drei familien in indien - Lingua

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DREI FAMILIEN IN INDIEN
Vollständiger Filmtext in deutscher Sprache
DREI FAMILIEN IN INDIEN
Vollständiger Filmtext in deutscher Sprache
1. Prolog
3
2. Bombay: Familie Shah (Jain Hindus/Händler)
3
3. Pondichery: Familie Kaliemoti (Tamilen/Bauern)
4
4. Kanpur: Familie Wasi (Muslime/Arbeiter)
5
5. Zu Hause bei Familie Shah und Kaliemoti
7
6. Arbeiten in der Fabrik
8
7. Religion
9
8. Heirat
10
9. Das Kastensystem
11
10. Der Status der Frauen
12
11. Die Reisernte
13
12. Pläne und Träume für die Zukunft
14
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1. Prolog
Kommentar:
Das Land, wo zu Beginn eines Kinofilms die indische Flagge gehisst wird und die
Zuschauer zu den Klängen der Nationalhymne aufstehen, ist Indien. Dieses Land,
mit mehr als einer Milliarde Einwohner, ist die größte Demokratie der Welt.
Kommentar:
Indien hat eine jahrtausende alte Zivilisation, die den radikalen Umbrüchen der
modernen Welt gegenübersteht. Das daraus entstehende Zukunftsszenario
entspricht nicht unbedingt einer sentimentalen Bollywood-Komödie.
Kommentar:
Das Alltagsleben normaler Menschen zeigt gesellschaftliche Veränderungen sehr
genau. In drei verschiedenen Regionen und drei unterschiedlichen sozialen
Umfeldern öffnen drei Familien ihre Türen. Eine Familie lebt in der Nähe von
Pondichery, die zweite weiter nördlich in Kanpur, die dritte in Mumbai. Ihre
Erfahrungen leisten einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis des
Landes.
2. Bombay: Familie Shah (Jain Hindus/Händler)
Kommentar:
Mit 18 Millionen Einwohnern ist Bombay die größte Stadt Indiens und das
wirtschaftliche Zentrum des Landes.
Kommentar:
Familie Shah lebt in Chembur, einer aufstrebenden Wohngegend im Nordosten
Bombays. Harish und seine Frau Deena haben zwei Söhne und einen drei Monate
alten Enkel. Sie sind Jain Hindus und Besitzer eines großen, in der Gegend sehr
bekannten Supermarktes.
Harish:
Wenn ein Kunde in den Laden kommt, geht er zuerst an diese Theke, um seine
Bestellung aufzugeben und die Rechnung zu erhalten. Diese wird hier an der Kasse
bezahlt. Anschließend geht er hier herüber. Die Männer suchen seine Ware
zusammen, haken sie auf der Liste ab und geben sie dem Kunden.
Harish:
Wir sind ein Einzelhandel und verkaufen Lebensmittel. Man könnte sagen, wir
versorgen die Menschen, indem wir ihnen die notwendigen Dinge des täglichen
Lebens anbieten. Mein Personal besteht aus mehr als fünfzig Mitarbeitern:
Reinigungskräfte, Buchhalter, Verkäufer, Angestellte in den unterschiedlichen
Verkaufsabteilungen, Verpackungshelfer und Auslieferer. Mit allen zusammen sind
wir mehr als fünfzig Personen.
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Harish:
Das ist mein Großvater, Herr Tokasi Marek, hier ist mein Vater, Herr Gavubai Tokasi,
der Gründer unseres Unternehmens und das ist meine Mutter, Frau Matuse Tejemai.
Mein Vater hat gute Arbeit für uns geleistet. Er hat das Geschäft aufgebaut und an
uns weitergegeben. Das Einzige, was wir tun müssen, ist es fortzuführen.
Sagar:
Ich bin der Enkel des Geschäftsgründers. Ich bin in Mumbai in die Grundschule
gegangen und habe anschließend in Melbourne, Australien meinen Schulabschluss
gemacht und BWL studiert. Nach meiner Rückkehr bin ich ins Geschäft meines Vater
eingestiegen.
Sagar:
Wenn wir eine Lieferung bekommen, wird die Ware zuerst in dieser Maschine
gewaschen und dann von den Frauen handverlesen. Danach kommt alles in die
Verpackungsabteilung, wo Angestellte in Schichtarbeit je nach Bedarf
unterschiedliche Größen abpacken, die wir im Keller unter dem Geschäft lagern.
