Macht des Vermögens

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Macht des Vermögens
Jenseits von Scham und Neid
Zur Macht des Vermögens
Martin Schürz
Einleitung
Vermögensunterschiede wurden im Kapitalismus traditionell über Leistungs­
unterschiede legitimiert. Die Norm der Leistungsgerechtigkeit bedeutet,
dass jemand seine gesellschaftliche Position, sein Vermögen und Einkommen
nur seiner Leistung zu verdanken hat, nicht aber seiner Herkunft, einer
Erbschaft oder ähnlich leistungsfernen Merkmalen. Seit einiger Zeit werden
aber verstärkt Markterfolge belohnt.
Die Kluft zwischen Erfolgreichen und Erfolglosen weitet sich aus. Die
Mittelschicht erodiert, und die Gesellschaft wird polarisiert in „the rich and
the rest of us“ (Barbara Ehrenreich). „Countervailing institutions“ (J. K.
Galbraith), wie öffentlicher Sektor, Gewerkschaften und Arbeiterbewegung,
sind geschwächt oder bereits nicht mehr vorhanden. Jedenfalls können sie
den Trend zur Vermögenskonzentration nicht stoppen.
Der amerikanische Rechtsphilosoph John Rawls hatte eine wohlgeordnete
und faire Gesellschaft im Auge, in der das Selbstwertgefühl der Menschen
gefestigt genug ist, sodass kein Neid aufkommt, wenn andere Menschen
Güter besitzen, die man gerne selbst hätte. Die Ungleichheit bei Einkommen
und Vermögen steigt seit den 1980er Jahren jedoch in solchem Ausmaß an,
dass das im Kapitalismus dominante gesellschaftliche Legitimationsmuster
über die Norm der Leistung fragiler wird. In Österreich verfügen die
reichsten 0,1 % der Bevölkerung über 8 % des gesamten Geldvermögens.
In etwa genauso niedrig ist auch der Anteil der gesamten unteren Hälfte.1
Zurzeit kristallisieren sich Konturen des nachfolgenden Legitimationsmusters heraus. Dem übermäßigen Reichtum wird in den Medien über
Emotionen auf den Leib gerückt. Appelle an Moral und Gefühle nehmen
überhand. Die Schamlosigkeit der Reichen und deren Hochmut werden
beklagt. Die Reichen mögen doch maßvoll bleiben und nicht allzu habgierig
sein. Der soziale Abstand müsse erträglich bleiben. Im Gegenzug wird von
den Armen erwartet, nicht neidisch auf die Erfolgreichen zu sein.
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Neid bedarf zu seiner Ausbildung einer Atmosphäre sozialer Nähe, und
gerade diese fehlt zwischen Armen und Reichen nahezu vollständig. Und
Scham, die Kehrseite von Neid, entsteht dort, wo man sich von Wertungen
anderer abhängig macht. Doch den Urteilen armer Menschen unterwerfen
sich Reiche nur selten. Sogar das Wissen über die Lebensverhältnisse der
jeweils anderen sozialen Schicht differiert beträchtlich. Während es eine
differenzierte Armutsforschung gibt, ist der Wissensstand über Reichtum
minimal.2 Armen Menschen fehlen vorab grundlegende Informationen zur
Beurteilung, ob privater Reichtum gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist.
Unwiderlegt bleibt das balzacsche Diktum: „Jeder große Geldbesitz, dessen
Herkunft man nicht kennt, entstammt einem geheimen Verbrechen, das
nur geschickt verborgen gehalten wurde.“3
Die zwölfte Ausgabe des jährlich erscheinenden „World Wealth Report
2008“ von Merrill Lynch und Capgemini weist 10,1 Millionen High-NetWorth-Individuals aus, die netto (ohne Liegenschaftsbesitz) über ein Finanzvermögen von mehr als 1 Million US-Dollar verfügen. Insgesamt verfügen
diese Personen über ein Vermögen von 40.700 Milliarden US-Dollar. Die
Veröffentlichung der Liste der Reichsten fasziniert, weil die Vorstellungskraft der Durchschnittseinkommensbezieher jenseits der Millionengrenze
kollabieren muss.
