Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Frank Jung · Thomas Kroll (Hg.)
Italien in Europa
Laboratorium Aufklärung
Herausgegeben von
Olaf Breidbach, Daniel Fulda, Hartmut Rosa
Wissenschaftlicher Beirat
Heiner Alwart (Jena), Harald Bluhm (Halle), Ralf
Koerrenz (Jena), Klaus Manger (Jena), Stefan Matuschek (Jena),
Gisela Mettele (Jena), Georg Schmidt (Jena), Hellmut Seemann
(Weimar), Udo Sträter (Halle), Heinz Thoma (Halle)
Band 15
Frank Jung · Thomas Kroll (Hg.)
Italien in Europa
Die Zirkulation der Ideen im Zeitalter
der Aufklärung
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
des Forschungszentrums Laboratorium Aufklärung der
Friedrich-Schiller-Universität Jena, gefördert im Programm Pro-Exzellenz
des Landes Thüringen
Umschlagabbildung:
Carlo Lasinio, Le grida di Firenze (ca. 1795), fliegender Buchhändler
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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5087-6
INHALT
FRANK JUNG / THOMAS KROLL
Die Zirkulation der Ideen und der transnationale Kulturtransfer
im Europa der Aufklärung. Ein Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
IDEEN UND INSTITUTIONEN
DER ITALIENISCHEN AUFKLÄRUNG
CHRISTOF DIPPER
Die Mailänder Aufklärung und der Reformstaat.
Ein Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über das
Verhältnis der politischen Theorie zum administrativen Handeln . . . . . . . .
15
GIUSEPPE RICUPERATI
Pietro Giannone – Ein Lebensweg zwischen der Krise
des europäischen Geistes und radikaler Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
JONATHAN ISRAEL
Die radikale Aufklärung Italiens: der Einfluss von Helvétius,
Diderot und d’Holbach in Italien (1750–1800) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
IDEEN IN ZIRKULATION
FRANK JUNG
„Sich von einem tyrannischen Joch losmachen und unter
die süße Herrschaft der Nation begeben“. Die Korsische Revolution
als republikanisches Experiment im Europa des 18. Jahrhunderts . . . . . . . .
77
ANTONIO TRAMPUS
Verfassung und Rechte: Filangieri und die europäische Rezeption
der Scienza della legislazione. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
WOLFGANG ROTHER
Folter und Todesstrafe. Cesare Beccaria und
Pietro Verri im europäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
SERENA LUZZI
Der exportierte Antiklerikalismus. Europäische Stationen
eines italienischen Reformprojekts im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 161
6
INHALT
MARCELLO VERGA
Italienische Jansenisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
MEDIEN UND VERMITTLER
JEAN BOUTIER
Die italienischen Akademien im gelehrten Europa der Aufklärung:
Gelehrtennetzwerke und Zirkulation des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
RENATO PASTA
Mediation und Transformation:
Entwicklung des Buchwesens in Italien im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 245
THOMAS KROLL
Der Historiker als Kulturvermittler.
Johann Friedrich Le Bret und die deutsche Italiengeschichtsschreibung
im Zeitalter der Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
AUTORINNEN UND AUTOREN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
FRANK JUNG / THOMAS KROLL
Die Zirkulation der Ideen und der transnationale
Kulturtransfer im Europa der Aufklärung
Ein Vorwort
Die Aufklärung war eine europäische Bewegung.1 In einem intellektuellen Prozess,
der von heftigen Kontroversen und intensivem Austausch gekennzeichnet war, öffneten sich die europäischen Gelehrten seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert –
unter Berufung auf die Vernunft als Urteilsinstanz und die Erfahrung als Erkenntnisgrundlage – neuen politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ideen.
Auf dieser Grundlage entfaltete sich ein Weltbild, das im Namen des Fortschritts
mit Traditionen brach,2 sodass die Vorstellung der Perfektibilität von Staat und
Gesellschaft zur handlungsleitenden Vision werden konnte.3 Ob die Aufklärer allerdings die politischen und gesellschaftlichen Ordnungen des Ancien Régime tatsächlich grundlegend überwinden wollten und ob die Aufklärung sogar als Wegbereiterin der modernen Demokratie gelten kann, ist in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert worden. Insbesondere die Frage, welcher Zusammenhang zwischen Aufklärung und Französischer Revolution bestand, hat die historiographische Debatte in Westeuropa und den USA immer wieder angefeuert.4
Frankreich galt lange als Zentrum und als Ideengeber der europäischen Aufklärung. Doch obwohl die philosophes von Montesquieu, Voltaire und Diderot bis
Rousseau gewiss einen großen Einfluss auf die Debatten der Aufklärer ausübten,
gingen die Impulse für die Entfaltung der Aufklärung keineswegs allein von den
Salons und Zirkeln der Intellektuellen in Paris sowie deren Werken aus, zumal
mancher philosophe vor allem als Schriftsteller bekannt war. So hat die historische
Forschung gezeigt, dass sich im Europa des 18. Jahrhunderts nationale oder regionale Varianten der Aufklärungsbewegung formierten, die zwar durchaus von französischen Ideen und Vorbildern inspiriert wurden, aber eigenständige aufkläreri-
1 Vgl. F. Venturi, The European Enlightenment [1972], in: R. P. Hanlay / D. M. McMahon (Hrsg.),
The Enlightenment. Critical Concepts in Historical Studies, Bd. 1, Abingdon 2010, S. 129-156,
sowie dessen unvollendet gebliebenes opus magnum Settecento riformatore, Bde. 1-5, Torino
1969-1990.
2 Vgl. dazu jüngst auch F. Jung, La retorica dell’esperienza. Empirismo, filosofia naturale e riforma
politica nel Settencento, in: Rivista Storica Italiana 124 (2012), S. 614-644.
3 Vgl. R. Koselleck / Chr. Meier, Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, 351-423, hier S. 373378.
4 Vgl. A. De Dijn, The Politics of Enlightenment: From Peter Gay to Jonathan Israel, in: The Historical Journal 55 (2012), S. 785-805.
8
FRANK JUNG / THOMAS KROLL
sche Milieus und Ideensysteme hervorbrachten.5 Dies gilt auch für Österreich und
Deutschland, wo sich regionale Zentren der Aufklärung etwa in Göttingen, Halle,
Wien oder Berlin entwickelten.6
Wichtige Zentren der Aufklärung lassen sich ebenso in Italien ausmachen, denn
namentlich in Neapel, Mailand oder Florenz fanden sich Gruppen von Gelehrten
und Fürstendienern zusammen,7 die ein durchaus eigenständiges gesellschaftlichpolitisches ‚Programm‘ entwickelten. Zu den wichtigsten Charakteristika der italienischen Aufklärung zählte zunächst der Jurisdiktionalismus, also das gegen die
römische Kurie gerichtete Bestreben, den Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft möglichst umfassend zurückzudrängen, um den Primat der weltlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung zu stärken sowie den Klerus möglichst auf seine
geistlichen Aufgaben zu beschränken.8 Zu den bedeutendsten Vertretern des jurisdiktionalistischen Denkens gehören Pietro Giannone und Carlantonio Pilati, die
wegen ihrer radikalen Ideen sowohl mit den weltlichen als auch den kirchlichen
Autoritäten in Konflikt gerieten und sogar Exil oder Gefängnis in Kauf nehmen
mussten.9 Unterdessen entwickelten die Mailänder Aufklärer um Pietro Verri und
die Zeitschrift Il Caffé ein gemäßigtes Reformprogramm,10 das sie in enger Zusammenarbeit mit der habsburgischen Bürokratie oder gar in der Rolle von Staatsfunktionären ins Werk zu setzten versuchten.11 Vergleichbares gilt für das Großherzogtum Toskana, in dem mithilfe aufklärerischer Fürstendiener und jansenistischer
Geistlicher ebenfalls zahlreiche Reformen auf den Weg gebracht wurden.12
Solche Besonderheiten nationaler oder regionaler Aufklärungsbewegungen im
Europa des 18. Jahrhunderts zu konturieren, war das Anliegen einer Reihe von komparativ angelegten Studien, die beispielsweise die schottische Aufklärung mit der
Reformbewegung in Neapel oder auch die Formen der Geselligkeit unter den fran-
5 Vgl. dazu auch F. Waquet, Le modèle français et l’Italie savante, Rome 1989. In der Forschung hat
ferner die schottische Aufklärung großes Interesse gefunden, deren Denker – wie etwa Hume,
Smith oder Ferguson – zu Klassikern der europäischen Ideengeschichte avancierten. Vgl. J. Robertson, The case for the Enligthenment. Scotland and Naples 1680-1760, Cambridge 2005, S. 2,
21ff.
6 Vgl. H. Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt
a. M. 1986.
7 Vgl. C. Capra, Der Beamte, in: Michel Vovelle (Hrsg.), Der Mensch der Aufklärung, Frankfurt
a. M. 1996, S. 246-281.
8 Vgl. F. Venturi, Alberto Radicati di Passerano, Torino 1954; ders., Settecento riformatore, Bd. 2:
La chiesa e la repubblica dentro i loro limiti, Torino 1976, sowie N. Rodolico, Stato e chiesa in
Toscana durante la Reggenza lorenese (1735-1765), Firenze 1910 [ND 1972].
9 Vgl. dazu die Beiträge von G. Ricuperati und S. Luzzi in diesem Band.
10 Vgl. C. Capra, I progressi della ragione. Vita di Pietro Verri, Bologna 2002, sowie A. M. Rao, Enlightenment and reform: an overview of culture and politics in Enlightenment Italy, in: Journal of
Modern Italian Studies 10 (2005), S. 142-167.
11 Vgl. dazu M. Verga, Le VVIIIe siècle en Italie: le „Settencento“ réformateur?, in: Revue d’histoire
moderne et contemporaine 45 (1998), S. 89-116; J. A. Marino, A bigger Settecento Italiano: wider
vistas and open terrain, in: Journal of Modern Italian Studies 10 (2005), S. 133-141, sowie den
Beitrag von Ch. Dipper in diesem Band.
12 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von M. Verga.
DIE ZIRKULATION DER IDEEN
9
zösischen, englischen und deutschen Aufklärern verglichen.13 Allerdings hat sich die
historische Forschung von Beginn an auch für Rezeptionsprozesse und wechselseitige intellektuelle Beeinflussungen der Aufklärungsbewegungen interessiert. Dabei
stand zunächst die Rolle der französischen Aufklärung im Zentrum, denn in der Tat
beeinflussten die Werke der großen französischen Philosophen das Denken im Europa des 18. Jahrhunderts in hohem Maße.14 So konnte etwa die große Bedeutung
der Encyclopédie, von Montesquieu oder Voltaire herausgearbeitet werden, die in
zahlreichen Übersetzungen und Nachdrucken verbreitet wurden. Die sozialgeschichtliche Forschung hat ferner zeigen können, dass sich im Laufe des Jahrhunderts übergreifende Netzwerke von Gelehrten entfalteten, die für eine dichte Kommunikation und das Aufkommen einer neuen Form der Öffentlichkeit insbesondere
im westlichen, aber auch im südlichen und östlichen Europa sorgten. Für diese „europäische Gelehrtenrepublik“ spielte die Akademiebewegung eine bedeutsame Rolle.15 Die zahlreichen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts verweisen ebenfalls auf intensive transnationale Rezeptionsprozesse sowie einen beachtlichen Stand der Information über wissenschaftlich-literarische Tendenzen der Aufklärungsbewegungen
und politische Reformstrebungen in den verschiedenen europäischen Staaten.
