Praxisberichte

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Praxisberichte
2 Impressum
Impressum
Herausgegeben von der Evangelischen Medienhaus GmbH |
Augustenstraße 124 | 70197 Stuttgart
Im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrates |
Dezernat 2 | Stuttgart | Oktober 2013
Redaktion: Prof. Dr. Annette Noller
(Evangelische Hochschule Ludwigsburg)
Bestelladresse: Evangelischer Oberkirchenrat
Projekt Diakonat – neu gedacht, neu gelebt |
Gerokstraße 19 | 70184 Stuttgart
Telefon: 0711 2149-445 |
e-mail: [email protected]
Inhalt
3
Inhalt
Vorwort ...................................................................................................................... 5
Werner Baur
Einleitung ................................................................................................................... 7
Annette Noller/Dieter Hödl
Die Diakoninnen und Diakone des Projekts ........................................................................... 10
Gruppenbild November 2012
Projektberichte
I. Langberichte
1 Tübingen: Diakonische Gemeindeentwicklung im Kirchenbezirk ............................................... 13
Peter Heilemann, Gudrun Keller-Fahlbusch,
Joachim Pfeifer, Fritz Steinhilber
2 Schwenningen: Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen ...................... 27
Barbara Kuchel-Müller
3 Esslingen: Diakonische Jugendarbeit und Schule ................................................................ 41
Michael Pross
4 Bernhausen: Schule im Sozialraum: Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit ......... 53
Oliver Pum
5 Creglingen: Diakonische Schulsozialarbeit ........................................................................ 61
Elsbeth Loest
6 Reutlingen: Trauerdiakonat ........................................................................................... 71
Eva Glonnegger
7 Ulm: Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden ........................................................... 81
Barbara Eberle
8 Altensteig: Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege ........................................... 95
Gerd Gauß
9 Stuttgart: Diakonat auf der Messe ................................................................................. 103
Martin Heubach
10 Stuttgart: Verkündigung und jugendlich Milieus ............................................................... 113
Tobias Becker
4 Inhalt
II. Kurzberichte:
11 Tuttlingen: Diakoniekaufhaus ..................................................................................... 123
Dennis Kramer
12 Welzheim: Jugendarbeit und Schule ............................................................................ 127
Nicole Heß
13 Reutlingen: Inklusive Gemeinde und kirchliche Kindergartenarbeit ....................................... 133
Achim Wurst
14 Ludwigsburg: Diakonische Gemeindeentwicklung: Vernetzte Einrichtungsdiakonie ..................... 139
Thomas Hofmann
15 Mühlacker: Diakonisches Profil im Bezirk ...................................................................... 145
Peter Feldtkeller, Michael Gutekunst
Liste der Teilprojekte ................................................................................................... 151
alphabetisch mit Kurzbeschreibung
Foto der Projektstelleninhaber und -inhaberinnen ................................................................ 154
bei der Abschlussveranstaltung des Projekts 2013
Vorwort
5
Vorwort
„Geh hin und tu desgleichen…“ (Lk 10,37)
„Geh hin und tu desgleichen…“ (Lk 10,37). Mit dieser Aufforderung
Jesu endet die Erzählung vom barmherzigen Samariter im Lukasevangelium.
Auf die theologische Frage eines Schriftgelehrten nach der Gottesund der Menschenliebe antwortet Jesus mit einer Erzählung. Der
Menschensohn und Heiland vermittelt Gottes Gegenwart narrativ, in
Gleichnissen und Geschichten aus der Alltagswelt seiner Zuhörerinnen und Zuhörer. Das erzählerische Geschehen selbst schafft eine
besondere Form der Präsenz und Aufmerksamkeit, nimmt Erzähler
und Hörende hinein in ein intensives Beziehungsgeschehen. Die
mehr theoretische, theologische Frage, wer denn der Nächste sei,
den man nach Gottes Gesetz lieben soll, beantwortet der Sohn Gottes mit der Geschichte zweier Menschen, die vor dem inneren Auge
der Hörenden Gestalt annehmen: Der eine in seiner Hilfebedürftigkeit
und der andere dadurch, dass er ohne Rücksicht auf religiöse Differenzen spontan und selbstlos hilft. Statt eines spannenden und geistreichen theologischen Diskurses oder abschweifender Gedanken,
nutzt Jesus die erzählerisch geschaffene und doch konkret erlebte
Präsenz des Samariters als Ermutigung und Aufforderung: „Geh hin
und tu desgleichen!“ Generationen von Gläubigen haben sich von
dieser schlichten und darin so großartigen Geschichte inspirieren,
herausfordern und auffordern lassen. Diese Geschichte und die ihr
folgende alltägliche Praxis der Nächstenliebe im Großen und Kleinen,
durch Gemeinden, große diakonische Werke und Komplexeinrichtungen prägen das Gemeinwesen. Nächstenliebe hat immer ein Gesicht
– mitten im Alltag, gestern, heute und morgen. Präsenz und Geistesgegenwart, das zeichnet diakonisches Denken und Handeln aus. Mit
dieser Präsenz verweist diakonisches Handeln auf Gottes Gegenwart.
Das Projekt der Württembergischen Landeskirche steht in der Tradition einer Glaubenspraxis, die das Evangelium in Wort und Tat bezeugt. Diakonisches Handeln geschieht heute in der professionellen
Arbeit mit Generationen, in diversen kulturellen, religiösen und sozialen Lebenssituationen. Die Projektberichte aus dem Projekt ‚Diakonat
– neu gedacht, neu gelebt’ dokumentieren Einblicke in eine vielfältige
Praxis, in der die Menschenfreundlichkeit Gottes in der konkreten
Begegnung mit Menschen erfahrbar wird. Sie berichten von Erkenntnissen, Wahrnehmungen und Beobachtungen aus einer fünfjährigen
Praxiserprobungsphase (2008 – 2013), die von der Württembergischen Landeskirche in Auftrag gegeben wurde, um zukunftsweisende
Wege im Diakonat zu initiieren und wissenschaftlich zu evaluieren.
