzt – die Gefährten lachen über ihn. Sie zeigen in dieser
Szene, wie wenig sie die wahre Seele ihres Herren kennen und wie sehr ihr Blick auf das
Wesentliche fehlt: Sie vergleichen Jaufré mit einem furchtlosen Krieger, mit einem mächtigen
100
König, einem Ritter, der Wüsten und Berge überwinden konnte – aber – selbst diese zitterten
auf hoher See. Doch Jaufré weiß selbst den wahren Grund seiner Angst; zum Pilger gewandt:
Wenn unsere Gefährten wüssten, weshalb ich zittere, sängen sie nicht so.
Nicht das Meer macht mir Angst... (IV, 81)
Saariaho setzt diese aufgewühlte Stimmung mit Hilfe der spektralen Technik um: Diese
befindet sich vor allem in dem Augenblick, wo sie die Weite des Meeres zu schildern hat, in
ihrem Element. Der Akkord (Partialtöne F und B) erscheint in ausgedünnter Form, nur von
Fis aus aufsteigend und Töne bevorzugend, die einen tonalen und diatonischen Eindruck
erzeugen. Symbol- und naturhaft für das blaue Meer, das laut Pilger der „Spiegel des
Himmels“ (IV, 77) ist, sind vor allem die übereinandergeschichteten reinen Quinten. Nach
und nach kommen andere Töne hinzu. 235 Innerhalb kürzester Zeit (im Laufe von 8 bis 10
Takten) entsteht ausgehend von Posaunen, Harfen, Klavier, Celli und Kontrabässen (alle fis
und/oder b) ein dichtes Tongewebe, erzeugt von allen Instrumenten (außer die ersten
Violinen) des Orchesters. Die Töne bewegen sich zwischen dem klingenden B1 (Kontrabässe)
und dem klingenden fis4 (Piccolo), wobei diese Verdichtung ebenso schnell wieder abebbt wie
sie gekommen ist – ein rauschender, tosender Meeresklang. Die Gefährten werden wieder von
dem peitschenden Tarantella-Rhythmus angekündigt und begleitet. Der Übersicht halber im
Folgenden ein Ausschnitt dieser klanglichen Fülle aus dem Klavierauszug. Die klein
gedruckte Triolenfolge wird von den Trompeten gespielt:
235
Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich,
in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt:
Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller,
Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 208.
101
8.11. Konstruktion und De-Konstruktion des idealen Frauenbildes Jaufré
Rudels
Während Jaufré Rudel zu Beginn der Oper, noch bevor er Bekanntschaft mit dem Pilger
macht, von den vermeintlichen Tugenden einer fernen Frau spricht und von seinen Gefährten
mit durchaus aggressiven und harschen Tönen verspottet wird, kommt es im zweiten Akt
102
durch die Gräfin selbst zur Dekonstruktion seiner Vision. Ihrer Selbsteinschätzung nach kann
sie auf die ihr zugesprochenen Tugenden nur zu negativen Antworten kommen.
Wenn dieser Troubadour mich kennen würde, hätte er mich dann so inbrünstig besungen?
Hätte er mich besungen, wenn er in meine Seele hätte schauen können?
Schön, ohne den Hochmut der Schönheit, so sagte man ihm...
Schön? Doch immerzu um mich blickend, um mich zu vergewissern, dass keine andere Frau
schöner ist!
Edel ohne den Hochmut des Adels? Aber ich giere nach Ländereien des Okzidents wie des
Orients, als schulde die Vorhersehung mir etwas!
Fromm ohne den Hochmut der Frömmigkeit? Doch ich stolziere in meinen schönsten Kleidern
zur Messe, dann knie ich mich in der Kirche nieder, mit leerem Sinn!
Troubadour, ich bin nur schön im Spiegel deiner Worte. (II, 57)
Die Gräfin stellt somit das konstruierte ideale Frauenbild des Jaufré Rudels in Frage.
Saariahos musikalische Darstellung der Dekonstruktion der visionären Konstruktion Jaufré
Rudels zeigt aber auch eine andere Seite dieser Selbstdekonstruktion: Diese Erkenntnis des
eigenen Charakterzugs ist verbunden mit dem Gefühl des Schmerzes und der Traurigkeit.
Diese Traurigkeit, die inneren Tränen Clémences werden durch den Frauenchor hörbar.
