drei familien in indien - Lingua
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DREI FAMILIEN IN INDIEN Vollständiger Filmtext in deutscher Sprache DREI FAMILIEN IN INDIEN Vollständiger Filmtext in deutscher Sprache 1. Prolog 3 2. Bombay: Familie Shah (Jain Hindus/Händler) 3 3. Pondichery: Familie Kaliemoti (Tamilen/Bauern) 4 4. Kanpur: Familie Wasi (Muslime/Arbeiter) 5 5. Zu Hause bei Familie Shah und Kaliemoti 7 6. Arbeiten in der Fabrik 8 7. Religion 9 8. Heirat 10 9. Das Kastensystem 11 10. Der Status der Frauen 12 11. Die Reisernte 13 12. Pläne und Träume für die Zukunft 14 Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 2 1. Prolog Kommentar: Das Land, wo zu Beginn eines Kinofilms die indische Flagge gehisst wird und die Zuschauer zu den Klängen der Nationalhymne aufstehen, ist Indien. Dieses Land, mit mehr als einer Milliarde Einwohner, ist die größte Demokratie der Welt. Kommentar: Indien hat eine jahrtausende alte Zivilisation, die den radikalen Umbrüchen der modernen Welt gegenübersteht. Das daraus entstehende Zukunftsszenario entspricht nicht unbedingt einer sentimentalen Bollywood-Komödie. Kommentar: Das Alltagsleben normaler Menschen zeigt gesellschaftliche Veränderungen sehr genau. In drei verschiedenen Regionen und drei unterschiedlichen sozialen Umfeldern öffnen drei Familien ihre Türen. Eine Familie lebt in der Nähe von Pondichery, die zweite weiter nördlich in Kanpur, die dritte in Mumbai. Ihre Erfahrungen leisten einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis des Landes. 2. Bombay: Familie Shah (Jain Hindus/Händler) Kommentar: Mit 18 Millionen Einwohnern ist Bombay die größte Stadt Indiens und das wirtschaftliche Zentrum des Landes. Kommentar: Familie Shah lebt in Chembur, einer aufstrebenden Wohngegend im Nordosten Bombays. Harish und seine Frau Deena haben zwei Söhne und einen drei Monate alten Enkel. Sie sind Jain Hindus und Besitzer eines großen, in der Gegend sehr bekannten Supermarktes. Harish: Wenn ein Kunde in den Laden kommt, geht er zuerst an diese Theke, um seine Bestellung aufzugeben und die Rechnung zu erhalten. Diese wird hier an der Kasse bezahlt. Anschließend geht er hier herüber. Die Männer suchen seine Ware zusammen, haken sie auf der Liste ab und geben sie dem Kunden. Harish: Wir sind ein Einzelhandel und verkaufen Lebensmittel. Man könnte sagen, wir versorgen die Menschen, indem wir ihnen die notwendigen Dinge des täglichen Lebens anbieten. Mein Personal besteht aus mehr als fünfzig Mitarbeitern: Reinigungskräfte, Buchhalter, Verkäufer, Angestellte in den unterschiedlichen Verkaufsabteilungen, Verpackungshelfer und Auslieferer. Mit allen zusammen sind wir mehr als fünfzig Personen. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 3 Harish: Das ist mein Großvater, Herr Tokasi Marek, hier ist mein Vater, Herr Gavubai Tokasi, der Gründer unseres Unternehmens und das ist meine Mutter, Frau Matuse Tejemai. Mein Vater hat gute Arbeit für uns geleistet. Er hat das Geschäft aufgebaut und an uns weitergegeben. Das Einzige, was wir tun müssen, ist es fortzuführen. Sagar: Ich bin der Enkel des Geschäftsgründers. Ich bin in Mumbai in die Grundschule gegangen und habe anschließend in Melbourne, Australien meinen Schulabschluss gemacht und BWL studiert. Nach meiner Rückkehr bin ich ins Geschäft meines Vater eingestiegen. Sagar: Wenn wir eine Lieferung bekommen, wird die Ware zuerst in dieser Maschine gewaschen und dann von den Frauen handverlesen. Danach kommt alles in die Verpackungsabteilung, wo Angestellte in Schichtarbeit je nach Bedarf unterschiedliche Größen abpacken, die wir im Keller unter dem Geschäft lagern. Sagar: Wir haben eine besondere Beziehung zu unseren Kunden. Für uns sind es keine Kunden, sondern Freunde. Diese Einstellung hat unser Geschäft über die Zeit wachsen lassen. Man schätzt uns dafür. 