Amerika Bild von Roth

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Amerika Bild von Roth
Das Amerikabild von J. Roth in Hiob
Hansjörg Stalder
"Ein Jude kann sich nichts Besseres wünschen, als nach Amerika zu
gelangen," sagt einer der Freunde zu Hiob, als er erfährt, dass Hiob mit seiner
Familie auswandern will (Kapitel VIII, S. 93, dtv-Ausgabe). Auch wenn der
Sprechende es ehrlich mein, so ist die Ironie des Erzählers doch ganz offensichtlich.
Sie wird in den Kommentaren des Erzählers und in der Wahrnehmung seiner Figur
Mendel Singer noch deutlicher werden, wenn die Familie am Ziel angelangt ist. Die
Aufmunterung des Freundes enthält aber auch eine Wahrheit, die Joseph Roth zu
seiner Zeit nicht entgangen sein kann. Hier zuerst zur Wahrheit:
Schon damals war New York die grösste jüdische Stadt. Und dies hat sich bis heute
nicht geändert. Nach der Zählung des World Jewish Congress hat New York heute
eine jüdische Bevölkerung von 1,750,000 Personen (nach der Association of
Statisticians of American Religious Bodies ist die Zahl noch höher), während
Jerusalem mit 700'00-800'000 nur etwa halb so viele Einwohner wie New York
jüdische Bewohner hat. Und die USA sind nach den in Wikipedia veröffentlichten
Zahlen der Jewish Agency von 2002 das grösste jüdische Land der Welt. Es
beherbergt 5.700.000 jüdische Einwohner, während in Israel nur etwas mehr als 5
Millionen seiner insgesamt 7.5 Millionen Einwohner als jüdische gelten. (Andere
Zählungen. Das Yidisher visnshaftlekher institut, eine akademische Einrichtung
zum Studium jiddischer und ostjüdischer Kultur hat seit 1940 seinen Hauptsitz in New
York City. Damit hat die jiddische Kultur, wie wir sie in Hiob kennenlernen, nur in
Amerika überlebt. In Osteuropa ist sie weitgehend zerstört worden und in Israel
scheint sie verdrängt und bedeutungslos geworden zu sein. Jedenfalls ist Jiddisch
keine Amtssprache in Israel – und sonst auch nirgends.
Die Wahrheit, dass die osteuropäisch-jiddisch-jüdische Kultur nur im Exil überleben
konnte, wurde von Joseph Roth bereits vorweggenommen, als er von sich selbst
sagte:
"Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, dass ich in mir
selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch fühle. Wo es mir schlecht
geht, dort ist mein Vaterland. Gut geht es mir nur in der Fremde. " (In
einem Brief am 10. Juni 1930, dem Erscheinungsjahr von Hiob)
Ähnlich wird es Mendel Singer ergehen: Er erlebt die Ankunft im Exil aus der Sicht
des Erzählers auf doppelte Weise:


"Schon war er einsam, Mendel Singer. Schon war er in Amerika…" (Ende
des 1. Teils, S. 104)
"Ja, er war beinahe heimisch in Amerika!" (Beginn des 2. Teils, S. 107)
Diese zwiespältige Haltung zwischen ironischer Distanz und Anerkennung einer
unbequemen Wahrheit dringt bei Joseph Roth überall durch: Die ironische Sicht ist
nicht die ganze Wahrheit.
Mit welchem Amerikabild seiner Zeit ging Joseph Roth, der Amerika, resp. New York,
nicht aus eigener Ansicht kannte, ans Werk?
Welches Bild, oder welche Bilder von Amerika waren in Europa zur Zeit des Hiob im
Umlauf?
Aber zuerst:
Was war Amerika im frühen 20. Jh.?
1890
1898
1914
1917
Ende der Indianerkriege mit dem Massaker von Wounded Knee: Die USA
nehmen den Kontinent von Küste zu Küste in Beseitz
Sieg im spanisch-amerikanischen Krieg: Beginn der imperialistischen
Ausbreitung:
 Kuba
 Puerto Rico
 Hawaii
 Philippinen etc.
Der Einfluss der USA in der Karibik nahm zu und manifestierte sich neu mit
aller Macht im Pazifik. Gleichzeitig setzte sich die bisherige rasante
Industrialisierung weiter fort.