Herzlich gedankt sei den Diakoninnen und Diakonen der fünfzehn
Teilprojekte für ihr großes Engagement während der Laufzeit von fünf
Jahren, in der sie sich auf neue und ungewohnte Wege eingelassen
haben und zum Gelingen des Projekts maßgeblich beigetragen haben.
Die hier vorgelegten Projektberichte wurden von den Diakonen und
Diakoninnen der Teilprojekte in Abstimmung mit ihren örtlichen Begleitgruppen verfasst und autorisiert. Prof. Dr. Annette Noller und Renate Kuffart von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg haben
die Texte redigiert und korrigiert. Die Berichte dokumentieren die Arbeit, die interessanten und zugleich bewegenden Erfahrungen in den
Teilprojekten anschaulich. Sie vermitteln einen faszinierenden Zugang
zu der Vielfalt, den Chancen und gelegentlichen Grenzen der professionellen diakonischen Arbeit im Diakonat. Lassen Sie sich berühren
und inspirieren von den Mut machenden Geschichten mitten aus dem
Leben. „Helfen zum Leben“ ist möglich und hat viele Gesichter.
Das Projekt ‚Diakonat – neu gedacht, neu gelebt’ hat über Württemberg
hinaus Aufmerksamkeit erfahren. Die zukünftigen Herausforderungen
an kirchliches Handeln in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft
macht die Zusammenarbeit verschiedener Professionen und Dienste
notwendig, um dem einen Auftrag, der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat, in der Nachfolge Christi nachzukommen.
Werner Baur
Oberkirchenrat
6
Einleitung
7
Einleitung
Diakonat –
neu gedacht, neu gelebt
Das Projekt ‚Diakonat – neu gedacht, neu gelebt’
Projektkonzeption
Nach fünfjähriger Laufzeit endet im Jahr 2013 das Projekt Diakonat,
neu gedacht – neu gelebt’. Im Fokus des landeskirchlichen Projekts
stehen fünfzehn Teilprojekte, die in Konzeption und Evaluation auf
„die drei großen Herausforderungen an das Zusammenleben in Kommunen und Gemeinden (reagieren sollten, A.N.): die Alterung unserer Gesellschaft, die Globalisierung, die Zunahme sozialer Risiken
und die damit einhergehende Verfestigung von Armut…“1
Die mit Diakonen und Diakoninnen zu besetzenden Projektstellen
wurden öffentlich in der Landeskirche ausgeschrieben. Die Konzeption der Projekte wurde durch einige wenige Vorgaben strukturiert:
alle Teilprojekte sollten sich an den sozialen Veränderungsprozessen
im beginnenden 21. Jahrhundert orientieren und waren so zu gestalten, dass sie Antworten erwarten ließen auf zukünftige Herausforderungen in den verschiedenen Berufsfeldern und Berufsgruppen
im Diakonat. Vorgegeben war eine Konzeption und Ausrichtung des
Projekts an der doppelten Qualifikation2 von Diakoninnen und Diakonen.
Die Dienstaufträge sollten im Sozialraum vernetzt formuliert sein
und innovative Wege in Berufsfeldern im Diakonat erproben. Die Bereitschaft, wissenschaftliche Methoden zur Evaluation anzuwenden,
wurde erwartet. Eine örtliche Begleitgruppe mit Vertreterinnen und
Vertretern aus den vernetzten Handlungsfeldern des Projekts sollte
die Arbeit vor Ort begleiten.
50% der Projektstelle wurden während einer Laufzeit von fünf Jahren
von der Landeskirche finanziert. 50% der Personalkosten mussten
aus den Teilprojekten selbst aufgebracht werden.
1
Oberkirchenrat Werner Baur im Flyer zur Ausschreibung des Projekts 2008, S. 3.
Ausbildungsabschlüsse in erstens diakonisch, theologisch oder religionspädagogischer
Professionalität und zweitens fachlich in einer Profession (bzw. gleichwertigen Kompetenzen) des Sozialwesens.
2
Die fünfzehn Teilprojekte
Von den insgesamt fünfundsechzig Anträgen, die auf die Ausschreibung der Württembergischen Landeskirche hin im Jahr 2008 eingingen, konnten nur fünfzehn Anträge bewilligt werden. Die elaborierten Projektanträge zeigten vielfältige, in Kirche und Gemeinwesen
vernetzte Projektideen, die man als kirchliche und gesellschaftliche
Herausforderungen der Zukunft in den diversen Handlungsfeldern im
Diakonat lesen kann. Bei der Auswahl der Projekte durch die zentrale,
von der Landessynode eingesetzten Steuerungsgruppe3 spielten wissenschaftliche und fachliche Gesichtspunkte eine Rolle, aber auch
die Mischung aus verschiedenen Handlungsfeldern und Berufsgruppen im Diakonat.
Zahlreiche Projektanträge befassten sich mit sozialen Veränderungsprozessen, mit Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Armut, sozialen
Lagen und Milieus. Ein beachtlicher Anteil der Anträge fokussierte
auf die diakonisch-missionarischen Arbeit im Bereich Schule, Schulsozialarbeit, Schulseelsorge und kirchlicher Kinder- und Jugendarbeit. Diverse Varianten von Vernetzungen mit diakonischen Trägern,
Kommunen, Schulen, Kreisdiakonien und diakonischen Bezirksstellen, Vereinen, CVJMs und Jugendwerken, Gewerbeverbänden und
Dienstleistungsanbietern wurde in den Projektanträgen formuliert.