Sagar:
Wir haben eine besondere Beziehung zu unseren Kunden. Für uns sind es keine
Kunden, sondern Freunde. Diese Einstellung hat unser Geschäft über die Zeit
wachsen lassen. Man schätzt uns dafür.
3. Pondichery: Familie Kaliemoti (Tamilen/Bauern)
Kommentar:
Dreißig Kilometer westlich von Pondichery liegt Nellianur, ein einfaches Dorf im
Bundesstaat Tamil Nadu. Hier leben Kaliemoti, seine Frau Kathenamba und ihre
beiden Söhne Anu und Marudu. Die beiden älteren Töchter haben das Elternhaus
bereits verlassen. Sie sind Tamilen, von der Dalit Kaste, der niedrigsten in Indien. Sie
sind jene, deren sogenannte Unreinheit sie noch vor kurzem zu Unberührbaren
machte.
Kommentar:
Kaliemoti ist 48 und von Beruf Bauer. Zusammen mit seinen zwei Brüdern besitzt er
15 Morgen Land, auf denen sie Reis, Linsen und Zuckerrohr anbauen.
Kaliemoti:
Der Boden hier ist sehr gut, ideal für den Reisanbau. Um einen Morgen Land zu
bearbeiten, brauche ich zehn Leute. Ich bezahle sie bar, nicht in Naturalien. 80
Rupien am Tag für die Männer und 50 für die Frauen. Von sieben Uhr morgens bis
zum Mittag.
Kaliemoti:
Ich besitze eine eigene Wasserpumpe, damit ich mich den Regenzeiten anpassen
kann.
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Kathenamba:
Meine Schwiegereltern haben dieses Haus gebaut. Wir leben hier seit 25 Jahren: die
Familie, mein Mann und die Kinder.
Kathenamba:
Wir essen Fisch, Fleisch und getrockneten Fisch. Wir trinken wenig Milch, weil sie
sehr knapp ist. Wir essen Krabben, Fladenbrot, Kartoffeln, das ist alles. Dreimal am
Tag essen wir klebrigen Reis... dreimal am Tag.
Kathenamba:
Das ist das Bett meines Mannes. Wir anderen schlafen auf dem Boden. Das hier sind
meine Tochter, meine Schwägerin, ihr Mann, meine Schwiegermutter, mein Mann als
er jung war, mein Schwiegervater, der bereits tot ist, Nehru, Indira Gandhi und die
Uhr. Das ist der Fernseher. Wir schauen von hier aus, wir setzen uns hin und
schauen von hier.
Kathenamba:
Das ist das Zimmer, in dem wir zu Gott beten. Wir legen Opfergaben auf den Boden.
Wir beten hier.
Kaliemoti:
Mein Vater hat mir alles über Landwirtschaft beigebracht. Zu seiner Zeit war es
schwer, an Wasser zu kommen. Sie bauten nur eine Sorte Reis an und arbeiteten mit
Ochsen. Es dauerte eine Woche bis ein Morgen Land gepflügt war. Heutzutage kann
ich drei Sorten Reis anbauen, habe reichlich Wasser und die Hilfe meines Traktors,
deshalb geht alles viel schneller.
Kaliemoti:
Ich bezahle meine Familie nicht, ich bezahle nur die Arbeiter, die nicht zur Familie
gehören. Meine Schwestern, Brüder, Schwägerinnen, meine Kinder, wir arbeiten alle
zusammen. Wir sind zu zehnt.
4. Kanpur: Familie Wasi (Muslime/Arbeiter)
Kommentar:
Kanpur ist eine Großstadt in Uttar Pradesh, einem Staat im Norden Indiens, östlich
der Hauptstadt Dehli. Sie zählt mit seinen 4 Millionen Einwohnern zu den
mittelgroßen Städten, im Vergleich zur Gesamtgröße der indischen Bevölkerung.
Kanpur wurde durch die von den englischen Kolonialherren aufgebaute
Textilindustrie bekannt und genoss lange Zeit großen Wohlstand.
Kommentar:
Mohamed Wasi, seine Frau Ishrat und ihre drei Kinder, Kushnuma, Mehbub und
Gulfisha leben in einem der Arbeiterviertel von Kuli Bazaar. Sie zählen zu den 13%
der Inder muslimischen Glaubens. Mohamed, ein ehemaliger Textilarbeiter, war vier
Jahre arbeitslos.
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Wasi:
Wir leben in 76 296 Ribbon Lane in Kuli Bazar. Die Menschen in diesem Viertel sind
fast alle Muslime.