Als ein wichtiges Ergebnis der Studien zum „Kulturtransfer“16 oder „Kulturaustausch“17 im Europa der Aufklärung lässt sich freilich festhalten, dass der Austausch
keineswegs einseitig war und sich keineswegs auf die Rezeption französischer Ideen
beschränkte. Auch die Werke der schottischen oder deutschen Aufklärung wurden
in der Republik der europäischen Gelehrten aufmerksam gelesen und für die Entwicklung der eigenen Forschungen und politisch-philosophischen Entwürfe genutzt.18 Eine ebenso wichtige Rolle spielten die Denker der italienischen Aufklärung. So prägte Cesare Beccaria die Diskussion der Strafrechtsreformen in hohem
13 Vgl. Robertson, The case; J. van Horn Melton, The Rise of the European Public in Enlightenment
Europe, Cambridge 2001, sowie ferner D. Dawson / P. Morére (Hrsg.), Scotland and France in
the Enlightenment, Cranbury 2004.
14 Vgl. P. Qunitili, Lumières de la France, de Paris à Rome. Voltaire, Galiani, Diderot: arts, tolérance,
droits de l’homme, in: I. Moreau (Hrsg.), Les lumières en mouvement. La circulation des idées au
XVIIIe siècle, Paris 2009, S. 45-64.
15 Vgl. dazu den Beitrag von J. Boutier in diesem Band. Siehe ferner K. Garber / H. Wismann / W.
Siebers (Hrsg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition: die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Tübingen 1996; G.
Schlüter, Die Institutionalisierung der europäischen Gelehrtenrepublik, in: G. Berger / F. Sick
(Hrsg.), Französisch-deutscher Kulturtransfer im Ancien Régime, Tübingen 2002, S. 99-112;
H. Bots / F. Waquet, La République des lettres, Paris 1997.
16 Vgl. J. Jurt, Das wissenschaftliche Paradigma des Kulturtranfers, in: G. Berger / F. Sick (Hrsg.),
Französisch-deutscher Kulturtransfer im Ancien Régime, Tübingen 2002, S. 15-38; W. Greiling, Weimar – Italien. Überlegungen zur Theorie und Methode der Kulturtransferforschung, in: P.
Kofler / S. Seifert / Th. Kroll (Hrsg.), Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach
und die Italien-Beziehungen im klassischen Weimar, Bozen / Innsbruck 2010, S. 23-34.
17 Vgl. P. Burke, Kultureller Austausch, Frankfurt a. M. 2000.
18 Vgl. dazu etwa F. Oz-Salzberger, Die Schottische Aufklärung in Frankreich, in: D. Brühlmeier /
H. Holzhey / V. Mudroch (Hrsg.), Schottische Aufklärung. „A Hotbed of Genius“, Berlin 1996,
S. 107-121; dies., Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourse in Eighteenth-Century
Germany, Oxford 1995.
10
FRANK JUNG / THOMAS KROLL
Maße, die Schriften Gaetano Filangieris fanden in den europäischen verfassungstheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts großen Widerhall.19
Obwohl die Wirkung dieser herausragenden Repräsentanten der italienischen
Aufklärung durchaus von der Forschung gewürdigt worden ist, hat die europäische
Geschichtswissenschaft der Rezeption der italienischen Aufklärung im Europa des
18. Jahrhunderts insgesamt wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist umso erstaunlicher, als der Nestor der italienischen Aufklärungsforschung, Franco Venturi
(1914-1994), schon 1954 in einem programmatischen Aufsatz forderte, der „Zirkulation der Ideen“ der italienischen Aufklärung im Europa des 18. Jahrhunderts
nachzugehen.20 Selbst einzulösen versucht hat er diese Forderung mit seinem mittlerweile klassischen Beitrag L’Italia fuori d’Italia, den er Anfang der 1970er Jahre
in einem weit verbreiteten Handbuch zur italienischen Geschichte publizierte.21
Wie in seiner monumentalen Studie Settecento riformatore standen auch hier individuelle Denker, die Venturi als intellektuelle Impulsgeber verstand, und deren
Ideen im Mittelpunkt.22 Für Venturi waren es Individuen und ihre Ideen, die den
Lauf der Dinge bestimmten.23 Dementsprechend konzipierte der Turiner Historiker den Transfer der Ideen der italienischen Aufklärer als einen Prozess der Weitergabe von Person zu Person und als kreative Aneignung in neuen intellektuellen
Milieus. Mit seinem Plädoyer, die europäische Rolle der italienischen Aufklärung
zu erforschen, zielte Venturi auf eine Revision des traditionellen nationalen Geschichtsbildes in Italien, das das 18. Jahrhundert nur als Vorgeschichte des Risorgimento und nicht als Epoche von eigenständigem historischen Rang betrachtet
hatte. Mit dieser Geschichtsauffassung verband Venturi eine Konzeption des Intellektuellen (intellettuale), die in der liberalen Strömung der italienischen Resistanza
während des Zweiten Weltkriegs wurzelte (Giustizia e Libertà), in der er sich auch
selbst engagiert hatte. Mit dieser dezidiert politisch aufgefassten Rolle des Intellek19 Vgl. dazu die Beiträge von W. Rother und A. Trampus in diesem Band sowie G. Schlüter, Neue
Aspekte einer „Gesetzgebungswissenschaft“ bei Filangieri und Constant, in: Historische Zeitschrift
295 (2012), S. 78-104; P. Audegean, La philosophie de Beccaria: savoir punir, savoir écrire, savoir
produire, Paris 2010; F. Simon, An economic approach to the study of law in the eighteenth century:
Gaetano Filangieri and „La scienza della legislazione“, in: Journal of the history of economic
thought 33 (2011), S. 223-248; A. Trampus (Hrsg.), Diritti e costituzione: l’opera di Gaetano Filangieri e la sua fortuna europea, Bologna 2005; W. Rother, Strafrechtsreformdiskussion in Leipzig:
Karl Ferdinand Hommel – „Germanorum Beccaria“, in: H. Marti / D. Döring (Hrsg.), Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld, 1680-1780, Basel 2004, S. 459-486.
20 F. Venturi, La circolazione delle idee, in: Rassegna storica del Risorgimento 41 (1954), S. 203222, hier S. 204. Vgl. dazu Ch. Dipper, Franco Venturi und die Aufklärung, in: Das Achtzehnte
Jahrhundert 20 (1996), S. 15-21. Eine hervorragende deutschsprachige Einführung in das Werk
und die Biographie Venturis bietet dessen Schüler E. Tortatolo, Franco Venturi, in: L. Raphael
(Hrsg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 2, München 2006, S. 77-95. Siehe ferner G.
Ricuperati, The historiographical legacy of Franco Venturi, in: Journal of Modern Italian Studies 2
(1997), S. 67-88.
21 Vgl. F. Venturi, L’Italia fuori d’Italia, in: Storia d’Italia, Bd. 3: Dal primo Settecento all’Unità,
Torino 1973, S. 985-1481. Siehe dazu auch G. Ricuperati, Un laboratorio cosmopolitico. Illuminismo e storia a Torino nel Novecento, Napoli 2011, S. 45ff., 169-174.
22 Vgl. Venturi, Settecento riformatore.
23 Vgl. Dipper, Venturi, S. 20.
DIE ZIRKULATION DER IDEEN
11
tuellen verband sich die Hoffung, die Erforschung der Ideen der Aufklärung ermögliche die Entwicklung einer rationalen Politik im Italien der Nachkriegszeit.24
Für den Umstand, dass Venturis Werk außerhalb Italiens wenig rezipiert wurde,
sind allerdings nicht nur die politischen Erkenntnisinteressen seines Werkes verantwortlich. Vielmehr sorgten der Aufschwung der Sozialgeschichte in den 1970er
Jahren und deren nationalgeschichtlich verengte Perspektiven dafür, dass transnationalen Rezeptionsprozessen von Ideen zunächst geringeres Interesse entgegengebracht wurde. Dies hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten nach dem linguistic
turn grundlegend geändert, und gerade die Aufklärungshistorie hat maßgeblich zur
Innovation der Erforschung des Kulturtransfers und transnationaler Übersetzungsprozesse beigetragen.25 Gleichwohl bietet Venturis Konzept der „Zirkulation der
Ideen“ nach wie vor vielfältige Ansatzpunkte, um der bislang wenig erforschten
Rezeption der italienischen Aufklärung im Europa des 18. Jahrhunderts nachzugehen.26 Denn das Konzept lässt sich mit neueren sozial- und kulturgeschichtlichen
Ansätzen der Aufklärungsforschung verbinden, etwa mit der Geschichte des Buches, des Lesens oder Untersuchungen zum Aufkommen bürgerlicher Öffentlichkeit und ihrer Assoziationsformen.27 Mit einer solchen Fortentwicklung des Ansatzes von Venturi können die Prozesse der Zirkulation von Ideen in ihre gesellschaftlichen Kontexte eingebettet und auch die Auswirkungen der transnationalen Rezeptionsprozesse genauer bestimmt werden.
Diesen Überlegungen entsprechend ist der vorliegende Sammelband konzipiert,
der dem deutschen Publikum zudem Beiträge von italienischen, französischen und
amerikanischen Expertinnen und Experten in deutscher Übersetzung bereitstellt
und insofern selbst einen kleinen Beitrag zur transnationalen Rezeption geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse am Beginn des 21. Jahrhunderts liefern möchte.
Angesichts des Forschungsstandes können in diesem Band nur exemplarische Fälle
und Themen untersucht werden, die – so die Hoffnung der Herausgeber – zu weiteren Studien und damit zur Erweiterung unseres Wissens über die Rezeption der
italienischen Aufklärung und deren Wirkung im übrigen Europa beitragen können.
In einem ersten Kapitel des Bandes werden zentrale Ideen und Institutionen der
italienischen Aufklärung behandelt. So befasst sich Christof Dipper (Darmstadt)
mit der für die Schule von Venturi so wichtigen Frage, welche Rolle die Mailänder
Aufklärer tatsächlich in der Reformbürokratie spielen konnten. Mit seinem Beitrag
24 Vgl. G. Ricuperati, A Long Journey. The Italian Historiography on The Enlightenment and Its Political Significance (1980-1990), in: ders., Historiographies et usage des Lumières, Berlin 2002,
S. 229-261.
25 Vgl. etwa jüngst A. Pufelska / I. M. D’Aprile (Hrsg.), Aufklärung und Kulturtransfer in Mittelund Osteuropa, Berlin 2009.
26 Vgl. dazu die Beiträge in R. Pasta (Hrsg.), Cultura, intellettuali e circolazione delle idee nel ’700,
Milano 1990, sowie E. Tortarolo, La ragione interpretata. La mediazione culturale tra Italia e
Germania nell’Illuminismo, Roma 2003. Eine Teilübersetzung von Tortarolos La ragione interpretata ist unter dem Titel Diesseits und Jenseits der Alpen. Deutsche und italienische Kultur im 18.
Jahrhundert, Leipzig 2011, erschienen.
27 Vgl. dazu den Beitrag von R. Pasta in diesem Band sowie ders., Editoria e cultura nel Settecento,
Firenze 1997; A. M. Rao (Hrsg.), Editoria e cultura a Napoli nel XVIII secolo, Napoli 1998.