Was tun gegen die steigende Ungleichheit in der Gesellschaft? Der National­
staat – als zentrale umverteilende Instanz – wurde mittels einer politisch
induzierten Globalisierung systematisch geschwächt, und die neoliberale
anti-etatistische Propaganda bereitet den Boden für eine gesellschaftliche
Akzeptanz wachsender sozialer Ungleichheit auf. Staatsfeindlichkeit kann
Arm und Reich dann tatsächlich einen. Während die einen in ritualisierter
Form immer allzu hohe Grenzsteuersätze beklagen, machen die Exkludierten negative Erfahrungen mit den nicht nur fördernden, sondern stets auch
fordernden Staatsorganen. Beide lebensweltlichen Erfahrungen haben zwar
wenig miteinander zu tun, konvergieren aber im Misstrauen gegenüber
dem Wohlfahrtsstaat. Dies ist rational aus Sicht der Reichen, denen etwas
weggenommen wird, aber perspektivisch eingeengt in der Wahrnehmung
der Armen, die von einem immer noch umverteilenden Sozialstaat ja profitieren.
Neoliberale Apologeten des Marktes bescheiden ihren fortschrittlichen
Kritikern, dass das Streben nach sozialer Gerechtigkeit in einer globalisierten­
Welt ein Anachronismus sei und dass nur noch eine individuelle Wahl
hinsichtlich des gewünschten Maßes an Moral im persönlichen Handeln
bleibe.
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Emotionen und soziale Positionen
Emotionen und soziale Positionen sind eng verknüpft. So kann die Klassen­
zugehörigkeit Emotionen bestimmen, aber Emotionen sind ihrerseits auch
für die soziale Mobilität von Bedeutung. Eva Illouz4 bezieht sich auf jenes
bekannte Beispiel, welches Freud in seinen Vorlesungen zur Einführung in
die Psychoanalyse in Anlehnung an die Nestroy-Posse Zu ebener Erde und im
ersten Stock oder die Launen des Glücks brachte. Die Tochter des Hausbesorgers
vom Erdgeschoss und die Tochter des Hausherrn vom Obergeschoss proben
erste sexuell konnotierte Spiele und verarbeiten diese nicht ungewöhnliche
Entwicklungsepisode jeweils anders. Während das Proletariermädchen
die Masturbation fortsetzt, bis sie einen Geliebten findet, verzichtet das
Töchterchen des Hausherrn auf die masturbatorische Befriedigung und
behält etwas Niedergedrücktes in ihrem Charakter bei. Demnach sei der
emotionale Leidensdruck im Bürgertum höher, wo das Über-Ich differenziertere Anforderungen stellt. Die Unterschicht hingegen sei emotional
stabiler. Ein Mangel an sexueller Hemmung verhindere die Entstehung
von Neurosen. Interessant ist der Versuch, neben der sozialen Hierarchie
auch eine emotionale Hierarchie zu etablieren. Diese läuft bei Freud der
ökonomischen zuwider. Bei Debatten zum Reichtum werden die Affekte
jedoch unterschiedlich zugeordnet. Schamlosigkeit sei ein Problem der
Superreichen, wohltätiges Handeln ein positives Vermögen der Reichen,
und Neid sei das Ressentiment der Erfolglosen.
Schamlosigkeit der Reichen?
Die Reichen mögen nicht so schamlos sein, tönt es aus den Feuilletons
und den Präsidentenkanzleien. Nun könnten ja moralische Skrupel die
Handlungen der Reichen und damit deren Macht tatsächlich begrenzen.