Kushnuma:
Ich gehe zur Schule. Ich habe verschiedene Fächer: Urdu, Hindi, Englisch, Mathe,
Sozialkunde, mein Lieblingsfach ist Mathe. Meine Schule ist komplett muslimisch.
Alle meine Freundinnen sind Musliminnen und die Lehrer ebenfalls. Es sind etwa
zwanzig. Die Frauen sind alle muslimisch und es gibt auch zwei männliche Lehrer,
die Muslime sind. Alles ist dort muslimisch.
Ishrat:
Das ist unser Haus. Es besteht nur aus einem Zimmer, das wir für alles nutzen: als
Abstellkammer, Schlafzimmer und für alles andere. Hier essen und schlafen wir.
Auch die Kinder schlafen und lernen in diesem Raum. Wir haben ein großes Problem
mit dem Strom. Im Winter haben wir ein wenig, aber im Sommer wird es wirklich
schwierig. Im Winter haben wir in der Nacht bis um sieben Uhr morgens Strom. Dann
kommt er um drei Uhr nachmittags wieder. Aber im Sommer haben wir noch nicht
einmal nachts Strom. Noch schlimmer wird es, wenn es in der Gegend einen
Stromausfall gibt, dann haben wir eine Woche lang keinen Strom. Das ist wirklich
ärgerlich, da wir dann zusätzlich noch ein Wasserproblem bekommen: Die
Wasserpumpen funktionieren nicht mehr.
Ishrat:
Nun, da die Mädchen älter sind, lassen wir sie nicht mehr allein auf der Straße. Als
sie noch klein waren, konnten wir sie draußen spielen lassen, aber sie machen das
nicht mehr. Wir haben nicht viel Platz hier zum Spielen. Egal ob es uns gefällt oder
nicht, wir müssen hier bleiben. Wenn wir es uns leisten könnten, würden wir vielleicht
wegziehen. Aber besser wird es ohnehin nicht.
Wasi:
Unsere Stadt Kanpur war sehr bekannt für ihre Textilfabriken. Es gab viele davon,
und durch ihre Stilllegung wurden 100.000 Menschen arbeitslos.
Wasi:
In dieser Fabrik bekam ich 1981 eine Anstellung als Weber. Durch eine staatliche
Anordnung steht die Produktion seit 1991 still, aber bis ins Jahr 2002 wurden die
Leute immer noch bezahlt. Dann kam der bereits erwartete Ruhestandsplan. Nach
und nach akzeptierten die Menschen ihn und verließen die Firma. Auch ich habe am
Ende nachgegeben und bin 2002 gegangen.
Wasi:
Wenn ich an diesen Ort komme, kehren auch meine Erinnerungen zurück. Er erinnert
mich daran, dass ich hier einmal Arbeit hatte. Wenn diese Fabrik gut gelaufen wäre,
hätte ich eine Zukunft, aber heute sieht es nicht danach aus.
Kommentar:
Die Textilindustrie, die Kanpur einst zu einer florierenden Stadt machte, wanderte
aufgrund fehlender Investitionen in Regionen Indiens ab, die über billigere
Arbeitskräfte verfügen. Heutzutage treiben andere Branchen die indische Wirtschaft
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voran, z.B. IT, Chemie oder Dienstleistung. Diese schaffen jedoch trotz ihres
enormen Wachstums nur wenige Arbeitsplätze. Offiziell sind weiterhin 9% der
Bevölkerung arbeitslos.
5. Zu Hause bei Familie Shah und Kaliemoti
Harish:
Wir ehren alle Götter, aber das erste Gebet wird immer Ganesh gewidmet. Sehen
Sie, die Ganesh-Statue ist überall: in den Lobbies, in den Eingängen der
Wohnungen. Er ist auf der ersten Seite des heiligen Buches. Wenn wir Geschäfte
machen, steht er uns immer zur Seite. Will man Erfolg haben, muss man nur zu
Ganesh beten und bekommt ihn.
Kommentar:
Die Wohnung der Familie liegt über dem Laden im letzten Stock des Hauses. Deena,
Harishs Frau, versorgt Familie und Arbeiter.
Deena:
Ich mache Mandelmilch. Wir reiben das Baby damit ein, um seine Haut zu pflegen.