12
FRANK JUNG / THOMAS KROLL
bietet er eine neue Interpretation des Verhältnisses von Intellektuellen und Reformstaat im „österreichischen Italien“. Giuseppe Ricuperati (Turin) behandelt
mit Pietro Giannone einen der zentralen Vertreter der radikalen Frühaufklärung
Italiens und bettet den Denker in den geistesgeschichtlichen Horizont der Zeit ein.
Dagegen fragt Jonathan Israel (Princeton) nach dem Einfluss der radikalen französischen Aufklärung in Italien und arbeitet den großen Einfluss von Helvétius, Diderot und d’Holbach heraus.
Den Blick in die umgekehrte Richtung lenken dagegen die Beiträge des zweiten
Kapitels, das sich explizit den Ideen der italienischen Aufklärer in der europäischen
Zirkulation widmet. So geht Antonio Trampus (Venedig) auf breiter Quellenbasis
der europäischen Rezeption von Filangieris Scienza della legislazione nach und
zeigt, in welchem Maße der Philosoph die Verfassungsdebatte verschiedener europäischer Länder zu prägen vermochte. Serena Luzzi (Trient) untersucht die Wirkungen des italienischen Antiklerikalismus und rückt die europäische Rezeption
des Werks von Carlantonio Pilati in das Zentrum ihres Beitrags. Wolfgang Rother
(Zürich) stellt die europäische Diskussion von Folter und Todesstrafe dar und arbeitet in diesem Kontext insbesondere die Rolle von Cesare Beccaria und Pietro
Verri heraus. Fragen der Kirchengeschichte wendet sich Marcello Verga (Florenz)
zu, der sich mit dem europäischen Jansenismus, der toskanischen Kirchenreform
und der Rolle von Scipione de’ Ricci befasst. Schließlich betrachtet Frank Jung
(München) die Frühphase der Korsischen Revolution sowie die europäische Rezeption dieses republikanischen „Experiments“, das im politischen Denken der
Zeitgenossen zahlreiche Spuren hinterlassen hat.
Die Beiträge des letzten Kapitels leuchten exemplarisch die kultur- und sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen der Zirkulation der Ideen der italienischen
Aufklärung aus. So zeigt Jean Boutier (Marseille), dass die italienischen Akademien
für die Bildung der europäischen Gelehrtennetzwerke eine bislang beträchtlich unterschätzte Rolle gespielt haben. Mit der Entwicklung des italienischen Buchwesens und seiner Funktion für die Vermittlung von Wissen um die Aufklärung befasst sich Renato Pasta (Florenz). Thomas Kroll (Jena) untersucht schließlich am
Beispiel von Johann Friedrich Le Bret, welche Rolle deutsche Aufklärungshistoriker und ihre Geschichtswerke für die Vermittlung von Wissen über das Italien des
18. Jahrhunderts spielten.
Dieser Band hätte ohne die großzügige finanzielle Unterstützung des Forschungszentrums Laboratorium Aufklärung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
nicht erscheinen können. Besonders dankbar sind wir dafür, dass der Band in die
Schriftenreihe „Laboratorium Aufklärung“ aufgenommen worden ist. Die Übersetzung fremdsprachiger Texte sowie deren Redaktion stellte eine große Herausforderung für die Herausgeber dar. Den Beiträgern des Bandes sei gedankt für Hilfe
und Geduld, den Übersetzerinnen und Übersetzern für ihr Engagement und nicht
zuletzt Giovanni Pizzolante, dass er beim Umschiffen so mancher Klippe der italienischen Sprache half. Für technische Hilfe bei der Endredaktion danken wir
Herrn Bernd Rudolph M.A. (Jena).
Ideen und Institutionen
der italienischen Aufklärung
CHRISTOF DIPPER
Die Mailänder Aufklärung und der Reformstaat
Ein Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über das
Verhältnis der politischen Theorie zum administrativen Handeln
1 Forschungslage
Der sprichwörtlich gewordene Titel von Fichtes Verteidigungsschrift der Revolution im Jahre 1793 hat den Vorzug, seine revisionistische Absicht von allem Anfang an offen zu legen. Auch dieser Beitrag setzt den Akzent auf eine neue Sicht, in
diesem Falle auf die Mailänder Aufklärung und ihre Rolle für die Reformpolitik in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Naturgemäß spielt sich der Deutungskonflikt in erster Linie in Italien ab, aber da die ältere, den entscheidenden Einfluss
der Aufklärer betonende Richtung international die besser sichtbare ist, findet sie
im Ausland noch weniger Widerspruch als zu Hause.
Der Konflikt dreht sich um eine der Preziosen der vorunitarischen Vergangenheit Italiens, um die Geschichte der Lombardei, wo der vorherrschenden Lesart
zufolge eine aufgeklärte Elite ihre der französischen und englischen Aufklärung
entnommenen Theorien in Politik umsetzte, indem sie in den Staatsdienst eintrat
und als Beamte des habsburgischen Kaiserstaats jene entscheidenden Reformen
durchsetzte, die aus dieser Region eines jener italienischen Kerngebiete machte, in
der die Moderne Einzug hielt und ihr bis heute ihren Vorsprung sicherte. Mailand
als capitale intellettuale e morale des Landes. Leider habe freilich nur Maria-Theresia
die Größe zur ernsthaften Zusammenarbeit mit der Mailänder Aufklärung besessen, ja sich von ihr anleiten lassen. Ihr gilt deshalb die ganze Zuneigung einer
großen Öffentlichkeit. Ihrem Sohn Joseph II. sei es dagegen nicht um das oberitalienische Herzogtum gegangen. Er habe deshalb ab 1786 eine Politik der ‚Gleichschaltung‘ betrieben und damit die Mailänder Reformer vor den Kopf gestoßen.
Seinen Ruf hat das bis heute nachhaltig beschädigt.
Unter internationaler Beteiligung stattfindende Kongresse zur Landesgeschichte – und um eine solche handelt es sich nach hiesigen Maßstäben – sind in Deutschland schwerlich vorstellbar, in Mailand ereignet sich dergleichen seit ca. dreißig
Jahren zu jedem denkbaren Jubiläum.1 Das zeigt die ungewöhnliche Bedeutung der
Aufklärung für das Selbstverständnis der italienischen Eliten. Neben dem Faschismus zählt sie, noch vor dem Risorgimento, zu den geschichtspolitischen „Haupt1 Allein in Mailand 1980 zur Erinnerung an Maria-Theresia, 1990 zu Beccaria, 1997 zu Pietro
Verri. Vergleichbares, wenn auch etwas abgestuft, gilt für die Toskana und Neapel, den beiden
anderen Zentren der italienischen Aufklärung, die ähnlich wie in Deutschland deutliche regionalspezifische Züge aufweist.
16
CHRISTOF DIPPER
schlachtfeldern“ des Landes; hier beherrschte jahrzehntelang Franco Venturi, „one
of the giants of postwar Italian and European historiography“,2 das Feld – auch das
eine für die deutsche Landesgeschichte schwer vorstellbare Konstellation, weil hier
Landesgeschichte nicht (mehr – nach dem Ende Preußens) im europäischen Zusammenhang geschrieben wird, und wohl auch nicht geschrieben werden kann.
Venturi steht für die oben skizzierte Auffassung von der Rolle der Mailänder
Aufklärung, die hier im Folgenden berichtigt werden soll. Er ist nicht ihr Urheber,
aber er hat sie mit unendlicher Gelehrsamkeit für viele unangreifbar gemacht3 und
da neben ihm fast kein italienischer Aufklärungshistoriker übersetzt und international wahrgenommen wird, ist das auch im Ausland die herrschende Meinung.4
Erfunden wurde sie von keinem anderen als Pietro Verri, und es dürfte ein wohl
einmaliger Fall in der Geschichtsschreibung sein, dass die Kernaussage einer Autobiographie zweihundert Jahre lang nahezu unhinterfragtes Deutungsmuster der
Fachwelt blieb.5
Die Rezeptionsgeschichte dieser Deutung ist inzwischen erforscht, ihr außerordentlicher Einfluss hat mutatis mutandis drei Ursachen. Zu nennen ist als erstes die
nationalstaatlich geprägte Historiographie, die wie in Deutschland bis in die 1960er
Jahre in hohem Maße die Geschichtsschreibung prägte. Auf der Suche nach den
Anfängen des italienischen Nationalbewusstseins sah sie im Zentralismus Josephs II.
die Vorstufe zum nationalitätenfeindlichen habsburgischen Neoabsolutismus des
19. Jahrhunderts, während andererseits Maria-Theresia die Autonomie des stolz
noch immer so genannten „Stato di Milano“ nicht ernsthaft angetastet habe. Dass
dieses Sonderbewusstsein im Kontrast zum 1861 ausgerufenen zentralistischen Nationalstaat stand, wurde von den lombardischen Historikern, viele von ihnen wie der
Urheber Pietro Verri patrizischer Herkunft,6 gerne übersehen. In engem Zusammenhang damit steht der zweite Grund: die Vernachlässigung der Wiener Archivbe2 J. A. Davis, The culture of Enlightenment and reform in eighteenth-century Italy, in: Journal of
Modern Italian Studies 10 (2005), S. 131-132, hier S. 131. Dort ist auch von den „heavyweight
battles“ die Rede. Dieses Heft ist übrigens Venturis Andenken gewidmet, der 1994 verstorben
ist.
3 Näheres bei Ch. Dipper, Franco Venturi und die Aufklärung, in: Das 18. Jahrhundert 20 (1996),
S. 15-21.
4 Weil besonders viele Leser erreichend, sei als Beispiel verwiesen auf die Sammelbesprechung: Ch.
Wolter, Aufklärung auf Italienisch. Die Schule des Scheiterns: der Reformer Pietro Verri, in: Neue
Zürcher Zeitung, Nr. 25, 31.1./1.2.2004, S. 49. Hier ist Pietro Verri der Held, dem von Joseph
II. übel mitgespielt wird.
5 Als erster machte E. Rotelli, Fra Stato nazionale e stato moderno: storia della storiografia sulle riforme lombarde del Settecento, in: A. De Maddalena / E. Rotelli / G. Barbarisi (Hrsg.), Economia,
istituzioni, cultura in Lombardia nell’età di Maria Teresa, Bd. 3: Istituzioni e società, Bologna
1982, S. 21-61, hier S. 21, darauf aufmerksam. Er hatte damit wenig Erfolg. Die ungebrochene
Tradierung dieses Bildes monierte darum erneut und unter Berufung auf ihn: A. Cavanna, Da
Maria Teresa a Bonaparte: il lungo viaggio di Pietro Verri, in: C. Capra (Hrsg.), Pietro Verri e il
suo tempo, Bd. 1, Bologna 1999, S. 105-145, hier S. 105. Vgl. außerdem N. Raponi, Il mito del
buongoverno teresiano nella Lombardia preunitaria, in: De Maddalena / Rotelli / Barbarisi (Hrsg.),
Economia, S. 269-306.