3. Pondichery: Familie Kaliemoti (Tamilen/Bauern) Kommentar: Dreißig Kilometer westlich von Pondichery liegt Nellianur, ein einfaches Dorf im Bundesstaat Tamil Nadu. Hier leben Kaliemoti, seine Frau Kathenamba und ihre beiden Söhne Anu und Marudu. Die beiden älteren Töchter haben das Elternhaus bereits verlassen. Sie sind Tamilen, von der Dalit Kaste, der niedrigsten in Indien. Sie sind jene, deren sogenannte Unreinheit sie noch vor kurzem zu Unberührbaren machte. Kommentar: Kaliemoti ist 48 und von Beruf Bauer. Zusammen mit seinen zwei Brüdern besitzt er 15 Morgen Land, auf denen sie Reis, Linsen und Zuckerrohr anbauen. Kaliemoti: Der Boden hier ist sehr gut, ideal für den Reisanbau. Um einen Morgen Land zu bearbeiten, brauche ich zehn Leute. Ich bezahle sie bar, nicht in Naturalien. 80 Rupien am Tag für die Männer und 50 für die Frauen. Von sieben Uhr morgens bis zum Mittag. Kaliemoti: Ich besitze eine eigene Wasserpumpe, damit ich mich den Regenzeiten anpassen kann. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 4 Kathenamba: Meine Schwiegereltern haben dieses Haus gebaut. Wir leben hier seit 25 Jahren: die Familie, mein Mann und die Kinder. Kathenamba: Wir essen Fisch, Fleisch und getrockneten Fisch. Wir trinken wenig Milch, weil sie sehr knapp ist. Wir essen Krabben, Fladenbrot, Kartoffeln, das ist alles. Dreimal am Tag essen wir klebrigen Reis... dreimal am Tag. Kathenamba: Das ist das Bett meines Mannes. Wir anderen schlafen auf dem Boden. Das hier sind meine Tochter, meine Schwägerin, ihr Mann, meine Schwiegermutter, mein Mann als er jung war, mein Schwiegervater, der bereits tot ist, Nehru, Indira Gandhi und die Uhr. Das ist der Fernseher. Wir schauen von hier aus, wir setzen uns hin und schauen von hier. Kathenamba: Das ist das Zimmer, in dem wir zu Gott beten. Wir legen Opfergaben auf den Boden. Wir beten hier. Kaliemoti: Mein Vater hat mir alles über Landwirtschaft beigebracht. Zu seiner Zeit war es schwer, an Wasser zu kommen. Sie bauten nur eine Sorte Reis an und arbeiteten mit Ochsen. Es dauerte eine Woche bis ein Morgen Land gepflügt war. Heutzutage kann ich drei Sorten Reis anbauen, habe reichlich Wasser und die Hilfe meines Traktors, deshalb geht alles viel schneller. Kaliemoti: Ich bezahle meine Familie nicht, ich bezahle nur die Arbeiter, die nicht zur Familie gehören. Meine Schwestern, Brüder, Schwägerinnen, meine Kinder, wir arbeiten alle zusammen. Wir sind zu zehnt. 4. Kanpur: Familie Wasi (Muslime/Arbeiter) Kommentar: Kanpur ist eine Großstadt in Uttar Pradesh, einem Staat im Norden Indiens, östlich der Hauptstadt Dehli. Sie zählt mit seinen 4 Millionen Einwohnern zu den mittelgroßen Städten, im Vergleich zur Gesamtgröße der indischen Bevölkerung. Kanpur wurde durch die von den englischen Kolonialherren aufgebaute Textilindustrie bekannt und genoss lange Zeit großen Wohlstand. Kommentar: Mohamed Wasi, seine Frau Ishrat und ihre drei Kinder, Kushnuma, Mehbub und Gulfisha leben in einem der Arbeiterviertel von Kuli Bazaar. Sie zählen zu den 13% der Inder muslimischen Glaubens. Mohamed, ein ehemaliger Textilarbeiter, war vier Jahre arbeitslos. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 5 Wasi: Wir leben in 76 296 Ribbon Lane in Kuli Bazar. Die Menschen in diesem Viertel sind fast alle Muslime. Kushnuma: Ich gehe zur Schule. Ich habe verschiedene Fächer: Urdu, Hindi, Englisch, Mathe, Sozialkunde, mein Lieblingsfach ist Mathe. Meine Schule ist komplett muslimisch. Alle meine Freundinnen sind Musliminnen und die Lehrer ebenfalls. Es sind etwa zwanzig. Die Frauen sind alle muslimisch und es gibt auch zwei männliche Lehrer, die Muslime sind. Alles ist dort muslimisch. Ishrat: Das ist unser Haus. Es besteht nur aus einem Zimmer, das wir für alles nutzen: als Abstellkammer, Schlafzimmer und für alles andere. Hier essen und schlafen wir. Auch die Kinder schlafen und lernen in diesem Raum. Wir haben ein großes Problem mit dem Strom. Im Winter haben wir ein wenig, aber im Sommer wird es wirklich schwierig. Im Winter haben wir in der Nacht bis um sieben Uhr morgens Strom. Dann kommt er um drei Uhr nachmittags wieder. Aber im Sommer haben wir noch nicht einmal nachts Strom. Noch schlimmer wird es, wenn es in der Gegend einen Stromausfall gibt, dann haben wir eine Woche lang keinen Strom. Das ist wirklich ärgerlich, da wir dann zusätzlich noch ein Wasserproblem bekommen: Die Wasserpumpen funktionieren nicht mehr. Ishrat: Nun, da die Mädchen älter sind, lassen wir sie nicht mehr allein auf der Straße. Als sie noch klein waren, konnten wir sie draußen spielen lassen, aber sie machen das nicht mehr. Wir haben nicht viel Platz hier zum Spielen. Egal ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen hier bleiben. Wenn wir es uns leisten könnten, würden wir vielleicht wegziehen. Aber besser wird es ohnehin nicht. Wasi: Unsere Stadt Kanpur war sehr bekannt für ihre Textilfabriken. Es gab viele davon, und durch ihre Stilllegung wurden 100.000 Menschen arbeitslos. Wasi: In dieser Fabrik bekam ich 1981 eine Anstellung als Weber. Durch eine staatliche Anordnung steht die Produktion seit 1991 still, aber bis ins Jahr 2002 wurden die Leute immer noch bezahlt. Dann kam der bereits erwartete Ruhestandsplan. Nach und nach akzeptierten die Menschen ihn und verließen die Firma. Auch ich habe am Ende nachgegeben und bin 2002 gegangen. Wasi: Wenn ich an diesen Ort komme, kehren auch meine Erinnerungen zurück. Er erinnert mich daran, dass ich hier einmal Arbeit hatte. Wenn diese Fabrik gut gelaufen wäre, hätte ich eine Zukunft, aber heute sieht es nicht danach aus. Kommentar: Die Textilindustrie, die Kanpur einst zu einer florierenden Stadt machte, wanderte aufgrund fehlender Investitionen in Regionen Indiens ab, die über billigere Arbeitskräfte verfügen. Heutzutage treiben andere Branchen die indische Wirtschaft Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 6 voran, z.B. IT, Chemie oder Dienstleistung. Diese schaffen jedoch trotz ihres enormen Wachstums nur wenige Arbeitsplätze. Offiziell sind weiterhin 9% der Bevölkerung arbeitslos. 5. Zu Hause bei Familie Shah und Kaliemoti Harish: Wir ehren alle Götter, aber das erste Gebet wird immer Ganesh gewidmet. Sehen Sie, die Ganesh-Statue ist überall: in den Lobbies, in den Eingängen der Wohnungen. Er ist auf der ersten Seite des heiligen Buches. Wenn wir Geschäfte machen, steht er uns immer zur Seite. Will man Erfolg haben, muss man nur zu Ganesh beten und bekommt ihn. Kommentar: Die Wohnung der Familie liegt über dem Laden im letzten Stock des Hauses. Deena, Harishs Frau, versorgt Familie und Arbeiter. Deena: Ich mache Mandelmilch. Wir reiben das Baby damit ein, um seine Haut zu pflegen. Deena: Die Massage wird von einer Spezialistin durchgeführt, die jeden Morgen kommt. Ein anderer Diener kommt nachmittags und abends um zu spülen. Ich habe auch ein junges Mädchen, das uns den ganzen Tag hilft, sie räumt auf, schneidet Gemüse und putzt das Bad. Eine dritte Hilfskraft kommt täglich, um unsere Kleidung zu waschen und den Boden zu putzen. In Indien kann