Deena:
Die Massage wird von einer Spezialistin durchgeführt, die jeden Morgen kommt. Ein
anderer Diener kommt nachmittags und abends um zu spülen. Ich habe auch ein
junges Mädchen, das uns den ganzen Tag hilft, sie räumt auf, schneidet Gemüse
und putzt das Bad. Eine dritte Hilfskraft kommt täglich, um unsere Kleidung zu
waschen und den Boden zu putzen. In Indien kann man sehr schnell Menschen für
diese Arbeit finden. Hier müssen wir nicht selber arbeiten, es ist toll.
Sagar:
Er wird jetzt ins Bett gebracht. Während er schläft, ist er fest eingewickelt, damit er
gerade wächst und später eine gute Haltung bekommt. Dieses Einwickeln ist
Tradition bei uns. Es wird bis zum sechsten Lebensmonat durchgeführt.
Kommentar:
Obwohl es der Familie finanziell relativ gut geht, erledigt Kathenamba ihren Einkauf
in staatlichen Läden, in denen die Grundnahrungsmittel vom Staat subventioniert
werden.
Kathenamba:
Man muss eine Lebensmittelkarte vorzeigen, um Zucker, Mais und Reis kaufen zu
können. Jedes Familienmitglied kann sie benutzen.
Kathenamba:
Mit der Karte ist es günstiger. Ein Kilo Reis kostet zum Beispiel zwei Rupien. Jeder
hat das Recht, sie zu nutzen, nicht nur wir. Ich kann mir nicht leisten, in privaten
Geschäften einzukaufen.
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Kathenamba:
Wenn ich meine Kinder bitte, arbeiten zu gehen, fragen sie: „Warum sollten wir das
tun?“ Und ich sage: „Weil ich selber nicht kann, ich bin nicht mehr stark genug. Wenn
ihr arbeiten würdet, könntet ihr mir immerhin zehn Rupien geben, um Fleisch oder
Fisch zu kaufen. Euer Vater gibt mir nie Geld. Ich wäre froh, wenn ihr mir ein wenig
geben würdet.“
6. Arbeiten in der Fabrik
Kommentar:
Und so arbeiten Kathenambas Zwillingssöhne Anu und Marudu seit sechs Monaten
in einer Fabrik für Elektrogeräte. Die Fabrik ist eine von vielen, die sich im Süden
Indiens niedergelassen haben. Die Gegend ist bekannt für ihre billigen und
unkomplizierten Arbeitskräfte.
Marudu:
Wenn wir auf dem Feld arbeiten, würden wir kaum etwas verdienen. Wer jedoch hier
arbeitet, kann eine Menge verdienen. Man kann Reis kaufen oder Dinge für das
Haus. Mein Vater hätte gerne, dass wir auf dem Feld mithelfen, aber ich bin anderer
Meinung. Wenn ich auf ihn hörte, würde ich am Ende beides machen.
Anu:
Ich persönlich würde gerne Traktorfahrer werden. Ich will nicht als Arbeiter in dieser
Fabrik enden. Ich wäre lieber Landwirt.
Marudu:
Wir stellen Türen für Mikrowellen her. Wir bauen die Rahmen und liefern sie an
Whirlpool. Wir arbeiten täglich acht Stunden, von sieben Uhr morgens bis drei Uhr
nachmittags. Wir verdienen 80 Rupien pro Tag und arbeiten sieben Tage die Woche
in drei Schichten von jeweils acht Stunden, das ganze Jahr hindurch.
Kommentar:
Wie jeden Tag in der Teepause erzählen sich Anu und Marudu, dass sie fünf Monate
arbeiten müssten, um eine dieser Mikrowellen zu kaufen, die sie auf dem Fließband
produzieren.
Kommentar:
Nach dem Tee wartet ein weiteres Ritual auf sie...
Chef:
Wie ihr wisst, gibt es jeden Monat eine Belohnung für die besten Arbeiter. Wir sind
eine kleine Firma und jeder gibt sein Bestes. Auch in einer Familie sind für die Eltern
alle Kinder gleich. In der Fabrik ist es genauso. Von Februar bis April wird es ein
wenig komplizierter, weil die Produktion erhöht wird. Wir müssen uns alle
anstrengen, um dies zu erreichen. Schaffen wir das oder nicht? Wenn wir nur daran
glauben, ist alles möglich, Männer! Nun freue ich mich, den Namen des besten
Arbeiters zu nennen...
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Kommentar:
Es ist für die ausgewählten Arbeiter eine große Ehre, von dem Chef selbst einen
industriell hergestellten Schokoladenkuchen überreicht zu bekommen.