Hautsalo zitiert in diesem Zusammenhang Monelle, der davon ausgeht, dass bestimmte
musikalische Motive einen spezifischen Zustand beschreiben: So kann beispielsweise das
sogenannte „pianto topic“, das Intervall der fallenden Sekunde, auf die fallende Träne, den
Schmerz, die Traurigkeit oder den Tod hinweisen236. Clémence dekonstruiert in dieser Szene
demnach nicht nur ihren eigenen Tugendkatalog (Schönheit, Adel, Frömmigkeit,....) , sondern
ist im Innersten von tiefer Traurigkeit erfüllt:
236
Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho:
Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 116-117.
103
Clémence scheint neben einem stolzen und damit einer Adeligen gebührenden sowie wie am
Ende der Oper klar ersichtlichen selbstbestimmten Charakter auch jenen einer unsicheren,
dependenten Frau zu haben. Sie zweifelt wie oben beschrieben nicht nur an ihren eigenen
Tugenden, sondern auch an der ihres Verehrers. Es scheint, als ob sie mehrere Gründe dafür
sucht, diese ferne Liebe nicht zur Wirklichkeit werden zu lassen. Es gibt aber unter den
Gefährtinnen eine bestimmte Person, die Clémence in ihrer inneren Ambivalenz unterstützt
und spricht:
Ihr alle, die ihr sie tadelt, was haben euch eure so nahen Männer gebracht?
Egal ob Prinzen oder Diener, sie machen euch zu Mägden,
wenn sie euch nah sind, leidet ihr, und wenn sie fortgehen, leidet ihr noch ... (III, 71)
Saariaho hat – wie bereits erwähnt – ursprünglich fünf Protagonistinnen für diese Oper
vorgesehen: Diese Person wird eine jener zweien sein. Es dürfte sich um die Tochter oder
eine Freundin handeln, die wohl die einzige zu sein scheint, die Clémence besonders nah steht.
Clémence segnet diese Frau, indem sie antwortet:
Wahr sprichst du, meine Tochter, meine Freundin,
du seist gebenedeit! Du seist gebenedeit!
Diese Person stützt Clémence, in ihrer Kraft zu bleiben und folgende herausfordernde Fragen
ihrer Gefährtinnen zu bewältigen:
[...] Ihr leidet nicht darunter, demjenigen so fern zu sein, der Euch liebt?
Nicht an seinem Blick erraten zu können, ob er Euch noch begehrt?
104
Ihr leidet nicht darunter, nicht einmal zu wissen, wie sein Blick ist?
Ihr leidet nicht darunter, niemals seine Augen schließen zu können und dabei seine Arme zu
spüren, die euch umfangen und an seine Brust drücken?
Ihr leidet nicht darunter, niemals, niemals seinen Atem auf Eurer Haut zu spüren?
Clémence:
Nein, bei Gott, ich leide nicht.
Vielleicht werde ich eines Tages leiden, aber, bei unserem gnädigen Herrn, nein noch leide ich
nicht.
Seine Lieder sind mehr als Zärtlichkeiten, und ich weiß nicht, ob ich den Mann so lieben
würde, wie ich den Dichter liebe,
ich weiß nicht, ob ich seine Stimme genauso sehr lieben würde, wie ich seine Musik liebe.
Nein, bei Gott, ich leide nicht.
Zweifellos würde ich leiden, wartete ich auf diesen Mann und er käme nicht,
aber ich erwarte ihn nicht.
Zu wissen, dass dort, in meiner Heimat, ein Mann an mich denkt,
lässt mich mit einem Mal der Welt meiner Kindheit nahe sein.
Ich bin die Ferne jenseits des Meeres für den Dichter,
und der Dichter ist meine Ferne jenseits des Meeres.
Zwischen unseren beiden Ufern reisen zärtliche Worte,
zwischen unseren beiden Leben reist eine Musik...