man sehr schnell Menschen für diese Arbeit finden. Hier müssen wir nicht selber arbeiten, es ist toll. Sagar: Er wird jetzt ins Bett gebracht. Während er schläft, ist er fest eingewickelt, damit er gerade wächst und später eine gute Haltung bekommt. Dieses Einwickeln ist Tradition bei uns. Es wird bis zum sechsten Lebensmonat durchgeführt. Kommentar: Obwohl es der Familie finanziell relativ gut geht, erledigt Kathenamba ihren Einkauf in staatlichen Läden, in denen die Grundnahrungsmittel vom Staat subventioniert werden. Kathenamba: Man muss eine Lebensmittelkarte vorzeigen, um Zucker, Mais und Reis kaufen zu können. Jedes Familienmitglied kann sie benutzen. Kathenamba: Mit der Karte ist es günstiger. Ein Kilo Reis kostet zum Beispiel zwei Rupien. Jeder hat das Recht, sie zu nutzen, nicht nur wir. Ich kann mir nicht leisten, in privaten Geschäften einzukaufen. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 7 Kathenamba: Wenn ich meine Kinder bitte, arbeiten zu gehen, fragen sie: „Warum sollten wir das tun?“ Und ich sage: „Weil ich selber nicht kann, ich bin nicht mehr stark genug. Wenn ihr arbeiten würdet, könntet ihr mir immerhin zehn Rupien geben, um Fleisch oder Fisch zu kaufen. Euer Vater gibt mir nie Geld. Ich wäre froh, wenn ihr mir ein wenig geben würdet.“ 6. Arbeiten in der Fabrik Kommentar: Und so arbeiten Kathenambas Zwillingssöhne Anu und Marudu seit sechs Monaten in einer Fabrik für Elektrogeräte. Die Fabrik ist eine von vielen, die sich im Süden Indiens niedergelassen haben. Die Gegend ist bekannt für ihre billigen und unkomplizierten Arbeitskräfte. Marudu: Wenn wir auf dem Feld arbeiten, würden wir kaum etwas verdienen. Wer jedoch hier arbeitet, kann eine Menge verdienen. Man kann Reis kaufen oder Dinge für das Haus. Mein Vater hätte gerne, dass wir auf dem Feld mithelfen, aber ich bin anderer Meinung. Wenn ich auf ihn hörte, würde ich am Ende beides machen. Anu: Ich persönlich würde gerne Traktorfahrer werden. Ich will nicht als Arbeiter in dieser Fabrik enden. Ich wäre lieber Landwirt. Marudu: Wir stellen Türen für Mikrowellen her. Wir bauen die Rahmen und liefern sie an Whirlpool. Wir arbeiten täglich acht Stunden, von sieben Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags. Wir verdienen 80 Rupien pro Tag und arbeiten sieben Tage die Woche in drei Schichten von jeweils acht Stunden, das ganze Jahr hindurch. Kommentar: Wie jeden Tag in der Teepause erzählen sich Anu und Marudu, dass sie fünf Monate arbeiten müssten, um eine dieser Mikrowellen zu kaufen, die sie auf dem Fließband produzieren. Kommentar: Nach dem Tee wartet ein weiteres Ritual auf sie... Chef: Wie ihr wisst, gibt es jeden Monat eine Belohnung für die besten Arbeiter. Wir sind eine kleine Firma und jeder gibt sein Bestes. Auch in einer Familie sind für die Eltern alle Kinder gleich. In der Fabrik ist es genauso. Von Februar bis April wird es ein wenig komplizierter, weil die Produktion erhöht wird. Wir müssen uns alle anstrengen, um dies zu erreichen. Schaffen wir das oder nicht? Wenn wir nur daran glauben, ist alles möglich, Männer! Nun freue ich mich, den Namen des besten Arbeiters zu nennen... Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 8 Kommentar: Es ist für die ausgewählten Arbeiter eine große Ehre, von dem Chef selbst einen industriell hergestellten Schokoladenkuchen überreicht zu bekommen. Wasi: Dieses Foto ist in der Fabrik gemacht worden. All diese Menschen arbeiteten hier, aber in unterschiedlichen Abteilungen. Das ist mein Onkel Mohamed Idris, das sind Murad Singh und Suradj und hier bin ich. Nachdem der Sozialplan in Kraft trat, haben einige auf diesem Bild keine gute Arbeit mehr gefunden. Manche begingen Selbstmord, andere wurden krank und starben früh. Es bedeutet uns viel, dieses Foto. Kommentar: Wie auch sein Vater ist Mohamed Wasi ein Aktivist der Kommunistischen Partei Indiens. Er war einer der Anführer beim Widerstand gegen die Schließungen der Fabriken. Wasi: Es gibt zwei Gruppen von Menschen auf der Welt: die Ausbeuter und die, die ausgebeutet werden. Die Mächtigen, die Reichen, die Kapitalisten beuten andere aus, indem sie die Religion als Machtmittel benutzen. 7. Religion Wasi: Ich bin Kommunist. Kommunisten glauben nicht auf wissenschaftlicher Ebene an Gott, aber das hält uns nicht davon ab, in die Moschee zu gehen und zu beten. Das ist Privatsache. Beten spendet Trost und macht uns Freude. Wasi: In Indien gibt es viele sehr gläubige Menschen. Religion hat einen hohen Stellenwert. Egal ob Muslim oder Hindu: Wird jemand verdächtigt, nicht gläubig zu sein, machen ihm seine Mitmenschen das Leben zur Hölle. Wasi: Ich kann nicht sagen, dass ich nicht an Gott glaube, wenn ich Mohamed Wasi heiße. Die Leute wissen, dass ich Muslim bin. Es wäre sonst unmöglich, in diesem Land zu leben. Harish: In Indien gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Religionen, aber wir sind Jain Hindus. Die Anhänger Mahaviras sind wie eine Familie. Wir glauben an Gewaltlosigkeit und Moral. Beide sind die Grundelemente unserer Religion. Dienen und Gehorsam zu sein, liegt uns im Blut. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 9 8. Heirat Harish: Wir gehören zu zwei Gruppen: den Indern und den Jain. Was uns von anderen unterscheidet, ist unser fundamentaler Glaube an absolute Gewaltlosigkeit. Niemals Gewalt. Kommentar: Neben ihrem Credo der Gewaltlosigkeit, sind die Jain bekannt für ihren Unternehmergeist und ihre Solidarität. Auf diese Weise können sie Tradition und Geschäft gut verbinden. Kommentar: Deena und Harish sind seit 27 Jahren verheiratet. Wie 99% aller Ehen in Indien, wurde auch ihre von den Eltern arrangiert. Die Hochzeit ist einer der Eckpfeiler des gesellschaftlichen Lebens. Harish: Wenn in Indien Mädchen und Jungen ins heiratsfähige Alter kommen, arrangieren die Eltern ihre Hochzeit. Die Ehe ist eine wichtige Institution in unserem Leben. Deena: Als meine Eltern meinen Lebensgefährten ausgesucht hatten, fragten sie: „Bist du zufrieden mit ihm oder nicht?“ In unserer Kultur bekommen wir den Partner zu sehen, heiraten ihn und verlieben uns erst dann. Ishrat: In der muslimischen Gemeinde werden Hochzeiten aus Liebe nicht gerne gesehen. Die Leute sagen: „Schau dir die an! Ihr Sohn verliebt sich und heiratet dann eine Außenstehende!“ Insgeheim denken wir aber, dass das nicht richtig ist. Ishrat: Liebesheiraten gibt es bei uns fast gar nicht. Falls es zufällig doch einmal passiert, sind es seltene Ausnahmen. Unsere Hochzeit war arrangiert. Unsere Familien sind entfernt miteinander verwandt, so kam es dazu. Sagar: Unsere Eltern haben entschieden, uns miteinander bekannt zu machen, und vereinbarten ein Treffen. Also haben wir uns ein paar Mal getroffen, um uns auszutauschen, und waren der Meinung, dass wir zusammenpassen. Es ist gut gelaufen: Die Familien haben sich getroffen und unsere Hochzeit verkündet. Auf diese Weise werden Ehen arrangiert. Seial: In unseren Familien waren die Eltern außerdem eng befreundet, so dass wir uns schon vorher gut kannten. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 10 Harish: Für meinen Sohn habe ich die Frau ausgesucht. Ich habe ihm gesagt, dass sie die Richtige ist. Falls man mit ihr zufrieden ist, macht man den nächsten Schritt, falls nicht, sollte man besser abbrechen. 