6 Unter den lombardischen Regionalhistorikern finden sich wohlbekannte Namen wie Carcano,
Casati, Greppi, Sommi Picenardi usw. Zum Adel als Träger der Regionalgeschichte G. B. Cle-
DIE MAILÄNDER AUFKLÄRUNG UND DER REFORMSTAAT
17
stände. Franco Valsecchi war in den 1930er Jahren der erste namhafte italienische
Historiker, der die fürs Settecento unverzichtbaren Archivalien des Haus-, Hof- und
Staatsarchivs heranzog und prompt – mitten im Faschismus7 – der herrschenden
Lehre seine These von der maßgeblichen Rolle Wiens entgegensetzte.8 Mehr als eine
Generation später war es dann vor allem Carlo Capra, der die Wiener Akten gründlich auswertete und nun auch in Fragen des politischen Personals die Schlüsselrolle
von, vereinfacht gesagt, Nichtlombarden bei der Reformpolitik nachwies.9 Die dritte und wohl entscheidende Ursache für die anhaltende Tradierung von Verris Selbstdarstellung und die daraus folgende Fehlwahrnehmung der Mailändischen Geschichte hängt mit der übermächtigen geistesgeschichtlichen Ausrichtung der italienischen Geschichtswissenschaft zusammen. In einer sowohl von Croce als auch von
Gramsci befestigten idealistischen Tradition war es für den bei Paul Hazard in Paris
ausgebildeten Venturi, den prominentesten „Remigranten“ unter seinen Kollegen,10
ein leichtes, alternative Ansätze abzuweisen. Erst als Institutionenhistoriker11 statt
nach den Wurzeln des nationalen nach denen des modernen Staates zu suchen begannen, erschien die Mailänder Reformzeit plötzlich in ganz anderem Licht: Nun
standen Behörden- und Beamtengeschichte im Vordergrund, nicht die brillanten
Schriften der Mailänder Intellektuellen. Wie in Deutschland werden aber Vertreter
der Rechts- und Verfassungsgeschichte von den ‚eigentlichen‘ Historikern nur wenig
wahrgenommen, so dass deren Einsichten lange Zeit kaum das Geschichtsbild beeinflussen konnten. Da auf der Apenninenhalbinsel auch sämtliche Ansätze für eine
Historische Sozialwissenschaft ausgeblieben sind und die Modernisierungstheorie
entsprechend wenig verbreitet ist und weil die wenigen italienischren Sozialhistoriker früher mehr im Stile der Jüngeren Schule der Nationalökonomie, später im marxistischen Sinne zu arbeiten pflegten, setzt sich eigentlich bis heute die geistesgeschichtliche Hegemonie fort, wenn auch abgemildert durch neuere kulturwissenschaftliche Ansätze. So erfreulich es ist, dass die derzeit maßgebliche Regionalgeschichte der Lombardei aus der Feder des Berengo-Schülers Capra stammt,12 zeigt
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8
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11
12
mens, Sanctus amor patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 65ff.
Im Faschismus erlebte die nationalistische Forschungsrichtung einerseits ihren unguten Höhepunkt, andererseits waren die Beziehungen zu Österreich im Zeichen des Austrofaschismus erstmals entspannt.
F. Valsecchi, L’assolutismo illuminato in Austria e in Lombardia, 2 Bde., Bologna 1931/34.
Beginnend mit seinem Aufsatz Riforme finanziarie e mutamento istituzionale nello stato di Milano:
gli anni sessanta del secolo XVIII, in: Rivista storica italiana 91 (1979), S. 313-368. Es ist bemerkenswert, dass ihm der allmächtige Herausgeber Venturi an dieser prominenten Stelle die Möglichkeit der Kritik einräumte.
Das ist in gewissem Sinne falsch. Venturi wurde auf der Flucht von Paris nach Portugal in Spanien aufgegriffen, nach Italien ausgeliefert und dort interniert; 1943 kam er frei und ging nach
Turin in den Untergrund.
Am einflussreichsten C. Mozzarelli, Per la storia del pubblico impiego nello Stato moderno: il caso della
Lombardia austriaca; Milano 1972; ders., Il Magistrato Camerale (1771-1786), Milano 1979; ders.,
Sovrano, società e amministrazione locale nella Lombardia teresiana, 1749-1758, Bologna 1982.
C. Capra, Il Settecento, in: D.Sella / C. Capra, Il Ducato di Milano dal 1531 al 1796, Torino
1984 (= Storia d’Italia, diretta da Giuseppe Galasso, Bd. 11).
18
CHRISTOF DIPPER
schon ein rascher Blick in Sammelbände und Zeitschriften, dass sich sein vorsichtig
und respektvoll vorgetragener Revisionismus keineswegs durchgesetzt hat.
Eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Sozialgeschichte der Reformzeit könnte
wesentliche Forschungsdefizite beseitigen: Erstens eine über die institutionellen
Aspekte hinausgehende Bürokratiegeschichte, die das Personal, seine Karrieremuster und die administrativen Abläufe, aber eben auch die Sprachmuster, Begrifflichkeiten und Argumentationsstrategien zu untersuchen hätte; zweitens eine detaillierte Wirkungsgeschichte der einzelnen Reformen im Blick auf Landwirtschaft,
Gewerbe und Handel; drittens eine Sozialgeschichte von unten, in der die materiellen Auswirkungen auf die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung untersucht
würden; nicht zuletzt eine Geschichte der Ordnungsmuster, d.h. der mentalen,
symbolischen und diskursiven Reaktionen und Bewusstseinsveränderungen als
Folge der zahlreichen drastischen Staatseingriffe. In diesen komplexen Rahmen
wären dann die Projekte und die Aktivitäten jener Personen einzuordnen, die zum
einen der Mailänder Aufklärung zugerechnet zu werden pflegen, aber auch der
nächsten Generation, die in der Forschung leider zu kurz kommt. Und schließlich
müssten die eingeschliffenen Zäsuren kritisch befragt werden, die Jahre 1780 (Tod
Maria Theresias), 1786 (Verwaltungsreform), 1796/97 (Einmarsch der Franzosen,
Cisalpinische Republik), 1802/05 (Italienische Republik bzw. Königreich Italien)
und 1814 (Rückkehr der Österreicher), wobei anzunehmen ist, dass je nach Untersuchungsgegenstand die Zäsuren unterschiedlich ausfallen können. Im Blick auf
den Konstituierungsprozess des modernen Staates bzw. aus der Perspektive eines
Zentrum-Peripherie-Untersuchungsansatzes ist es überhaupt fraglich, ob in diesem
Zeitraum von einer sinnvollen Zäsur gesprochen werden kann. Capra machte, die
toskanische mit der lombardischen Geschichte vergleichend, jüngst einen einleuchtenden, vom herkömmlichen Muster abweichenden Periodisierungsvorschlag: 1759 habe die Wiener Bürokratie in der Lombardei ihre Eingriffstiefe entscheidend ausgeweitet, während kurz danach, 1765, der in Florenz den Thron besteigende Pietro Leopoldo den Wiener Eingriffen zunehmend Einhalt gebot; damals, so Capra, teilten sich die Wege beider habsburgischer Besitzungen auf der
italienischen Halbinsel: liberal und dezentral bzw. absolutistisch und zentralistisch.13 Das sollte bis ins Risorgimento hinein nachwirken.
Die skizzierten Defizite (1) können hier selbstverständlich nicht beseitigt werden. Der Forschungsstand erlaubt nur, zunächst die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziele der Mailänder Aufklärung vorzustellen (2) und in einem weiteren
Schritt die wichtigsten Stufen des Staatsumbaus nachzuzeichnen (3), beides in der
gebotenen Kürze und deshalb vereinfachend, vergröbernd und vor allem ausschnitthaft.
13 C. Capra, Habsburg Italy in the Age of Reform, in: Journal of Modern Italian Studies 10 (2005),
S. 218-233, hier S. 222.
DIE MAILÄNDER AUFKLÄRUNG UND DER REFORMSTAAT
19
2 Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziele
Nach zögerlichen, weitgehend auf Neapel beschränkten Anfängen hat um 1760 in
vielen Teilen Italiens ein Umbruch eingesetzt, dessen Urheber eine neue, in den
1730ern und 1740ern geborene Generation war, die ihre wichtigste Prägung von
der deutlich zunehmenden kulturellen Hegemonie Frankreichs bezog, aber anders
als dort in die Praxis drängte. Entstehung einer Öffentlichkeit mit den Mitteln
moderner Publizistik und Zusammenarbeit mit den Monarchen waren weitere
Kennzeichen des Wandels mit dem Ergebnis, dass die Aufklärung in Italien den
Charakter einer entschiedenen Reformbewegung annahm, wie sie allenfalls noch
in den führenden Territorien des Reiches, in der Schweiz, in Schottland und eventuell in Schweden, ganz zuletzt schließlich und mit wenig dauerhaftem Erfolg auf
der Iberischen Halbinsel zu beobachten war. Die Zentren dieser Symbiose politischer und intellektueller Eliten befanden sich nunmehr in Mailand, das Neapel an
die zweite Stelle verwiesen hatte, und in der Toskana. Venedig war nur als Pressestandort wichtig, Modena ein aufgeklärter Kleinstaat. In Piemont und im Kirchenstaat mussten die Aufklärer mit Verfolgung rechnen.
Anders als das Venturi sehen wollte, richtete der aufgeklärte Reformismus seinen Blick wie überall in Europa sogleich auf das Problem der Herrschaft. ‚Bloße
Macht‘ hatte in seinen Augen die Legitimation verloren, die Autorität sollte in die
Schranken der Vernunft gewiesen werden, d.h. hatte sich vor ihr zu rechtfertigen.
Damit waren drei Politikfelder angesprochen: das Verhältnis von Staat und Kirche,
die wirtschaftliche Entwicklung und die Gesetzgebung als Instrument gesellschaftlicher Steuerung. Bei allen dreien war der Kontakt mit dem Naturrecht unvermeidlich, weil die Abkehr von der Tradition am ehesten unter Berufung auf den
Naturzustand, abzulesen am Gesellschaftsvertrag als der ‚eigentlichen‘ Grundlage
menschlichen Zusammenlebens, begründet werden konnte. Der Naturrechtsdiskurs fungierte also als eine politische Sprache im Sinne Pococks,14 die allein schon
durch ihren Gebrauch den Dingen ein anderes Gesicht verlieh. Dabei ist offensichtlich, dass die einen Aufklärer ‚zweisprachig‘ blieben, d.h. ihre positiv-rechtlichen Erörterungen lediglich mit einem dünnen naturrechtlichen Firnis überzogen,
während die anderen so radikal Neues dachten, dass sie dies ausschließlich naturrechtlich begründen konnten. Der Neapolitaner Filangieri etwa steht für die gemäßigte Mehrheit, der junge Beccaria und Pietro Verri für die radikale Minderheit,
ohne dass dieser Unterschied etwas über die Rezeption ihrer Werke besagen würde;
alle drei erfreuten sich internationalen Renommees, alle drei landeten gleichermaßen auf dem Index.
Über die Aneignung naturrechtlichen Denkens durch jene bereits angesprochene Generation der nach 1730 Geborenen kann hier nur so viel gesagt werden,
dass in Oberitalien die Universitäten als Vermittler nicht in Betracht kamen. Die
Einfallsstelle bildeten darum Diskussionszirkel und Lektüre. Selbstverständlich
14 J. G. A. Pocock, The History of Political Thought, in: P. Laslett / W. G. Runciman, (Hrsg.), Philosophy, Politics and Society, Oxford 51972, S. 183-202, hier S. 195ff.
20
CHRISTOF DIPPER
kannte man in Mailand die politischen Traktate Lockes, Montesquieus, Voltaires
und selbst Rousseaus. Auch über die Verbreitung der Enzyklopädie – sie wurde
unter anderem auch in Livorno gedruckt, und zwar mit Widmung an den Großherzog – ist seit langem vieles bekannt. Die Italiener waren, wie Venturi in seinem leider Torso gebliebenen opus magnum15 nachgewiesen hat, und zwar vor
allem mittels Analyse der zeitgenössischen Zeitschriften, bestens darüber informiert, was in Europa vor sich ging, und fanden jederzeit Mittel und Wege, sich
die verbotene Literatur zu besorgen.16 Einen Diskussionsrückstand hat es allen
Anstrengungen der Kirche zum Trotz nicht gegeben, jedenfalls nicht mehr nach
1760. Dass es gleichwohl gefährlich war, modern argumentierende, also naturrechtlich fundierte Kampfschriften zu publizieren, lässt sich gerade an den Mailänder Aufklärern demonstrieren. Die Mehrzahl ihrer Werke publizierten sie
entweder anonym und/oder außerhalb der Landesgrenzen oder wie Pietro Verri
gar nicht.