Nein, bei Gott, ich leide nicht,
nein, bei Gott, ich erwarte ihn nicht,
ich erwarte ihn nicht... (III, 71-73)
Dennoch wird hier Clémences Zwiespalt offensichtlich – sie betrachtet den fernen Geliebten
nicht mehr als zu begehrenden Mann, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die Qualitäten
eines durchaus begabten Dichters. Das, was er in seinem künstlerischen Schaffen kreiert, gilt
es zu verehren und achten. Falls das Auftauchen dieses Mannes überhaupt eine Bedeutung
haben sollte, dann ausschließlich jene, sich innerlich wieder vermehrt der eigenen Kindheit
und der entfernten Heimat zu widmen. Der Dichter steht allein für die entfernte Heimat, die
sich durch ihn und sein Werk so nah wie nie zuvor anfühlt – der Dichter quasi als Verbindung
zu ihrer Herkunft. Immer wieder nennt sie Gott – eine in diesem Moment anscheinend
gläubige Frau, die noch zuvor selbst gesagt hat, sich in der Kirche zwar niederzuknien und zu
beten, aber „mit leerem Sinn“ (II, 57). Die wiederholte Verneinung des Leidens und
Erwartens wirkt wie ein sich selbst auferlegter Autosuggestionsspruch, der das tiefste Innere
umzukehren versucht. Dennoch zeigt Clémence differenziertere charakteristische Merkmale
105
als jene der historischen Figur der besungenen und verehrten Dame innerhalb der
Troubadourlyrik. Sie ist zur Eigenreflexion fähig – frägt innerlich nach, wägt ab. Nur eine mit
der Kompetenz des reflexiven mentalen Verhaltens ausgestattete Person ist zur
Auseinandersetzung mit Widersprüchen, sei es emotionaler oder kognitiver Art, in der Lage.
8.12. Sterbeszene
In der Sterbeszene greift Amin Maalouf nicht nur auf das Lied Lanqand li jorn son lonc en
mai des historischen Jaufré Rudel zurück, sondern hebt auch ein besonderes Charakteristikum
des Liebeskonzepts der fin amor hervor: Die ersehnte Liebe darf nach diesem Konzept nicht
im irdischen Leben gelebt werden – dies würde ein Widerspruch in sich sein. Auf diesen
elementaren Grundbaustein der fin amor bezieht sich der Pilger, indem er auf die
Untrennbarkeit zwischen der geliebten Frau und dem fernen Ort bzw. auf den anderen Pol der
Untrennbarkeit zwischen dem Tod und der Nähe zu ihr hinweist:
(Clémence nimmt Jaufré Rudel in ihre Arme.)
Jaufré:
Herr, könnte ich so bleiben, einige Augenblicke, einige Augenblicke länger,
Könnte ich noch ein wenig weiterleben, nur ein wenig,
Meine Liebe, die fern war, ist mir nun nah, mein Körper ruht in ihren Armen, und ich atme
den süßesten Duft.
Könnte der Tod noch draußen warten, anstatt mich so ungeduldig zu schütteln.
Pilger:
Aber wenn der Tod nicht so nahe wäre, Jaufré,
Wäre die Frau, die du liebst, in diesem Moment auch nicht in deiner Nähe, um dich zu
umarmen,
Die Luft, die du atmest, wäre nicht durchdrungen von ihrem Duft,
Und sie hätte dir nicht gesagt: „Ich liebe dich, Jaufré“. (V, 97)
Dieser kurze Einwurf des Pilgers, der mitten in einem intensiven und hochemotionalen Dialog
zwischen Jaufré Rudel und Clémence erfolgt, spiegelt auch die Verzweiflung des Mittlers
wider: Es waren seine Erzählungen, die den Anfang vom Ende des Troubadours einleiteten
und letztlich zu dieser wahren Begegnung führten, die eigentlich nicht stattfinden hätte dürfen.
Offensichtlich ist es ihm in diesem Moment ein großes Bedürfnis, dem Schmerz des Prinzen
106
mit dieser vermeintlich nach dem Liebeskonzept der Troubadoure „logischen“ Erklärung
Trost zu spenden und vermutlich auch ein Stück weit sein Gewissen zu beruhigen.
Saariaho gestaltet diesen Doppelmonolog des Pilgers und Jaufrés als Duo – obgleich der
Eindruck entsteht, dass eher jeder für sich in seiner Musik und seinen Worten lebt. Die für die
beiden Figuren charakteristischen Instrumente – die Flöten für den Pilger, das Klavier für
Jaufré – kommen hier zum Einsatz.
Maalouf greift noch zwei Mal auf das bekannte Troubadourlied zurück: Der Wunsch des
Troubadours, die Geliebte an den traditionellen lieux érotiques, den Plätzen der Erotik zu
begegnen, die im Lied Lanqand li jorn son lonc en mai als „la cambra e•l jardis“ – die
Kammer und der Garten 237 – beschrieben werden, geht in Erfüllung. Ferner wird das
Unmögliche möglich: das „vollkommene Gespräch“238, in dem sich Jaufré und Clémence in
einem Frage-Antwort Dialog – allerdings immer in der konjunktiven Form – gegenseitig die
Liebe erklären:
Jaufré:
Wenn mich der Himmel jemals gesunden ließe,
Nähmst du mich an der Hand, um mich zu deinem Gemach zu geleiten?