Die schon in den Projektanträgen erkennbare Vernetzungsarbeit verdeutlicht die Breite und Vielfalt, in der der Diakonat im Gemeinwesen
professionell kooperiert. Sie verdeutlicht, dass durch das diakonische
Handeln der Raum der Kirche über die parochialen Strukturen hinaus
in das Gemeinwesen hinein aufgespannt wird und das Evangelium
durch Diakoninnen und Diakone mit Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen kommuniziert wird: in existenziellen Notlagen, in prekären Lebenssituationen, in diversen Milieus, im interreligiösen Dialog, an öffentlichen Schulen, in Vesperkirchen und in
der Sozialberatung, unter Dienstleistenden im Arbeitsalltag und im
sozialwirtschaftlichen Handlungsfeld eines Sozialkaufhauses, in öffentlichen Gesprächscafes, bei Informationsveranstaltungen, in seel3
Mitglieder der Steuerungsgruppe: Werner Baur, Helmut Dopffel, Dieter Hödl,
Ellen Eidt, Carmen Rivuzumwami, Monika Jäger, Jürgen Kehrberger, Annette Noller,
Claudia Schulz, Ute Schütz, Helga Benz-Röder, Frieder Grau, Albert Ebinger,
Thomas Maier, Roland Beck, Dorothea Gabler, Harald Klingler.
8 Einleitung
sorgerlichen Gesprächen in Krankheit und Trauer und in zahlreichen
Andachten und gottesdienstlichen Angeboten.
Die fünfzehn Teilprojekte nehmen aufgrund ihrer Vernetzungen jeweils mehrere Arbeitsfelder und Handlungsstrategien zugleich in
den Blick. Sowohl in den Langberichten als auch in den Kurzberichten4 folgt die Darstellung dennoch einer nach Arbeitsschwerpunkten sortierenden Systematik: Den Beginn machen in den Lang- und
Kurzberichten jeweils diejenigen Projekte, die schwerpunktmäßig
sozialdiakonische Herausforderungen im Kontext von Armutsfragen
und prekären Lebenslagen in den Blick nehmen. Sie werden gefolgt
von Projekten, die schwerpunktmäßig an Schulen angesiedelt waren,
eine dritte Gruppe von Projekten befasste sich schwerpunktmäßig
mit seelsorgerlichen Fragestellungen im Zusammenhang von Pflege,
Krankheit und Trauer5, diesen Projekten folgen Projekte, die Milieu
überschreitend (z.B. im Bereich von Dienstleistung und Jugendarbeit) angelegt waren, den Abschluss bilden jeweils Projekte, die sich
schwerpunktmäßig mit Fragen der diakonisch-missionarischen Gemeindeentwicklung befassen.
Zur Konzeption der Praxisberichte
Das wissenschaftliche Design des Projektes sah eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation während der fünfjährigen Laufzeit
vor. Mit der wissenschaftlichen Begleitung wurde die Evangelische
Hochschule Ludwigsburg (Prof. Dr. Annette Noller, Prof. Dr. Claudia
Schulz und Dr. Thomas Fliege) in Kooperation mit dem Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg (Prof. Dr. Heinz
Schmidt) beauftragt.
Die fünfzehn Teilprojekte wurden in der fünfjährigen Laufzeit wissenschaftlich begleitet. In diesem Zusammenhang wurden Daten von
Seiten der Wissenschaftler/innen erhoben: die Diakoninnen und Diakone sowie ihre Kooperationspartner/innen, Mitarbeitenden und Gesprächspartner/innen sowie Schüler/innen und Klient/innen im Projekt wurden befragt. Begleitend wurden zu ausgewählten Fragestellungen Interviews und Gruppendiskussionen geführt und ausgewertet. Die Projektstelleninhaber/innen wurden in Projekttagebüchern
regelmäßig befragt. Eine Tagung zu theologischen Ämterfragen wurde im Kontext des Projektes in Kooperation mit der Württembergischen Landeskirche an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg durchgeführt. Die Beiträge dieser wissenschaftlichen Evaluation
werden in einer Publikationsfolge des Kohlhammer Verlags veröffentlicht.6 Darin werden Fragen des diakonischen Amtes einerseits
4
Es konnte nicht von allen Projekten eine Langversion präsentiert werden, da das
den Rahmen der Veröffentlichung gesprengt hätte.
Das Projekt Trauerdiakonat z.B. ist hier zugeordnet, obwohl auch in diesem Projekt
Fragen der Sozialberatung in prekären Lebenssituationen nach dem Tod eines
Elternteils eine zentrale Rolle spielten.
6
Bisher sind dazu bereits erschienen: Noller, Annette/Eidt, Ellen/Schmidt, Heinz (Hg.)
(2013): Diakonat – theologische und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf ein kirchliches Amt, Stuttgart. Etwa zeitgleich mit diesen Projektberichten wird erscheinen: Eidt,
Ellen/Schulz, Claudia (Hg.) (2013): Evaluation im Diakonat. Sozialwissenschaftliche Vermessung diakonischer Praxis, Stuttgart. Zur Geschichte des Diakonats in Württemberg
ist in der Publikationsfolge erschienen: Eidt, Ellen (2011): Der evangelische Diakonat.
Entwicklungslinien in Kirche und Diakonie am Beispiel Württembergs, Stuttgart.
5
und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse zu Profession,
Ausbildung und Praxis des Diakonats auf der Basis einer theologischen und sozialwissenschaftlichen Methodologie wissenschaftlich
dargestellt.
Die hier vorgelegten Projektberichte der Diakoninnen und Diakone
orientieren sich in der Darstellung an bekannten Schritten von Projektarbeit und Projektevaluation. Die Projektstelleninhaber/innen
und ihre Begleitgruppen wurden zu Beginn des Projekts gebeten,
eine Sozialraumanalyse zu erstellen und Ziele für die Projektarbeit
zu formulieren.7 Im Laufe des Projekts wurden von den Diakoninnen
und Diakonen selbst Daten erhoben, indem sie punktuell Tiefenbohrungen vornahmen und dabei auch Methoden der Praxisforschung
anwendeten. Vereinbart wurde, jeden Bericht mit einem alltagspraktischen Anhang unter dem Thema: ‚Ein typischer Tag, eine typische
Situation’ zu schließen.
