Amerika Bild von Roth
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Amerika Bild von Roth
Das Amerikabild von J. Roth in Hiob Hansjörg Stalder "Ein Jude kann sich nichts Besseres wünschen, als nach Amerika zu gelangen," sagt einer der Freunde zu Hiob, als er erfährt, dass Hiob mit seiner Familie auswandern will (Kapitel VIII, S. 93, dtv-Ausgabe). Auch wenn der Sprechende es ehrlich mein, so ist die Ironie des Erzählers doch ganz offensichtlich. Sie wird in den Kommentaren des Erzählers und in der Wahrnehmung seiner Figur Mendel Singer noch deutlicher werden, wenn die Familie am Ziel angelangt ist. Die Aufmunterung des Freundes enthält aber auch eine Wahrheit, die Joseph Roth zu seiner Zeit nicht entgangen sein kann. Hier zuerst zur Wahrheit: Schon damals war New York die grösste jüdische Stadt. Und dies hat sich bis heute nicht geändert. Nach der Zählung des World Jewish Congress hat New York heute eine jüdische Bevölkerung von 1,750,000 Personen (nach der Association of Statisticians of American Religious Bodies ist die Zahl noch höher), während Jerusalem mit 700'00-800'000 nur etwa halb so viele Einwohner wie New York jüdische Bewohner hat. Und die USA sind nach den in Wikipedia veröffentlichten Zahlen der Jewish Agency von 2002 das grösste jüdische Land der Welt. Es beherbergt 5.700.000 jüdische Einwohner, während in Israel nur etwas mehr als 5 Millionen seiner insgesamt 7.5 Millionen Einwohner als jüdische gelten. (Andere Zählungen. Das Yidisher visnshaftlekher institut, eine akademische Einrichtung zum Studium jiddischer und ostjüdischer Kultur hat seit 1940 seinen Hauptsitz in New York City. Damit hat die jiddische Kultur, wie wir sie in Hiob kennenlernen, nur in Amerika überlebt. In Osteuropa ist sie weitgehend zerstört worden und in Israel scheint sie verdrängt und bedeutungslos geworden zu sein. Jedenfalls ist Jiddisch keine Amtssprache in Israel – und sonst auch nirgends. Die Wahrheit, dass die osteuropäisch-jiddisch-jüdische Kultur nur im Exil überleben konnte, wurde von Joseph Roth bereits vorweggenommen, als er von sich selbst sagte: "Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, dass ich in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch fühle. Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland. Gut geht es mir nur in der Fremde. " (In einem Brief am 10. Juni 1930, dem Erscheinungsjahr von Hiob) Ähnlich wird es Mendel Singer ergehen: Er erlebt die Ankunft im Exil aus der Sicht des Erzählers auf doppelte Weise: "Schon war er einsam, Mendel Singer. Schon war er in Amerika…" (Ende des 1. Teils, S. 104) "Ja, er war beinahe heimisch in Amerika!" (Beginn des 2. Teils, S. 107) Diese zwiespältige Haltung zwischen ironischer Distanz und Anerkennung einer unbequemen Wahrheit dringt bei Joseph Roth überall durch: Die ironische Sicht ist nicht die ganze Wahrheit. Mit welchem Amerikabild seiner Zeit ging Joseph Roth, der Amerika, resp. New York, nicht aus eigener Ansicht kannte, ans Werk? Welches Bild, oder welche Bilder von Amerika waren in Europa zur Zeit des Hiob im Umlauf? Aber zuerst: Was war Amerika im frühen 20. Jh.? 1890 1898 1914 1917 Ende der Indianerkriege mit dem Massaker von Wounded Knee: Die USA nehmen den Kontinent von Küste zu Küste in Beseitz Sieg im spanisch-amerikanischen Krieg: Beginn der imperialistischen Ausbreitung: Kuba Puerto Rico Hawaii Philippinen etc. Der Einfluss der USA in der Karibik nahm zu und manifestierte sich neu mit aller Macht im Pazifik. Gleichzeitig setzte sich die bisherige rasante Industrialisierung weiter fort. Eröffnung des Panamakanals Kriegsentscheidender Eintritt in den Ersten Weltkrieg auf der Seite von Grossbritannien und Frankreich Das Bild in Europa war im deutschsprachigen