Clémence: Ja, Jaufré, wenn der Himmel in seiner Güte dich heilen würde, nähme ich dich an
der Hand, um dich zu meinem Gemach zu geleiten.
Jaufré:
und ich streckte mich aus neben dir?
Clémence: Und du strecktest dich aus neben mir...
Jaufré:
Und du legtest dein Haupt an meine Schulter?
Clémence: Mein Haupt an deine Schulter...
Jaufré:
Dein Gesicht dem meinen zugewandt, deine Lippen nahe den meinen...
Clémence: Meine Lippen nah den deinen...
(Ihre Lippen berühren sich sanft.) (V, 98-99)
237
238
Siehe Kapitel 4.4. Vers VI, Zeile 6.
Siehe Kapitel 4.4. Vers IV, Zeile 5.
107
Dieser Dialog wird mit den Harfen und Violinen (den Clémence zugeordneten Instrumenten)
und dem Klavier, den Crotales und dem Vibraphon (den Jaufré zugeordneten Instrumenten)
begleitet, wobei der Klangboden von den Streichern gelegt wird – ein flimmernder Klang. Mit
Fortschreiten des Dialogs verschwinden sukzessive diese den beiden Figuren zugehörigen
Instrumente. Als Jaufrés letzte Worte – (sehr hoch gesetzt mit e1, fis1 und gis) – verklingen,
spielt nur noch die erste Violine das h2 stetig vier Takte weiter, um schließlich ganz zu
verklingen: Das pulsierende Herz steht still.
Der Wunsch der höchsten Liebesgabe der troubadouresken domna – den Kopf an ihre
Schultern zu betten und ihre Lippen im Kuss zu berühren – gehen für Jaufré Rudel in
Erfüllung. 239 Für ihn gibt es damit nichts mehr vom Leben zu fordern und er stirbt in ihren
Armen mit den Worten:
In diesem Augenblick habe ich alles, was ich begehre.
Was könnte ich mehr vom Leben verlangen? (V, 99)
239
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 306.
108
Das Pochen des Herzens wird von Zimbeln und Crotales gespielt – auch dies verklingt.
Nachdem Jaufré sein Leben in den Armen seiner Clémence ausgehaucht hat und ein ganzer
Takt Generalpause diesen Moment inne halten lässt, werden, ähnlich wie am Beginn und wie
im dritten Akt, als Jaufré zum ersten Mal den Namen dieser Frau erfährt, die Partialtöne B
und Fis – diesmal aber in absteigender Form, hörbar240.
Der versammelte Chor versucht nun, Clémence davon abzuhalten, Gott anzuklagen – sie
haben Angst vor der Strafe Gottes, vor dem schutzlos Ausgeliefertsein im Sturm auf offener
See usw. Clémence beginnt auch, sich selbst schlecht zu reden, die Schuld für den Tod
Jaufrés zuerst bei sich zu suchen. Sie beschließt am Ende dieses Wustes an Schuldfindungen,
ihren nicht gekannten Mann die ewige Treue zu schwören:
Ich bin Witwe eines Mannes, der mich nicht gekannt hat,
und nie wird ein Mann meine Bettstatt ergründen. (V, 105)
Diese Aussage spricht eher dafür, dass sie nicht aus einem tiefen Glauben heraus ins Kloster
geht, sondern dies aus Liebe zu ihrem Jaufré tut und aus dem Bedürfnis heraus, vor den
Menschen zu flüchten. Maalouf lässt diese innere Gespaltenheit Clémences – auf der einen
Seite das blasphemische Erheben gegen den Himmel und auf der andern Seite die
Entscheidung, in ein Kloster zu gehen – ihren Höhepunkt erreichen: Ihr Schlussgesang – ein
Schlussgebet vor dem Leichnam ihres Geliebten, bleibt (zunächst) ambivalent. Dazu aus dem
Libretto:
(Als wäre sie bereits im Kloster, kniet sie sich nieder und beginnt zu beten, zunächst
schweigend, dann mit lauter Stimme, dem reglosen Körper ihres Geliebten zugewandt, der wie
ein Altar wirkt, so dass nicht ganz klar wird, ob sie zu ihm oder zu Gott betet, gegen den sie
sich aufgelehnt hatte. Der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Worte, die sie
spricht, doppeldeutig sind.)
Wenn Du Liebe heißt, bete ich nur Dich an, Herr.
Wenn Du Güte heißt, bete ich nur Dich an.