Und die freiwillige Askese des konvertierten Reichen ist ein katholischer
Dauerbrenner. Doch die Vorstellung, dass der Finanzkapitalismus durch
Schamaktivierung bei den Profiteuren gebändigt werden könne, mutet
vorab krude idealistisch an.
Russische Oligarchen, die in XXL-Trainingsanzügen laut telefonierend in
feinen Wiener Innenstadtlokalen dinieren, veranschaulichen vielleicht die
beklagte Schamlosigkeit der Neureichen. Doch was wäre gewonnen, wenn
sie dezent gewandet, diskret und verschämt Luxusartikel konsumieren?
Das Thema der Schamlosigkeit der Reichen führt in sozialen Fragen nicht
weit.
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Scham gründet nach Freud in der Angst, ausgestoßen zu sein. Maßgeblich
sind demnach die Urteile und Wertungen der anderen. Während Schuld
sich nur auf eine einzelne Handlung bezieht, ist in der Scham die gesamte
Person gefährdet. Scham zieht eine Grenze des Privaten und der Intimität.
Sie verdeckt Schwäche, während ein Schuldgefühl der Stärke Grenzen setzt.
Wenn schon Affekte in sozialen Auseinandersetzungen aktiviert werden
sollen, dann wäre demnach Schuld die relevante Kategorie.
Doch dies ist nicht der zentrale Einwand gegen die Aktivierung eines
zutiefst persönlichen Affekts für soziale Belange: Reiche können arme
Menschen beschämen. Eine Umkehrung der Beschämungsstrategie zu beabsichtigen, das heißt, Reiche zu Scham anzuhalten, ist aus mehreren Gründen
strategisch nicht Erfolg versprechend. In der Scham würden Reiche dokumentieren, dass sie unsouverän und in ihren Affekten von den Wertungen
anderer, zudem im Status unter ihnen Stehender abhängig sind. Scham ist
aber nicht die zentrale Dimension, um die es bei ungleicher Macht in einer
Gesellschaft geht. Die Arbeiterbewegung wandte sich zwar teils erfolgreich
gegen bürgerliche Schamvorstellungen. Doch das beliebte Nacktbaden in
der Lobau zog ja nur eine territoriale Grenze zwischen Arbeiterkultur und
Bourgeoisie. Zur Durchmischung der Freizeiträume kam es nicht, und
gerade die räumliche Segregation von Lebensbereichen veranschaulicht
blendend die Macht des Vermögens.
Dass Reiche mehr Möglichkeiten zur Beschämung anderer haben, ist
das gesellschaftspolitische Skandalon und nicht, ob sie sich schamlos oder
verschämt verhalten. Beschämung ist eine Technik sozialer Kontrolle, und
genau dies zeigt ihre asymmetrische Verwendungsweise. Sie kann nur von
den Mächtigen als Signal der Missbilligung eingesetzt werden. Die gezielte
Beschämung stellt stets einen Herrschaftsanspruch dar. Intendiert wird die
Unterwerfung des anderen unter ihre moralische Autorität. Eine Beschämungsstrategie der Ohnmächtigen gegenüber den Reichen gibt Anlass für
weitere Schamkonflikte, da Niederlagen zu erwarten sind.
Die moralisierende Ermahnung seitens der Politik zum Maßhalten
und gegen exzessive Gier macht Menschen wie Joe Ackermann, CEO der
Deutschen Bank, rasch zu schwadronierenden Verantwortungspathetikern.
Doch durch einen weiteren freiwilligen Verhaltenskodex und ein Corporate-Social-Responsibility-Event wird eine sachorientierte emanzipatorische
Kritik nicht ergänzt, sondern erschwert. Denn das Mantra der freiwilligen
Verantwortung der Eliten lullt ein.