Auf diese Weise wurden Beobachtungen und Wahrnehmungen der
Projektstelleninhaber und -inhaberinnen, Einschätzungen von Kooperationspartner/innen, Aussagen von Betroffenen, Schüler/innen und
Mitarbeitenden ebenso dokumentiert wie Zahlen, Daten und Fakten
zur Frequentierung von Angeboten, Gesprächskontakten, Netzwerkkarten und vieles mehr. In den vorliegenden Darstellungen finden sich
vielgestaltige Ansätze der Praxisevaluation, die nicht den Anspruch
erheben, Realität auf wissenschaftlichem Niveau verallgemeinerbarer
Daten abzubilden. Was die von den Diakoninnen und Diakonen verfassten Berichte aber bieten, ist ein lebendiger, in Teilen narrativer,
häufig subjektiv wahrnehmender Einblick in die diakonische Praxis
in unterschiedlichen Handlungsfeldern. In den Darstellungen werden
der Reichtum und die Vielfalt des Diakonats erkennbar. In Fallbeispielen, Gruppenbefragungen, Gruppendiskussionen und Interviews
wird die diakonische Arbeit in prekären Lebenssituationen, werden
Alltagssorgen, individuelle Ressourcen und professionelle Lösungsstrategien in Gemeinde, Schule und Gemeinwesen erkennbar. Auch
die Arbeitsweise, methodischen Wahrnehmungen und individuellen
Interpretationen diakonischen Handelns aus der Perspektive der Projektstelleninhaber/innen werden dokumentiert. Dabei wird sichtbar,
lesbar und nachvollziehbar, welche Herausforderungen, Chancen und
auch Grenzen die Diakoninnen und Diakone in den verschiedenen
Teilprojekten im diakonischen Handeln erkennen. Die Kompetenzen
und Handlungsstrategien der Diakoninnen und Diakone im Projekt
werden nachvollziehbar, ihre Fragen, professionellen Erkenntnisse,
theologischen (Selbst-)deutungen, die professionelle und persönliche Beziehungs- und Begegnungsarbeit nachlesbar.
Die Projektberichte sind ‚erzählte’ Theologie und Diakonie. Sie folgen
im Duktus der narrativen Gestalt des Evangeliums unter Anwendung
von Instrumentarien, die aus der Sozialforschung rezipiert und unter den Bedingungen alltäglicher Praxisherausforderungen von Diakoninnen und Diakonen in der Praxis angewandt und kommentiert
wurden. Es sind eigene Beobachtungen aus der individuellen, diako-
7
Zur Reflexion der sozialwissenschaftlichen Arbeit der ProjektstelleninhaberInnen
vgl. den Artikel von Thomas Fliege in: Eidt, Ellen/Schulz, Claudia (Hg.): Evaluation im
Diakonat (s. Anm. 6).
Einleitung
nischen Arbeit. Sie regen dazu an, die Beobachtungen, Erkenntnisse
und Fragen, die während der Projektlaufzeit aufgeworfen und erhoben
wurden, wissenschaftlich weiter zu verfolgen und in weiteren Forschungen auf einer breiteren, methodologischen Basis zu vertiefen.
Dank und Ausblick
Die Zeit des Projekts war eine intensive und erkenntnisreiche Zeit für
alle Beteiligten. Besonderer Dank gilt den Projektstelleninhaber/innen
und ihren Begleitgruppen vor Ort. Sie haben mit großem Engagement
diakonische und religionspädagogische Praxis gestaltet und sich dabei der schwierigen Aufgabe unterzogen, Daten und Beobachtungen
für ihre eigene Auswertung zu erheben und sich selbst für die wissenschaftliche Evaluation befragen zu lassen. Projektarbeit erfordert
ein hohes Maß an Selbstorganisation und Reflexion, das von den
Diakonen und Diakoninnen mit großem Einsatz und professionellem
Sachverstand erbracht wurde.
Herzlich gedankt sei auch Thomas Fliege vom Institut für angewandte Forschung (IAF) der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg,
der bei der Konzeption und Erarbeitung der Projektberichte beratend
tätig war. Großer Dank gilt auch Renate Kuffart von der Evangelischen Hochschule, die bei der Redaktion der Berichte die Kommunikation mit den fünfzehn Projekten steuerte und in Form und Sprache
hilfreich korrigierend zur Seite stand.
Mit dem Projekt ‚Diakonat – neu gedacht, neu gelebt’ hat die Evangelische Landeskirche in Württemberg einen Reformprozess initiiert,
der verdeutlicht, dass sich die Kommunikation des Evangeliums in
Wort und Tat nicht nur im Raum von Kirchengemeinden, sondern
auch darüber hinaus als eine gesellschaftliche Aufgabe in diversen
Lebenssituationen in Gemeinwesen vollzieht. Das Reich Gottes ist zukünftige Verheißung der Gegenwart Christi und ereignet sich zugleich
in der alltäglichen diakonischen Begegnungs- und Beziehungsarbeit
in der Nachfolge Jesu. In den Berichten der Diakone und Diakoninnen wird sichtbar, wie dies auf eine professionelle und zugleich vom
Glauben inspirierte Weise geschehen kann.
Annette Noller
(Evangelische Hochschule Ludwigsburg)
Dieter Hödl
(Dezernat 2, Evangelischer Oberkirchenrat)
9
10 Die Diakoninnen und Diakone des Projekts
Die Diakoninnen und Diakone des Projekts
Thomas Hofmann, Michael Pross, Achim Wurst, Barbara Eberle, Renate Haug, Nicole Heß,
Peter Feldtkeller, Elsbeth Loest, Dennis Kramer, Fritz Steinhilber, Gerd Gauß,
Gudrun Keller-Fahlbusch, Barbara Kuchel-Müller, Joachim Pfeiffer, Eva Glonegger, Peter Heilemann
Nicht auf dem Bild sind: Oliver Pum, Martin Heubach, Tobias Becker und Michael Gutekunst
Das Bild wurde aufgenommen bei einem Studientag in Ludwigsburg im November 2012 von Annette Noller.