Eröffnung des Panamakanals
Kriegsentscheidender Eintritt in den Ersten Weltkrieg auf der Seite von
Grossbritannien und Frankreich
Das Bild in Europa war im deutschsprachigen Europa von Literaten wie Karl May bis
Franz Kafka geprägt, wahrscheinlich auch von Übersetzungen des Lederstrumpf von
J. F. Cooper. In diesem Bild steckte viel Fantasie und Projektion, von der Romantik
des Wilden Westens bis zur Horrorvision der Industrialisierung, resp. des
amerikanischen Kapitalismus.
Umgekehrt hatte Mark Twain in Innocents Abroad die Amerikanerinnen und
Amerikaner auf der Grand Tour of Europe als eher einfältige Reisende beschrieben.
Und dies klingt auf musikalischer Ebene noch bei George Gershwins An American in
Paris nach. Die Amerikaner haben Geld, möglicherweise Goodwill, aber wenig Kultur.
Gegenseitig herrschte also viel Ignoranz über die andere Kultur. Die Reise war auch
immer noch lang und beschwerlich.
Im Ersten Weltkrieg wurde plötzlich offenbar, was nur einzelnen Ökonomen z.T.
bewusst gewesen war, dass die USA Europa wirtschaftlich, politisch und militärisch
überholt hatten. Diesen Schock, der für die Verlierer des Weltkrieges besonders
schmerzhaft war, versuchte man mit der Vorstellung kultureller Überlegenheit zu
übertünchen. Dabei waren zwei Klischee-Bilder vorherrschend, die auch Joseph
Roths Amerikabild prägen: Materialismus und Melting Pot.
Zuerst zum Materialismus:
Der erste Anblick Amerikas, wie für die meisten europäischen Auswanderer, ist die
Freiheitsstatue, zweifellos ein Moment voll Symbolkraft. Dazu heisst es:
»Jetzt erscheint«, sagte ein Jude, der schon zweimal diese Fahrt mitgemacht
hatte, zu Mendel Singer, »die Freiheitsstatue. Sie ist hunderteinundfünfzig Fuß
hoch, im Innern hohl, man kann sie besteigen. Um den Kopf trägt sie eine
Strahlenkrone. In der Rechten hält sie eine Fackel. Und das schönste ist, daß
diese Fackel in der Nacht brennt und dennoch niemals ganz verbrennen kann.
Denn sie ist nur elektrisch beleuchtet. Solche Kunststücke macht man in
Amerika.« (S. 99)
Das Symbol der Freiheit, also die Freiheit selbst, wird in materialistischer Grösse
gemessen, in Fuss, es oder sie ist hohl – also inhaltslos, dafür ist die Effekthascherei
umso eindrucksvoller. Das Inhaltsleere wird inszeniert: "solche Kunststücke macht
man in Amerika."
Und dann kommt der Satz, der umwirft: "Am Vormittag des fünfzehnten Tages wurden sie
ausgeladen." (S. 99) Die Menschen werden zu Waren.
Schon Macs Erscheinen in Zuchnow hatte den Eindruck eines Geldmenschen
gemacht, auch wenn den eines Geld-Gutmenschen. Macs und Sams wirtschaftlicher
Erfolg in Amerika basiert auf Spekulation und Warenhaus, beides in Joseph Roths
Europa bekannt, aber Zeichen von Dekadenz. So richtet sich die Nazi-Propaganda in
den späten 20er Jahren massiv gegen die jüdischen Warenhäuser.
Es gibt viele spöttische Hinweise auf die Oberflächlichkeit des American way of life.
Dabei wird nicht immer klar zwischen der Warte des Erzählers und der
Wahrnehmung der beteiligten Figuren unterschieden, von der aus das Geschehen
ironisch kommentiert wird:
 Sam duscht mehrmals am Tag, die äussere Sauberkeit ist wichtiger als
die existenzielle Reinheit.
 Das Grammophon von Mirjam spielt von Walzer bis Kol-Nidre, einem
jüdischen Gebet; Unterhaltung und kulturelle, hier religiöse Werte sind
austauschbar.
 Deborah und Mirjam gehen shoppen.
 In Mendels Ohren gibt es eine permanente Lärmüberflutung.
 Viele Hinweise zielen auf die Geschwindigkeit des Lebens, des urbanen
Lebens schlechthin.
Im Roman ist nicht immer auszumachen, wo der Erzähler die subjektive Perspektive
Mendels einnimmt und wo er eine kommentierende, europäisch- snobistische
Position einnimmt. Immer wieder verschmelzen ironische mit ernst gemeinten
Kommentaren:
"Aber die Schöße seines Rocks pochten nicht mehr mit hastigem Flügelschlag
an die rohledernen Schäfte. Denn Mendel Singer hatte in Amerika, wo alles
eilte, erst gelernt, langsam zu wandern." (S. 113)
An solchen Stellen zeigt sich das Doppelgesicht Amerikas: die fremde Welt, in er es
einem Juden gut geht.