Wasi:
Dieses Foto ist in der Fabrik gemacht worden. All diese Menschen arbeiteten hier,
aber in unterschiedlichen Abteilungen. Das ist mein Onkel Mohamed Idris, das sind
Murad Singh und Suradj und hier bin ich. Nachdem der Sozialplan in Kraft trat,
haben einige auf diesem Bild keine gute Arbeit mehr gefunden. Manche begingen
Selbstmord, andere wurden krank und starben früh. Es bedeutet uns viel, dieses
Foto.
Kommentar:
Wie auch sein Vater ist Mohamed Wasi ein Aktivist der Kommunistischen Partei
Indiens. Er war einer der Anführer beim Widerstand gegen die Schließungen der
Fabriken.
Wasi:
Es gibt zwei Gruppen von Menschen auf der Welt: die Ausbeuter und die, die
ausgebeutet werden. Die Mächtigen, die Reichen, die Kapitalisten beuten andere
aus, indem sie die Religion als Machtmittel benutzen.
7. Religion
Wasi:
Ich bin Kommunist. Kommunisten glauben nicht auf wissenschaftlicher Ebene an
Gott, aber das hält uns nicht davon ab, in die Moschee zu gehen und zu beten. Das
ist Privatsache. Beten spendet Trost und macht uns Freude.
Wasi:
In Indien gibt es viele sehr gläubige Menschen. Religion hat einen hohen Stellenwert.
Egal ob Muslim oder Hindu: Wird jemand verdächtigt, nicht gläubig zu sein, machen
ihm seine Mitmenschen das Leben zur Hölle.
Wasi:
Ich kann nicht sagen, dass ich nicht an Gott glaube, wenn ich Mohamed Wasi heiße.
Die Leute wissen, dass ich Muslim bin. Es wäre sonst unmöglich, in diesem Land zu
leben.
Harish:
In Indien gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Religionen, aber wir sind Jain
Hindus. Die Anhänger Mahaviras sind wie eine Familie. Wir glauben an
Gewaltlosigkeit und Moral. Beide sind die Grundelemente unserer Religion. Dienen
und Gehorsam zu sein, liegt uns im Blut.
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8. Heirat
Harish:
Wir gehören zu zwei Gruppen: den Indern und den Jain. Was uns von anderen
unterscheidet, ist unser fundamentaler Glaube an absolute Gewaltlosigkeit. Niemals
Gewalt.
Kommentar:
Neben ihrem Credo der Gewaltlosigkeit, sind die Jain bekannt für ihren
Unternehmergeist und ihre Solidarität. Auf diese Weise können sie Tradition und
Geschäft gut verbinden.
Kommentar:
Deena und Harish sind seit 27 Jahren verheiratet. Wie 99% aller Ehen in Indien,
wurde auch ihre von den Eltern arrangiert. Die Hochzeit ist einer der Eckpfeiler des
gesellschaftlichen Lebens.
Harish:
Wenn in Indien Mädchen und Jungen ins heiratsfähige Alter kommen, arrangieren
die Eltern ihre Hochzeit. Die Ehe ist eine wichtige Institution in unserem Leben.
Deena:
Als meine Eltern meinen Lebensgefährten ausgesucht hatten, fragten sie: „Bist du
zufrieden mit ihm oder nicht?“ In unserer Kultur bekommen wir den Partner zu sehen,
heiraten ihn und verlieben uns erst dann.
Ishrat:
In der muslimischen Gemeinde werden Hochzeiten aus Liebe nicht gerne gesehen.
Die Leute sagen: „Schau dir die an! Ihr Sohn verliebt sich und heiratet dann eine
Außenstehende!“ Insgeheim denken wir aber, dass das nicht richtig ist.
Ishrat:
Liebesheiraten gibt es bei uns fast gar nicht. Falls es zufällig doch einmal passiert,
sind es seltene Ausnahmen. Unsere Hochzeit war arrangiert. Unsere Familien sind
entfernt miteinander verwandt, so kam es dazu.
Sagar:
Unsere Eltern haben entschieden, uns miteinander bekannt zu machen, und
vereinbarten ein Treffen. Also haben wir uns ein paar Mal getroffen, um uns
auszutauschen, und waren der Meinung, dass wir zusammenpassen. Es ist gut
gelaufen: Die Familien haben sich getroffen und unsere Hochzeit verkündet. Auf
diese Weise werden Ehen arrangiert.
Seial:
In unseren Familien waren die Eltern außerdem eng befreundet, so dass wir uns
schon vorher gut kannten.