Langberichte
I. Langberichte
11
12
13
„Diakonisch wahrnehmen und handeln –
einladendes, gelebtes Evangelium“
Bericht 1: Tübingen
Diakonische Gemeindeentwicklung im Kirchenbezirk
Peter Heilemann, Gudrun Keller-Fahlbusch,
Joachim Pfeifer, Fritz Steinhilber
Projektort:
Kirchenbezirk Tübingen
Projektträger:
Diakonisches Werk Tübingen
Projektstelleninhaber/innen:
Diakon Peter Heilemann, Diakonin Gudrun Keller-Fahlbusch,
Diakon Joachim Pfeifer, Diakon Fritz Steinhilber
in Kooperation mit Diakonin Renate Haug (Fachbereich Gemeindediakonat) und Diakon Host Haar (Geschäftsführer Diakonisches
Werk Tübingen bis 31.7.2012)
14 Tübingen
1. Projektidee und Projektkonzeption
Das Anliegen unseres Projektes war und ist, die Gemeinden in un­
serem Kirchen­bezirk dabei zu unter­stützen, ihre je eigene diakoni­
sche Wahrnehmung zu schärfen und Ideen und Angebote zu ent­
wickeln, um in Not geratenen Menschen bedürfnis­orientiert vor Ort
zu helfen. Konkret wollten wir dies erreichen, indem wir die Diakonie­
beauftragten in ihrer Aufgabe begleiten und unterstützen und zum
anderen kleinere Projekte initiieren oder weiterentwickeln, in denen
Menschen in Not wohn­ortnah Austausch und/oder Unterstützung
erfahren.
Um Sozialraumnähe zu ermögli­chen, wurde in jedem der vier Dist­
rikte des Kirchenbezirks ein Ge­meindediakon oder eine Gemeinde­
diakonin, der bzw. die dort bekannt und vernetzt ist, mit 25 Pro­zent
seines bzw. ihres Dienstauftrags für dieses Projekt beauftragt. Träger
des Projekts ist das Diakonische Werk Tübingen des Evangelischen
Kirchenbezirks Tübingen.
2. Projektstartbedingungen und Projektentwicklung
Von Anfang an war uns bewusst, dass das Projekt in den vier Distrik­
ten ganz unter­schiedlich gestaltet werden musste: In zwei Distrikten
gibt es ein großes städtisches Zentrum (Tübingen und Rottenburg),
in den beiden anderen Distrikten gibt es meh­rere größere und klei­
nere Gemeinden, die aber nicht so stark aufeinander bezogen sind.
Um flächendeckend im ganzen Kirchenbezirk die Gemeinden in ihrer
diakonischen Wahrnehmung zu stärken, wurden seit Projektbeginn
die Diakoniebeauftragten für ihre Aufgabe geschult und beglei­tet.9
Dazu gab es vierteljährliche Treffen, je zwei in den Distrikten und je
zwei im Kirchenbezirk. Dort wur­den relevante diakonische Themen
referiert, aktuelle Anliegen ausgetauscht und jedes Jahr eine an­dere
diako­nische Einrichtung besucht. Dabei stellte sich bald heraus, dass
es sich bei den Dia­koniebeauftrag­ten um eine äußerst inhomogene
Gruppe handelt in Hinsicht auf die Motivation für ihre Aufgabe, die Art
ihres Engagements, ihrer Ansichten und Ziele und die Art und Weise,
wie sie zu ihrer Aufgabe ge­kommen waren. Im Rückblick stellen wir
fest, dass unsere anfängliche Konzeption hier bislang nicht genügend
zielführend war und an die Erfordernisse angepasst werden muss
(vgl. Kapitel 3.2, „Ausblick“). Die Arbeit mit den Dia­koniebeauftrag­
ten jedoch halten wir weiterhin für eine sehr wichtige Aufgabe, da
diese unseres Erachtens Schlüs­selpersonen für dia­konische Frage­
stellungen und Aufgaben sind.10
Einer der sichtbaren Erfolge des Projekts ist, dass viele Gemeinden
die Frage, ob und wie die Bezah­lung von Essen und Trinken bei Fes­
ten organisiert werden soll, diskutieren, oft auf Anregung der bzw.
des Diakoniebeauftragten, und dass immer mehr Gemeinden hier auf
solidarische Spendenkassen umschwenken und damit gute Erfah­
rungen machen.
In den Zentren wird von den Projektdiakon/innen je eine 3-wöchige
Ves­perkir­che mit verantwortet als jährliches Angebot für Teilhabeund Begegnungsmöglich­keit für Men­schen mit den unterschiedlichs­
ten, teils sehr prekären Lebenssituationen.
In einem der beiden Dis­trikte wurde darüber hinaus ein monatliches
Vesperkirchen­café mit parallel dazu angebotener so­zialdiakonischer
Sprechstunde als Projektan­gebot initiiert.
In den beiden anderen Distrikten wurde nach langer Anlaufphase zu
Beginn des Jahres 2011 ein Begegnungskaffee und im Feb­ruar 2012
ein Mittages­sen begonnen. Beide Angebote finden einmal monatlich
statt und befinden sich noch in der Entwicklungsphase.8
8
Sozialdiakonisches Wahrnehmen und Handeln war in diesen Distrikten bei den dortigen
Gemeinden unterschiedlich weit entwickelt. Dazu sind ohne ein Zentrum, auf welches
die Gemeinden bezogen sind, Vernetzungen schwieriger zu gestalten und daher wenig
entwickelt. Mehrere Kirchengemeinden im Distrikt Steinlachtal sind sehr groß, haben eine
gute Infrastruktur und sind daher nicht auf andere Gemeinden bezogen, auch nur wenig
auf das dortige Mittelzentrum Mössingen. Der Distrikt Unteres Neckartal ist geografisch
so verstreut, dass ein Aufeinander-Bezogensein schon durch größere Entfernungen
und Trennungen durch Hügel und Täler nur von wenigen Kirchengemeinden praktiziert
wird (vgl. dazu die Sozialraumanalysen der Distrikte Steinlachtal und Unteres Neckartal,
jeweils S. 1).
9
Vor dem Projekt wurden die Diakoniebeauftragten vom Geschäftsführer des Diakoni­
schen Werks Tübingen begleitet. Sie bekamen zu Beginn einer Legislaturperiode einen
Ordner mit Informationen zum Amt einer/eines Diakoniebeauftragten samt persönlicher
Einführung in ihre Aufgaben im Kirchenbezirk Tübingen. Außerdem fanden etwa zweimal
im Jahr gemeinsame Treffen statt.