Wer kommt überhaupt für das hier abgehandelte Thema in Frage? Genau genommen sind es von sämtlichen Vertretern der ersten Generation der Mailänder
Aufklärung nur die beiden schon genannten Autoren, denn die von Pietro Verri
inspirierte Accademia dei Pugni,17 ein bisweilen heftige Kontroversen austragender – daher der Name – Lese- und Diskussionskreis zur Aneignung der englischen, schottischen und französischen Aufklärung, hatte längst nicht die ihr von
der italienischen Geistesgeschichte zugeschriebene Wirkung. Dieser 1766 in einem inzwischen sehr verbreiteten Gemälde18 verewigte Freundeskreis setzte sich
zwar zum Ziel, durch Publikationen die seit einigen Jahren begonnenen Staatsreformen kritisch zu begleiten, dadurch auf sich aufmerksam zu machen und nach
Möglichkeit den ‚Marsch durch die Institutionen‘ anzutreten, um das Geschriebene umzusetzen, zerfiel jedoch bereits wieder 1766. Wichtiger noch: Auf diesem
‚Marsch‘ verliert die Forschung die meisten von ihnen mangels Quellen aus den
Augen.19
15 F. Venturi, Settecento riformatore, 5 Bde. in 7 Teilen, Torino 1969–1990.
16 Zur Lesegeschichte im 18. Jahrhundert L. Braida, Censure et circulation du livre en Italie au
XVIII e siècle, in: Journal of Modern European History 3 (2005), S. 81–99.
17 Mitglieder waren Alessandro Verri, der jüngere Bruder, sowie Cesare Beccaria, Giambattista Biffi, Sebastiano Franci, Luigi Lambertenghi, Alfonso Longo, Pietro Secco-Comneno und Giuseppe Visconti di Saliceto – durchweg Adlige. 1764 stieß Paolo Frisi, ein Kleriker bürgerlicher Herkunft hinzu, Ende 1765 der aus Capodistria stammende Adelige Gianrinaldo Carli, der einzige
‚Ausländer‘, ein anerkannter Wirtschaftsfachmann mit guten Kontakten nach Wien; mit beiden
war Pietro Verri befreundet. Weitere Einzelheiten in den Porträts von Venturi, Settecento riformatore, Bd. 1: Da Muratori a Beccaria, 1969, Kap. 9: La Milano del „Caffè“.
18 Vgl. Capra (Hrsg.), Pietro Verri, Bd. 2, S. 1079 (Farbtafel); ebd. S. 1014f. zum ansonsten wenig
bekannten Maler Perego. Im Internet ist das Bild zu finden unter: http://www.universalis.fr/
media-encyclopedie/87/PH99I249/encyclopedie/Reunion_de_l_accademia_dei_Pugni.htm
(23.12.2009).
19 Lambertenghi, von 1770 bis 1790 in Wien tätig, und Longo, erst Professor, dann Zensor und
Bibliotheksdirektor, tauchen eigentlich erst wieder nach 1796 auf, und zwar als Anhänger der
sich ihrer jakobinischen Bestandteile entledigten französischen Besatzungsmacht. Biffi führte in
Cremona das Leben eines Provinzadligen.
DIE MAILÄNDER AUFKLÄRUNG UND DER REFORMSTAAT
21
Das unter Verris Ägide verfasste Gemeinschaftswerk, die 1764 bis 1766 erscheinende Zeitschrift Il Caffè,20 erlangte, wie die vielen Nachdrucke belegen, zwar einige Berühmtheit beim lesenden Publikum, aber ein einigermaßen stringent nachweisbarer Zusammenhang mit der Politik der einheimischen Regierung besteht
nur im Bereich der Wirtschaftspolitik. Das liegt schon deshalb nahe, weil sich zur
Zeit seines Erscheinens Wien noch weitgehend auf dieses Feld beschränkte. Die
nach dem Vorbild des englischen Spectator im Zehntagesabstand publizierten kritischen Beiträge zu Literatur, Politik, Wirtschaft, Recht und Gesellschaft – die
Religion blieb aus Sorge vor der noch immer mächtigen Inquisition ausgespart21
– müssen demnach als ein Versuch gewertet werden, nicht nur die Diskussionshoheit bei den Gebildeten in Italien zu erlangen, sondern auch dem Regierungsapparat Ratschläge zu erteilen.22
Dieselbe Doppelfunktion besaßen auch die aus diesem Diskussionszirkel hervorgehenden weiteren Werke. Trotzdem bevorzugten ihre Autoren einen aufs
Grundsätzliche zielenden Duktus. Ihre Vorschläge waren folglich viel zu radikal,
um unter den herrschenden Verhältnissen umgesetzt zu werden – es sei denn, man
setzte ganz auf die Karte des absoluten Monarchen, dem man Interessenidentität
mit den eigenen Zielen unterstellte. Das gilt namentlich für Beccarias gleichzeitig
mit der ersten Nummer des Caffè erschienenes, rasch weltberühmt gewordenes
Programm umfassender Rechtsreform, Dei delitti e delle pene;23 der namhafte Anteil der Brüder Verri, besonders Pietros, ist inzwischen dank der kritischen Ausgabe
gut erkennbar.24 Anders das Thema der Reform des Münzwesens, dessen sich Beccaria und Pietro Verri zuvor angenommen hatten,25 gewissermaßen Fingerübun20 Die kritische Ausgabe besorgte: G. Francioni (Hrsg.), Il Caffè 1764-1766, Torino 21998 (Ndr.
2005). Aus der Perspektive vor allem deutscher Romanisten H. C. Jacobs et al. (Hrsg.), Die Zeitschrift „Il Caffè“. Vernunftprinzip und Stimmenvielfalt in der italienischen Aufklärung, Frankfurt
2005. Wenig bekannt und kaum erforscht ist eine deutsche Teilausgabe: Das Caffee oder Vermischte Abhandlungen. Eine Wochenschrift. Aus dem Italiänischen übersezt, Bd. 1, Zürich 1769
(mehr nicht ersch.).
21 Vater Gabriele Verri war bis 1768 Informant der Mailänder Inquisition, Pietros Bruder Giovanni denunzierte diesen und seinen Bruder Carlo 1763; G. Imbruglia, Il conflitto e la libertà. Pietro
Verri da „Il Caffè“ alla „Storia di Milano“, in: Capra, Pietro Verri, Bd. 1, S. 447-487, hier S. 448f.
22 „Ora […] i filosofi hanno dettato i precetti ai legislatori e […] vari di questi li hanno ascoltati“;
Pietro Verri, Considerazioni sul commercio dello Stato di Milano (1763), hrsg. von C. A. Vianello,
Milano 1939, S. 202.
23 Das Echo in Europa ist dokumentiert in der von Venturi besorgten Ausgabe: Cesare Beccaria,
Dei delitti e delle pene. Con una raccolta di lettere e documenti relativi alla nascita e alla sua fortuna
nell’Europa del Settecento, Torino 1964.
24 C. Beccaria, Dei delitti e delle pene, hrsg. von G. Francioni, Milano 1984 (= Edizione nazionale
delle opere di Cesare Beccaria, dir. da L. Firpo, Bd. 1).
25 Ders., Del disordine e de’ rimedi delle monete nello Stato di Milano nell’anno 1762, Livorno 1762;
Pietro Verri, Dialogo sul disordine delle monete nello Stato di Milano nel 1762, damals unveröffentlicht. Zum Stellenwert A. Quadrio Curzio / R. Scazzieri, Dall’economia politica al governo
dell’economia: riflessioni sul contributo di Cesare Beccaria e Pietro Verri sulla teoria e pratica della
moneta, in: N. Acocella u.a. (Hrsg.), Saggi di politica economica in onore di Ferdinando Caffé, Milano 1992, S. 141-181. Carli hatte schon 1757, also vor seiner Mailänder Zeit, einen umfangreichen Essay dazu verfasst.
22
CHRISTOF DIPPER
gen für größere, grundlegende Beiträge zur Finanz- und Wirtschaftspolitik, die
neben der Rechtsreform aus der Sicht der Mailänder Aufklärer schlechterdings von
ausschlaggebender Bedeutung für die Überwindung der Rückständigkeit ihrer
Heimat waren.26 In seinen Meditazioni sulla economia politica von 1771 sollte sich
Verri schließlich als Wirtschaftsfachmann von europäischem Rang erweisen,27
während Beccaria zwar mit seiner Antrittsvorlesung als Professor für Kameralwissenschaft nochmals international wahrgenommen wurde, seine Vorlesungen
(1769-71) aber ungedruckt ließ28 und sich stattdessen in der Öffentlichkeit als Literaturtheoretiker zu profilieren hoffte, allerdings vergeblich.29 Auch Verri wollte
übrigens nicht nur Fachmann sein, sondern als Philosoph wahrgenommen werden
und schrieb dafür 1763 die Meditazioni sulla felicità, die 1781 in gründlich umgearbeiteter Form unter dem Titel Discorso sulla felicità erschienen; Kühnheit und
Leidenschaft hatten gründlichem Nachdenken und präziserer Argumentation,
nicht ohne einen Schuss Skepsis, Platz gemacht. In dieser Form erlangte er mit
seinem Buch tatsächlich große Aufmerksamkeit. Im selben Band erschien der Wiederabdruck der 1773 erschienenen Idee sull’indole del piacere e del dolore, die in
Kant einen besonders beeindruckten Leser fanden. Auf der Höhe seiner Berufslaufbahn war Verri zugleich ein europaweit bekannter Moralphilosoph und Ästhetiker.30 Es fragt sich, welchen Preis er für diesen Spagat zahlen musste bzw. ob er ihn
auf Dauer überhaupt durchhalten konnte.
Die Radikalität Beccarias verdankt sich seiner Eigenart, in Dei delitti seine gesamte Argumentation auf der Grundlage der Theorie des Gesellschaftsvertrags im
Sinne des die Freiheitsvorbehalte stark machenden westeuropäischen Naturrechts
als einer konkreten Handlungsvorgabe zu entfalten. Das wagte damals sonst keiner
seiner Freunde und erklärt einerseits die wütenden Angriffe auf das anonym erschienene Buch, andererseits die begeisterte Zustimmung vieler, darunter der französischen Enzyklopädisten, die ihn umgehend nach Paris einluden.31 Für Beccaria
26 P. Verri, Elementi del commercio, ursprünglich in Wien 1760 verfasst und verändert in Heft 3 des
Caffè publiziert. Für 1762 stellte Verri außerdem als erster eine Handelsbilanz für das Herzogtum auf.
27 Sie sind noch nicht im Rahmen der Edizione nazionale erschienen. Zu Verri als Ökonom vgl. die
Beiträge namhafter Autoren in: Capra (Hrsg.), Pietro Verri, Bd. 2.