Der Melting Pot, das andere Klischee:
Dass die USA ein kultureller Melting Pot seien, ist eine Teilwahrheit, auch wenn sie
bis heute kolportiert wird. Für die Sprache trifft sie wenigstens zum Teil zu: Wie im
Deutschen, gibt es eine grosse Anzahl jiddischer Wörter im Amerikanischen. Dies ist
nicht erstaunlich, ist doch eine grosse Anzahl amerikanischer Autoren des 20.
Jahrhunderts jüdisch-jiddischer Abstammung, daunter mehrere Nobelpreisträger wie
Saul Bellow oder Isaac Bashevis Singer. Der letztere schrieb seine Werke sogar
ursprünglich auf Jiddisch, bevor sie auf Englisch erschienen.
Die Sprache, ironisch kommentiert, spielt auch für Mendels Anpassung an das neue
Leben eine grosse Rolle, hier wie er die amerikanischen Wörter in seiner Sprache
kommentiert:
"Er wußte bereits, daß old chap auf amerikanisch Vater hieß und old fool
Mutter, oder umgekehrt." Und sein Enkel wird bald ein "college boy" sein etc.
(S. 107)
Es ist natürlich ein ziemlich bösartige Ironie, die die neue Sprache mit einer
Abwendung vom Respekt vor den Eltern kombiniert. Hier zeigt sich der Kultur- und
der Zukunftspessimismus, die sich in der Rothschen Ironie manifestieren.
Assimilation (was wir heute im Immigrationsdiskurs "Integration" nennen, eben ein
Merkmal von "Verschmelzung") über die Sprache hinaus wird in den Figuren von
Roth sehr brillant, wenn auch oft mit kultur-pessimistisch, ironischem Unterton,
beschrieben.
Schemarja der Sam erscheint den Ankommenden folgendermassen:
"Auf einmal stand Schemarjah vor ihnen.
Alle drei erschraken auf die gleiche Weise.
Sie sahen gleichzeitig ihr altes Häuschen wieder, den alten Schemarjah und
den neuen Schemarjah, genannt Sam.
Sie sahen Schemarjah und Sam zugleich, als wenn Sam über einen
Schemarjah gestülpt worden wäre, ein durchsichtiger Sam.
Es war zwar Schemarjah, aber es war Sam.
Es waren zwei. Der eine trug eine schwarze Mütze, ein schwarzes Gewand und
hohe Stiefel, und die ersten flaumigen, schwarzen Härchen sprossten aus den
Poren seiner Wangen.
Der zweite trug einen hellgrauen Rock, eine schneeweiße Mütze wie der
Kapitän, breite, gelbe Hosen, ein leuchtendes Hemd aus grüner Seide, und
sein Angesicht war glatt wie ein nobler Grabstein.
Der zweite war beinahe Mac.
Der erste sprach mit seiner alten Stimme – sie hörten nur die Stimme, nicht die
Worte.
Der zweite schlug mit einer starken Hand seinem Vater auf die Schulter und
sagte, und jetzt erst hörten sie die Worte: »Hallo, old chap!« – und verstanden
nichts.
Der erste war Schemarjah. Der zweite aber war Sam. […]
Im stillen wiederholten sie sich ein paarmal, daß Sam Schemarjah war. Dann
erst freuten sie sich." (S.100)
Dies ist eine grossartige Beschreibung von Assimilation, wie sie uns hier in der
Wahrnehmung der Ankommenden entgegentritt.
Ebenso wichtig wie der Melting Pot-Aspekt ist der andere Aspekt, der der Erhaltung
der Eigenart, das Bestehen einer integern jiddisch-jüdischen Gemeinschaft, der
Gemeinschaft der Freunde von Mendel, der Gebetsgruppe, in der Mendel und seine
Familie gleich bis zu einem gewissen Grad heimisch sind.
Und hier erscheint das Amerika, das bei Roth zwar vorkommt, aber nicht
kommentiert wird: das Amerika des Nebeneinanders (das in Europa bis heute oft
ausgeblendet wird).
The Bowery
Werfen wir einen Blick auf den Ort, wo die Mendels sich niederlassen: The Bowery
auf der East Side.