10
Vgl. Diakoniegesetz der Württembergischen Landeskirche, insbesondere § 2, in dem
die diakonischen Aufgaben und mögliche diakonische Felder beschrieben werden und
die Diakoniebeauftragten als Personen, die dafür mitverantwortlich sein können, explizit
genannt werden.
Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk
3. Vertiefte Einblicke
3.1 Begleitung von Diakoniebeauftragten
Bezüglich der Diakoniebeauftragten wollten wir diese Ziele evaluieren:
Die Diakoniebeauftragten der Kirchengemeinden haben ein
klares Selbstverständnis von ihrer Rolle – sie können eigene
Aufgaben benennen und sind durch Beratungen bzw. Weiterbildungen dafür qualifiziert.
Die Diakoniebeauftragten bzw. Verantwortlichen in den Kirchengemeinden sind im Rahmen ihrer Zuständigkeitsbereiche
informiert über Unterstützungsbedarfe von und Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen in Not.
Dazu haben wir folgende Methoden ausgewählt:
Gruppendiskussion11 mit acht Diakoniebeauftragten.
Umfrage12 bei den Diakoniebeauftragten unseres Kirchenbezirks.
Bei der Gruppendiskussion wurde von den oben genannten Zielen
vor allem das ei­gene Selbstverständnis als Diakonie­beauftragte ausführlich diskutiert. Dabei waren die Äußerungen zum eigenen Selbstverständnis sehr unterschiedlich.13
Person 1: „… zumal ich im diakonischen Bereich als Diakoniebeauftragter Überblick ha­ben kann.“
Person 2: „Das ist ja eher beängstigend. Also als ich angefangen
habe, dachte ich, okay, ich gehe in den Gemeinderat …
Diakonie, kann ich mir vorstellen und dann hat die, die
das vorher gemacht hat, gesagt, da musst du halt ein paar
Mal im Jahr da hin und dort hin, das ist nicht viel Arbeit
und jetzt bin ich gerade er­schrocken, wie viele Sitzungen
es sind, wie viele Abende es sind und wo man sich überall
einbringen könnte oder sollte und was da dahinter steckt,
also da ist irgendetwas falsch gelaufen. Also für mich jetzt
persönlich. Weil ich woan­ders drin stecke.“
Person 3: „Die Wichtigkeit war nicht bekannt.“
Person 2: „Nein, ich kann das überhaupt nicht leisten. Den wahnsinnigen Spagat zu schaf­
fen zwischen einerseits ein
stückweit das Amt zu verwalten, sprich, wie die Diakonie
funktioniert; und dann aber kreativ zu sein und zu überlegen, was könnte man machen ... Also Ideen habe ich
immer massig, aber … wenn du Kirchengemeinderätin
bist, dann hat man ja dazu noch zu viele andere Ämter.“
(….)
11
Am 9.4.2011 durchgeführt von 2 Studenten der EH in Ludwigsburg mit 8 Diakoniebeauftragten – alle Distrikte waren mit mindestens 1 Person vertreten – und einer Dauer
von ca. 90 Minuten.
12
Hierbei handelte es sich um einen 6-seitigen Fragebogen mit 20 Fragen rund um das
Thema Diakonie, Diakoniebeauftragte und diakonische Gemeinde, welcher im Januar
2012 versandt wurde.
13
Die folgenden Zitate stammen aus der Gruppendiskussion.
15
Person 4: „Unser Job, also ich sehe den Job so: Ich bin Diakoniebeauftragte – ich kann al­len Gemeindemitgliedern beratend
zur Seite stehen und die Fachleute und die Fachkräfte, die
es überall gibt, da kann ich drauf hinweisen, das ist mein
Job, so sehe ich ihn. Natürlich arbeite ich nicht nur theoretisch mit, ich arbeite auch praktisch mit, ja, im täglichen
Leben. Aber das ist doch unser Job, wir sollen für die
Gemeindeglieder da sein und ihnen sagen – hier, da gibt
es die Diakonie, hast du Schulden, kannst du nicht mehr
drüber hinwegsehen, geh doch da hin, schau, hier hast du
die Adresse.“
Person 5: „Das habe ich nie so empfunden...“
Person 4: „Ja ich aber.“
Person 5: „Also rein praktisch gesehen natürlich klar, wenn man in
so ein Gespräch kommt, aber nicht kraft Amtes.“
Es wurde deutlich, dass der Bedarf an Unterstützung und Begleitung
zum einen in den vier Distrikten verschieden ausgeführt wird, und
dass dazu auch die Bedarfe sei­tens der Diakoniebeauftragten sehr
unterschiedlich sind.
Person 1: „Aber wir hatten doch immer die Versammlung und da
wurde doch auf alles hin­gewiesen. Wir haben hier die
Frau K., das ist die Diakonin in Großstadt B, und die
hat uns hier bestens versorgt. Hier, das ist unsere neueste Angele­genheit. Da ist der Flyer und da stehen aus
den ganzen Ortschaften auch die ganzen Beratungen“
(stimmliches Durcheinander).
Person 2: „Aber da unterscheidet sich Großstadt A mit Großstadt
B. Das darf man jetzt nicht hier gleichsetzen. Also hier in
Großstadt A waren zwar auch Treffen von Diakoniebeauftragten, aber da ging es sehr lang um die Vesperkirche.
Die war und stand im Mittelpunkt. Und schon allein bis
das in Gang kam und das alles in den Kirchengemeinden
durchgesprochen war und dann schließlich eigent­lich bis
jetzt immer noch. Vesperkirche und alles andere haben
wir immer wie­der angesprochen, aber es ging nie weiter.