28 C. Beccaria, Prolusione letta il giorno 9 gennaio 1769 nell’apertura della nuova cattedra di scienze
camerali nelle Scuole Palatine di Milano; ders., Elementi di economia pubblica. Beide Texte sind
noch nicht im Rahmen der Edizione nazionale erschienen. Die Antrittsvorlesung wurde sogleich
mehrfach nachgedruckt und erschien noch 1769 in französischer Übersetzung.
29 Ders., Ricerche intorno alla natura dello stile, Milano 1770, jetzt in: ders., Scritti filosofici e letterari, hrsg. von L. Firpo, G. Francioni / G. Gaspari, Milano 1984 (= Edizione nazionale delle opere di
Cesare Beccaria, dir. da L. Firpo, Bd. 2). Eine französische Übersetzung erschien 1771.
30 Alle drei „Discorsi“, d.h. auch die umgearbeiteten „Meditazioni sulla economia politica“ sind jetzt
zu benützen in Gestalt der kritischen Ausgabe: P. Verri, I „Discorsi“ e altri scritti degli anni settanta, hrsg. von G. Panizza, Roma 2004 (= Edizione nazionale delle opere di Pietro Verri, Bd. 3).
31 Beccaria reiste tatsächlich zusammen mit Alessandro Verri 1766 nach Paris, erlebte jedoch in den
dortigen Diskussionen so etwas wie sein Damaskus und kehrte als ein Mann zurück, der sich für
rechtspolitische Fragen kaum noch interessierte und dafür um so bereitwilliger der österreichischen Kameralistik öffnete; deren Bezug zum Naturrecht war eher instrumentell, d.h. sollte die
positiv-rechtlichen Erörterungen argumentativ verstärken. In diesem Sinne auch M. R. Di Simo-
DIE MAILÄNDER AUFKLÄRUNG UND DER REFORMSTAAT
23
ist der Gesellschaftsvertrag die einzige Grundlage, von der aus sich staatlicher Herrschaftsanspruch, individuelle Freiheit und das gesamte Rechts- und Strafsystem
begründen lassen, wobei das Besondere ist, dass bei Beccaria die Menschen nur
jene „minima porzion possibile“32 an natürlicher Freiheit abgetreten haben, die
zum Funktionieren des Staates unabdingbar ist. Der Staat hat entsprechend geringe Befugnisse, der Souverän ist nur der Depositar des allgemeinen Willens und
kann folglich nur jene „minima delle [autorità] possibili“ beanspruchen, die zur
Aufrechterhaltung der gesellschaftsvertraglichen Zwecke nötig sind; alles andere
wäre „tirannia“.33 Nur weil er so strikt am maximalen Umfang des in die bürgerliche Gesellschaft hinübergeretteten freiheitlichen Naturzustands festhält, kann Beccaria die Todesstrafe ablehnen. Nicht minder radikal ist sein Vorschlag, das alles
und noch viel mehr in einem neuen, ja man muss sagen: neuartigen Gesetzbuch
festzuschreiben, denn damit gehört Beccaria europaweit zu den ersten Juristen, die
modernen Kodifikationen das Wort reden.34
Es versteht sich von selbst, dass Beccarias Rechts- und Staatsanschauung sich
unter den herrschenden Umständen nicht entfernt zur praktischen Umsetzung eignete. Dass sein Buch dennoch eine Eigendynamik entfaltete, war die Folge von
Morellets Umarbeitung.35 Sein Autor beteiligte sich daran nach 1766 nicht mehr,
insbesondere nachdem er 1769 die neue Professur für Kameralwissenschaften an-
32
33
34
35
ne, Riflessioni sulle fonti e la fortuna di Cesare Beccaria, in: V. Ferrone / G. Francioni (Hrsg.), Cesare Beccaria. La pratica dei lumi, Firenze 2000, S. 49-61, die diese These auch schon und gerade
für Dei delitti e delle pene gelten lassen möchte. – Eine originelle Erklärung für Beccarias Verhalten in Paris – er war in dieser Hinsicht keineswegs der einzige – bietet Darnton mit seiner These
an, die Aufklärung wesentlich als eine von politisierten Pariser Literaten getragene Bewegung
anzusehen, die ihr Exklusivrecht gegen Konkurrenten unnachsichtig verteidigten; R. Darnton,
George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung?, München 1997, S. 8.
Beccaria, Dei delitti, S. 139. Das folgende Zitat S. 145. Dort ist auch die so gut wie nie benutzte,
hier aber zitierte Urfassung Beccarias abgedruckt, die zwar für die Wirkungsgeschichte unerheblich, aber zur Entschlüsselung seines radikalen – und deshalb von den Redaktoren Alessandro und
vor allem Pietro Verri unterdrückten bzw. geglätteten – Naturrechtsdenkens unentbehrlich ist.
Aus Gründen der Tarnung, d.h. nach den zunächst gefährlich erscheinenden Angriffen kirchlicher Gegner versuchte Beccaria im Vorwort der sog. 5. Auflage von 1766 so zu tun, als rede er
überhaupt nicht vom modernen und als interessiere er sich erst recht nicht für das scholastische
Naturrecht: A chi legge, in: Dei delitti, S. 19 (in der deutschen, von Wilhelm Alff besorgten Übersetzung [Über Verbrechen und Strafen, Frankfurt 1966] S. 46). Wohlweislich gab er diesen Text
nicht seinem französischen Übersetzer, um nicht im Mutterland der Aufklärung als Renegat zu
gelten, nachdem d’Alembert und Voltaire ihm höchste Anerkennung für seine intellektuelle Brillanz ausgesprochen hatten. Vgl. dazu den Kommentar Francionis: Dei delitti, S. 302.
Ebd., S. 145. „Tirannia“ ist das Schreckwort, nicht „dispotismo“.
Allerdings reagiert Kaunitz rasch. 1765 verlangt er für die Lombardei „un codice semplice, e
chiaro“; Brief an Firmian, 29.12.1765; zit. A. Cavanna, La codificazione del diritto nella Lombardia austriaca, in: De Maddalena /Rotelli / Barbarisi (Hrsg.), Economia, S. 611-657, hier S. 634.
Bis es tatsächlich so weit war, dauerte es jedoch noch Jahrzehnte und trotzdem lagen die Habsburger Staaten damit europaweit an der Spitze.
Morellet, sein französischer Übersetzer, unternahm es, durch eine andere Anordnung der Paragraphen daraus ein rechtspolitisches Handbuch zu machen. In dieser Version wurde Beccaria
nahezu zweihundert Jahre lang gelesen, auch in Italien selber, weil die französische Version wieder ins Italienische rückübersetzt wurde.
24
CHRISTOF DIPPER
getreten hatte. Reisende, die nach Mailand kamen, um den weltbekannten Verfasser zu sprechen, reagierten durchweg enttäuscht.
Den Schritt in die politisch-administrative Praxis hatte Pietro Verri bereits seit
1764 hinter sich und so fragt sich, ob dies Konsequenzen für seine Vorstellungen
über die Ausgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft hatte. Im Gegensatz zum jungen Beccaria war das oberste Ziel für die meisten Naturrechtsanhänger der ‚starke
Staat‘, wie man in Anlehnung an Nipperdey sagen könnte. Das sollte erreicht werden durch seine Befreiung aus den Bindungen an die Stände (also an Adel und
Kirche) und an die Tradition (vornehmlich an das römische Recht), ohne aber
deshalb an eine aus dem Naturzustand herübergerettete Freiheit der Untertanen
gebunden zu sein, denn ein Mann wie Verri misstraute ‚dem Volk‘ aus guten
Gründen; entsprechend fehlt auch der Gedanke der Öffentlichkeit als geschichtsphilosophischer Leitinstanz noch bis ans Ende der 1780er Jahre fast völlig.36 Die
Auslegung des Gesellschaftsvertrags diente fast ausschließlich dem Ziel der Legitimierung der staatlichen Prärogative. Nur: Wo liegt dessen Grenze? Die Mailänder
griffen nach französischem Muster gerne auf den „despotisme éclairé“ der Physiokraten zurück. Was der „vero despota“ ist, wird ausführlich erörtert. Anders als
insbesondere in der zeitgenössischen deutschen Debatte handelt es sich dabei nicht
um einen Schreck-, sondern um einen positiv besetzten Begriff. Alles läuft auf den
„savio legislatore“37 hinaus, der, im Dienste der Aufklärung stehend (d.h. von Aufklärern beraten, die das allgemeine Wohl repräsentieren), radikale Reformen in
Staat und Gesellschaft durchsetzt. In der Lombardei war das dabei verwendete
Vokabular besonders radikal: Man sprach gerne vom „despota“, ja sogar vom „dittatore“, und alles war positiv, im Blick auf Maria Theresia und Joseph II. gemeint.
Kein Wunder, dass dann gerade dort auch die Enttäuschung um so größer war, als
sich herausstellte, dass die Wiener Politik einer eigenen Logik folgte, die sich von
der Mailänder Aufklärer erheblich unterschied.38
Es verwundert nicht, dass der anfängliche Mailänder Sprachgebrauch seine Urheber daran hinderte, dem Staat eine klare, unübersteigbare Grenze seiner Kompetenzen zu ziehen. Nur der junge Beccaria dachte hierin anders. Von Menschenrechten ist zwar immer wieder die Rede, doch handelte es sich hierbei in aller Regel
um eine rhetorische Floskel, die dem emphatischen Sprachgebrauch dienen sollte.
36 Von den Mailänder Aufklärern sieht das nur der in der Toskana mit ihrem vergleichsweise freien
Buchmarkt sozialisierte Paolo Frisi anders. Dazu E. Tortarolo, „Opinione pubblica“ e illuminismo
italiano. Qualche appunto di lettura, in: Ferrone / Francioni (Hrsg.), Cesare Beccaria, S. 127-138,
hier S. 137.
37 G. Gorani, Il vero dispotismo (1770); auszugsweise in: F. Venturi (Hrsg.), Illuministi italiani,
Bd. 3: Riformatori lombardi, piemontesi e toscani, Milano, Napoli 1958, S. 495-507, hier
S. 497. Der 1740 in Mailand geborene Gorani hatte von 1759 bis 1763 in preußischen Städten
als Kriegsgefangener gelebt und dort viel staats- und naturrechtliche Literatur gelesen. Er betrachtete sich als Schüler Beccarias, weil sein „vero dispotismo“ der „dispotismo delle leggi“ war.
38 Vgl. dazu Abschnitt 3 dieses Aufsatzes. Mehr dazu bei Ch. Dipper, „Despotie“ und „Verfassung“:
Zwei Freiheitskonzepte der Mailänder Aufklärung, in: H. C. Jacobs / Gisela Schlüter (Hrsg.), Beiträge zur Begriffsgeschichte der italienischen Aufklärung im europäischen Kontext, Frankfurt
2000, S. 23–59.