New York besteht bis heute aus Neighbourhoods, die alle einen eigenen Charakter
haben – und eine Bewohnerschaft, die sich dessen ebenso sehr bewusst ist, wie die
langjährigen Bewohner der Breite oder des St. Johann-Quartiers in Basel, des Marzili
in Bern oder von Züri West! In den Neighbourhoods findet man das Gegenteil von
Verschmelzung, nämlich das Nebeneinander von unterschiedlichen Kulturen. "Strong
fences make good neighbours." (Der ukrainisch-amerikanische, jüdische Komponist
Leonard Bernstein liess sein Neighbourhood-Drama Westside Story ursprünglich in
der Eastside, in der Bowery, spielen, mit dem Drama zwischen jugendlichen
Katholiken und Judengangs anstelle der schliesslich gewählten angelsächsischen
und Puerto Ricanerjungen.)
Und einiges dieser Neighbourhood-Atmosphäre tritt in Joseph Roths Geschichte
ebenfalls in Erscheinung. Es ist nicht das Klischeebild des New York der
Hochhäuser, die es seit dem Ende des 19. Jh. gibt, auch wenn noch nicht in der
Höhe des Empire State Buildung, des Chrysler Buildings und des Rockefeller
Centers (die alle in den späten 30er Jahren gebaut werden – gegen die Grosse
Depression).
Die Bowery wird in Wikipedia folgendermassen beschrieben:
Die Bowery ist eine im Süden von Manhattan (New York) gelegene Straße
und deren Umgebung. Begrenzt wird das Gebiet durch die East 4th Street und
das East Village im Norden, die Canal Street und Chinatown im Süden, durch
die Allen Street und die Lower East Side im Osten sowie durch die Straße
Bowery und Little Italy im Westen. Größere Straßenzüge, die die Bowery
durchschneiden, sind neben der Canal Street die Delancey Street, an der die
Station Bowery der New York City Subway liegt, sowie die Houston und die
Bleecker Street.
Die Bowery (ursprünglich nach den Bauernhöfen der holländischen Siedler vor der
neugegründeten Stadt Neu Amsterdam benannt) entwickelte sich im 19. Jahrhundert
mit einer grossen deutschen Einwanderung zu "Kleindeutschland" mit Textilfabriken
(so genannten Sweatshops), einer starken Gegwerkschaftsbewegung, soziallen
Spannungen und Auseinandersetzungen. Die jüdische Einwanderung im letzten
Drittel des Jahrhunderts führte zu einer jüdischen Mehrheit bis zu 60%. Um die
Jahrhundertwende gab es in der Bowery sogar eine literarische Bewegung auf
Jiddisch, die Sweatshop Poets.
New York (wie ein grosser Teil der USA) besteht aus dem Nebeneinander – auch
dem geografischen Nebeneinander – der verschiedenen Immigrationsgesellschaften:
 WASPs
 Italiener
 Chinesen






Puert Ricaner
African Americans (zur Zeit Roths respektvoll Nigroes genannt)
Iren
Polen
später Hispanics (vor allem Mexikaner)
und heute auch Vietnamesen, Iraner, Iraker und Afghanen
Daneben existiert auch ein Nebeneinander der verschiedenen Konfessionen: Die
zwanzig grössten konfessionellen Gruppen sind folgende:
 Protestants
 Catholics
 Latter-day Saints
 Baptists
 Methodists or Wesleyans
 Lutherans
 Presbyterians
 Pentecostals
 Episcopalians or Anglicans
 Judaism
 Latter-day Saints or Mormons
 Churches of Christ
 Congregational or United Church of Christ
 Jehovah's Witnesses
 Assemblies of God
Viele dieser Gruppierungen waren ursprünglich vor Verfolgung in der einen oder
andern Art aus Europa geflohen. Bis heute – und – im Gegensatz zu Europa – heute
zunehmend – sind die USA ein tief religiöses Land. (Wie man zu gewissen Formen
dieser Religiosität steht, ist eine andere Frage). Und diese Gruppierungen leben und
lebten, wenn nicht friedlich, so doch weitgehend erfolgreich nebeneinander. Ganz
anders als in Europa! Auch in Roths Amerika findet sich kein Hauch von
Antisemitismus.
Warum?
Die Antwort auf diese Frage ist wohl auch der Grund, weshalb sich die jüdischen
Gemeinden in den USA erfolgreich etabliert haben und es schon zu Roths Zeit nicht
nur ein ironischer Kommentar war, wenn jemand zu Mendel sagt: "Ein Jude kann
sich nichts Besseres wünschen, als nach Amerika zu gelangen."