364
Voraussetzungen sozialer Scham
Der Kleinbürger Goriot gewinnt in Balzacs Roman Le Père Goriot während
der Französischen Revolution, in der Zeit der proklamierten Egalität, ein
Vermögen mit Getreidespekulationen. Seine aufstiegsorientierte Hoffnung,
seine beiden geliebten Töchter in höhere Klassen zu vermählen und ebendort auch selbst soziale Anerkennung zu finden, scheitert. Die Ehemänner
seiner beiden Töchter reüssieren wirtschaftlich nicht und schlimmer, beide
Töchter schämen sich seiner. Eine Zeit lang gilt noch, „und wenn sie sich
meiner auch manchmal schämten, so wusste ich mir doch ihre Zuneigung
zu erkaufen“. Doch unter den Bourbonen, nach Ende der Herrschaft von
Bonaparte, mit einem neu gefestigten Feudalsystem, ist der Vater, ein kleinbürgerlicher Nudelfabrikant, nur noch peinlich, auch weil er sein Vermögen
bereits den Töchtern vermacht hat. Anastasie wird zur Gräfin Restaud und
Delphine durch Heirat mit einem Bankier zur Baronin Nucingen. Dies wäre
sogar heute noch eine ambitionierte Heiratsstrategie, wo weiterhin das Muster, Akademiker sucht Akademikerin, gilt. Doch Vater Goriot hilft auch die
Risikodiversifikation in der Aufstiegsorientierung nichts. Vergeblich strebte
er beide Elitenvarianten, Geburtsaristokratie und Geldaristokratie, an.
Bemerkenswert ist nun nicht die Tragik einer in der monetären Tauschlogik­
verankerten und nur folgerichtig scheiternden Vaterliebe. Bezeichnend sind
vielmehr die modernen Entstehungsbedingungen von sozialer Scham.
Denn erst die Durchlässigkeit sozialer Klassen und die Chance von vertikaler Mobilität führen zur Ermöglichung von Scham. Hätten die schönen
Töchter von Goriot keine gute Partie machen können, hätten sie sich ihres
Vaters auch nicht schämen müssen. Erst die soziale Distanz zwischen dem
kleinbürgerlichen Spekulanten und dem Habitus der Geburts- und Geldaristokratie begünstigt die Entstehung von Schamaffekten.
Und Vater Goriot gewinnt erst beim Sterben jene luzide Erkenntnis, die
sein borniertes Erwerbsstreben zeitlebens vermutlich unbewusst antrieb:
Die „Welt ist nicht schön“.5 Der orientierungslose junge Protagonist Eugenie
Rastignac, der in seinem Leben beides zu vereinen sucht, die Sehnsucht nach
dem großen Vermögen und den Anstand im privaten Umgang, erkennt
blitzartig „die Welt, wie sie ist: Reichtum steht über Gesetz und Moral,
Vermögen ist die ultima ratio mundi“.6 Auch Goriot bleibt bis zuletzt im
Glauben befangen, dass er sich die Liebe seiner beiden Engel hätte kaufen
können, hätte er seine Vermögensgeschenke nur an Bedingungen geknüpft.
Doch dies verkennt allemal die Klassenschranken, die nicht entlang einer
monetären Reichtumsdefinition verlaufen, sondern soziale Abstände und
Grenzziehungen der Macht markieren.
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Philanthropie der Reichen
Im Liberalismus des 18. Jahrhunderts legitimierte sich die Wirtschaft über ihren allgemeinen Nutzen, doch heute begegnen uns die Reichen als neue Wertelite. Der alte Skandalbegriff der Elite mutiert zum Leitbegriff. Es ist aber
nicht mehr die Leistungselite, sondern die Erfolgselite, die sich in bizarrer
Weise als Wertelite geriert. Reichtum erlangt seine Legitimation zunehmend
über Wohltätigkeit. Stiftungen mit philanthropischer Zielsetzung boomen
nicht nur in Deutschland und den USA. Die Forderung nach steuerlicher
Absetzbarkeit von Spenden wird nicht als Krämergeist denunziert, sondern
als vorbildliche Gemeinwohlorientierung bewertet. Dies veranschaulicht eine
wachsende Bereitschaft, sich auf ein Gesellschaftsmodell steigender sozialer
Ungleichheit inklusive Milde der Vermögenden einzulassen.