DIE MAILÄNDER AUFKLÄRUNG UND DER REFORMSTAAT
25
Die Sicherung der Freiheit – der bürgerlichen und erst recht der politischen – blieb
in theoretischer Hinsicht unter diesen Umständen ein ungelöstes Problem, das nur
deshalb nicht wahrgenommen wurde, weil man in Mailand das sog Hobbes’sche
Dilemma nicht einmal bemerkte.39 Daher der provokatorische Sprachgebrauch
von „despota“, daher auch das von einigen theoretisch geradezu in Abrede gestellte
Recht auf Eigentum und daher schließlich die Weigerung Verris, die „politische“
als eine von „bürgerlicher“ unterschiedene Freiheit zu betrachten.40
Ein Problem bereitet die Deutung der wirtschaftspolitischen Vorstellungen der
Mailänder Aufklärer, denn ihre wichtigsten Texte haben sie verfasst, als sie bereits im
Staatsdienst standen, so dass sich fragt, ob das pragmatische Rücksichtnahme zur
Folge hatte. Um so interessanter ist Beccarias Vision wirtschaftlicher Ordnung in
Dei delitti e delle pene, in denen, wie geschildert, eine aus dem Gesellschaftsvertrag
abgeleitete, egalitäre Sozialordnung entgegentritt. Seine aus Vorsicht verschleiernde
Sprache erlaubt keine präzise Beschreibung seiner gesellschaftlichen Utopie. Klar ist
aber jedenfalls, dass er in den frühen 1760er Jahren keine Eigentümergesellschaft
anstrebte, sondern wohl eher so etwas wie die heureuse médiocrité, wie sie bei Rousseau und später bei Linguet und Mably vertreten wurde, freilich ohne die bei jenen
zur Voraussetzung gemachten weitreichenden, quasi-diktatorischen Befugnisse der
Staatsgewalt. Viele der radikalen italienischen Spätaufklärer, meist unzutreffend als
Jakobiner bezeichnet, sind ihm hier gefolgt, wie überhaupt seine egalitäre Vision
Beccaria im Frankreich der Revolution einen bleibenden Platz sicherte.41
Beccaria vertrat wenige Jahre später als Wirtschaftsprofessor, wie gesagt, eine
völlig andere Vorstellung von ‚guter Ordnung‘. Originell war sie nicht, sie sollte
dem Staat ja auch tüchtige Kameralisten schaffen. In seinen Elementi, die freilich
erst 1804 die Öffentlichkeit erreichten,42 vertrat Beccaria die Vorstellung einer
vom Staat durchgesetzten Deregulierung insbesondere der Landwirtschaft als dem
bei weitem wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes. Als er in den Verwaltungsdienst übertrat, musste er sich daher nicht korrigieren. Für Freiheit setzte er sich
weiterhin ein, allerdings musste sie, gut kameralistisch, staatlich kontrolliert bleiben.43 Das freie Unternehmertum sah er wie die Physiokraten am ehesten im landwirtschaftlichen Pächter verkörpert,44 und obwohl er selbst ein erfolgreicher, un39 Die politische Ideengeschichte versteht darunter den Umstand, dass der zum Schutz der Individuen erheblich gestärkte, d.h. seiner ständischen Konkurrenten entledigte Staat nun selbst das
Potential der größten Bedrohung in sich birgt.
40 Näheres dazu bei Ch. Dipper, Politischer Reformismus und begrifflicher Wandel. Eine Untersuchung des historisch-politischen Wortschatzes der Mailänder Aufklärung 1764–1796, Tübingen
1976, S. 64ff., 125ff.
41 Von Ovationen, die Beccarias Tochter 1797 in Paris dargebracht wurden, berichtet die Textzusammenstellung F. Venturis, Cesare Beccaria, S. 650. Weitere Belege zu Beccarias Nachruhm
ebd., S. 524ff.
42 C. Beccaria, Elementi di economia pubblica, 2 Tle., Milano 1804 (= P. Custodi [Hrsg.], Scrittori
classici di economia politica, parte moderna, Bd. 11).
43 Bezeichnenderweise ist von der „libertà vigilata“ die Rede; zit. Capra, Il Settecento, S. 490.
44 Beccaria war wohl der erste Italiener, der den von den Physiokraten geprägten Begriff „capitalista“ in diesem Zusammenhang benützte; A. M. Finoli, Note sul lessico degli economisti italiani del
Settecento, in: Lingua nostra 9 (1948), S. 67-71, hier S. 70, Anm. 71.
26
CHRISTOF DIPPER
ternehmerisch denkender Grundbesitzer war, verkannte er die Bedeutung der
kommenden Zentralfigur der klassischen Theorie und des anbrechenden Industriezeitalters.45 Dazu passt, dass er Reichtum höher als unternehmerisches Handeln
bewertete.
Pietro Verris Wirtschaftslehre verrät demgegenüber den kühneren Entwurf, die
größere theoretische Geschlossenheit; Konzessionen an die politische Praxis
machte er kaum, Fragen politischer Opportunität klammerte er vollständig aus.
1763 errichtete er die Wirtschaftsordnung noch ganz auf der von Hutcheson
übernommenen und in der Accademia dei Pugni überaus populären Morallehre,
die hier allerdings explizit naturrechtlich fundiert war: Die Gesellschaft sei eine
„industriosa riunione di molte forze cospiranti“, gegründet auf einen „patto“, dessen Ziel „è il benessere di ciascuno […], il che si risolve nella felicità pubblica o sia
la maggiore felicità possibile divisa colla maggiore uguaglianza possibile“.46 Knapp
zehn Jahre später, 1771, war daraus eine Theorie umfassender wirtschaftlicher
Freiheit geworden. Nur so könne das delikate Gleichgewicht zwischen spontanem
menschlichen Verhalten, politischer Intervention und gesellschaftlicher Ordnung
hergestellt bzw. gesichert werden, jedenfalls in einer entwickelten Gesellschaft
(„società colta e legittima“).47 Der „ministro di economia“ müsse in erster Linie
„rimuovere gli ostacoli, abolire i vincoli, spianar le strade alla concorrenza animatrice della riproduzione, crescere la libertà civile, lasciare un campo spazioso
all’industria, proteggere la classe dei riproduttori con buone leggi“. Indem Verri
diese Maximen in der Formel zusammenfasste, der Monarch müsse „attivo nel
distruggere, cautissimo nell’edificare“ sein,48 wird deutlich, dass auch er in der
Falle des Hobbes’schen Dilemmas gelandet war, denn außer einer angenommenen Interessenidentität zwischen Souverän und Untertanen49 nannte er keinen
45 Die Grenzen der Fortschrittlichkeit aufgeklärter lombardischer Wirtschaftstheorie betont gleichsam gegen den Strich – für ihn steht Joseph Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse,
Bd. 1, Göttingen 1965, auf den sich italienische Dogmenhistoriker begreiflicherweise gerne berufen – D. M. Klang, Cesare Beccaria, Pietro Verri e l’idea dell’imprenditore nell’illuminismo milanese, in: Cesare Beccaria tra Milano e Europa. Convegno di studi per il 250 anniversario della
nascita promosso dal Comune di Milano, Milano 1990, S. 371-406.
46 Pietro Verri, Discorso sulla felicità (1763), zit. P. L. Porta / R. Scazzieri, Il contributo di Pietro
Verri alla teoria economica. Società commerciale, società civile e governo della società, in: Capra
(Hrsg.), Pietro Verri, Bd. 2, S. 813-852, hier S. 820. Leider interessieren sich die beiden Wirtschaftswissenschaftler nicht für die politischen Zusammenhänge und Ableitungen der Vorstellungen Verris.
47 Ders., Meditazioni sulla economia politica (1771), zit. ebd., S. 816.
48 Ebd., S. 839. Er fügte hinzu, man müsse zur Beseitigung der Missstände „creare un dispotismo
che duri quanto basta ad aver messo in moto regolarmente un provvido sistema“; zit. Dipper,
„Despotie“, S. 33.
49 Diese bei den Mailänder Aufklärern seit jeher feststellbare Annahme wurde gerade 1771 noch einmal befestigt, nachdem aus Wien die Nachricht von der günstigen Aufnahme der Meditazioni sulla
economia durch den Kaiser eingetroffen war. Alessandro Verri bezeichnete es als ein Glück, von
diesem Fürsten regiert zu werden, und jubelte: „Ora mi aspetto la risoluzione di ogni cosa; siamo
alla fine: Italia, Italia“; Brief an den Bruder vom 10.8.1771; zit. Dipper, Reformismus, S. 197f.
DIE MAILÄNDER AUFKLÄRUNG UND DER REFORMSTAAT
27
Mechanismus, um die umfassenden Befugnisse des Monarchen auf das ‚segensreiche‘ Zerstörungswerk zu beschränken. Das kann deshalb nur heißen, dass trotz
aller Konzessionen an die Zeitumstände in Verri der Literat und Intellektuelle
gesiegt hatte, der freilich vor den letzten Konsequenzen seiner Freiheitslehre die
Augen verschloss, denn an eine (geschriebene) Verfassung als Antwort auf dieses
Dilemma war damals noch nicht zu denken. Da Verri diesen Schritt erst nach
seiner Zeit als Beamter tun sollte, sei zunächst ein Blick auf die Reformpolitik der
Wiener bzw. Mailänder Regierung geworfen, um das Verhältnis von Aufklärung
und politischer Praxis zu prüfen.
Zuvor soll jedoch das in diesem Abschnitt Gesagte bilanziert werden. Ohne
weitere Belege kann zunächst festgestellt werden, dass die von Pietro Verri ins
Auge gefasste Strategie der Aufmerksamkeit erfolgreich war, wie sich an den alsbald erfolgenden Eintritten etlicher Mitglieder der ehemaligen Accademia dei Pugni in den Staatsdienst zeigte. Allerdings war zweitens die von den kaiserlichen
Behörden – das an ständischer Selbstverwaltung interessierte Patriziat reagierte
erwartungsgemäß ablehnend – signalisierte Aufmerksamkeit mehr der von Verri
und seinen Freunden unentwegt beschworenen Notwendigkeit der Stärkung der
staatlichen Prärogative, dem Lob des Absolutismus in seiner aufgeklärten Variante geschuldet als konkreten, den politischen Instanzen zur Hand gehenden Vorschlägen, wenn man von den hier übergangenen Vorschlägen Beccarias und Verris zur Münzreform und Handelsbilanz aus den Jahren 1762/63 absieht. Drittens
ist die intellektuelle Brillanz der Beiträge offensichtlich, ihre Autoren wollten –
und wurden, was Beccaria und Pietro Verri betrifft – auch europaweit wahrgenommen werden. Tatsächlich zeichneten sich die meisten Texte durch teils visionäre, teils näher an den gegenwärtigen Verhältnissen ausgerichtete Gedankenführung und eindrucksvolle theoretische Geschlossenheit aus. Ausdrücklich oder
stillschweigend machten sie das Naturrecht zur Grundlage ihrer mehr oder minder radikalen Zukunftsentwürfe und zeigten sich damit auf der Höhe der Zeit. Es
handelte sich um das Naturrecht in seiner westeuropäischen Form, das mehr als
das deutsche bzw. österreichische das Verhältnis von Staat und Gesellschaft auf
eine neue, prinzipiell freiheitliche Grundlage zu stellen suchte. Aber auch diese
fortschrittlichere Version war noch nicht vom Gedanken eines systemimmanenten Gegensatzes von Freiheit und Obrigkeit durchdrungen. Noch glaubte man
an die eine Vernunft, sie galt als hinreichendes Mittel zum Ausgleich etwaiger
Interessenkollisionen. Viertens hieß das nichts anderes, als dass das Hauptinteresse der Mailänder Aufklärer der Gesellschaft galt; ihre institutionelle Phantasie
war unterentwickelt. Man wird nicht erwarten, dass sie von der Notwendigkeit
der Modernisierung des Staates sprachen, denn dieser Begriff kam erst viel später
auf. Aber davon, dass der auch von ihnen unentwegt beschworene ‚starke‘ Staat
an neu zu schaffende Voraussetzungen gebunden war – Zentralisierung, Instanzenzug, Beamtenschaft – und neue Handlungsfelder beanspruchen musste, findet sich in ihren Schriften so gut wie nichts. Es fragt sich deshalb, wie der ‚Marsch
durch die Institutionen‘ und die politische Entwicklung der Lombardei auf diese
Gruppe gewirkt haben.
