1 „Trauer – Melancholie – Depression. Ein Blick in die Kunst

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1 „Trauer – Melancholie – Depression. Ein Blick in die Kunst
Jörg Völlnagel: Trauer – Melancholie – Depression
„Trauer – Melancholie – Depression. Ein Blick in die Kunst- und Kulturgeschichte“ *
von Jörg Völlnagel
„Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst“ ist der Titel der enzyklopädischen
Ausstellung, die im vergangenen Frühjahr (2006) in der Neuen Nationalgalerie in
Berlin und davor im Grand Palais in Paris zu sehen war (Melancholie. Genie und
Wahnsinn in der Kunst. Ausstellungskatalog Berlin 2005 (im Folgenden: Melancholie
2005)). Wir haben in der Ausstellung die unterschiedlichen Aspekte der Melancholie
zwischen zwei Polen, zwischen Genie und Wahnsinn, über mehr als zweieinhalb
Jahrtausende verfolgt, und diese Entwicklung will ich anhand von Werken aus der
Ausstellung in der gebotenen Kürze auch in meinem heutigen Vortrag nachzeichnen:
Es ist der Kanon der Melancholiedarstellungen als konstituierendes Element der
europäischen Kunst.
Antike
Die Ursprünge unserer Melancholievorstellungen liegen in der Antike: Die antike
Philosophie und Medizin bilden die Grundlage für die gesamte Ausprägung und
Entwicklung des Phänomens, weshalb ich meine Betrachtungen mit der Erläuterung
der antiken Melancholie beginnen will. Allein schon das mittelalterliche Wort Melancholie geht direkt auf das griechische melancholíā mit den beiden Wortbestandteilen
mélas – schwarz – und cholē – Galle – zurück. Melancholie bedeutet also Schwarzgalligkeit (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin und
New York 231995, S. 551).
Gemäß der antiken Vorstellung wird das melancholische Temperament und die mit
ihm verbundene Niedergeschlagenheit oder Schwermut durch einen körperlichen
Überschuss an schwarzer Galle verursacht, durch die „fehlerhafte beschaffenheit des
mit schwarzer, verbrannter galle versetzten blutes“, wie es später im Deutschen
Wörterbuch der Gebrüder Grimm heißt (Bd. 12, München 1984, Sp. 1988). Grundlegend ist die so genannte Humoralpathologie oder Viersäftelehre des Hippokrates
von Kos, die er in seiner um 420 v. Chr. verfassten Schrift Über die Säfte des
Menschen ausführt. Diese Theorie basiert auf der Vorstellung, dass der Körper im
Zusammenspiel von vier Säften funktioniert: Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze
Galle. Sind diese vier Säfte im absoluten Gleichgewicht, ist der Mensch körperlich
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wie seelisch vollkommen gesund. Gewinnt einer der Säfte einen Überschuss, entsteht eine der Dispositionen, welche die vier Complexionen oder Temperamente
genannt werden. Und aus dem Überschuss der schwarzen Galle resultiert – wie
gehört – die Melancholie.
Ich zeige hier ein auf antiken Vorlagen basierendes Viersäfteschema mit den jeweils
zugehörigen Temperamenten, Elementen der Natur und weiteren Eigenschaften.
Das Schaubild Mundus Annus Homo war ursprünglich eine Illustration zu Isidors
Schrift De natura rerum (XI, S. 2 f.). Die Darstellung folgt der Druckausgabe Augsburg (bei Günther Zainer) 1472.
Im Gegensatz zum ‚Naturwissenschaftler’ Hippokrates steht Asklepios (Äskulap), der
griechische Gott der Heilkunde. Die ihm geweihten Heiligtümer werden Asklepieia
genannt, dort begibt man sich zur Ruhe, und die Heilung kommt gewissermaßen
durch höhere Mächte im Schlaf. Man schläft sich sozusagen gesund.
Es ist ein interessanter Umstand, dass sich die moderne Ärzteschaft mit dem Eid des
Hippokrates und dem Signet des Äskulapstabes auf beide antiken Traditionen stützt,
obschon sie vollkommen gegensätzlich sind.