9. Das Kastensystem Kommentar: Eine Hochzeit zu arrangieren, bedeutet vor allem, den zweiten Eckpfeiler der indischen Gesellschaft aufrecht zu erhalten: das Kastensystem. Von den Brahmanen bis zu den Daliten besteht das pyramidenförmig aufgebaute Kastensystem aus mehr als 5000 Gruppen, die sich aufgrund von sozialem Erbe, geographischer Herkunft oder Berufsständen bilden. Kaliemoti: Zu meines Vaters Zeiten, als ich noch klein war, arbeiteten die Dorfbewohner für die höheren Kasten. Sie trugen nur einen Lendenschurz und ein Tuch auf dem Kopf, keine Hemden. Sie arbeiteten wie Sklaven. Sie durften die Menschen der höheren Kaste nicht berühren, noch durften diese uns berühren. Wenn sie uns etwas gaben, stellten sie es auf den Boden und wir hoben es auf. Das Gleiche passierte mit Wasser. Sie gaben es uns nicht in einem Glas, sondern einfach so auf die Hand. Wenn sie uns gebeten hatten, etwas aus dem Geschäft zu besorgen, stellten wir es an den Eingang. Sie gossen dann ein wenig Wasser darüber, um es zu reinigen, und berührten es erst dann. Warum sie es reinigten? Weil wir es berührt hatten. Kaliemoti: Ich bin 48 Jahre, und heute sind die Dinge anders. Ich kann Hemd und Schuhe tragen. Ich kann mir einen Kugelschreiber in die Brusttasche stecken, ich kann in ihrem Laden einkaufen. Ich kann sie besuchen, sie können mich besuchen. Ich darf Wasser trinken. Jetzt sind wir gleich. Aber tief in ihnen glauben sie immer noch, dass sie uns besser nicht anfassen sollten. Wasi: Früher basierte das Kastensystem auf einer beruflichen Hierarchie, selbst für Muslime. Ich glaube, dass dieses System von der Oberschicht eingeführt und gefördert wurde, um ihre Machtposition aufrecht zu erhalten. Sagar: Wir gehören zu einer Kaste, die Kachchhis heißt. Jain ist unsere Religion, deshalb sind wir Kachchhi Jains. Kachchhi ist eine Gegend im Norden von Gujarat. In der Regel heiraten wir unter uns. Aber es wäre auch in Ordnung gewesen, ein Mädchen zu heiraten, das nicht Jain ist, egal ob aus Maharastra, Punjab oder eben nicht aus Kachchhi. Seial: In manchen Gegenden Indiens wird so etwas nicht akzeptiert. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 11 Sagar: Es wird nicht akzeptiert und es herrscht große Distanz zwischen zwei Kasten oder Religionen, weil sie unterschiedliche Sprachen sprechen, einen anderen Lebensstil haben. Seial: Das Essen ist völlig anders, das Leben ist völlig anders und die Art wie wir sprechen ebenfalls. Sie sprechen wahrscheinlich irgendeine andere Sprache. Wir sprechen Kachchhi, deshalb wird selbst das zu einer Hürde. Meine Familie ist auch aus Kachchhi, und weil mir deshalb viele Dinge bereits vertraut sind, fällt es mir leichter mich anzupassen. Wenn ich in eine andere Kaste geheiratet hätte, hätte ich nicht einmal gewusst, was sie dort essen. Kaliemoti: Heutzutage herrscht Gleichberechtigung. Man kann Mädchen aus einer anderen Kaste heiraten, und sie können ebenso jemanden aus unserer Kaste wählen. Falls so etwas passieren sollte, wäre ich nicht dagegen, ich würde mich anpassen. Harish: Die Hochzeit hat immer noch einen hohen Stellenwert. Kaste und Religion sind dabei die Hauptfaktoren. Wenn man die Bräuche kennt, kann man sich besser anpassen. Wenn nicht, muss man sich erneut an alles gewöhnen. 