Aber zur Antwort auf das Warum: Das religiöseste Land der westlichen Hemisphäre
hat nicht nur die erste und älteste, sondern auch die säkularste Verfassung der Welt.
Die Schweizer Verfassung, im Jahr 1999 total revidiert, beginnt folgendermassen:
"Im Namen Gottes, des Allmächtigen!" Die Verfassung der USA, 1789, kurz vor der
Franz. Revolution in Kraft gesetzt und immer noch im ursprünglichen Wortlaut gültig
(allerdings ergänzt durch 27 Amendments [Verfassungsergänzungen]), beginnt: "We
the people…" (Wir, das Volk…). Kein Gott weit und breit. Und dies aus der weisen
Erkenntnis der ebenfalls tiefreligiösen Gründerväter, dass nur eine säkulare
Verfassung den religiösen Frieden unter den unterschiedlichen, oft absolut
intoleranten Glaubensflüchtlingen sichern konnte.
Dies hat bis heute den religiösen Frieden trotz Hasspredigern vieler Konfessionen
und Rassismen aller Art bewahrt. Und es hat die Juden in den USA vor Verfolgung
geschützt, während in Europa Welle über Welle von antisemitischen
Diskriminierungen, Verhetzungen, Verfolgungen und systematischen
Mordkampagnen im Namen der jeweiligen Staaten und Verfassungen über die
jüdischen Gemeinden hinweggegangen sind.
Sind die Juden in den USA einfach eine Minderheit unter andern?
Chinatown, Little Italy, Kleindeutschland etc., alle diese Neighbourhoods sind heute
erkennbar an den Chinese Restaurants, Pizzerias, Beergardens, Irish Pubs,
Vietnamese Takeaways etc. Alle diese Minderheiten konnten sich – Gegensatz zu
den Juden – auf eine geografische Heimat berufen. Viele entdeckten ihre
Gemeinsamkeiten, vor allem die Sprache, erst in der Emigration – unter all den
anderen. Viele, die das nicht konnten, verloren ihre Kultur und lösten sich in der
Assimilation auf und wurden Teil des "Melting Pot". Was ist es, das die Juden über
2000 Jahre nach der Vertreibung aus Jerusalem und nach 1000 Jahren der
periodischen Verfolgung in den christlichen Ländern als Volk und Religionsgruppe
erhalten hat? Länger als alle andern Gruppierungen und länger als viele staatliche
Organisationsformen?
Meiner Meinung nach sind dies zwei Elemente:
Die Bücher der Tora, die wir als Altes Testament kennen, enthalten zwei Dinge, die
für die Identifikation mit einer menschlichen Gruppierung (vom Verein bis zum Staat)
entscheidend sind: Geschichte und Gesetz. Jedes menschliche Kollektiv beruft sich
auf seine Geschichte, vom sich selbst gewissernden "Weisch no?" der
Zusammenkunft Ehemaliger bis zum Nationalfeiertag der Staaten. Und jedes
Kollektiv funktioniert nach eigenen Gesetzen, von den ungeschriebenen Regeln des
informellen oder geheimen Bundes über die Statuten von Vereinen bis zur
staatlichen Verfassung. Sie tun dies mit unterschiedlich starker Legitimation und
Verbindlichkeit. Die höchst mögliche ist natürlich die von Gott verliehene, also die
Heilige Schrift. (Das ist etwas anderes als die Italiener, die sich auf Garibaldi beriefen
oder die Mormonen mit ihrem Joseph Smith.)
Die Geschichten der Tora (Mythologie ist eine Urform der Geschichtserzählung) sind
die Geschichte vom Beginn der Welt über den Bund mit Jehova bis zur Erlösung in
der Zukunft, also vom ersten Anfang bis zum Ende der Welt. Eine kolossalere
Geschichtsschreibung ist nicht möglich! Gleichzeitig beinhalten diese Bücher eine
bindende Gesetzessammlung. Nicht nur die 10 bekannten Gebote, sondern noch ca.
600 weitere. Einmal die Bibel lesen als Lebensprojekt lohnt sich, auch – oder
besonders – für nichtreligiöse Leserinnen und Leser!
(Heute ist die historische Begründung die "raison d'être" des Staates Israel und
seiner Besatzungspolitik. Vor der Shoah und der Existenz des real existierenden
Israel war dies nicht so; die Tora konnte deshalb zur Zeit von Joseph Roth auch nicht
zur Rechtfertigung von eigenem Rassismus und Ausgrenzung beigezogen werden.)