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Harish:
Für meinen Sohn habe ich die Frau ausgesucht. Ich habe ihm gesagt, dass sie die
Richtige ist. Falls man mit ihr zufrieden ist, macht man den nächsten Schritt, falls
nicht, sollte man besser abbrechen.
9. Das Kastensystem
Kommentar:
Eine Hochzeit zu arrangieren, bedeutet vor allem, den zweiten Eckpfeiler der
indischen Gesellschaft aufrecht zu erhalten: das Kastensystem. Von den Brahmanen
bis zu den Daliten besteht das pyramidenförmig aufgebaute Kastensystem aus mehr
als 5000 Gruppen, die sich aufgrund von sozialem Erbe, geographischer Herkunft
oder Berufsständen bilden.
Kaliemoti:
Zu meines Vaters Zeiten, als ich noch klein war, arbeiteten die Dorfbewohner für die
höheren Kasten. Sie trugen nur einen Lendenschurz und ein Tuch auf dem Kopf,
keine Hemden. Sie arbeiteten wie Sklaven. Sie durften die Menschen der höheren
Kaste nicht berühren, noch durften diese uns berühren. Wenn sie uns etwas gaben,
stellten sie es auf den Boden und wir hoben es auf. Das Gleiche passierte mit
Wasser. Sie gaben es uns nicht in einem Glas, sondern einfach so auf die Hand.
Wenn sie uns gebeten hatten, etwas aus dem Geschäft zu besorgen, stellten wir es
an den Eingang. Sie gossen dann ein wenig Wasser darüber, um es zu reinigen, und
berührten es erst dann. Warum sie es reinigten? Weil wir es berührt hatten.
Kaliemoti:
Ich bin 48 Jahre, und heute sind die Dinge anders. Ich kann Hemd und Schuhe
tragen. Ich kann mir einen Kugelschreiber in die Brusttasche stecken, ich kann in
ihrem Laden einkaufen. Ich kann sie besuchen, sie können mich besuchen. Ich darf
Wasser trinken. Jetzt sind wir gleich. Aber tief in ihnen glauben sie immer noch, dass
sie uns besser nicht anfassen sollten.
Wasi:
Früher basierte das Kastensystem auf einer beruflichen Hierarchie, selbst für
Muslime. Ich glaube, dass dieses System von der Oberschicht eingeführt und
gefördert wurde, um ihre Machtposition aufrecht zu erhalten.
Sagar:
Wir gehören zu einer Kaste, die Kachchhis heißt. Jain ist unsere Religion, deshalb
sind wir Kachchhi Jains. Kachchhi ist eine Gegend im Norden von Gujarat. In der
Regel heiraten wir unter uns. Aber es wäre auch in Ordnung gewesen, ein Mädchen
zu heiraten, das nicht Jain ist, egal ob aus Maharastra, Punjab oder eben nicht aus
Kachchhi.
Seial:
In manchen Gegenden Indiens wird so etwas nicht akzeptiert.
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Sagar:
Es wird nicht akzeptiert und es herrscht große Distanz zwischen zwei Kasten oder
Religionen, weil sie unterschiedliche Sprachen sprechen, einen anderen Lebensstil
haben.
Seial:
Das Essen ist völlig anders, das Leben ist völlig anders und die Art wie wir sprechen
ebenfalls. Sie sprechen wahrscheinlich irgendeine andere Sprache. Wir sprechen
Kachchhi, deshalb wird selbst das zu einer Hürde. Meine Familie ist auch aus
Kachchhi, und weil mir deshalb viele Dinge bereits vertraut sind, fällt es mir leichter
mich anzupassen. Wenn ich in eine andere Kaste geheiratet hätte, hätte ich nicht
einmal gewusst, was sie dort essen.
Kaliemoti:
Heutzutage herrscht Gleichberechtigung. Man kann Mädchen aus einer anderen
Kaste heiraten, und sie können ebenso jemanden aus unserer Kaste wählen. Falls
so etwas passieren sollte, wäre ich nicht dagegen, ich würde mich anpassen.
Harish:
Die Hochzeit hat immer noch einen hohen Stellenwert. Kaste und Religion sind dabei
die Hauptfaktoren. Wenn man die Bräuche kennt, kann man sich besser anpassen.
Wenn nicht, muss man sich erneut an alles gewöhnen.
10. Der Status der Frauen
Kathenamba:
Ich war im fünften Monat schwanger. Unsere Eltern baten meinen zukünftigen Mann,
mich zu heiraten. Er wollte nicht. Aber sie arrangierten die Hochzeit und zwangen ihn
dazu. Wir luden Leute ein und feierten im Tempel. Dann brachte er mich ins Haus.