Zu den antiken medizinischen Vorstellungen kommt der Geniegedanke bei Aristoteles, der die Melancholie mit besonderen Geistesgaben verbindet. In der ihm zugeschriebenen Schrift Problemata, die jedoch tatsächlich von der Hand seines Schülers
Theophrast stammen dürfte, heißt es im berühmten Problem XXX, 1:
„Aus welchem Grunde sind alle hervorragenden Männer, sei es, dass sie sich in
der Philosophie, der Politik, der Poesie oder den bildenden Künsten ausgezeichnet haben, offenbar Melancholiker?“
Diese Frage ist kaum zu beantworten, es bleibt aber festzustellen, dass im Umkehrschluss Melancholie fortan auch mit besonderen Geistesgaben verbunden wird.
Es sind drei Grundkomponenten, die die antike Melancholie prägen: Genialität, wie
wir sie bei Theophrast kennen gelernt haben, sowie Wahnsinn und Trauer. Diese
drei grundlegenden Aspekte der Melancholie bleiben auch für die folgenden Jahrhunderte bestimmend.
Mit dem melancholischen Wahnsinn verbindet sich die Geschichte von Aias oder
Ajax. Den Versen Homers gemäß werden nach dem Tode Achills dessen Waffen
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nicht Aias, sondern Odysseus zugesprochen. Aias gerät darüber in Zorn und wird
von den Göttern dafür mit geistiger Umnachtung bestraft, in der er sich – im Glauben,
es handele sich um seine Gegner – an einer Schafsherde rächt, indem er sie niedermetzelt. Als er wieder bei Sinnen ist, beschließt er sich zu töten, da er die Schmach
des Wahnsinns und der im Wahnsinn begangenen Tat nicht erträgt. Ich zeige hier
das antike Tonfragment eines so genannten Schlauchalabastrons (Theben, um 600
bis 575 v. Chr., Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung). Wir sehen Aias im
Moment seines Selbstmordes, indem er sich in sein in den Boden eingepflanztes
Schwert wirft.
Das Motiv der Trauer hingegen finden wir beispielsweise bei Penelope, der verlassenen Gattin des Odysseus, die zwanzig Jahre auf dessen Rückkehr wartete,
ohne zu wissen, ob er je zurückkehren würde. Sie stützt ihren gramgebeugten Kopf
in ihre rechte Hand, ein Motiv, welches als gestus melancholicus in die Kunst
Eingang gefunden hat (Kopf der Penelope, römische Kopie eines griechischen
Originals (um 450 v. Chr.), Marmor, Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung).
Mittelalter
Gegen Ende des 3. Jahrhunderts bricht eine Reihe von Christen mit der Gesellschaft
und zieht sich in die Wüsten Ägyptens und Syriens zurück. Von unkontrollierbaren
Gedanken und Reizen heimgesucht, fallen die Eremiten in einen Zustand spiritueller
Niedergeschlagenheit, der in den überlieferten Texten mit dem Wort Acedia –
Trägheit – bezeichnet wird.
Aus theologischer Sicht galt Acedia als Todsünde, da sie zur Trägheit des Körpers
wie der Seele führt. Im späten Mittelalter entstanden im Norden Europas zahlreiche
Darstellungen in Versuchung geführter Eremiten, darunter diejenige des heiligen
Antonius, hier in der um 1520 entstandenen Fassung eines unbekannten oberrheinischen Meisters (Wallraf-Richartz-Museum, Köln). Visionen und Obsessionen
werden im späten Mittelalter, verstärkt auch durch die klösterliche Lehre, als Werke
des Teufels empfunden.
In der christlichen Ikonografie des Mittelalters vervielfältigten sich die Verbildlichungen von Trauer und Leid, die im Zusammenhang mit Christi Opfertod mit der Melancholie verbunden wurden. Trauer und Melancholie sind auch in dem Gemälde Die
Grabbereitung Christi von Vittore Carpaccio (um 1505, Staatliche Museen zu Berlin,
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Gemäldegalerie) omnipräsent: Neben Hiob, der in der Bildmitte an einen Baum
gelehnt sitzt, und den anderen biblischen Protagonisten spiegelt auch das Kolorit der
kargen, ja abgestorben wirkenden Landschaft in zurückhaltenden Braun- und Grüntönen die seelische Empfindung der Trauer. Gesteigert wird diese durch die
Darstellung des mit zahlreichen Ruinen, abgebrochenen Stelen und zerborstenen
Monumenten übersäten Grabbezirks, dessen Morbidität durch die Vielzahl umherliegender Gebeine betont wird. Hier zeigt sich die tief empfundene Melancholie einer
über den Kreuzestod des Gottessohnes trauernden und noch nicht durch seine Auferstehung erlösten Welt.