Philanthropie wird zur geschäftssinnigen Investition, die soziale Akzeptanz in einer antagonistisch zerrissenen Gesellschaft – wenig feinsinnig
– sicherstellen soll. Adorno beschrieb dies in seinen Reflexionen aus dem
beschädigten Leben, Minima Moralia, prägnant:
Generosität im privaten Verkehr, wie sie vermeintlich die Reichen sich leisten können,
der Abglanz von Glück, der auf ihnen ruht, und von dem etwas noch auf jene fällt,
die sie heranlassen, all das wirkt am Schleier. Sie bleiben nett, „the right people“,
die besseren Leute, die Guten. Reichtum distanziert vom unmittelbaren Unrecht.7
Philanthropie sei die Distinktionslinie zwischen kulturlosen Neureichen
und Superreichen, wie Vermögensforscher Druyen8 vermutet. Während
Reiche nur an sich denken, wollen Vermögende philanthropisch für die
Gemeinschaft tätig werden. Imaginiert wird hierbei ein Vermögensethos.
Geschäftssinn soll sich mit Moral vertragen.
Nun nährt sich die Überzeugung, dass Reichtum nicht unbedingt glücklich
mache, ja nicht nur aus Selbsttröstungen der Verlierer, sondern trifft auch den
wahren Punkt, dass Sinn im Leben sich nicht in einem dicken Geldbeutel erschöpfe, sondern auch Gesundheit, Liebe und Freundschaft meinen könnte,
Dimensionen menschlichen Daseins, die nicht immer käuflich sind.
Die Barmherzigkeit von Reichen trägt jedoch nichts zur Beseitigung ungleicher Machtverteilung bei, sondern verschleiert diese noch. Die ethische
Maske verhüllt die ökonomische Ausbeutung. Und Arme, die vom freien
Willen zu „guten Taten“ der Reichen abhängen, müssen diesen gegenüber
ein ambivalentes Gefühl der Dankbarkeit entwickeln. Die Almosen schmälern die Anerkennung unter Gleichen, denn die milde Gabe, von oben
herabgereicht, verletzt die Selbstachtung der schlechter Gestellten.
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Damit einhergehend sinkt auch die Gestaltungsmacht der Politik weiter.
Erfolgreiche Unternehmer werden fürs Gemeinwohl zuständig und sind in
diesem Bereich als neue, demokratisch unlegitimierte Souveräne überfordert.­
Politiker buhlen derweil um das Wohlwollen sozial gesinnter Reicher. Ihre
Anwesenheit an den Tafeln der Reichen wird zur unhinterfragbaren Not­
wen­dig­keit auch für fortschrittliche Politiker insinuiert. Die Einladung zur
Charity-Gala ist der Statusausweis. Reiche und Politiker gewinnen dabei
mit relativ bescheidenen Einsätzen beachtliches symbolisches Kapital. Eine
ethische Problematisierung sozialer Ungleichheit unterstreicht die Illusion
einer unvermeidlichen Entwicklung. Diese Illusion ist notwendig, damit der
vermeintliche Sachzwang weiter als unausweichlich betrachtet werden kann.
Damit Bill Gates und Warren Buffett zu gesellschaftlichen Vorbildern
werden können, muss die Frage nach der Herkunft des Reichtums streng von
jener seiner späteren Verwendung getrennt werden. Andrew Carnegie wird
als reicher Wohltäter erinnert, der 1889 in Gospel of Wealth betonte, dass der
reiche Mann in Schande sterbe. Er selbst vermachte sein Riesenvermögen­
einer wohltätigen Stiftung. Zu Lebzeiten galt er als Räuberbaron und war
einer der härtesten Ausbeuter seiner Arbeiter. Vermögen vermag aber eine
Spur der Unendlichkeit zu legen. Die Stiftung und der Name des Stifters
können im Andenken noch fortbestehen, wenn dereinst auch schon die
Kinder dahingeschieden sind.