Europa von Literaten wie Karl May bis Franz Kafka geprägt, wahrscheinlich auch von Übersetzungen des Lederstrumpf von J. F. Cooper. In diesem Bild steckte viel Fantasie und Projektion, von der Romantik des Wilden Westens bis zur Horrorvision der Industrialisierung, resp. des amerikanischen Kapitalismus. Umgekehrt hatte Mark Twain in Innocents Abroad die Amerikanerinnen und Amerikaner auf der Grand Tour of Europe als eher einfältige Reisende beschrieben. Und dies klingt auf musikalischer Ebene noch bei George Gershwins An American in Paris nach. Die Amerikaner haben Geld, möglicherweise Goodwill, aber wenig Kultur. Gegenseitig herrschte also viel Ignoranz über die andere Kultur. Die Reise war auch immer noch lang und beschwerlich. Im Ersten Weltkrieg wurde plötzlich offenbar, was nur einzelnen Ökonomen z.T. bewusst gewesen war, dass die USA Europa wirtschaftlich, politisch und militärisch überholt hatten. Diesen Schock, der für die Verlierer des Weltkrieges besonders schmerzhaft war, versuchte man mit der Vorstellung kultureller Überlegenheit zu übertünchen. Dabei waren zwei Klischee-Bilder vorherrschend, die auch Joseph Roths Amerikabild prägen: Materialismus und Melting Pot. Zuerst zum Materialismus: Der erste Anblick Amerikas, wie für die meisten europäischen Auswanderer, ist die Freiheitsstatue, zweifellos ein Moment voll Symbolkraft. Dazu heisst es: »Jetzt erscheint«, sagte ein Jude, der schon zweimal diese Fahrt mitgemacht hatte, zu Mendel Singer, »die Freiheitsstatue. Sie ist hunderteinundfünfzig Fuß hoch, im Innern hohl, man kann sie besteigen. Um den Kopf trägt sie eine Strahlenkrone. In der Rechten hält sie eine Fackel. Und das schönste ist, daß diese Fackel in der Nacht brennt und dennoch niemals ganz verbrennen kann. Denn sie ist nur elektrisch beleuchtet. Solche Kunststücke macht man in Amerika.« (S. 99) Das Symbol der Freiheit, also die Freiheit selbst, wird in materialistischer Grösse gemessen, in Fuss, es oder sie ist hohl – also inhaltslos, dafür ist die Effekthascherei umso eindrucksvoller. Das Inhaltsleere wird inszeniert: "solche Kunststücke macht man in Amerika." Und dann kommt der Satz, der umwirft: "Am Vormittag des fünfzehnten Tages wurden sie ausgeladen." (S. 99) Die Menschen werden zu Waren. Schon Macs Erscheinen in Zuchnow hatte den Eindruck eines Geldmenschen gemacht, auch wenn den eines Geld-Gutmenschen. Macs und Sams wirtschaftlicher Erfolg in Amerika basiert auf Spekulation und Warenhaus, beides in Joseph Roths Europa bekannt, aber Zeichen von Dekadenz. So richtet sich die Nazi-Propaganda in den späten 20er Jahren massiv gegen die jüdischen Warenhäuser. Es gibt viele spöttische Hinweise auf die Oberflächlichkeit des American way of life. Dabei wird nicht immer klar zwischen der Warte des Erzählers und der Wahrnehmung der beteiligten Figuren unterschieden, von der aus das Geschehen ironisch kommentiert wird: Sam duscht mehrmals am Tag, die äussere Sauberkeit ist wichtiger als die existenzielle Reinheit. Das Grammophon von Mirjam spielt von Walzer bis Kol-Nidre, einem jüdischen Gebet; Unterhaltung und kulturelle, hier religiöse Werte sind austauschbar. Deborah und Mirjam gehen shoppen. In Mendels Ohren gibt es eine permanente Lärmüberflutung. Viele Hinweise zielen auf die Geschwindigkeit des Lebens, des urbanen Lebens schlechthin. Im Roman ist nicht immer auszumachen, wo der Erzähler die subjektive Perspektive Mendels einnimmt und wo er eine kommentierende, europäisch- snobistische Position einnimmt. Immer wieder verschmelzen ironische mit ernst gemeinten Kommentaren: "Aber die Schöße seines Rocks pochten nicht mehr mit hastigem Flügelschlag an die rohledernen Schäfte. Denn Mendel Singer hatte in Amerika, wo alles eilte, erst