Landtag von Baden-Württemberg Antrag Stellungnahme

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Landtag von Baden-Württemberg Antrag Stellungnahme
Landtag von Baden-Württemberg
Drucksache 12 /
12. Wahlperiode
17. 01. 97
922
Antrag
der Abg. Fritz Kuhn u. a. Bündnis 90/Die Grünen
und
Stellungnahme
des Ministeriums für Umwelt und Verkehr
Konsequenzen aus der mangelnden Funktionstüchtigkeit der
Streckenbeeinflussungsanlage und dem tödlichen Unfall auf
der B 27
A n tr a g
Der Landtag wolle beschließen,
die Landesregierung zu ersuchen
I. zu berichten,
1. wie die Landesregierung den Vorgang der Fehleinstellung der flexiblen Geschwindigkeitsanzeigen auf der B 27 zwischen Stuttgart und Aichtal am 23. Dezember 1996 (Tempo 100 trotz vereister Fahrbahn und vorangegangenem Unfall) mit tödlicher Unfallfolge beurteilt;
2. weshalb trotz vereister Fahrbahn und vorangegangenem Unfall „Tempo 100“
angezeigt wurde;
3. worauf die offensichtlich unklaren Zuständigkeiten und Entscheidungswege
zurückzuführen sind;
4. wie die Polizei durch bloßes Abfahren der B 27 den tatsächlichen Zustand der
Fahrbahn (Vereisung usw.) feststellen können soll, um die notwendigen Informationen liefern zu können?
5. wie (personal)aufwendig die manuelle Steuerung des Elektronik-Lotsen durch
die Leitstelle in Ludwigsburg und die beteiligte Polizei ist?
6. welche konkreten Konsequenzen die Landesregierung aus dem Unfall ziehen
wird;
Eingegangen: 17. 01. 97 / Ausgegeben: 17. 04. 97
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7. warum das Warnzeichen für Schnee- und Eisglätte aus dem Programm der
Elektronik-Lotsen genommen wurde und wer für die mangelnde Funktionsfähigkeit der Anlage aufkommt?
8. wie die Landesregierung die erneute Funktionsuntüchtigkeit der Anlage am
14. Januar 1997 gegen 7.30 Uhr wertet, als Fahrzeuglenker trotz Staus infolge
eines Unfalls auf Höhe Plattenhardt in Richtung Aichtal mit „Tempo 100“-Anzeige in das Stauende gelotst wurden, ohne auf den Gefahrenmoment hingewiesen zu werden;
9. welche Konsequenzen die Landesregierung aus der offensichtlichen Funktionsuntüchtigkeit dieser Anlage ziehen wird;
10. wie die Landesregierung die Verkehrssicherheit beurteilt, wenn sich Fahrzeuglenker auf eine (unzuverlässige) Leiteinrichtung verlassen und dadurch
ihre Aufmerksamkeit verringern;
11. ob es zutrifft, daß seit Inbetriebnahme der Anlage auf dem betreffenden
Streckenabschnitt keine systematischen Geschwindigkeitskontrollen mehr
stattgefunden haben;
12. ob die Landesregierung die Auffassung teilt, daß neben den ökologischen
Nachteilen dieser Anlage auch die Verkehrssicherheit in Frage gestellt wird;
13. wie hoch die Kosten für die geplante Nachrüstung der Anlage mit zusätzlichen
Leuchtzeichen für Lkw („Tempo 60“) sind;
14. weshalb auf Höhe der Aichtalbrücke derzeit die Anlage zeitweise ausgeschaltet ist und Schilder mit „Tempo 80“ aufgestellt wurden;
II.
1. den Betrieb der Streckenbeeinflussungsanlage auf der B 27 einzustellen und
statt dessen zwischen Stuttgart und Echterdinger Ei generell „Tempo 80“, zwischen Echterdinger Ei und Aichtal „Tempo 100“ (bzw. „Tempo 60“ für Lkw auf
der gesamten Strecke) anzuordnen;
2. auf die Installation weiterer Anlagen dieser Art generell zu verzichten und auch
keine Nachrüstung der Anlage an der B 27 vorzunehmen.