Erst waren wir glücklich, aber sobald meine erste Tochter auf der Welt war, fing er
an, mich zu schlagen. Bei meiner zweiten Tochter war es genauso. Und als meine
dritte Tochter geboren wurde, tat er es wieder.
Kathenamba:
Mein erstes Kind fing an laufen zu lernen, aber mein Mann berührte es nie, weil es
ein Mädchen mit dunkler Haut war. „Ich kann sie nicht anfassen“, sagte er. Es war
gerade November und Monsunzeit, deshalb brachten wir unser Heu im geschützten
Eingangsbereich des Hauses unter. Ich ließ meine Tochter alleine zu Hause, ich
hatte Hunger, deshalb musste ich nach draußen gehen. Als ich wieder kam, suchte
ich überall nach ihr, um sie zu stillen, konnte sie aber nirgends finden. An jenem Tag
hatte ich ein wenig Chilipulver vorbereitet. Mein Mann hatte meiner Tochter das
Pulver in den Mund gerieben und sie dann unter das Heu geworfen. Ich habe sie
überall gesucht und saß da und weinte. Plötzlich hörte ich sie schreien und grub sie
aus dem Heu. Ihr Mund war komplett geschwollen, und sie war fast ohnmächtig.
Meine vierte Schwangerschaft brachte mir die Zwillinge. Seit ich die Jungen habe,
behandelt er mich gut. Jetzt gibt es keine Probleme mehr.
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Kommentar:
In Indien kann die Geburt eines Mädchens, besonders für schlecht gestellte
Haushalte, verheerende Folgen haben. Grund dafür ist die unvermeidbare Mitgift die
bei einer Hochzeit auf die Familie der Frau zukommt. Diese recht junge und
kostspielige Tradition stürzt solche Familien noch mehr ins Elend. Ca. zehn Millionen
Mädchen wurden in Indien in den letzten zwanzig Jahren entweder vor oder nach der
Geburt „aus dem Weg geschafft.“
Ishrat:
Ich trage draußen immer meine Burka, weil unsere Gesellschaft dies so vorschreibt.
Wenn man aus dem Haus geht, muss man den Schleier schließen. Um die Blicke der
Männer in unser Gesicht zu vermeiden, setzen wir den Gesichtsschleier auf.
Ishrat:
Ich persönlich würde ihn gerne abnehmen, aber da meine Schwiegermutter und alle
anderen Frauen ihn tragen, muss ich es auch tun. Es ist unmöglich, ihn nicht zu
tragen.
Kommentar:
Ishrat arbeitet ein Mal pro Woche ehrenamtlich bei einem Verein für Frauenrechte.
Ishrat:
Im Moment ist die Situation der Frauen schlechter denn je, weil die Fabriken
geschlossen wurden. Wenn es keine Arbeit gibt, leiden auch Frauen unter den
Folgen.
Ishrat:
Wir sind der Meinung, dass es Gesundheitszentren für Frauen geben sollte. Es gab
einige, aber sie sind geschlossen. Sie sollten wieder geöffnet werden und alle
Frauen zulassen. Für junge Mädchen sollte es gebührenfreie Schulen geben.
11. Die Reisernte
Kathenamba:
Nach hier kommen wir, um zu beten. Hier feiern wir das Pongalfest. Wir bringen
Opfergaben, zum Beispiel Zuckerrohr.
Kommentar:
Heute ist ein großer Tag in Nellianur und im ganzen Süden Indiens. Es ist Pongal,
ein indisches Erntedankfest zur Reisernte. Jeder hilft fleißig bei der Dekoration des
Dorfes und der Ochsen.
Kaliemoti:
Ich wasche gerade meine Kuh. Später werden wir die Opfergaben für das Pongalfest
zusammenstellen. So findet das schon seit Generationen hier statt. Danach beten wir
zu den Göttern für eine gute Reisernte.
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Kaliemoti:
Die Russen, die Amerikaner und die Japaner feiern Silvester mit Feuerwerken und
Knallkörpern. Das ist gefährlich! Hier in Tamil Nadu gibt es eine andere Tradition. Wir
feiern Neujahr ruhig. Wir gehen in den Tempel und beten. Ich persönlich genieße
unsere Traditionen sehr.