gelernt, langsam zu wandern." (S. 113) An solchen Stellen zeigt sich das Doppelgesicht Amerikas: die fremde Welt, in er es einem Juden gut geht. Der Melting Pot, das andere Klischee: Dass die USA ein kultureller Melting Pot seien, ist eine Teilwahrheit, auch wenn sie bis heute kolportiert wird. Für die Sprache trifft sie wenigstens zum Teil zu: Wie im Deutschen, gibt es eine grosse Anzahl jiddischer Wörter im Amerikanischen. Dies ist nicht erstaunlich, ist doch eine grosse Anzahl amerikanischer Autoren des 20. Jahrhunderts jüdisch-jiddischer Abstammung, daunter mehrere Nobelpreisträger wie Saul Bellow oder Isaac Bashevis Singer. Der letztere schrieb seine Werke sogar ursprünglich auf Jiddisch, bevor sie auf Englisch erschienen. Die Sprache, ironisch kommentiert, spielt auch für Mendels Anpassung an das neue Leben eine grosse Rolle, hier wie er die amerikanischen Wörter in seiner Sprache kommentiert: "Er wußte bereits, daß old chap auf amerikanisch Vater hieß und old fool Mutter, oder umgekehrt." Und sein Enkel wird bald ein "college boy" sein etc. (S. 107) Es ist natürlich ein ziemlich bösartige Ironie, die die neue Sprache mit einer Abwendung vom Respekt vor den Eltern kombiniert. Hier zeigt sich der Kultur- und der Zukunftspessimismus, die sich in der Rothschen Ironie manifestieren. Assimilation (was wir heute im Immigrationsdiskurs "Integration" nennen, eben ein Merkmal von "Verschmelzung") über die Sprache hinaus wird in den Figuren von Roth sehr brillant, wenn auch oft mit kultur-pessimistisch, ironischem Unterton, beschrieben. Schemarja der Sam erscheint den Ankommenden folgendermassen: "Auf einmal stand Schemarjah vor ihnen. Alle drei erschraken auf die gleiche Weise. Sie sahen gleichzeitig ihr altes Häuschen wieder, den alten Schemarjah und den neuen Schemarjah, genannt Sam. Sie sahen Schemarjah und Sam zugleich, als wenn Sam über einen Schemarjah gestülpt worden wäre, ein durchsichtiger Sam. Es war zwar Schemarjah, aber es war Sam. Es waren zwei. Der eine trug eine schwarze Mütze, ein schwarzes Gewand und hohe Stiefel, und die ersten flaumigen, schwarzen Härchen sprossten aus den Poren seiner Wangen. Der zweite trug einen hellgrauen Rock, eine schneeweiße Mütze wie der Kapitän, breite, gelbe Hosen, ein leuchtendes Hemd aus grüner Seide, und sein Angesicht war glatt wie ein nobler Grabstein. Der zweite war beinahe Mac. Der erste sprach mit seiner alten Stimme – sie hörten nur die Stimme, nicht die Worte. Der zweite schlug mit einer starken Hand seinem Vater auf die Schulter und sagte, und jetzt erst hörten sie die Worte: »Hallo, old chap!« – und verstanden nichts. Der erste war Schemarjah. Der zweite aber war Sam. […] Im stillen wiederholten sie sich ein paarmal, daß Sam Schemarjah war. Dann erst freuten sie sich." (S.100) Dies ist eine grossartige Beschreibung von Assimilation, wie sie uns hier in der Wahrnehmung der Ankommenden entgegentritt. Ebenso wichtig wie der Melting Pot-Aspekt ist der andere Aspekt, der der Erhaltung der Eigenart, das Bestehen einer integern jiddisch-jüdischen Gemeinschaft, der Gemeinschaft der Freunde von Mendel, der Gebetsgruppe, in der Mendel und seine Familie gleich bis zu einem gewissen Grad heimisch sind. Und hier erscheint das Amerika, das bei Roth zwar vorkommt, aber nicht kommentiert wird: das Amerika des Nebeneinanders (das in Europa bis heute oft ausgeblendet wird). The Bowery Werfen wir einen Blick auf den Ort, wo die Mendels sich niederlassen: The Bowery auf der East Side. New York besteht bis heute aus Neighbourhoods, die alle einen eigenen Charakter haben – und eine Bewohnerschaft, die sich dessen ebenso sehr bewusst ist, wie die langjährigen Bewohner der Breite oder des St. Johann-Quartiers in Basel, des