10. Der Status der Frauen Kathenamba: Ich war im fünften Monat schwanger. Unsere Eltern baten meinen zukünftigen Mann, mich zu heiraten. Er wollte nicht. Aber sie arrangierten die Hochzeit und zwangen ihn dazu. Wir luden Leute ein und feierten im Tempel. Dann brachte er mich ins Haus. Erst waren wir glücklich, aber sobald meine erste Tochter auf der Welt war, fing er an, mich zu schlagen. Bei meiner zweiten Tochter war es genauso. Und als meine dritte Tochter geboren wurde, tat er es wieder. Kathenamba: Mein erstes Kind fing an laufen zu lernen, aber mein Mann berührte es nie, weil es ein Mädchen mit dunkler Haut war. „Ich kann sie nicht anfassen“, sagte er. Es war gerade November und Monsunzeit, deshalb brachten wir unser Heu im geschützten Eingangsbereich des Hauses unter. Ich ließ meine Tochter alleine zu Hause, ich hatte Hunger, deshalb musste ich nach draußen gehen. Als ich wieder kam, suchte ich überall nach ihr, um sie zu stillen, konnte sie aber nirgends finden. An jenem Tag hatte ich ein wenig Chilipulver vorbereitet. Mein Mann hatte meiner Tochter das Pulver in den Mund gerieben und sie dann unter das Heu geworfen. Ich habe sie überall gesucht und saß da und weinte. Plötzlich hörte ich sie schreien und grub sie aus dem Heu. Ihr Mund war komplett geschwollen, und sie war fast ohnmächtig. Meine vierte Schwangerschaft brachte mir die Zwillinge. Seit ich die Jungen habe, behandelt er mich gut. Jetzt gibt es keine Probleme mehr. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 12 Kommentar: In Indien kann die Geburt eines Mädchens, besonders für schlecht gestellte Haushalte, verheerende Folgen haben. Grund dafür ist die unvermeidbare Mitgift die bei einer Hochzeit auf die Familie der Frau zukommt. Diese recht junge und kostspielige Tradition stürzt solche Familien noch mehr ins Elend. Ca. zehn Millionen Mädchen wurden in Indien in den letzten zwanzig Jahren entweder vor oder nach der Geburt „aus dem Weg geschafft.“ Ishrat: Ich trage draußen immer meine Burka, weil unsere Gesellschaft dies so vorschreibt. Wenn man aus dem Haus geht, muss man den Schleier schließen. Um die Blicke der Männer in unser Gesicht zu vermeiden, setzen wir den Gesichtsschleier auf. Ishrat: Ich persönlich würde ihn gerne abnehmen, aber da meine Schwiegermutter und alle anderen Frauen ihn tragen, muss ich es auch tun. Es ist unmöglich, ihn nicht zu tragen. Kommentar: Ishrat arbeitet ein Mal pro Woche ehrenamtlich bei einem Verein für Frauenrechte. Ishrat: Im Moment ist die Situation der Frauen schlechter denn je, weil die Fabriken geschlossen wurden. Wenn es keine Arbeit gibt, leiden auch Frauen unter den Folgen. Ishrat: Wir sind der Meinung, dass es Gesundheitszentren für Frauen geben sollte. Es gab einige, aber sie sind geschlossen. Sie sollten wieder geöffnet werden und alle Frauen zulassen. Für junge Mädchen sollte es gebührenfreie Schulen geben. 11. Die Reisernte Kathenamba: Nach hier kommen wir, um zu beten. Hier feiern wir das Pongalfest. Wir bringen Opfergaben, zum Beispiel Zuckerrohr. Kommentar: Heute ist ein großer Tag in Nellianur und im ganzen Süden Indiens. Es ist Pongal, ein indisches Erntedankfest zur Reisernte. Jeder hilft fleißig bei der Dekoration des Dorfes und der Ochsen. Kaliemoti: Ich wasche gerade meine Kuh. Später werden wir die Opfergaben für das Pongalfest zusammenstellen. So findet das schon seit Generationen hier statt. Danach beten wir zu den Göttern für eine gute Reisernte. Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 13 Kaliemoti: Die Russen, die Amerikaner und die Japaner feiern Silvester mit Feuerwerken und Knallkörpern. Das ist gefährlich! Hier in Tamil Nadu gibt es eine andere Tradition. Wir feiern Neujahr ruhig. Wir gehen in den Tempel und beten. Ich persönlich genieße unsere Traditionen sehr. Kathenamba: Ich kenne nur den Bundesstaat Tamil Nadu. Andere Teile Indiens, wie Kerala oder Karnataka habe ich nie gesehen. Ich kenne nur Tamil Nadu. Ich kenne nicht einmal die Nummern der Busse, ich weiß nicht, wo sie hinfahren. Ich steige einfach ein und setze mich hin, das ist alles. Das kommt, weil ich nichts gelernt habe. 12. Pläne und Träume für die Zukunft Kommentar: Fest verbunden mit seinen Traditionen, Festen, Hochzeiten und Ritualen, steht Indien am Rande eines großen gesellschaftlichen Umbruchs, der das Leben seiner Einwohner nachhaltig verändern wird. Wie werden die Menschen diesen Wandel erleben? Wie sehen sie sich in dieser neuen Welt? Kommentar: Die verlassenen Fabrikgebäude dienen dem ehemaligen Weber als Investitionsquelle für sein Pensionsgeld. gute Wasi: Das ist die Gangesregion in Kanpur, an der Kreuzung der Dag Fabrik. Hier gibt es viel Geschäftspotential, deshalb habe ich eine Ladenfläche gekauft. Wasi: Wir können uns nicht entscheiden, welche Art von Geschäft wir eröffnen möchten. Es gibt viele Möglichkeiten: Großhandel, Kleidung, Elektroartikel, Lebensmittel, Schreibwaren... Wenn die anderen Läden hier in der Gegend aufmachen, entscheiden wir uns für das Gewerbe, das am besten läuft. Harish: Seit einiger Zeit dreht sich in Bombay alles um riesige Einkaufszentren. Supermärkte, Einkaufszentren, große Lagerverkäufe. Das ist die Globalisierung. All die großen internationalen Unternehmen, wie zum Beispiel Walmart und Shoprite, drängen auf den Markt. Wenn es von Tag zu Tag mehr dieser Giganten gibt, müssen die kleinen Einzelhändler irgendwann schließen. Sagar: Diese blaue Fläche ist unser Laden. Der rote Teil ist der geplante Anbau. Ich denke, wir werden genug Platz für einen guten mittelgroßen Supermarkt haben. Er ist nur für den Verkauf bestimmt. Es gibt Selbstbedienungsregale, Computersysteme... Insgesamt wird er viel professioneller und wird eine bessere Atmosphäre haben. Die Kunden können die Produkte selbst aus dem Regal nehmen, anfassen, prüfen, die Lingua-Video.com Ubierstraße 94 53173 Bonn Tel: 0228/85 46 95-0 Fax: 0228/85 46 95-79 14 Preise vergleichen. Sie benutzen einen Einkaufswagen für ihren Wochenendeinkauf, bezahlen und gehen nach Hause. Das ist die Idee, die mir vorschwebt. Harish: Sobald wir das neue Konzept eingeführt haben, werden wir weniger Arbeitskraft benötigen, um das Geschäft zu führen. Wir werden vermehrt mit Computersystemen arbeiten und können auf diese Weise die Kunden schneller bedienen. Kaliemoti: Ich habe für meine Söhne Land gekauft, damit sie ein Haus bauen können. Ich möchte, dass sie ein besseres Leben haben als ich. Ich hatte schon ein besseres Leben als mein Vater. Ich bin zu 90% zufrieden mit meinem Leben. Es geht mir gut, aber ich möchte, dass es meinen Söhnen noch besser geht. Kathenamba: Bevor ich sterbe, möchte ich, dass meine Kinder ein einfaches Steinhaus besitzen. Ich würde auch gerne ihre Hochzeit miterleben. Mehr habe ich nicht zu sagen. Deena: Ich habe alles, was sich eine Frau wünschen kann. Ich habe mein Haus, meine Söhne, den Laden, meine Schwiegertochter ist sehr nett; ich wüsste nicht, was mir fehlen sollte. Ich habe eine glückliche Zukunft vor mir. Alles was ich mir wünschen könnte, ist, dass mein Leben nicht traurig wird. Ishrat: Mein Traum war es, meine Kinder auf eine englischsprachige Schule zu schicken. Wir hatten große Pläne für sie, aber da wir zuwenig Geld haben, können wir ihnen keine Ausbildung an einer renommierten Schule bieten. Ishrat: Nur wenn man Geld hat, kann man träumen und sich die Zukunft ausmalen. Wir haben bereits mit der Ausbildung unserer Kinder ein Problem, deshalb kommen weitere persönliche Träume für uns nicht in Frage. Wir würden sehr gerne ein Haus kaufen, weil das Leben hier wirklich hart ist. 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