Neid der Armen?
In den Medien ist angesichts der Kluft zwischen Arm und Reich viel von
Neid die Rede. Neidsteuer und Neidklima sind beliebte Schlagworte zur
Abwehr von Gerechtigkeitsansprüchen. Und der Sozialneid der Linken ist
ein Lieblingssujet neoliberaler Journalisten, „Neid [ist] das einzige Motiv,
das sich Geldmenschen bei ihren Gegnern vorstellen wollen“.9
Beim Neid hat man es mit einem allgemeinen Affekt zu tun, meinte der
sozialdemokratische Begründer der Individualpsychologie, Alfred Adler,
in seinem Buch Menschenkenntnis von 1927. Alle Menschen seien letztlich
neidisch. Neid gedeiht in einem Klima der sozialen Vergleichbarkeit und
trocknet unter Bedingungen von sozialer Immobilität aus. Verglichen wird
innerhalb und zwischen angrenzenden Klassen, aber nur selten darüber hinaus. In feudalen Gesellschaften dürfte demnach das Neidgefühl – wenigstens
zwischen den Klassen – geringer ausgefallen sein als im Kapitalismus.
Die Furcht, Neid zu erregen, könnte eine Konformität der Reichen mit
sozialen Normen sicherstellen. Dies betonte etwa der Soziologe Helmut
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Schoeck in seinem 1966 erschienenen Buch Der Neid und die Gesellschaft. Und
Plutarch hatte bereits in der Antike Aufsteigern empfohlen, stets die niedrige
Herkunft und die Schwierigkeiten des sozialen Aufstiegs zu betonen.
Die vorgebliche Neidgesellschaft zu kritisieren war aber unter dem ideologischen Banner der Leistungsgerechtigkeit leichter. Das meritokratische
Ideal, wonach überragende Leistungen mit Spitzeneinkommen belohnt
werden dürfen, greift in einer plutokratischen Gesellschaft nicht mehr. Im
gesellschaftlichen Prestigeranking zählt dann nur der Erfolg. Das klassische
Ideal einer Gesellschaft von Gleichen erodiert. Leistung ist nur noch Pflicht
für die Erfolglosen, die Vermögenden rechtfertigen sich über Erfolg. So
könnte gerade die Unabhängigkeit der Erbschaften vom Leistungsprinzip
deren gesellschaftliche Akzeptanz mit erklären, schreibt Jens Beckert.10
Eine Antwort auf die Frage, ob die Ansprüche der Neidvollen legitim sind,
kann nicht durch die Entlarvung einer sozial verpönten Emotion ersetzt werden. Denn sogar wenn hässlicher Neid die Kritik an Vermögensungleichheit
leiten würde, so müsste deren Anspruch doch über rationale Argumente
geprüft werden. Nur weil ein Kritiker von Neid zerfressen ist, ist der Inhalt
der Kritik noch nicht desavouiert und kann die Forderung nach sozialer
Gerechtigkeit nicht zurückgewiesen werden. Eine solche Beurteilung bedarf
vielmehr gesellschaftlicher Deliberation. Es ist daher ein intellektuelles l’art
pour l’art, eine gesellschaftspolitische Diskussion zu sozialer Ungleichheit
zwischen den beiden Polen der Schamlosigkeit und des Neids aufzuspannen.
Beide Begriffe dienen primär dazu, die krasse Vermögensungleichheit nicht
zum Anlass einer Gerechtigkeitsdebatte zu nehmen.