Marzili in Bern oder von Züri West! In den Neighbourhoods findet man das Gegenteil von Verschmelzung, nämlich das Nebeneinander von unterschiedlichen Kulturen. "Strong fences make good neighbours." (Der ukrainisch-amerikanische, jüdische Komponist Leonard Bernstein liess sein Neighbourhood-Drama Westside Story ursprünglich in der Eastside, in der Bowery, spielen, mit dem Drama zwischen jugendlichen Katholiken und Judengangs anstelle der schliesslich gewählten angelsächsischen und Puerto Ricanerjungen.) Und einiges dieser Neighbourhood-Atmosphäre tritt in Joseph Roths Geschichte ebenfalls in Erscheinung. Es ist nicht das Klischeebild des New York der Hochhäuser, die es seit dem Ende des 19. Jh. gibt, auch wenn noch nicht in der Höhe des Empire State Buildung, des Chrysler Buildings und des Rockefeller Centers (die alle in den späten 30er Jahren gebaut werden – gegen die Grosse Depression). Die Bowery wird in Wikipedia folgendermassen beschrieben: Die Bowery ist eine im Süden von Manhattan (New York) gelegene Straße und deren Umgebung. Begrenzt wird das Gebiet durch die East 4th Street und das East Village im Norden, die Canal Street und Chinatown im Süden, durch die Allen Street und die Lower East Side im Osten sowie durch die Straße Bowery und Little Italy im Westen. Größere Straßenzüge, die die Bowery durchschneiden, sind neben der Canal Street die Delancey Street, an der die Station Bowery der New York City Subway liegt, sowie die Houston und die Bleecker Street. Die Bowery (ursprünglich nach den Bauernhöfen der holländischen Siedler vor der neugegründeten Stadt Neu Amsterdam benannt) entwickelte sich im 19. Jahrhundert mit einer grossen deutschen Einwanderung zu "Kleindeutschland" mit Textilfabriken (so genannten Sweatshops), einer starken Gegwerkschaftsbewegung, soziallen Spannungen und Auseinandersetzungen. Die jüdische Einwanderung im letzten Drittel des Jahrhunderts führte zu einer jüdischen Mehrheit bis zu 60%. Um die Jahrhundertwende gab es in der Bowery sogar eine literarische Bewegung auf Jiddisch, die Sweatshop Poets. New York (wie ein grosser Teil der USA) besteht aus dem Nebeneinander – auch dem geografischen Nebeneinander – der verschiedenen Immigrationsgesellschaften: WASPs Italiener Chinesen Puert Ricaner African Americans (zur Zeit Roths respektvoll Nigroes genannt) Iren Polen später Hispanics (vor allem Mexikaner) und heute auch Vietnamesen, Iraner, Iraker und Afghanen Daneben existiert auch ein Nebeneinander der verschiedenen Konfessionen: Die zwanzig grössten konfessionellen Gruppen sind folgende: Protestants Catholics Latter-day Saints Baptists Methodists or Wesleyans Lutherans Presbyterians Pentecostals Episcopalians or Anglicans Judaism Latter-day Saints or Mormons Churches of Christ Congregational or United Church of Christ Jehovah's Witnesses Assemblies of God Viele dieser Gruppierungen waren ursprünglich vor Verfolgung in der einen oder andern Art aus Europa geflohen. Bis heute – und – im Gegensatz zu Europa – heute zunehmend – sind die USA ein tief religiöses Land. (Wie man zu gewissen Formen dieser Religiosität steht, ist eine andere Frage). Und diese Gruppierungen leben und lebten, wenn nicht friedlich, so doch weitgehend erfolgreich nebeneinander. Ganz anders als in Europa! Auch in Roths Amerika findet sich kein Hauch von Antisemitismus. Warum? Die Antwort auf diese Frage ist wohl auch der Grund, weshalb sich die jüdischen Gemeinden in den USA erfolgreich etabliert haben und es schon zu Roths Zeit nicht nur ein ironischer Kommentar war, wenn jemand zu Mendel sagt: "Ein Jude kann sich nichts Besseres wünschen, als nach Amerika zu gelangen." Aber zur Antwort auf das Warum: Das religiöseste Land der westlichen Hemisphäre hat nicht