Wenn Du Vergebung heißt, bete ich nur Dich an, Herr.
Wenn Du Passion heißt, bete ich nur Dich an.
Mein Gebet erhebt sich zu Dir, der Du mir nun so fern bist, zu Dir, der so fern ist.
240
Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich,
in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt:
Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller,
Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 208.
109
Vergib mir meine Zweifel an Dir!
Du, der Du Dein Leben für mich gabst,
vergib mir, so fern geblieben zu sein.
Jetzt bist Du es, der fern ist.
Bist Du noch da, um mein Gebet zu hören?
Jetzt bis Du es, der fern ist,
jetzt bist Du die Liebe aus der Ferne.
Herr, Herr, Du bist die Liebe,
Du bist die Liebe aus der Ferne... (V, 107)
Der Gesang Clémences wird von zart flimmernden, schwebenden und sphärischen
Streicherklängen getragen, die durch eine spezielle Vibratotechnik (alternierender
Fingerdruck von „normal“ und „leicht“) auf den Tönen b, h, d, e erzeugt werden. Die Harfen
reichern diesen Klang mit einer raschen fis-b-Alteration an und setzen immer wieder
Arpeggioakzente (fis-cis-d) ein. Die Spielanweisung von Saariaho lautet „the music blends
gradually into air and light“ – es scheint, als ob Clémence nicht nur an den Himmel gewandt
spricht, sondern sich auf dem erlösenden Weg zum Himmel auf Erden befindet. Für viele
Autoren (und Kritiker) bleibt der Schluss der Oper ambivalent: Betet Clémence nun Gott oder
ihren Geliebten an? Bei genauerer Betrachtung der Musik bzw. des Gesangsparts Clémences
fällt auf, dass bestimmte Wörter von der Sopranistin gesprochen werden: Es sind dies
„Seigneur“ („Herr“, im Takt 722, 729 und 767), „maintenant“ („jetzt“, „nun“, Takt 736), „Toi
qui“ („Du, der du…“, T 748) sowie „ma prière“ (Gebet, Takt 758).
110
Diese Wörter sind im Hinblick auf ein (christliches) Gebet Schlüsselwörter – warum spricht
diese Clémence und singt sie nicht, zumal sie innerhalb der Melodielinie liegen? Hier ist es
wichtig, nochmals die Worte Saariahos ins Gedächtnis zu rufen, die sie in einem Interview
sagte: Für sie ende die Oper nicht traurig, sondern – im Gegenteil – Clémence finde am Ende
ihr Leben wieder, da sie erkenne, dass sie die Liebe in sich trage. Clémence zeigt uns mitten
in diesem himmlischen, dem (vermeintlich) Gott geweihten Gebetsgesang, mit ihrem Wechsel
in die ,menschliche Sprache’, dass sie ihre menschliche und irdische Stimme wiedergefunden
hat: Sie steht voll im Leben, im Herzen erfüllt von großer Liebe – das Lied, das sie singt, ist
ihrem Geliebten, Jaufré Rudel, gewidmet. Er ist zwar nicht mehr auf irdischem Boden, aber
im Herzen lebt er ewig weiter. Clémence hat die höchste Stufe der Transzendenz erreicht –
eine Stufe, die einem irdischen Menschen normalerweise verwehrt bleibt: Jaufré und
Clémence ist es durch die Überschreitung größter Hürden und Schwellen gelungen, den
Garten Eden, das Paradies auf Erden, zu betreten.
Saariaho macht diese höchste Form Liebe musikalisch erlebbar: der Klang dieser letzten
Szene ist nicht mehr fassbar, greifbar, fest – alles schwebt in zartester Stimmung; der Gesang
Clémences, der sich ins Unendliche auszudehnen scheint, erzeugt gemeinsam mit den
Streichern, dem Percussionsensemble (hier Vibraphon, Crotales, Marimba, TamTam und
Pauken), den hellen Flöten (der Pilger ist musikalisch anwesend), den glitzernden
Harfenklängen (Jaufré ebenfalls!) und den elektronisch generierten Flüster-, Wald- und
Vogelgeräuschen eine überirdische und transzendente Atmosphäre, die im realen Leben, im
Irdischen, das Erdenhafte integriert.