Macht des Vermögens
Der deutsche Soziologe Georg Simmel hatte bereits 1900 bemerkt, „dass
der Reiche nicht nur durch das wirkt, was er tut, sondern auch durch das,
was er tun könnte“.11
Für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu umfasst Reichtum eine
Kombination verschiedener Kapitalarten (ökonomisches Kapital, Bildung
und soziale Netze) in einem sozialen Feld. Worum es geht, ist die soziale
Distanz im Feld. Vermögen ermöglicht die Gestaltung sozialer Distanz
nach persönlichem Belieben. Es kann soziale Nähe zu politischen Entscheidungsträgern schaffen und Ferne zum Plebs. Die Gestaltungsmacht der
Vermögenden zeigt sich auch an ihrer Diskurshegemonie in Diskussionen
zu Reichtum. Warren Buffett, einer der reichsten Männer der Welt, schrieb
in seinem Aktionärsrundbrief 2004 kurz und knapp: „In Amerika wird ein
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Klassenkrieg geführt und meine Klasse gewinnt eindeutig.“ Zu einer solchen
klaren Aussage gelangen auch fortschrittliche Politiker kaum, da sie in den
Medien sonst den Klassenkampfvorwurf zu fürchten hätten und ihnen der
Vorwurf fehlender Wirtschaftskompetenz gemacht werden würde.
Die entscheidende Frage ist jene nach dem Verhältnis von Reichtum und
Demokratie. Der Willkür von statistischen Zugängen zu Reichtum – Grenze
etwa über 200 % des durchschnittlichen Vermögens, über 1 Million Euro usw.
– und der normativen Bedeutungslosigkeit von journalistischen Listen zu
den Reichsten kann über eine Rückkoppelung der Frage des gerechtfertigten
Reichtums an das Gemeinwesen entgangen werden. Im Gemeinwesen gelten
noch bestimmte politische Gleichheitsideen und Vorstellungen von gleichen
sozialen Teilhabemöglichkeiten. Doch Reiche können sich via Privatschulen,
privater Gesundheitsvorsorge und privat gesicherten Wohngegenden freiwillig sozial ausgrenzen. Je weiter die Vermögensunterschiede auseinander
driften, umso krasser wird auch die räumliche Segregation werden. Und
Politiker sind an den Vorstellungen von Mächtigen (in Medien, Finanzwirtschaft, Industrie) stärker interessiert als an jenen einkommensschwacher
Menschen. Letztere weisen zudem eine weit höhere Absenz bei Wahlen
auf. Während solche offensichtlichen Anreizprobleme der Politik bei der
Frage der Unabhängigkeit von Notenbanken ad nauseam theoretisiert und
modelliert wurden, ist der Elitenverbund von Reichen und Politikern kaum
Thema systematischer Forschung.12 Caritas-Präsident Küberl formulierte
es jüngst in einem Zeitungsinterview zeitdiagnostisch prägnant: „Politiker
fürchten sich zu sehr vor den Reichen.“
Doch Politiker fürchten sich nach dem Zusammenbruch der „counter­
vailing institutions“ mit gutem Grund vor den finanzstarken Eliten.
Vermögenskonzentration impliziert Konzentration von Macht und damit
einhergehend die Möglichkeit, demokratische Institutionen inhaltlich
auszuhöhlen. Es muss gar nicht Korruption sein, hinreichend ist es, wenn
politische Aufsteiger aus dem Proletariat den Habitus der Eliten anziehender
finden als jenen ihrer Herkunftsklasse, sodass ihnen Mimikry der Eliten
als einzig gangbare Möglichkeit scheint.
Sinken die sozialen Bindungskräfte in einer Gesellschaft, die im keynesianischen Wohlfahrtsstaat wenigstens ideologisch suggerierten, dass es nach
allgemein anerkannten Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit zugehe,
dann führt Reichtumskonzentration zu einer Gesellschaft, die zwischen
oben und unten antagonistisch zerrissen ist. Gesellschaftspolitisch recht
gleichgültig bleibt dann die Binnendifferenzierung zwischen gütigen Reichen und schamlosen Abzockern.