nur die erste und älteste, sondern auch die säkularste Verfassung der Welt. Die Schweizer Verfassung, im Jahr 1999 total revidiert, beginnt folgendermassen: "Im Namen Gottes, des Allmächtigen!" Die Verfassung der USA, 1789, kurz vor der Franz. Revolution in Kraft gesetzt und immer noch im ursprünglichen Wortlaut gültig (allerdings ergänzt durch 27 Amendments [Verfassungsergänzungen]), beginnt: "We the people…" (Wir, das Volk…). Kein Gott weit und breit. Und dies aus der weisen Erkenntnis der ebenfalls tiefreligiösen Gründerväter, dass nur eine säkulare Verfassung den religiösen Frieden unter den unterschiedlichen, oft absolut intoleranten Glaubensflüchtlingen sichern konnte. Dies hat bis heute den religiösen Frieden trotz Hasspredigern vieler Konfessionen und Rassismen aller Art bewahrt. Und es hat die Juden in den USA vor Verfolgung geschützt, während in Europa Welle über Welle von antisemitischen Diskriminierungen, Verhetzungen, Verfolgungen und systematischen Mordkampagnen im Namen der jeweiligen Staaten und Verfassungen über die jüdischen Gemeinden hinweggegangen sind. Sind die Juden in den USA einfach eine Minderheit unter andern? Chinatown, Little Italy, Kleindeutschland etc., alle diese Neighbourhoods sind heute erkennbar an den Chinese Restaurants, Pizzerias, Beergardens, Irish Pubs, Vietnamese Takeaways etc. Alle diese Minderheiten konnten sich – Gegensatz zu den Juden – auf eine geografische Heimat berufen. Viele entdeckten ihre Gemeinsamkeiten, vor allem die Sprache, erst in der Emigration – unter all den anderen. Viele, die das nicht konnten, verloren ihre Kultur und lösten sich in der Assimilation auf und wurden Teil des "Melting Pot". Was ist es, das die Juden über 2000 Jahre nach der Vertreibung aus Jerusalem und nach 1000 Jahren der periodischen Verfolgung in den christlichen Ländern als Volk und Religionsgruppe erhalten hat? Länger als alle andern Gruppierungen und länger als viele staatliche Organisationsformen? Meiner Meinung nach sind dies zwei Elemente: Die Bücher der Tora, die wir als Altes Testament kennen, enthalten zwei Dinge, die für die Identifikation mit einer menschlichen Gruppierung (vom Verein bis zum Staat) entscheidend sind: Geschichte und Gesetz. Jedes menschliche Kollektiv beruft sich auf seine Geschichte, vom sich selbst gewissernden "Weisch no?" der Zusammenkunft Ehemaliger bis zum Nationalfeiertag der Staaten. Und jedes Kollektiv funktioniert nach eigenen Gesetzen, von den ungeschriebenen Regeln des informellen oder geheimen Bundes über die Statuten von Vereinen bis zur staatlichen Verfassung. Sie tun dies mit unterschiedlich starker Legitimation und Verbindlichkeit. Die höchst mögliche ist natürlich die von Gott verliehene, also die Heilige Schrift. (Das ist etwas anderes als die Italiener, die sich auf Garibaldi beriefen oder die Mormonen mit ihrem Joseph Smith.) Die Geschichten der Tora (Mythologie ist eine Urform der Geschichtserzählung) sind die Geschichte vom Beginn der Welt über den Bund mit Jehova bis zur Erlösung in der Zukunft, also vom ersten Anfang bis zum Ende der Welt. Eine kolossalere Geschichtsschreibung ist nicht möglich! Gleichzeitig beinhalten diese Bücher eine bindende Gesetzessammlung. Nicht nur die 10 bekannten Gebote, sondern noch ca. 600 weitere. Einmal die Bibel lesen als Lebensprojekt lohnt sich, auch – oder besonders – für nichtreligiöse Leserinnen und Leser! (Heute ist die historische Begründung die "raison d'être" des Staates Israel und seiner Besatzungspolitik. Vor der Shoah und der Existenz des real existierenden Israel war dies nicht so; die Tora konnte deshalb zur Zeit von Joseph Roth auch nicht zur Rechtfertigung von eigenem Rassismus und Ausgrenzung beigezogen werden.) Im Gegensatz