Eine Sonderform ist die Melancholie in der höfischen Kultur des hohen Mittelalters:
Schiere Melancholie stellt das Bildnis des Walther von der Vogelweide dar, das der
Codex Manesse, auch die Große Heidelberger Liederhandschrift genannt, zeigt
(Deckfarben auf Pergament, entstanden zwischen 1305 und 1340, Universitätsbibliothek Heidelberg). Er ist das schönste und umfassendste Sammelwerk mittelalterlicher Lyrik und vereint – ohne Überlieferung der Melodien – etwa 6000 Strophen
von 140 Dichtern, die ihren Versen jeweils in ganzseitigen Autorenbildern vorangestellt sind. Walther, der wohl bedeutendste Lyriker des Mittelalters, wird in der
typischen Pose des meditativen Dichters gezeigt: Auf einem begrünten Felsen
sitzend, den Kopf schwer in die linke Hand gestützt, hält er in der rechten das Blatt,
auf das sich in schönster Melancholie die Essenz seines Sinnierens ergossen hat –
das höfische Minnelied der unerfüllten Liebe, das einer verheirateten Dame der
Gesellschaft huldigt, ohne auf Gehör hoffen zu dürfen. Und poetischer als zu Beginn
der ersten Reichston-Strophe, Walthers vielleicht berühmtestem Gedicht, lassen sich
Körper- und Denkhaltung des Melancholikers wohl kaum in Worte fassen:
„Ich saz ûf eime steine
und dahte bein mit beine,
dar ûf satzt ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer welte sollte leben.“
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Ebenfalls aus dem hohen Mittelalter, nämlich von Hildegard von Bingen, stammt die
Idee, dass die vier Temperamente, und damit auch die Melancholie, mit dem
Sündenfall entstehen. Diese Vorstellung wird zu einem Grundgedanken des
Humanismus, man könnte sie gewissermaßen als die religiöse Aneignung der
hippokratischen Viersäftelehre bezeichnen.
Renaissance
Wir kommen nun zu einem Künstler, dessen Arbeiten zur Melancholie und den vier
Temperamenten von nicht zu überschätzender Wichtigkeit und von größtem Einfluss
für die weitere Entwicklung des Bildes der Melancholie sind: Albrecht Dürer.
In seinem berühmten Kupferstich Adam und Eva von 1504 präsentiert Dürer den
menschlichen Körper – antiker Proportionslehre gemäß – in perfekter Ausgewogenheit, sowohl seine Haltung als auch seine Proportionen betreffend. Er illustriert darin
jedoch auch die vier Temperamente, da der Sündenfall – wie gehört, der mittelalterlichen Scholastik folgend – mit den vier Temperamenten verbunden wird (vgl. Erwin
Panofsky, Albrecht Dürer, Princeton ³1948, I, S. 84-85). Vor dem Sündenfall befand
sich der menschliche Organismus in harmonischer Ausgewogenheit, auch seinen
Säftehaushalt betreffend; dies zeigt Dürer in seiner Darstellung des ersten
Menschenpaares, wobei der zukünftige Verlust der Vollkommenheit in der Anwesenheit von vier Tieren bereits angedeutet wird, wie Erwin Panofsky gezeigt hat. Sie
stehen für die vier Temperamente und die mit ihnen verbundenen Charaktereigenschaften: Der Hase für sanguinische Sinnlichkeit, die Katze für cholerische
Gewalt – sie wird die vor ihr sitzende Maus unmittelbar nach dem Sündenfall töten –,
der Elch für melancholischen Trübsinn und der Ochse für phlegmatische Trägheit.
Gemeinsam mit Dürers drei so genannten Meisterstichen aus den Jahren 1513/14,
Ritter, Tod und Teufel, Melencolia I und Hieronymus im Gehäus – mit diesen im
Format nahezu identisch und von ebenso hoher technischer Perfektion –, bildet der
Adam und Eva-Kupferstich einen Zyklus der vier Temperamente: Das Adam und
Eva-Blatt zeigt den Menschen noch in perfekter Ausgewogenheit, in einem Idealzustand, dem unter den Temperamenten das sanguinische entspricht, da es als das
beste Temperament erachtet wurde; Sanguiniker werden demgemäß gerne als
Liebespaar dargestellt. Mit dem Sündenfall kommen die belasteten Temperamente in
die Welt, die uns Dürer in den Personen seiner Meisterstiche zeigt: In Ritter, Tod und
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Teufel begegnet uns der Choleriker, Melencolia I verkörpert die Melancholie, und
Hieronymus im Gehäus ist das Sinnbild des Klerikers als Phlegmatiker, der sich in
sein mit weichen Kissen ausgestattetes Studierzimmer zurückgezogen hat.