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Schlussbemerkungen
Neid ist nicht die exklusive Emotion der Unterschicht, und Schamlosigkeit
kennzeichnet nicht die Oberschicht. Beschämung als soziale Sanktion zielt
nach unten. Bei Armen wird die Scham verborgen und richtet sich abgewehrt als Neid eher gegen Migranten und Sozialhilfebezieher als gegen
Superreiche. Und solange Neid nicht zu heillosem Hass wird, stellt die
neidvolle Rivalität eher eine aufstiegsorientierte Solidarität mit den Besser­
gestellten sicher.
Auch Gefühle unterliegen einem historischen Wandel. Eine Gesellschaft,
in der Erbschaften steuerfrei gestellt werden, Philanthropie von Reichen
als Alternative zu umverteilender Politik betrachtet wird und in der Erfolg
und nicht Leistung zählt, gerät unter Legitimationsdruck. Die moralischen
Gefühle boomen daher nicht zufällig. Güte und Scham sollen den Sozialneid der Armen einzäunen und eine sozial extrem ungleiche Gesellschaft
rechtfertigen helfen.
Wenn gesellschaftliche Rangunterschiede aber im finanzkapitalistischen
Neofeudalismus wieder ständisch gefestigt werden, ist die Kritik an Schamlosigkeit nur eine leise Einspruchsinstanz der Gerechtigkeit. Neid und Scham
eignen sich eben nicht als begriffliche Surrogate für soziale Gerechtigkeitsforderungen. Der psychologische Diskurs zu den angemessenen Emotionen
und richtigen Werten legt einen Schleier über die gesellschaftlichen Machtverhältnisse.
Kurzum, es geht nicht um die Begrenzung der Moral, sondern um eine
der ökonomischen Macht. Gewiss ist es nett, wenn der Rechtfertigungsdruck
auf die Reichen wächst, besser wäre aber eine progressive Erbschaftssteuer
auf unverdientes Vermögen. Die Besteuerung der leistungsfernen Erben
stünde in Übereinstimmung mit der im Kapitalismus so prominenten Norm
der Leistungsgerechtigkeit.
Jenseits von Neid und Scham muss die Macht des Vermögens in Hinblick
auf das politische Gemeinwesen befragt werden. Wenigstens ideologisch
wird Gesellschaft noch als Gesellschaft von Gleichen verstanden, die einander alle etwas schulden. Von den Armen wird sie aber längst nicht mehr
als solche erlebt, und dies verweist darauf, dass die Reichtumskonzentration die Demokratie bereits zu zerfressen beginnt. Die gesellschaftlichen
Verhältnisse erleben eine Neofeudalisierung. Milliardäre können sich die
ihnen jeweils passende demokratische Makulatur der Gesellschaft basteln,
und Politik wird in eine Ambiguität zwischen moralischer Empörung zur
Reichtumskonzentration und wirtschaftspolitischer Ohnmacht gedrängt.
370
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Siehe MOOSLECHNER, SCHÜRZ, Geldvermögen.
SCHÜRZ, Auf der Suche nach dem verschwiegenem Reichtum.
BALZAC, Vater Goriot, 128.
ILLOUZ, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus.
BALZAC, Vater Goriot, 287.
Ebenda, 93.
ADORNO, Minima Moralia, 212.
DRUYEN, Goldkinder.
SCHUH, Hilfe, 38.
BECKERT, Unverdientes Vermögen.
SIMMEL, Philosophie des Geldes, 276.
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Literatur
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Theodor W. ADORNO, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten
Leben. Gesammelte Schriften Band 4, Frankfurt am Main 2003.
Honoré de BALZAC, Vater Goriot (1834). Die Menschliche Komödie Band
11, Frankfurt am Main 1996.
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