Das war das Dilemma bei dem Ganzen, das hab ich auch
heute wieder gehört und befürchtet, dass wir uns austauschen und damit hat es sich, und dann geht man wieder heim, aber dass man irgendwo jetzt in die Zukunft...
schaut und konkrete Schritte und konkrete Vorstellungen
formuliert und sagt, wir packen es an und schließen uns
zusammen und machen ein Netzwerk nach dem (unverständlich) und helfen uns gegenseitig wie die Gemeinden,
die allein da stehen, und verbin­den das miteinander – da
ist wirklich nichts geschehen.“
(…)
16 Tübingen
60 60
Person 3: „Ich sehe das schon als zentrales (unverständlich), die
Treffen mit dem Kirchen­bezirk, ich finde den Austausch
einfach wichtig, dass man sieht, was auf
40Bezirksebene
40
läuft und das dann in seine Gemeinde trägt, beziehungs­
weise andersherum von seiner Gemeinde zu berichten
und einzubringen und allein, dass der Kontakt besteht.
60
Und das sehe ich als Errungenschaft.“
Person 4: „Ich mein das bringt ja auch ein bisschen weg vom Ein20 20
zelkämpfer.“
40
Mehrere stimmen zu.
47 47
Schaubild 1: Aus der Umfrage der Diakoniebeauftragten
Frage 15.1: „Ich wurde zu Beginn meiner Tätigkeit ausführlich über
meine Aufgaben informiert.“
6060
14 14
4040
1647 16 4747 17 17
13 13
5 5
3 3
Die Äußerungen der Diakoniebeauftragten machen sehr deutlich,
1 1
1717
20 0 200
0
0
0
16
1617
20
16
14
1413
dass sie keine ho­mogene Gruppe sind, sondern dass hier Einzel14
1313
0
0
kämpferInnen aus verschie­denen Orten miteinander sprechen und
5
5 5
3
3
1
1 1 03 0 0
0 und
0 0 0 trifft
0 0 trifft
0 0 weiß
sich über ihre Erfahrungen austauschen. Verstärkt wird dies
intrifft
Äu0 weiß
trifft
voll
voll
und
zu zu triffttrifft
teilweise
teilweise
trifft
trifft
nicht
nicht
zu zu
nicht
nichtkeine
kein
A
0
0 0
ßerungen, die eine Begleitung bzw. ein Gegenüber vor Ort vermisganz
ganz
zutrifftzuvolltrifft
zu nicht
zutriffttrifft
und
vollvoll
und
trifft
trifft
zu zuteilweise
trifft
teilweise
trifft
zu nicht
weiß
zu zu
nicht
weiß
nicht
keine
Angabe
keine
Angabe
trifft
undzu trifft
trifft
trifft
teilweise
nicht
weiß
nicht
keine
Angabe
sen.
ganz zu ganz
zu zu
zu
zu zu
ganz
Person 1: „Ich wollte das auch mal bestärken, dass sich jahrelang
sich niemand drum ge­kümmert hat. Also im Kirchengemeinderat, also während ich in der letzten Periode war
und mich niemand eingeführt hat in diese meine Aufgabe;
ich – niemand überhaupt gekräht hat danach, was macht
denn die Diakoniebeauft­ragte. Es war oft eine Leerstelle
gewesen, eine ganze Periode lang. Und ei­gentlich jetzt
erst in der zweiten Periode, so seit zwei Jahren ungefähr
bewegt sich in uns was oder überhaupt im letzten Jahr
eigentlich überhaupt. Und ich hab immer wieder versucht
zu kämpfen, zu strampeln, irgendwas einzubrin­gen, aber
ich hab kein Gegenüber gehabt – ich wusste auch nicht
richtig, wo ich mich hinwenden soll und [2 sec. unverständlich] PfarrerIn ab und zu, aber sonst eigentlich waren wir allein gelassen, war ich allein gelassen.“
Weiterhin fällt auf, dass die Gemeinden und jeweiligen Themen vor
Ort völlig unter­schiedlich sind. Diakonie wird in großer Bandbreite
beschrieben14 und wahrgenom­men, und je nach Möglichkeiten und
drängen­den Bedarfen vor Ort werden ganz un­terschiedliche Akzente
gesetzt in der diakonischen Sichtweise und Arbeit vor Ort. Erschwerend kommt hinzu, dass einige Diakoniebeauftragte wenig bis keine
Ahnung von der von ihnen übernommenen Aufgabe hatten. Es wurde
ihnen nicht im Vorfeld erklärt, was auf sie zukom­men werde; in einigen Kirchengemeinden war dazu ver­mutlich nur eine vage Vorstel­
lung vorhan­den.
Häufigkeit
Häufigkeit
ProzentProzent
Prozent
Häufigkeit
Häufigkeit
Prozent
Häufigkeit
Prozent
Die verschiedenen Äußerungen der Diakoniebeauftragten verstehen
wir so, dass einige sich mit ihrer Aufgabe schwer tun, weil sie ganz
verschieden betrachtet wer­den kann, da es sich um ein so weites
Feld handelt:
Diakonie­beauftragte können sich darum kümmern, dass diakonische Themen diskutiert und Schritte zu einem diakonischen Handeln unternommen werden. Oder sie initiieren diakonische Ange­
bote und engagie­ren sich dabei federführend, oder sie machen bei
von anderen ent­wickelten Ange­boten mit. Dabei beschäftigen sich
Diako­niebeauftragte prioritär mit ganz unterschiedlichen Hilfen und
Angeboten: für alte Menschen, für von Armut betroffene Menschen,
für Menschen in Pflege­heimen, für Neuzugezogene und deren Anbin­
dung in der Gemeinde, für Menschen im mittle­ren Le­bensalter, Besuchsdienst oder diakonische Gruppe15.
Auf die oben genannten Ziele hin interpretieren wir die Äuße­rungen
der Diakoniebeauftragten so, dass einige sich ihres Amtes und der Art
ihrer Ausübung desselben sicher sind, aber bei einigen anderen an
verschiedenen Stellen Unsicherheiten auftauch­ten, und es an einem
dies gemeinsam zu bearbeitenden Gegenüber fehlt. Andererseits haben fast alle nach eigenem Befinden für drängende diakonische Fragen ein Gegenüber, von dem sie rasch eine Antwort erwarten können.