„Zusammen mit dem früheren Adam und Eva-Kupferstich ergeben Dürers vier
Meisterstiche so Idealbilder der vier Temperamente, ihrer Auszeichnung wie ihrer
Gefährdung“ (Peter-Klaus Schuster, in: Melancholie 2005, Kat. 25).
Von Dürer ausgehend, lässt sich die gesamte Geschichte der Melancholiedarstellungen durchdeklinieren. Deshalb ist es unerlässlich, an dieser Stelle wenigstens
kurz auf Dürers Meisterstich Melencolia I einzugehen; die Ausdeutung dieses Blattes
ist äußerst komplex und hat eine wahre Flut an Forschungsliteratur hervorgebracht,
ohne dass das Werk bis heute hätte gänzlich erklärt werden können. Ich darf jedoch
an dieser Stelle auf die Forschungen von Peter-Klaus Schuster, Generaldirektor der
Staatlichen Museen zu Berlin und spiritus rector der Berliner Melancholieausstellung,
verweisen (vgl. v. a. Peter-Klaus Schuster, MELENCOLIA I. Dürers Denkbild, 2 Bde.,
Berlin 1991), denen ich an dieser Stelle folgen möchte: Die Melancholiefigur ist umgeben von zahlreichen Gegenständen des Wissens, darunter Zahlenquadrat, Polyeder, Kugel, Zirkel, Werkzeuge. Sie zeigen die Fähigkeiten und Möglichkeiten des
Melancholikers, sind sein Instrumentarium, stecken den Rahmen des Erreichbaren
ab. Die Melancholiefigur ist jedoch zugleich am Ende ihres Wissens angelangt; sie
weiß, dass sie nichts weiß, und deshalb brütet sie. Darauf verweist der Komet am
linken oberen Bildrand: Kometen galten der Dürerzeit als Irrsterne, stellas errantes,
da ihre Himmelsbahn (noch) nicht berechnet werden konnte. Dürers Melancholiefigur
sieht sich also mit einem unlösbaren wissenschaftlichen Problem konfrontiert. Sie
weiß aber auch, dass sie durch Bildung und Tugendhaftigkeit nach Gottgefallen
streben kann, ja muss. Eins sein mit Gott, das Streben nach Gottebenbildlichkeit, wie
es die Genesis darlegt („Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild
Gottes schuf er ihn“), das ist das Heilsversprechen in der Ideenwelt des Humanismus, und das ist die Grundaussage von Dürers Tugendblatt der Melencolia I.
Ein weiterer Aspekt hinsichtlich der Melancholievorstellungen in der Renaissance ist
die gleichsam vor-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr. Wir sehen hier eine
Tafel aus Andreas Vesalius’ Buch De humani corporis fabrica, zu Deutsch: Über den
Bau des menschlichen Körpers. 1543 in Basel erschienen, handelt es sich hierbei
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um das erste große Anatomielehrbuch des Abendlandes, das, meist in szenischen
Darstellungen, etwa 300 Holzschnitte des menschlichen Körpers in allen Details und
in verschiedenen Haltungen vereint. Die hier ausgewählte Tafel zeigt ein an einer
Grabtumba stehendes Skelett in der Haltung des Melancholikers, den Kopf gebeugt
in die linke Hand gestützt, die rechte Hand meditativ auf einen Totenschädel gelegt.