Kathenamba:
Ich kenne nur den Bundesstaat Tamil Nadu. Andere Teile Indiens, wie Kerala oder
Karnataka habe ich nie gesehen. Ich kenne nur Tamil Nadu. Ich kenne nicht einmal
die Nummern der Busse, ich weiß nicht, wo sie hinfahren. Ich steige einfach ein und
setze mich hin, das ist alles. Das kommt, weil ich nichts gelernt habe.
12. Pläne und Träume für die Zukunft
Kommentar:
Fest verbunden mit seinen Traditionen, Festen, Hochzeiten und Ritualen, steht
Indien am Rande eines großen gesellschaftlichen Umbruchs, der das Leben seiner
Einwohner nachhaltig verändern wird. Wie werden die Menschen diesen Wandel
erleben? Wie sehen sie sich in dieser neuen Welt?
Kommentar:
Die verlassenen Fabrikgebäude dienen dem ehemaligen Weber als
Investitionsquelle für sein Pensionsgeld.
gute
Wasi:
Das ist die Gangesregion in Kanpur, an der Kreuzung der Dag Fabrik. Hier gibt es
viel Geschäftspotential, deshalb habe ich eine Ladenfläche gekauft.
Wasi:
Wir können uns nicht entscheiden, welche Art von Geschäft wir eröffnen möchten. Es
gibt viele Möglichkeiten: Großhandel, Kleidung, Elektroartikel, Lebensmittel,
Schreibwaren... Wenn die anderen Läden hier in der Gegend aufmachen,
entscheiden wir uns für das Gewerbe, das am besten läuft.
Harish:
Seit einiger Zeit dreht sich in Bombay alles um riesige Einkaufszentren. Supermärkte,
Einkaufszentren, große Lagerverkäufe. Das ist die Globalisierung. All die großen
internationalen Unternehmen, wie zum Beispiel Walmart und Shoprite, drängen auf
den Markt. Wenn es von Tag zu Tag mehr dieser Giganten gibt, müssen die kleinen
Einzelhändler irgendwann schließen.
Sagar:
Diese blaue Fläche ist unser Laden. Der rote Teil ist der geplante Anbau. Ich denke,
wir werden genug Platz für einen guten mittelgroßen Supermarkt haben. Er ist nur für
den Verkauf bestimmt. Es gibt Selbstbedienungsregale, Computersysteme...
Insgesamt wird er viel professioneller und wird eine bessere Atmosphäre haben. Die
Kunden können die Produkte selbst aus dem Regal nehmen, anfassen, prüfen, die
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Preise vergleichen. Sie benutzen einen Einkaufswagen für ihren Wochenendeinkauf,
bezahlen und gehen nach Hause. Das ist die Idee, die mir vorschwebt.
Harish:
Sobald wir das neue Konzept eingeführt haben, werden wir weniger Arbeitskraft
benötigen, um das Geschäft zu führen. Wir werden vermehrt mit Computersystemen
arbeiten und können auf diese Weise die Kunden schneller bedienen.
Kaliemoti:
Ich habe für meine Söhne Land gekauft, damit sie ein Haus bauen können. Ich
möchte, dass sie ein besseres Leben haben als ich. Ich hatte schon ein besseres
Leben als mein Vater. Ich bin zu 90% zufrieden mit meinem Leben. Es geht mir gut,
aber ich möchte, dass es meinen Söhnen noch besser geht.
Kathenamba:
Bevor ich sterbe, möchte ich, dass meine Kinder ein einfaches Steinhaus besitzen.
Ich würde auch gerne ihre Hochzeit miterleben. Mehr habe ich nicht zu sagen.
Deena:
Ich habe alles, was sich eine Frau wünschen kann. Ich habe mein Haus, meine
Söhne, den Laden, meine Schwiegertochter ist sehr nett; ich wüsste nicht, was mir
fehlen sollte. Ich habe eine glückliche Zukunft vor mir. Alles was ich mir wünschen
könnte, ist, dass mein Leben nicht traurig wird.
Ishrat:
Mein Traum war es, meine Kinder auf eine englischsprachige Schule zu schicken.
Wir hatten große Pläne für sie, aber da wir zuwenig Geld haben, können wir ihnen
keine Ausbildung an einer renommierten Schule bieten.
Ishrat:
Nur wenn man Geld hat, kann man träumen und sich die Zukunft ausmalen. Wir
haben bereits mit der Ausbildung unserer Kinder ein Problem, deshalb kommen
weitere persönliche Träume für uns nicht in Frage. Wir würden sehr gerne ein Haus
kaufen, weil das Leben hier wirklich hart ist.
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