15. 01. 97
Kuhn, Kretschmann, Stephanie Günther,
Stolz, Hackl Bündnis 90/Die Grünen
Be gründung
Am 23. Dezember 1996 ereignete sich auf der B 27 (Körschtalbrücke) ein Unfall
mit Todesfolge, auch weil die „intelligente“ Streckenbeeinflussungsanlage trotz
vereister Fahrbahn und vorangegangenem Unfall „Tempo 100“ anzeigte. Die Ursachen der Fehlsteuerung durch Funktionsuntüchtigkeit der Anlage sowie durch
unzureichende Informationen und unklare Zuständigkeiten sind noch nicht ausreichend aufgearbeitet. Wirkliche Konsequenzen wurden bislang nicht gezogen.
Dies ist nicht der erste Fall, daß die Anlage ganz offensichtlich der Situation völlig
unangemessene und überhöhte Geschwindigkeitsanzeigen macht (z. B. Tempo 100
bei Platzregen, Tempo 100 am Stauende, sich auf kurzer Strecke widersprechende
Vorgaben usw.).
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Die Gefahr liegt darin, daß sich die Fahrzeuglenker auf die „intelligenten“ und flexiblen Vorgaben verlassen, ihre eigene Intelligenz ausschalten und ihre Aufmerksamkeit gegenüber Straßenzustand und Verkehrssituation verringern. Zudem sind
konsequente Geschwindigkeitskontrollen durch die Polizei verunmöglicht, da
nicht nur die gefahrenen Geschwindigkeiten, sondern auch die (wechselnden) Vorgaben auf den Anzeigetafeln genau dokumentiert werden müßten.
Hinzu kommt, daß vormals strengere und feste Tempolimits galten und seit Inbetriebnahme der Anlage Zunahmen von Lärm und Abgasen zu beklagen sind.
Neben den negativen ökologischen Folgen (erhöhte Lärm- und Schadstoffemissionen durch das im Mittel höhere Geschwindigkeitsniveau gegenüber den vorherigen starren Geschwindigkeitsbegrenzungen) sind die Folgen einer untauglichen
Anlage auch für die Verkehrssicherheit zunehmend negativ zu betrachten.
Es ist unserer Ansicht nach an der Zeit, daraus die Konsequenzen zu ziehen.
St e l l ungna hm e *)
Mit Schreiben vom 27. März 1997 Nr. 63–3961.4/19 nimmt das Ministerium für
Umwelt und Verkehr im Einvernehmen mit dem Innenministerium zu dem Antrag
wie folgt Stellung:
Zu I. 1. bis 5.:
Die Zuständigkeiten und Meldewege sind klar geregelt. So wurde in der Nacht
zum 23. Dezember 1996 von der Verkehrsleitzentrale Ludwigsburg (VLZ) gegen
0.30 Uhr in Abstimmung mit der Polizei auf der B27 die Sonderschaltung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h in Verbindung mit dem allgemeinen Gefahrzeichen 101 „Gefahrstelle“ für die Gesamtstrecke der Streckenbeeinflussungsanlage zwischen Stuttgart-Degerloch und Aichtal geschaltet. Der Streudienst war
angesichts der herrschenden Witterung auf der ganzen Strecke aktiv, und zwar über
die für Bundesstraßen üblichen Dienstzeiten für Räum- und Streudienste hinaus.
Gegen drei Uhr wurde in Abstimmung mit der Polizei die Sonderschaltung aufgehoben, da nach dem Streuen die außerordentliche Glättegefahr nicht mehr zu erwarten war. Um 06.03 Uhr wurde die Sonderschaltung für die ganze Strecke von
„60 km/h“ in Verbindung mit dem Gefahrzeichen 101 auf Veranlassung der Polizei
wieder geschaltet.
Die Unfallstelle ist, wie auch die Aichtalbrücke, durch ihre exponierte Lage über
dem Körschtal als besonders glatteisgefährdet bekannt. Daher wurden vor Beginn
des Winters vor diesen beiden Brücken statische Gefahrzeichen 113 „Schnee- oder
Eisglätte“ aufgestellt.
Die am Unfall beteiligten Fahrzeuge befuhren die B27 in Richtung Flughafen. Auf
der Körschtalbrücke gerieten zwei Pkw ins Schleudern, stießen zusammen und
blieben im Bereich des rechten Fahrstreifens der zweispurigen Richtungsfahrbahn
stehen. Ein nachfolgender Busfahrer stellte seinen Bus vor der Unfallstelle ab, sicherte diese und unterrichtete die Polizei. Ein weiterer nachfolgender Pkw kam
aufgrund nicht angepaßter Geschwindigkeit ins Schleudern und prallte mit der Beifahrerseite gegen das Heck des Busses. Der Fahrer des Pkw erlitt schwerste Verletzungen, denen er kurze Zeit später erlag. Ein fünftes Fahrzeug (Pkw) bremste
bei Annäherung an die Unfallstelle ab. Ein sechstes Fahrzeug (Pkw) geriet infolge
überhöhter Geschwindigkeit ins Schleudern und prallte gegen den davor befindlichen Pkw.