Auf der Grabplatte steht in lateinischer Sprache „Vivitur ingenio, caetera mortis erunt“
(„Man überlebt durch das Genie, der Rest gehört dem Tod“). Diese Idee gehört noch
ganz der Renaissance an (vgl. Philippe Comar, in: Melancholie 2005, Kat. 115). In
Paul Reichels Tödlein-Schrein (um 1580, Innsbruck, Kunsthistorisches Museum,
Sammlungen Schloss Ambras) wird der Tod „Gegenstand der Frömmigkeit und
Meditation über die Endlichkeit des Menschen“, wie Jean Clair im MelancholieKatalog schreibt (Kat. 116). „Memento mori“ („Gedenke des Todes“) ist das Schlagwort, das bereits auf das Gedankengut des aufkommenden Barockzeitalters verweist. Reichel kopiert den melancholischen Tod aus Vesalius’ Anatomieatlas in Form
einer Kleinskulptur und präsentiert diese in einem altarartigen Schrein. Der Tod als
Kulminationspunkt jeglichen Seins gerät ins Zentrum melancholischer Reflexion. Die
Bezeichnung als Tödlein dagegen verniedlicht den Tod und inkorporiert ihn in das
menschliche Leben. Der Tod gehört zum Leben, ein Leben ohne Tod ist ohnehin
undenkbar.
Auch auf Robert Burtons Anatomy of Melancholy, erstmals erschienen 1621 in
London, ist zu verweisen. Es ist hinsichtlich der Beschreibung der Melancholie das
einflussreichste Buch der Epoche.
Genie und Wahnsinn – vom Barock zur Moderne
Mit der Entdeckung des Blutkreislaufes durch William Harvey im frühen 17. Jahrhundert wird die Viersäftelehre erstmals wissenschaftlich in Frage gestellt. Daraus
resultierend beginnt sich um 1800 eine neue Disziplin der Melancholie anzunehmen,
die sich nach und nach zu einer eigenständigen Sparte der Medizin entwickelt: die
Psychiatrie. Die Medizin sucht den Hort der Melancholie nun nicht mehr in der Milz,
sondern im Kopf. Die Psychiatrie macht sich daran, die Melancholie statistisch,
systematisch und anthropologisch zu erforschen. Seit den 1920er Jahren wird der
Begriff Melancholie zunehmend durch denjenigen der Depression ersetzt. Der Begriff
Melancholie verliert seine pathologische Relevanz, er gewinnt hingegen kulturelle
Bedeutung. Das ist die Situation der Melancholie zu Beginn der Moderne.
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Ich zeige nun eine Reihe von Werken aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, die das Bild
von „Genie und Wahnsinn“ verdeutlichen, in welchen die Melancholie als Krankheit
gleichsam aus künstlerischer Sicht beleuchtet wird.
Caius Gabriel Cibber, ein in England lebender dänischer Künstler, ist vor allem für
die beiden Portalskulpturen aus dem Jahr 1676 berühmt, die er für das außerhalb
Londons gelegene Bethlehem Hospital oder Bedlam geschaffen hat. Das Bedlam ist
gewissermaßen die älteste psychiatrische Anstalt der Welt, wurden doch schon seit
1403 Geisteskranke, die man zur damaligen Zeit als Besessene betrachtete, im
Kloster Saint Mary of Bethlehem interniert. Die beiden Figuren, von Cibber für den
Neubau des Hospitals in Moorfields angefertigt, verkörpern den Melancholischen
Wahnsinn und den Manischen Wahnsinn, also die beiden Extreme der Melancholie
und der Manie, oder, wie sie heute medizinisch korrekt bezeichnet werden, der
bipolaren Psychose (vgl. Jean Clair, in: Melancholie 2005, Kat. 216/217).
Der Ausdruck Bedlam wird im Übrigen in England auch heute noch als Synonym für
Verwirrung verwendet.
Ein zentrales Werk mit Blick auf die Vorstellung von der Melancholie im 18. Jahrhundert ist das von dem Schweizer Geistlichen Johann Caspar Lavater verfasste Buch
Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und
Menschenliebe (4 Bde., Leipzig und Winterthur 1775-1778), das mit zahlreichen
Kupferstichen bekannter Künstler illustriert ist. Wir sehen hier eine Tafel mit Darstellungen der vier Temperamente: Unten rechts der Melancholiker, ihm gegenüber der
Phlegmatiker, oben links der Sanguiniker und rechts der Choleriker. Mit diesem Werk
gibt Lavater eine Anleitung dazu, wie verschiedene Charaktere und Geisteszustände
anhand von Gesichtszügen und Körperformen zu identifizieren sind, eine äußerst
folgenreiche Theorie, die zuerst zu lebhaften Diskussionen in den Wissenschaften
und später zu den unmenschlichen Rassentheorien des 19. und 20. Jahrhunderts mit
ihren grauenvoll barbarischen Auswüchsen vor allem im Nationalsozialismus führen
sollte.