28
CHRISTOF DIPPER
3 Die wichtigsten Stationen des Staatsumbaus
Das lässt sich besser beurteilen, wenn zuvor ein wenigstens kursorischer Überblick
über das knappe halbe Jahrhundert Reformtätigkeit gegeben worden ist. Um deren
Umfang recht zu verstehen, muss der Hinweis genügen, dass kein deutscher Territorialstaat Vergleichbares zuwege gebracht hat – aus welchen Gründen auch immer.
Wenn man mit Capra50 die Reformphasen – um genau zu sein: die Phasen des
‚Wachstums der Staatsgewalt‘ (Reinhard) – nicht nach den Regierungszeiten der
Monarchen, sondern nach den Amtszeiten der Bevollmächtigten Minister einteilt,
dauerte die erste von den 1740ern bis 1753, als Graf Pallavicini starb.51 Inmitten
des Österreichischen Erbfolgekrieges, der auch das Herzogtum schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte, war sein vordringlichstes Ziel die Sanierung der Staatsfinanzen. Unter anderem legte er dazu 1749 verschiedene konkurrierende Behörden
unter Entlassung von viel Personal und Verbot des Ämterkaufs im neuen Magistrato Camerale als oberster Kontrollbehörde für Steuern, Abgaben, Zölle und Monopole zusammen. Langfristig bedeutsamer war die gleichzeitig angeordnete und
dem toskanischen Fachmann Pompeo Neri anvertraute Wiederaufnahme der seit
Jahrzehnten unterbrochenen Landvermessung und -schätzung zum Zwecke eines
Steuerkatasters, der eine gleiche und direkte Besteuerung aller Grundbesitzer ermöglichen sollte. Diese geradezu revolutionäre Neuerung trat am 1. Januar 1760
in Kraft, nachdem selbst die Kirche 1757 den größten Teil ihres Besitzes für steuerbar erklärt hatte. Das bedeutete zugleich die weitgehende Entmachtung der lokalen Eliten zugunsten des neuen Instituts der staatlich eingesetzten cancellieri del
censo (Steuer- und Amtsschreiber), womit die Regierung ein zuvor undenkbares
Maß an Kontrolle über das flache Land erlangte, und weil nun Gemeinderäte gewählt wurden, die Ablösung des Geburtsprivilegs durch das Besitzrecht. Obwohl
die Steuerlast deutlich anstieg, hatte die Reform zumindest für die fruchtbareren
und darum entwickelteren Gebiete der Lombardei eine segensreiche Wirkung.
Weniger erfolgreich war Pallavicini in seinem Bemühen, die staatlichen Interessen
bei der Steuerpacht durchzusetzen, weil die Steuerpächter viel Einfluss in Wien
besaßen und die Regierung auf ihre Vorauszahlungen angewiesen blieb. Immerhin
wurden 1751 sämtliche verpachteten Steuern in der neuen Ferma Generale (Generalpacht) zusammengefasst, was eine Voraussetzung für ihre spätere Übernahme
war.
In die kurze Amtszeit von Pallavicinis Nachfolger Cristiani fällt vor allem die auf
seine Initiative hin 1753 in Wien errichtete Lenkungsbehörde für die italienischen
Besitzungen der Habsburger, das Dipartimento d’Italia. Seine Leiter Giusti52 und
50 Capra, Habsburg Italy, S. 223ff.
51 Seit 1750 war Pallavicini auch Gouverneur.
52 Giusti starb 1766, sein Nachfolger, der sich den Italienern zuliebe Sperges nannte, 1791. Giustis
Vorgänger Du Beyne interessiert hier nicht weiter. Alle drei entstammten ebensowenig der Lombardei wie Pallavicini, Cristiani und dessen beide Nachfolger Firmian sowie Wilczek.
DIE MAILÄNDER AUFKLÄRUNG UND DER REFORMSTAAT
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Spergs zählen zu den von der Forschung lange übersehenen Schlüsselfiguren der
Politik des Staatsausbaus, wobei die eigentliche Wende zu einer energischen Politik
der Wiederaneignung hoheitlicher Befugnisse in die nur vier Jahre dauernde Amtszeit Giustis fällt.53 Die 1762 erlassene Dienstanweisung offenbart zugleich ein ganz
neuartiges Verständnis vom Staatsdienst, das zunehmend auch in Mailand durchgesetzt wurde.
Die zweite, radikalere Reformphase dauerte von 1759 bis 1790 und setzte mit
dem Amtsantritt Firmians als Nachfolger des im Vorjahr gestorbenen Cristiani
ein. Für die nächsten Jahrzehnte bildeten er54 und Kaunitz, beraten von den Amtschefs des Dipartimento d’Italia, das tonangebende Gespann. Als radikal gilt dieser
Zeitabschnitt, weil einerseits die Staatsintervention sich vom Finanzwesen und
Verwaltungsumbau auf alles auszudehnen begann, was von der zeitgenossischen
Policeywissenschaft zu den Staatsaufgaben gerechnet wurde, und weil andererseits
in Mailand die alte patrizische Herrschaftselite durch eine neue, professionalisierte und dem aufgeklärten bürokratischen Absolutismus ergebene Beamtenschaft
ersetzt wurde. Die dreißigjährige Reformphase kennt jedoch deutliche Zäsuren:
die 1760er gelten als das von Giusti inspirierte ‚heroische‘ Jahrzehnt (Capra), die
1780er als die vom Kaiser betriebene ‚Revolution von oben‘, während in den
1770ern der Elan nach einer kräftigen Intervention Kaunitz’ zu Beginn stecken
blieb.
Im Bereich der Finanzpolitik fielen zwei Entscheidungen von weitreichender
Bedeutung, an denen Verri mitwirke: 1766 ordnete Wien den Rückkauf aller Regalien – er zog sich über zwanzig Jahre hin –, und die Beteiligung des Staates an der
Steuerpacht an. 1770 wurde sie vorzeitig abgeschafft und der Steuereinzug in staatliche Hände genommen. Das Ergebnis waren dramatisch verbesserte Staatseinnahmen bei den indirekten Steuern und Abgaben. Um die Staatsveraltung anzupassen,
war schon 1765 eine gänzlich neuartige Oberbehörde, der Supremo Consiglio di
economia, mit Carli an der Spitze geschaffen worden. Damit verbunden waren
drastische Eingriffe in die altüberlieferte Autonomie, deren Institutionen, an der
Spitze der Senat, mit dessen Hilfe das Patriziat seit Jahrhunderten die Lombardei
gesteuert hatte, erhebliche Kompetenzverluste hinnehmen mussten. Gegen Ende
des Jahrzehnts machte sich darum in Mailand eine Spaltung zwischen den Anhängern des Absolutismus, angeführt von Ausländern wie Firmian und Carli, und den
aufgeklärten Vertretern des Patriziats, an der Spitze Verri, die das Heft in der Hand
behalten und gleichzeitig den Akzent auf eine freiheitliche Wirtschafts- und folglich auch Gesellschaftsordnung setzen wollten, bemerkbar.55 Dieser Konflikt lähmte auf Jahre hinaus den angelaufenen Prozess der Modernisierung der österreichischen Lombardei.
53 Vgl. C. Capra, Luigi Giusti e il Dipartimento d’Italia a Vienna (1757-1766), in: De Maddalena /
Rotelli / Barbarisi (Hrsg.), Economia, S. 365-390.
54 Im letzten Jahrzehnt vor seinem Tode – Firmian starb 1782 – gingen seine Interventionen deutlich zurück.
55 Capra, Il Settecento, S. 417f.
30
CHRISTOF DIPPER
Während also bis ca. 1770 Geschwindigkeit und Reichweite der Eingriffe mit
der Zustimmung der aufgeklärten einheimischen Reformer rechnen konnten,
machten sich seit 1771 Distanzierungen bemerkbar. Eine längere Konferenz in
Wien, Brainstorming für die nächste Zukunft der Lombardei, an der auch Verri
teilnahm, endete mit Verstimmung von seiner Seite; zu der von Verri erwarteten
„rivoluzione generale del sistema“56 kam es nicht. Allerdings verlor 1771 der Senat
sämtliche politischen und administrativen Kompetenzen und wurde damit zu einem bloßen Obergericht, weil gleichzeitig eine neue Oberbehörde, der Magistrato
Camerale – er hatte mit der seit Jahrhunderten existierenden traditionsreichen Institution nur den Namen gemein – an Stelle des Supremo Consiglio als oberste
Wirtschafts- und Finanzbehörde mit zehn Abteilungen und siebenhundert Bediensteten eingerichtet wurde. Bezeichnend war, dass sie kaum eigenen Handlungsspielraum hatte und strikter Kontrolle durch das Dipartimento d’Italia unterlag, so dass sich nun ein ungeheurer Schriftwechsel zwischen Mailand und Wien
entwickelte, an dem schließlich diese Neuordnung ersticken sollte.
Drastischere Eingriffe denn je ermöglichte dann der Tod Firmians 1782, dem
in Wilczek ein dem Kaiser vollständig ergebener Minister, Kenner der Mailänder
Verhältnisse, folgte; das Dipartimento d’Italia verlor seine Steuerungsfunktionen.
Zur josephinischen Kirchenpolitik, die hier nicht weiter behandelt wird, sei nur
gesagt, dass sie auf die Zustimmung der antiklerikal gebliebenen Mitglieder der
ehemaligen Accademia dei Pugni rechnen konnte. Die Verwaltungsreform von
1780 sollte den Magistrato Camerale entlasten, indem man das Steuerwesen ausgliederte; mit der Leitung der solchermaßen verkleinerten Behörde wurde Verri als
Nachfolger Carlis beauftragt. Diese Neuordnung hat sich jedoch ebenfalls nicht
bewährt.
1785 beriet sich Joseph II. mit Wilczek in Wien deshalb über Eingriffe grundsätzlicher Art. 1786 wurden sie umgesetzt mit dem Ergebnis, dass damals in der
Lombardei im großen und ganzen das Ancien Régime endete:57 Im neuen Consiglio di Governo mit nochmals modernisiertem Beamtenstatut gingen fast sämtliche
Oberbehörden auf, die Lombardei wurde in acht Provinzen mit je einem Präfekten
eingeteilt, der Senat verschwand von der Bildfläche. Das war das sichtbarste Zeichen der neuen Zeiten. Zugleich war damit das Zentrum der Obstruktion beseitigt, das insbesondere die Rechtsreform jahrzehntelang verzögert bzw. verhindert
hat. Erst 1784, zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Dei delitti, war die Abschaffung der Folter durchgesetzt worden. Die gleichzeitig mit der Ausarbeitung
neuer Gesetzbücher beauftragten Mailänder Juristen lieferten so unzureichende
Entwürfe ab, dass der Kaiser sich 1785 auch entschlossen hatte, die in Vorbereitung befindlichen österreichischen, den örtlichen Bedingungen angepasst, in der
56 Zit. ebd., S. 428.
57 Auf die parallelen, nicht minder drastischen Umgliederungen in Wien sei hier nur pauschal verwiesen. Im Unterschied zu den Erbstaaten gab es in der Lombardei aber so gut wie keine Feudalrechte mehr, stattdessen weitgehende Gleichheit im Steuer- und Strafrecht, Trennung von Justiz
und Verwaltung, keine Zünfte mehr und relativ weitgehende Handelsfreiheit.