*) Der Überschreitung der Drei-Wochen-Frist wurde zugestimmt.
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Wie auch der Presse entnommen werden konnte, kommt ein von der Staatsanwaltschaft Stuttgart in Auftrag gegebenes Gutachten zu dem Schluß, daß der Unfall mit
tödlichem Ausgang auf eine späte Reaktion des Fahrers zurückzuführen sei, der
zusätzlich auch nicht angeschnallt war, und daß ein ursächlicher oder mitursächlicher Einfluß der Anzeigen der Streckenbeeinflussungsanlage auf das Unfallgeschehen nicht festgestellt werden könne. Im übrigen wäre jeder Autofahrer angesichts des ungünstigen Witterungszustands mit eindeutiger Gefahr der Glatteisbildung verpflichtet, insbesondere auch in dem durch die Gefahrzeichen 113 StVO
„Schnee- oder Eisglätte“ gesicherten Brückenbereich, sich den Umständen entsprechend vorsichtig zu verhalten.
Die B27 und vergleichbare Straßen im Großraum Stuttgart werden auch von der
Polizei regelmäßig im Rahmen der Möglichkeiten bestreift. Entsprechende Wahrnehmungen werden im Einzelfall dem Streudienst der Straßenbauverwaltung mitgeteilt. Die Anforderung von Räum- und Streudiensten durch die Polizei bei entsprechenden winterlichen Straßen- und Witterungsbedingungen erfolgt im Rahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr. Dies gilt für das gesamte Straßennetz.
Die Belastung der Polizei durch die Veranlassung einer Handschaltung bei der
VLZ Ludwigsburg ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen, die auf Einzelfällen
beruhen, unmerklich. Die VLZ Ludwigsburg ist zur Wahrnehmung anderer Aufgaben meist auch nachts mit Personal der Straßenbauverwaltung besetzt. Insoweit
verursacht eine Handschaltung keine erheblichen zusätzlichen personellen Belastungen.
Zu I. 6.:
Die verkehrsrechtliche Anordnung für den Betrieb der Streckenbeeinflussungsanlage ist zwischenzeitlich dahin gehend geändert worden, daß bei Ausrücken des
Streudienstes im Einvernehmen mit der Polizei eine manuelle Umschaltung der
Anlage erfolgt. Damit ist jedoch weiterhin nicht gewährleistet, daß jeglicher Glättezustand jederzeit sofort erfaßt wird.
Zu I. 7.:
Es wird davon ausgegangen, daß bei temporärem Erscheinen des Gefahrzeichens
113 StVO die Mehrzahl der Autofahrer mit tatsächlich vorhandenem Glatteis rechnet. Trifft diese Anzeigesicherheit aber mangels nicht realisierbarer fehlerfreier
und lückenloser Überwachung des Fahrbahnzustandes nicht zu, dann dürfte eine
deutliche Abwertung des Gefahrzeichens die Folge sein. Beim statischen Gefahrzeichen bestehen diese Bedenken weniger. Nach der StVO sind jedoch beide Gefahrzeichen gleichbedeutend. Sie machen auf die Gefahr aufmerksam, zeigen jedoch nicht den konkreten, aktuellen Straßenzustand an.
zu I. 8. bis 10.:
Die Anlage war zu dem besagten Zeitpunkt in dem für sie vorgesehenen Rahmen
voll funktionsfähig. Ein Stauende muß nach dem derzeitigen Stand der Technik,
der auch an der B27 installiert ist, erst über einen Detektorquerschnitt hinaus wachsen, bevor ein Stau als solcher registriert werden kann. Der Stauzustand muß mindestens eine Minute bestehen, ehe eine Warnschaltung erfolgen kann. Damit wird
ein dauerndes Flackern der Anzeigen (Warnung eingeschaltet, Warnung ausgeschaltet) bei den vorherrschenden ungleichförmigen Verkehrsverhältnissen unterdrückt.