Immanuel Kant als wichtigster Vertreter der deutschen Aufklärung stellte im späten
18. Jahrhundert das traditionelle Weltbild auf den Kopf. Er provozierte mit der These,
der menschliche Geist würde niemals die wahre Realität erkennen können und
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bliebe für immer gefangen in seiner eigenen Wirklichkeit. Exakt diesen Zustand
illustriert ein wunderbares Werk von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Der lange
Schatten (um 1805, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Oldenburg). Der
Betrachter blickt in einen geschlossenen, fensterlosen, nahezu leeren Raum. Der Zugang muss auf der Seite des Betrachters liegen, er wird nicht gezeigt. Beleuchtet
wird das düstere Zimmer von einem Kaminfeuer auf der rechten Seite. Am Kaminsims, der mit drei Vasen und einem Spiegel darüber nur spärlich bestückt ist, lehnt
ein junger Mann in zeitgenössischer Kleidung, den Kopf schwer in seine rechte Hand
gestützt. Er ist mit seinen Gedanken allein. Das Kaminfeuer beleuchtet den Melancholiker von hinten und erzeugt einen Schatten, seinen Schatten, der von seinen
Füßen aus über den Boden, die gegenüberliegende Wand und die Decke bis fast zu
seinem Ausgangspunkt zurück verläuft. Mit dem titelgebenden langen Schatten, der
seinen Ursprung und gewissermaßen auch sein Ende in dem jungen Mann hat, symbolisiert Tischbein die Gedanken eines niedergeschlagenen Menschen, die sich ausweglos im Kreis drehen. „Der Raum spiegelt quasi das dunkle [...] Seelenleben des
Dargestellten“ (vgl. Catharina Hasenclever, in: Melancholie 2005, Kat. 220), symbolisiert die „Black Box“ des eigenen Bewusstseins.
Das kleine Aquarell von Tischbein ist eine Ikone der Melancholiedarstellung und so
etwas wie ein Programmbild der Philosophie der Epoche.
Zudem wird im Zeitalter von Aufklärung und Romantik der melancholische Vanitasgedanke zu einer lustvollen Auseinandersetzung mit menschlicher Vergänglichkeit
und Tod gesteigert, ja auf die selbsttätige Herbeiführung des eigenen Todes zugespitzt. Kaum eine andere Figur verkörpert für das späte 18. und das 19. Jahrhundert
das lustvolle Leiden an der süßen Melancholie besser als die antike griechische
Dichterin Sappho. Ihre leidenschaftliche, hingebungsvolle Liebeslyrik dürfte einen
idealen Vorwurf für die romantische Seele abgegeben haben. Einer auf ihren Gedichten beruhenden Legende nach soll sich Sappho aus unerwiderter Liebe ins Meer
gestürzt haben; ich zeige hier ein entsprechendes, 1849 entstandenes Gemälde von
Théodore Chassériau im Pariser Musée du Louvre. Es ist jedoch davon auszugehen,
dass es sich hierbei um ein literarisches Motiv handelt, mit dem die Dichterin die
Darstellung auch des eigenen Liebesrausches zum Äußersten zu treiben vermochte.
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Das Phänomen einer krankhaft ausgeprägten Melancholie gibt es auch in der zeitgenössischen Kunst. Als extremes Beispiel möchte ich den spanischen Künstler
David Nebreda anführen, der 1952 in Madrid geboren wurde. Nebreda leidet unter
einer wiederkehrenden paranoiden Schizophrenie, welcher er, nach mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie inzwischen wieder bei seiner Familie lebend, mit einem
„Zustand der Isolierung und körperlichen und geistigen Quasi-Lähmung“ (Nebreda)
begegnet. Dabei spiegelt er in großen fotografischen Selbstporträts diesen selbst
gewählten Zustand ebenso wie seine Körpernegation und die masochistische Selbstverstümmelung, zu der ihn seine Psyche treibt. Zugleich bedient sich Nebreda unter
Verwendung von Blut, Asche und Vernarbungen auch der christlichen Passionsikonografie, um seinem Leiden eine größere, eine religiöse Dimension zu verleihen
(Das Geschenk meiner Mutter. Das neue Messer, auf dem mein Name steht, 1989,
Farbfotografie auf Silberpapier, Sammlung Galerie Léo Scheer, Paris; vgl. Jean Clair,
Die melancholische Unsterblichkeit, in: Melancholie 2005, S. 434-438).