111
9. Zusammenfassung
Amin Maalouf und Kaija Saariaho haben mit der Oper L’amour de loin gezeigt, wie aktuell
und lebendig eine Jahrtausende alte Geschichte im 21. Jahrhundert sein kann. Eine Geschichte,
die die elementarsten Grundfragen der Menschheit beleuchtet – das Suchen und Verstehen der
eigenen Identität und die des Anderen, die Suche und Sehnsucht nach Erfüllung, Liebe und
inneren Frieden. Maalouf verpackt diese grundlegenden Themen in eine alte, aus dem 12.
Jahrhundert stammende Geschichte eines französischen Mannes, der sich als Troubadour
ständig in dem Zustand des nach Erfüllung Suchenden und des sich in träumerischen
Visionen Verlierenden befindet. Maalouf erweitert in seinem Libretto allerdings das
Liebeskonzept des Troubadours, die fin’amor, die aus der vorbehaltlosen Hingabe an eine
Sehnsucht lebt und aus der puren Spannung des Hier und Dort genährt wird, durch
tatsächliche
Handlungen,
Entscheidungen
und
viel
mehr
noch,
innerliche
Bewusstwerdungsprozesse aller Protagonistinnen. So treiben den Dichter und die Gräfin nur
auf den ersten Blick egoistische Ziele voran:
Der Dichter sucht seine dichterische Identität und Perfektion, die Gräfin ihre persönliche
Identitätssuche. Die wahre Liebe als Antrieb und das ehrliche Interesse am Anderen scheinen
somit nicht in den Vordergrund gerückt zu sein. Rieger sieht zusätzlich durch den Tod Jaufrés
und Clémences Einkehr ins Kloster das Fehlen jeglicher Transzendenz bewiesen: Die
Liebenden fänden sich weder in dieser noch in einer „anderen“ Wirklichkeit; Egoismus und
Pessimismus seien die Basis der Geschichte und stünden in starkem Widerspruch zu Maaloufs
aufklärerischen Mission als Autor und Mittler zwischen den Kulturen, so Riegers
Konklusion.241 Auch Deppermann sieht, wie im Kapitel 5.5 beschrieben, ein einsames und
nicht erfüllendes Ende in der Oper. Die eingehende Betrachtung des Werkes, in der vor allem
die Verbindung zwischen Text, emotionalen Gehalt des Textes und der Musik einen Fokus
darstellte, hat Gegenteiliges bewiesen:
Egoismus kann keinem der drei Figuren zugeschrieben werden: Jaufré würde aus einem
Egoismus heraus nicht eine derart weite, für seine gesamte Existenz bedrohliche Reise
antreten. Auch Clémence zeigt durch die Bereitschaft, sich den eigenen Ängsten, Wünschen
und Sehnsüchten zu stellen, dass sie weit weg von egoistischem Handeln und Denken ist.
Dass das Ende der Oper weder „einsam“, noch „nicht erfüllend“ ist, hat die musikalischästhetische Darstellung der Sterbeszene eindrücklich bewiesen. Dennoch sei an dieser Stelle
241
Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre
Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg.
von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 311-312.
112
eine ausführlichere Argumentation erlaubt, die sowohl auf das Libretto, als auch auf die
Musik Saariahos und vor allem auf die lebendige Verbindung dieser Bezug nimmt.
Zwischen dem troubadouresken Liebeskonzept der fin’amor und der Maaloufschen
L’amour de loin sind erhebliche Unterschiede herauskristallisierbar. Der anfangs rein
dichterischen Hingabe an eine Sehnsucht folgen tatsächliche Entscheidungen und Handlungen.
Der Troubadour zeigt – nicht zuletzt angeregt durch die Erzählungen des Pilgers –
Eigeninitiative und Aktivität, indem er sich tatsächlich auf die Suche nach der bis dahin
ausschließlich besungenen, und im irdischen Leben nie erreichbaren Frau macht. Er entspricht
somit nicht dem Typus Troubadour, dessen dichterische Integrität und Perfektion mit der
räumlichen Distanz aufrechterhalten werden kann. In dem Moment, in dem der Troubadour
sich entscheidet, tatsächlich den Weg über das Meer zu wagen, in dem Moment, in dem er
seiner Besungenen in die Augen blickt, seinen Kopf an ihre Schultern lehnt, implodiert
geradezu seine Existenz als Troubadour – er ist nicht mehr der Troubadour Jaufré Rudel,
sondern der Prinz Jaufré Rudel, der seine Suche nach wahrer Liebe und dem wahren Kern
des Lebens erfolgreich beendet.