Im Gegensatz zu Europa, wo diese beiden Eigenschaften und ihr religiöses
Fundament die Juden in einen Gegensatz zur staatlichen Geschichte (resp.
Mythologie) und zu den staatlichen Gesetzten brachte, waren die USA eine aus
solchen ausgegrenzten Gemeinschaften zusammengewürfelte Gemeinschaft, die
sich jede auf ihre eigene Tradition berufen konnte – und es auch tat und je nach dem
immer noch tut.
Viele dieser Gemeinschaften (die Italiener, die Polen, die Iren) fanden ihre
Gemeinsamkeit durch Sprache, Rituale, kollektive Erinnerungen erst im Exil und
bauten von hier aus ihre nationalen Bewegungen auf. Nicht so die Juden: Sie hatten
sie als uralte Erfahrung mitgebracht. Vieles von dieser Erfahrung ist – versteckt unter
Ironie und Kulturpessimismus – bei Joseph Roth vorhanden, z. B. wenn er von sich
selbst sagt:
"Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, dass ich
in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch fühle. Wo es mir
schlecht geht, dort ist mein Vaterland. Gut geht es mir nur in der Fremde.
Wenn ich mich nur einmal verlasse, verliere ich mich auch. Deshalb achte
ich peinlich darauf, immer bei mir zu bleiben." (Im bereits zitierten Brief
vom 10. Juni 1930)
Joseph Roths Figur Mendel Singer würde dies zwar nicht so eloquent sagen, aber
ebenso fühlen.
Was Roth ironisch kommentiert, die Hohlheit der amerikanischen Kultur, symbolisiert
in der Hohlheit der Freiheitsstatue, gibt Mendel Singer die Möglichkeit, bei sich zu
bleiben, oder sich sogar in seinem Sohn Menuchim erst zu finden. So hat diese
Ironie immer wieder eine überraschende andere Seite, die eines tiefen Ernstes. Zum
Beispiel auch in dieser Aussage:
"Man hatte ihm gesagt, daß Amerika God's own country hieß, daß es das
Land Gottes war, wie einmal Palästina, und New York eigentlich the wonder
city, die Stadt der Wunder, wie einmal Jerusalem." (S. 107)
In New York erlebt Mendel das Menuchim-Wunder, damit wird die Ironie eigenartig
gebrochen.
Jerusalem und New York Städte der Wunder:
Die ausgewanderten Puritaner, die Pilgerväter, hatten tatsächlich geplant, in der
Neuen Welt ein neues Kana'an, ein gelobtes, rein nach der biblischen Lehre
lebendes Land aufzubauen und sich selbst als Nachfolger Israels im Bund mit Gott
gesehen. Dieses Abkupfern des jüdischen Anspruchs durch die Amerikaner, wird im
obigen Zitat ironisiert.
Aber bitterer Ernst steckt auch darin: 1930, zur Zeit der Veröffentlichung von "Hiob",
gab es Jerusalem als jüdische Stadt der Wunder nicht. Auch Israel als jüdischen
Staat gab es nicht. Es gab den Zionismus als säkular-nationale Bewegung, es gab
die jüdische Auswanderung nach Palästina, es gab die damals noch sehr
sozialistische Kibbuzim-Bewegung – aber alles auf britisch administriertem
arabischem Territorium, und alles sehr konfliktbeladen. Der Holocaust, die Shoah,
die die uns heute bekannte Situation lostreten sollte, hatte noch nicht stattgefunden.
New York war das damalige Jerusalem. Und die tragische Zukunft lag wie eine noch
zu werdende Wahrheit unter der Ironie von Joseph Roth.
*
Zusammenfassung:
Das Amerikabild von Joseph Roth ist durchwegs doppelbödig
 einerseits:
o ironisch
o europäisch-arrogant
 anderseits:
o enthält es eine durchaus realistische Einschätzung der Bedeutung
Amerikas für das Bewahren einer europäisch-jüdischen Identität.
Hinter dieser ironisch verhüllten wirklichkeitsnahen Einschätzung steckt Roths
Kulturpessimismus. Dieser Kulturpessimismus ist begründet in der jüdischen
Geschichte aber auch in der düsteren Realität Europas nach dem 1. Weltkrieg.
Der Rothsche Kulturpessimismus gewinnt eine tragische Bestätigung aus jüdischer
Sicht mit dem Zweiten Weltkrieg.
Bilder zur Bowery:
Google Earth
Bowery um die Zeit des Ersten Weltkriegs und heute

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