Die Blumen des Bösen
Wir kehren aber noch einmal ins späte 19. Jahrhundert zurück: In seinen Fleurs du
Mal entwarf der französische Dichter Charles Baudelaire 1857 das Gedankenpanorama einer ultimativen Melancholie. Eine äußere Wirklichkeit existiert nicht mehr. Der
Mensch ist seinen Gedanken, Trieben und Alpträumen hilflos ausgeliefert. Für die
künstlerische Avantgarde wird die Poesie Baudelaires wegweisend für ein gesteigertes melancholisches Selbstverständnis zwischen authentischer Verzweiflung,
etwa bei Edvard Munch, und modischer Attitüde, wie bei Franz von Stuck.
Bereits zur Einweihung der Kammerspiele in der Berliner Schumannstraße – mit
Ibsens Gespenstern am 8. November 1906 eröffnet – konnte der Regisseur Max
Reinhardt Edvard Munch als Bühnenbildner gewinnen. Noch während der Arbeiten
am Bühnenbild beauftragte Reinhardt den Maler mit der Schaffung eines Bilderfrieses für den kleinen Festsaal in der ersten Etage der Kammerspiele. Munch
variierte für diese Folge die Themen seines in den 1890er Jahren geschaffenen
Lebensfrieses, eines Bildzyklus, mit dem er nichts weniger anstrebte, als in einer
„Reihe dekorativer Bilder […] ein Bild des Lebens [zu] geben“. Insbesondere die
Darstellung der Melancholie als Teil dieser Bilderzyklen (Melancholie, 1906/07,
Tempera auf Leinwand, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie) darf als sehr
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Jörg Völlnagel: Trauer – Melancholie – Depression
persönlicher Fokus von Munch bezeichnet werden. Selbst immer wieder von tiefer
Depression befallen, beschäftigte er sich in zahlreichen Werken – Gemälden,
Holzschnitten, Zeichnungen – mit dem Thema Melancholie, die von ihm bevorzugt
als einsame Person am Meer dargestellt wurde. Die Figur der hier rot gekleideten
Melancholie verkörpert introvertierten Schmerz, eine inwendig brennende Traurigkeit,
die in der norwegischen Fjordlandschaft, vom gesenkten Blick der Dargestellten nicht
mehr wahrgenommen, gespiegelt wird.
Stucks Luzifer (um 1890, Öl auf Leinwand, National Gallery for Foreign Art, Sofia),
der gefallene Engel, sitzt gedankenschwer brütend auf einer Stufe in einem undefinierbar bläulich-dunklen Raum. Seine linke Hand stützt im gestus melancholicus
seinen Kopf. Den muskulösen rechten Arm drückt er mit geballter Faust auf die
Stufe, auf die gerade in diesem Moment ein effektvoll leuchtender Phosphortropfen
fällt, gleichsam als letzte Reminiszenz an die Bedeutung seines Namens: Luzifer, der
Lichtbringer. Seine Vertreibung aus himmlischen Gefilden muss gerade passiert sein,
da er noch Engelsflügel trägt. Die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, fixiert er den
Betrachter mit einem ebenso starren wie stechenden Blick. Seine glühenden Augen
spiegeln einen Hass wider, der nur in Zerstörung enden kann. Franz von Stuck
„heroisiert auf romantische Weise das Böse“. „Das Gemälde hat hier die Gewalt und
Größe des Teufels zum Gegenstand, der listig und boshaft seinen nächsten
Schachzug überdenkt, um seinen Kampf gegen die Engel und die Menschen“ und
damit vor allem gegen Gott aufzunehmen (vgl. Tanja Wessolowski, in: Melancholie
2005, Kat. 257).
Das 19. Jahrhundert entlässt den modernen Menschen Europas also mit der
Diagnose chronischer Melancholie. Derart vorbelastet, sieht dieser im 20. Jahrhundert seine Alpträume Wahrheit werden. Als Antwort auf Kriege, den Zusammenbruch
sozialer Utopien, Wirtschaftskrisen und totalitäre Systeme bleibt ihm oft nur der
Rückzug auf die eigene Subjektivität. Das Gefühl der Einsamkeit und Entfremdung
findet mannigfaltige Ausdrucksformen in der künstlerischen Avantgarde. Zerstückelung, Collage und surreale Verfremdung spiegeln eine Welt, die in ihrer fragmentarischen Komplexität nicht mehr zu verstehen ist.