Auch die Gräfin entspricht nicht dem troubadouresken Idealtypus einer Frau, die mit
übermenschlichen Tugenden ausgestattet ist und somit nicht einem irdischen, sondern
engelhaften Wesen entspricht, sondern zeigt ihre wahre, menschliche und verletzliche Seite:
Sie trauert um ihre Heimat, die ihr in Kindheitstagen genommen wurde. Nur auf den ersten
Blick scheint es, dass sie im Wissen um einen entfernten Prinzen, der sie besingt, ihren
Mangel an heimatlicher Identität ausgleicht. Schon bald wird das Gefühl der Heimatlosigkeit
in das einer innigen Liebe umgewandelt. Der innere Prozess führt sie zur Erkenntnis, dass
Ferne und Nähe, Heimat und Fremde relativ sind, und im Herzen die wahre Heimat, die
wahre Liebe immer mitgetragen wird. Der Orient steht für den Garten Eden – dem Ort der
Entstehung der Menschen, einem Ort, an dem Körper und Seele Eins sind. Dieses „Paradies
auf Erden“ bleibt eigentlich für den Menschen (so lange er auf Erden lebt – dies entspricht
der Vorstellung vieler Religionen) unerreichbar. Clémence befindet sich seit ihrer Kindheit
inmitten dieses Ortes, nur konnte sie ihn bis dahin weder erkennen, noch fühlen – mit Jaufrés
Reise und Überwindung des Meeres begann auch in ihr der Prozess der Überwindung dieser
großen Schwelle.
Als Jaufré und Clémence sich Arm in Arm auf der Zitadelle, in Tripolis, im Orient befinden,
erleben sie die größte Transzendenz, die einem Menschen zuteil werden kann. Ihnen wird es
ermöglicht, diese eigentlich dem Menschen vorenthaltene Liebe zu leben – und das in
doppelter Hinsicht: Zum Einen werden die vielen Hürden (die Grenzen der troubadouresken
113
Liebeslyrik, die Meinungen der eigenen Freunde und Vertrauten, die räumliche Distanz, die
Selbstzweifel, Ängste, Wut, Trauer, die egoistischen Gefühle,...) überwunden. Zum Anderen
haben beide Menschen als verloren geglaubte Seelen, deren Leben sinnentleert zu sein schien,
an dem höchst symbolisch und spirituellen Ort sowohl zu sich selbst als auch den anderen
gefunden. Clémence muss deshalb nach dem Tod ihres Geliebten weder aufhören, diesen
Menschen zu lieben, noch ihm in den Tod folgen (wie dies in vielen Opern, von Orpheus und
Eurydike angefangen über den Fliegenden Holländer und seiner Senta bis hin zu Tristan und
Isolde), weil die Liebe nicht das irdische Leben braucht, um gefühlt zu werden. Wenn man
den Begriff Transzendenz (lateinisch transcendentia242 – „das Übersteigen“) versteht als Etwas,
das man weder Sehen noch Hören kann (wie Freude, Glück, Zufriedenheit,...), sondern nur
Fühlen, dann ist die Liebe die höchste Form der Transzendenz. Die Liebe zwischen Jaufré
und Clémence erfährt in der Oper eine ,Erhöhung‘ dieser Transzendenz – es kommt quasi zu
einer ,Auflösung der Transzendenz‘: Liebe wächst und ist da – Clémence und Jaufré brauchen
keinen anderen Raum mehr für diese Liebe zu suchen, sie haben ihn in sich gefunden.
Clémence braucht nicht mehr sehnsuchtsvoll nach ihrer Heimat Toulouse schauen, denn die
Heimat ist bereits in ihr. Saariaho empfindet deshalb entgegen vielen Forschern, die sich mit
der Oper beschäftigen, dass diese Oper weder traurig ist, noch tragisch endet. An dieser Stelle
sollen Saariahos eigene Worte den ihren gebührenden Platz bekommen:
[Es ist] ein sehr befreiendes Gefühl, wenn wir durch den Tod eines geliebten Menschen
erkennen, dass wir nicht plötzlich aufhören müssen, diesen Menschen zu lieben, weil die
Liebe über den Tod hinausgeht und den Tod überwindet. [...] Für mich persönlich ist
[L’amour de loin] eine sehr glückliche Geschichte, denn Jaufré hat den Mut, sich
aufzumachen, um Clémence zu sehen, und beide leben für ihre Liebe. [...] Die Oper
[vermittelt] Hoffnung, gerade, wenn man bedenkt, welche Entwicklung Clémence nach dem
Tod von Jaufré durchmacht. Zunächst ist sie natürlich verzweifelt, dann zornig. Aber dann
überwindet sie den Zorn und die Verneinung des Lebens und ist am Ende der Oper erfüllt von
einer unendlichen Liebe. Viele Leute glauben, dass Clémence am Ende der Oper stirbt. Das
glaube ich nicht. Meiner Meinung nach findet Clémence am Ende der Oper zurück zum Leben,
und zwar durch diese unendliche und ewige Liebe, die sie in sich trägt.243
242
Siehe dazu auch online unter http://de.wikipedia.org/wiki/Transzendenz.
Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und
bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina
Huter, Innsbruck 2003, S. 88.
243
114
Durch das ausgesprochen dichterisch feinfühlig verfasste Libretto und der musikalischen
Umsetzung und Gestaltung der Geschichte mit ihren vielschichtigen, unterschwellig und
langsam sich entwickelnden inneren Prozessen haben Maalouf und Saariaho ein Meisterwerk
geschaffen, das, obgleich es in den letzten Jahren einige Aufführungen erlebt hat, noch mehr
Beachtung verdient. Saariaho schuf auf Basis eines außergewöhnlichen Librettos mit ihrem
ersten Ausflug in das wohl anspruchsvollste Musikgenre eine spirituelle Oper mit
meditativem Charakter, in der Themen wie Interkulturalität genauso aufgegriffen werden wie
individuelle und seelische Prozesse. Sie schuf eine Oper, die vor Antithesen nur so sprüht:
Orient und Okzident, Erotik und Askese, Furcht und Freude, Angst und Mut, Wolllust und
Tugend, himmlische und irdische Liebe, Diesseits und Jenseits, Vergänglichkeit und
Stetigkeit, Flucht und Beharrlichkeit, Einsamkeit und Zweisamkeit, Sequestration und
Integration, Ekstase und Melancholie, Starre und Lebendigkeit, Leben und Tod, Ideal und
Wirklichkeit,... Saariahos Kompositionsstil, der durch das „Auffächern, Zerlegen,
Verwandeln,
Umfärben,
Umdeuten,
Verdichten
und
Ausdünnen“
244
des
Klanges
charakterisiert ist, scheint wie gemacht zu sein für die musikalische Gestaltung dieser
Antithesen. Langsame, aber stetige Veränderungen im Klang – gewissermaßen ein
musikalischer Sog, der durch das sukzessive Hinzutreten und Aufbauen einzelner Stimmen
entsteht – führen gemeinsam mit dem Hinzutreten von Akzenten und diatonischem Material
dazu, diese latenten Peripetien, metabolischen Prozesse und die subtile Innenschau des
Seelenlebens musikalisch auszudrücken. Saariaho hat mit ihrer ersten Oper eindrücklich
bewiesen, dass sie zu den großen Komponistinnen der Musikgeschichte gehört.
Abschließen soll diese Arbeit deshalb Saariaho selbst, die sich zur bedeutenden und über
die Musikgrenzen hinausgehenden Rolle und Aufgabe einer Komponistin wie folgt äußert:
Ich habe das Gefühl, dass der heutige Künstler in einem umfassenden Sinne das tiefe Erbe der
Humanität in sich trägt. Wir sollten gemeinsam Sorge für dieses höchste Gut tragen und Wege
finden, dass es – auch lange nach uns – am Leben bleibt. Eine Aufgabe, die gegenwärtig sehr
schwer erscheint.245
244
Siehe dazu auch Ellen Kohlhaas, Seelenschlösser oder Übergänge und Zwischenwelten. Ein Streifzug durch
Kaija Saariahos Vokalmusik, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus
Jungheinrich, Mainz 2007, S. 61.
245
Zit. nach Michael Kurtz, Kaija Saariaho auf dem Weg zu ihrer Oper „L’amour de loin“. Musik und die
visuelle Welt und vielfältige Facetten der Stimme, in: Offizielles Programm der Salzburger Festspiele 2000, hg.
von Friedel Schafleitner, Salzburg/Wien 2000, S. 161.
115
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Zander, Margarete: „Ich möchte nicht elitär sein“ Die finnische Komponistin Kaija Saariaho
ist
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KLANG!:
http://www.klang-hamburg.de/die-
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Neytcheva, Svetlana: Reading the Imaginary: Kaija Saariaho’s Opera L’amour de loin, in:
Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem
Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von
Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 211-235.
Libretto Übersetzung: Französisch – Englisch:
http://operawebclub.com/papageno/index.php?act=attach&type=post&id=1801
Über die Musik Kaija Saariahos: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/lauschangriff-2304
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