zu Europa, wo diese beiden Eigenschaften und ihr religiöses Fundament die Juden in einen Gegensatz zur staatlichen Geschichte (resp. Mythologie) und zu den staatlichen Gesetzten brachte, waren die USA eine aus solchen ausgegrenzten Gemeinschaften zusammengewürfelte Gemeinschaft, die sich jede auf ihre eigene Tradition berufen konnte – und es auch tat und je nach dem immer noch tut. Viele dieser Gemeinschaften (die Italiener, die Polen, die Iren) fanden ihre Gemeinsamkeit durch Sprache, Rituale, kollektive Erinnerungen erst im Exil und bauten von hier aus ihre nationalen Bewegungen auf. Nicht so die Juden: Sie hatten sie als uralte Erfahrung mitgebracht. Vieles von dieser Erfahrung ist – versteckt unter Ironie und Kulturpessimismus – bei Joseph Roth vorhanden, z. B. wenn er von sich selbst sagt: "Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, dass ich in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch fühle. Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland. Gut geht es mir nur in der Fremde. Wenn ich mich nur einmal verlasse, verliere ich mich auch. Deshalb achte ich peinlich darauf, immer bei mir zu bleiben." (Im bereits zitierten Brief vom 10. Juni 1930) Joseph Roths Figur Mendel Singer würde dies zwar nicht so eloquent sagen, aber ebenso fühlen. Was Roth ironisch kommentiert, die Hohlheit der amerikanischen Kultur, symbolisiert in der Hohlheit der Freiheitsstatue, gibt Mendel Singer die Möglichkeit, bei sich zu bleiben, oder sich sogar in seinem Sohn Menuchim erst zu finden. So hat diese Ironie immer wieder eine überraschende andere Seite, die eines tiefen Ernstes. Zum Beispiel auch in dieser Aussage: "Man hatte ihm gesagt, daß Amerika God's own country hieß, daß es das Land Gottes war, wie einmal Palästina, und New York eigentlich the wonder city, die Stadt der Wunder, wie einmal Jerusalem." (S. 107) In New York erlebt Mendel das Menuchim-Wunder, damit wird die Ironie eigenartig gebrochen. Jerusalem und New York Städte der Wunder: Die ausgewanderten Puritaner, die Pilgerväter, hatten tatsächlich geplant, in der Neuen Welt ein neues Kana'an, ein gelobtes, rein nach der biblischen Lehre lebendes Land aufzubauen und sich selbst als Nachfolger Israels im Bund mit Gott gesehen. Dieses Abkupfern des jüdischen Anspruchs durch die Amerikaner, wird im obigen Zitat ironisiert. Aber bitterer Ernst steckt auch darin: 1930, zur Zeit der Veröffentlichung von "Hiob", gab es Jerusalem als jüdische Stadt der Wunder nicht. Auch Israel als jüdischen Staat gab es nicht. Es gab den Zionismus als säkular-nationale Bewegung, es gab die jüdische Auswanderung nach Palästina, es gab die damals noch sehr sozialistische Kibbuzim-Bewegung – aber alles auf britisch administriertem arabischem Territorium, und alles sehr konfliktbeladen. Der Holocaust, die Shoah, die die uns heute bekannte Situation lostreten sollte, hatte noch nicht stattgefunden. New York war das damalige Jerusalem. Und die tragische Zukunft lag wie eine noch zu werdende Wahrheit unter der Ironie von Joseph Roth. * Zusammenfassung: Das Amerikabild von Joseph Roth ist durchwegs doppelbödig einerseits: o ironisch o europäisch-arrogant anderseits: o enthält es eine durchaus realistische Einschätzung der Bedeutung Amerikas für das Bewahren einer europäisch-jüdischen Identität. Hinter dieser ironisch verhüllten wirklichkeitsnahen Einschätzung steckt Roths Kulturpessimismus. Dieser Kulturpessimismus ist begründet in der jüdischen Geschichte aber auch in der düsteren Realität Europas nach dem 1. Weltkrieg. Der Rothsche Kulturpessimismus gewinnt eine tragische Bestätigung aus jüdischer Sicht mit dem Zweiten Weltkrieg. Bilder zur Bowery: Google Earth Bowery um die Zeit des Ersten Weltkriegs und heute