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Jörg Völlnagel: Trauer – Melancholie – Depression
Zum Abschluss meines Vortrages möchte ich jedoch erneut zwei gegenständliche
Arbeiten zur Melancholie vorstellen, die sich – obwohl erst jüngst entstanden – dem
Thema in eher traditioneller Form nähern und sich ganz bewusst in den zweieinhalb
Jahrtausende alten Kanon der europäischen Melancholiedarstellung seit der Antike
einfügen.
Zum einen ist es eine Serie von Melancholiedarstellungen, die Georg Baselitz im
Zusammenhang mit der großen Auftragsarbeit für einen Treppenaufgang im Berliner
Reichstagsgebäude angefertigt hat. Ich möchte an dieser Stelle nur noch einmal kurz
in Erinnerung rufen, dass das deutsche Parlament bekannte deutsche Künstler damit
beauftragt hat, zur Wiedereröffnung des renovierten Reichstags eine Reihe von
Kunstwerken zu kreieren. Für diesen Anlass hat Georg Baselitz die Melancholiedarstellungen geschaffen. Das Bemerkenswerte an diesen im Jahr 1998 entstandenen, über 5 m hohen Gemälden ist die Tatsache, dass Georg Baselitz hier – als
Auftragskunst – die Politik mit der Melancholie konfrontiert, ein Umstand, den die
Politik üblicherweise scheut wie der Teufel das Weihwasser, sind es doch Entschlossenheit und Tatkraft, die ein Politiker gerne verkörpern möchte, und nicht
Lethargie, Niedergeschlagenheit oder gar Depression. Für diese Werke greift Baselitz auf zwei Melancholie-Holzschnitte von Caspar David Friedrich (Die Frau mit dem
Spinnennetz und Die Frau mit dem Raben am Abgrund, beide kurz nach 1800) als
Vorlage zurück und stellt seine Arbeit für den Reichstag damit in die Tradition der
deutschen Romantik und eines der bekanntesten und meist geschätzten deutschen
Künstler. Er konfrontiert die Abgeordneten jedoch nicht nur mit der glanzvollen Vergangenheit der deutschen Kultur, sondern auch mit dem mahnenden Motiv der
Melancholie, der – wie gesehen – die Möglichkeit des Genies wie auch die Gefährdung durch Wahnsinn eingeschrieben ist. Eine, wie ich finde, bemerkenswerte
Auftragsarbeit für das höchste Entscheidungsgremium der deutschen Politik, das
Parlament.
Mit einem im Jahr 2000 entstandenen Werk von Ron Mueck, das zweifelsfrei zu den
beliebtesten der Melancholie-Ausstellung des vergangenen Jahres gehörte, möchte
ich meinen Vortrag beschließen (Big Man, Polyesterharz auf Fiberglas, Hirschhorn
Museum, Washington). Ron Mueck hatte bereits etwa zwanzig Jahre beim Film als
Fachmann für Spezialeffekte gearbeitet, bevor er das dort erworbene handwerkliche
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Jörg Völlnagel: Trauer – Melancholie – Depression
und technische Können auf sein künstlerisches Schaffen übertrug. Seine Skulpturen,
meist durch das familiäre und freundschaftliche Umfeld inspiriert, weisen hohe
psychologische Präsenz auf. Dabei ist es vor allem ihr Maßstab, der dem Betrachter
Unbehagen einflößt – teilweise winzig wie bei seinem toten Vater, mit dem er 1997
bei der Sensation-Ausstellung Aufsehen erregt hatte, teilweise übergroß wie hier bei
dem depressiv wirkenden Mann, der unter Agoraphobie zu leiden scheint, wie Jean
Clair (in: Melancholie 2005, Kat. 281) vorgeschlagen hat: „In der klassischen Haltung
des Melancholikers, den geneigten Kopf in die Hand gestützt, der Blick düster und
starr“, scheint sich der Big Man in den hintersten Winkel des Raumes verdrückt zu
haben, „zurückgezogen in sich selbst unter dem Ansturm der allzu großen Leere“
(Clair) und, das sei an dieser Stelle eingeräumt, unter dem Ansturm der Besuchermassen, die ihn umgeben.
* Schriftliche Fassung eines Vortrages, der im Rahmen der Tagung „Depression und
Gesellschaft“ am 24. März 2007 an der Evangelischen Akademie Tutzing in Rothenburg o. d. T. gehalten wurde.
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