Im übrigen wird zum wiederholten Male darauf hingewiesen, daß die aus den Medien übernommene Wertung, es handele sich hier um einen Lotsen, der bestimmte
Geschwindigkeiten „empfehle“, nicht richtig ist. Es handelt sich bei den Wechselverkehrszeichen eindeutig um Gefahrzeichen und um verbindliche Vorschriftzeichen der Straßenverkehrsordnung. Die Straßenverkehrsordnung und die dazugehörige Rechtsprechung regeln klar, daß durch die Beschränkung auf eine zulässige Höchstgeschwindigkeit kein Anspruch entsteht, daß diese Höchstgeschwindigkeit auch jederzeit gefahren werden könne.
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Zu I. 11.:
Die Polizei führt Geschwindigkeitsmessungen lageangepaßt an Verkehrsunfallbrennpunkten durch, wobei sich die Meßorte an der Auswertung der Unfalltypensteckkarte orientieren. Der Abschnitt der B27 mit Streckenbeeinflussungsanlage
von Degerloch bis Aichtalviadukt ist im Vergleich zu anderen zweibahnigen
Straßen nicht unfallauffällig. Unfallbrennpunkte hinsichtlich von „Geschwindigkeitsunfällen“ sind nicht erkennbar. Deshalb besteht kein Anlaß zu „systematischen“ Geschwindigkeitskontrollen. Die Philosophie der polizeilichen Verkehrsüberwachung orientiert sich insbesondere daran, gravierende Verkehrsverstöße
festzustellen, den Verkehrsteilnehmer anzuhalten und an Ort und Stelle mit dem
Verkehrsverstoß zu konfrontieren. Die Verkehrsüberwachungskonzeptionen der
Polizeidirektion Esslingen und der LPD Stuttgart II berücksichtigen dies insbesondere in der Geschwindigkeitsüberwachung durch regelmäßige Bestreifung mit
Videokamerafahrzeugen.
Zu I. 12.:
Derartige Anlagen tragen durch die Verstetigung des Verkehrs und die Vermeidung
von Staus zur Erhöhung der Verkehrssicherheit bei und sind ökologisch vorteilhaft,
wie dies in einer kürzlich vorgestellten bayerischen Untersuchung nachgewiesen
wurde.
Zu I. 13.:
Die Kosten für die Nachrüstung der Anlage mit den zusätzlichen statischen Anzeigen „60 km/h / für Lkw „auf Stuttgarter Markung sind mit 69.000 DM veranschlagt.
Zu I. 14.:
Es handelte sich hier um eine örtliche Störung (siehe auch Stellungnahme zu Ziff.
8 bis 10) des Anzeigequerschnitts, der sogleich abgeschaltet wurde. Bis zur zwischenzeitlich erfolgten Reparatur wurden ersatzweise Blechschilder mit der Anzeige „80 km/h“ aufgestellt, da ansonsten durch ein abgeschaltetes Wechselverkehrszeichen nach StVO die Geschwindigkeit freigegeben worden wäre.
Zu II. 1. und 2.:
Es ist Sinn und Zweck einer Verkehrsbeeinflussungsanlage, bei möglichst vielen
ungünstigen Verkehrs- und Umweltbedingungen (leider ist es nicht möglich, diese
ungünstigen Umweltbedingungen in jeder Ausprägung, zu jeder Zeit und an jeder
Stelle zu erfassen und in Verkehrszeichen umzusetzen) mit Geschwindigkeitsbeschränkungen und/oder Warnzeichen vor allem die Verkehrssicherheit zu verbessern. Das bedeutet andererseits, daß unter günstigen Bedingungen auch höhere Geschwindigkeiten ohne Sicherheitsnachteile zugelassen werden können. Mit einer
statischen Regelung sind Vorteile einer stärkeren Restriktion des Verkehrs einerseits und eines freieren Verkehrsflusses andererseits, wenn es die Situation zuläßt,
nicht zu realisieren. Bislang liegen keine Gründe nach §45 StVO vor, die unter Abwägung der Interessen aller Betroffenen eine Festlegung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeiten entsprechend den Forderungen des Antrags rechtfertigen könnten.
Bestehende Verkehrsbeeinflussungsanlagen haben auf Strecken mit zuvor erhöhtem Unfallaufkommen mit gutem Erfolg zur Verringerung der Unfallzahlen beigetragen. Es besteht keine Veranlassung, entsprechend den Forderungen des Antrages generell auf derartige Anlagen zu verzichten. Wo Akzeptanzprobleme für derartige Anlagen bestehen, können auch künftig sinnvolle Verbesserungsmaßnahmen nicht unterlassen werden.
In Vertretung
Finkenbeiner
Ministerialdirektor
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