15
14
Vgl. Diakoniegesetz der Württembergischen Landeskirche, § 2, Abs. 2
Besuchsdienstgruppen mit unterschiedlichen Profilen, die die professionellen Hilfen
für alte und kranke Menschen in der Kirchengemeinde ergänzen.
Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk
17
0 60
Schaubild 2: Aus der Umfrage der Diakoniebeauftragten
47 47
Frage 15.6 „Wenn ich eine Frage in Bezug auf meine Aufgaben als
Diakoniebeauftragte/Diakoniebeauftragter habe, dann weiß ich, wer
mir weiterhelfen kann, und bekomme auch rasch eine Antwort.“
0 40
60
0 20
40
6080
69
14 14
60
40
0 020 0 200
25
14
1413
1647 16 47 17 17
13 13
5 5
40
0 0
So sind sie bei folgenden Aufgaben mehrheitlich der Meinung, dass
Diakoniebeauft­ragte dafür vorrangig zuständig sind16:
1617
16
13
1 1
17
Menschen mit Hilfebedarf an Fachleute vermitteln
Ehrenamtliche für diakonische Aufgaben gewinnen
die Kirchengemeinde für soziale Not sensibilisieren
den Kontakt zu Selbsthilfegruppen pflegen
diakonische Projekte in Gang setzen
33.1.1
3 Ausblick
0 0 0 0
Unsere Interpretation der Gruppendiskussion wie auch des Fragebogens macht uns deut­lich, dass wir unser Angebot an Begleitung und
1 0 00 0 0 0 0 0
0 und
0 0 trifft
0 trifft
triffttrifft
voll
voll
und
zu zu triffttrifft
teilweise
teilweise
triffttrifft
nicht
nicht
zu zu weiß
weiß
nicht
nicht
keine
keine
Angabe
Angabe
Unterstützung
von
Diakonie­beauftragten viel stärker an deren auch
0
00
ganz
ganz
zutrifftzuvolltrifft
zu nicht
zutriffttrifft
und
voll
und
trifft
trifft
zuzuteilweise
trifft
teilweise
trifft
zu nicht
weiß
zuzu
nicht
weiß
nicht
keine
keine
Angabe
trifft
voll
undzu trifft
trifft
trifft
teilweise
nicht
weiß
nichtAngabe
keine
Angabe
unterschiedlichen Bedarfe anpas­sen und es konzeptionell in Zusamganz zu ganz
zuzu
zu
zuzu
ganz
menarbeit mit den Diakoniebeauftragten weiter entwickeln möchten.
20
3
58
5
14
5
3
8
1
3
3
Häufigkeit
Häufigkeit
ProzentProzent
Prozent
Häufigkeit
Prozent
Häufigkeit
Häufigkeit
Prozent
Die beschriebenen Ergebnisse zeigen, dass wir dem Ziel näher gekommen sind, dass in allen Kirchengemein­den im Kirchenbezirk Tübingen sozial-diakonisches Be­wusstsein nachhaltig verankert ist, ja,
dass jede Gemeinde sich auch als diakonische Gemeinde sieht.
Die Ergebnisse der Umfrage bestätigen im Großen und Ganzen die
Äußerungen der Gruppendiskus­sion und machen deutlich, dass über
die Hälfte der Diakoniebeauftragten trotz der wenig an der inhaltlichen
Aufgabe orientierten Art und Weise, wie sie zu ihrem Amt kamen, ihr
Amt inzwischen zum Großteil in ihrer je ei­genen Weise gestalten.
0 60
Wir interpretieren einige Aussagen dahingehend, dass sich einige
eine Be­gleitung wünschen, die konkret ihre Person samt Möglichkeiten und Grenzen wie auch die jeweilige Gemeinde im Blick hat.
Mit einer solchen Begleitung könnte dieses Amt in der Gemeinde gestärkt und konkretisiert werden und der bzw. die Diakonie­beauftragte
könnte seine bzw. ihre Aufgabe in unterschiedlicher und doch für Ort
und Person passender Weise füllen. Es könnte sinnvoll sein, dem je
eigenen Selbstver­ständnis der Diakoniebeauftragten die Möglichkeit
zu geben, sich individuell und je nach Themen vor Ort zu entwickeln.
Die Konkretion einer solchen Be­gleitung werden wir in nächster Zeit
entwickeln.
47 47
Schaubild 3: Aus der Umfrage der Diakoniebeauftragten
0 40
Frage 15.7: „Ich habe als Diakoniebeauftragte/Diakoniebeauftragter
viele Gestaltungsmöglichkeiten und kann eigene Ideen umsetzen.“
60
60 60
1647 16 47 17 17
14 1442 13 1339
0 20
40
40 40
5 5
0 0
0 020 0 20020
14
5
3
16
1617
13 14
15 1413
1 1
17
6
5
3 3
0 0 0 0
8
3
3 3
3
2 1
1
1 0
0 und
0 0 1trifft
0 trifft
0 zu
0 0zu
triffttrifft
voll
voll
und
zu zu triffttrifft
teilweise
teilweise
triffttrifft
nicht
nicht
weiß
weiß
nicht
nichtkeine
keine
Angabe
Angabe
0
0 0
ganz
ganz
zutrifftzuvolltrifft
zu nicht
zutrifftzutrifftnicht
und
vollvoll
und
trifft
trifft
zu zuteilweise
trifft
teilweise
trifft
weiß
zu zu
nicht
weiß
nicht
keine
Angabe
keine
Angabe
trifft
undzu trifft
trifft
trifft
teilweise
nicht
weiß
nicht
keine
Angabe
ganz zu ganz
zu zu
ganz
Häufigkeit
Häufigkeit
zu
zu zu
Prozent
Prozent
Häufigkeit
Häufigkeit
Prozent ProzentProzent
Häufigkeit
16
Aus der Umfrage der Diakoniebeauftragten – Frage 16: „Wir nennen Ihnen hier verschiedene diakonische Aufgaben. Wer soll welche Aufgaben Ihrer Meinung nach im
Idealfall hauptsächlich wahrnehmen? Bitte jeweils nur eine Möglichkeit auswählen.“ –
Für verschiedene Aufgaben konnte die Verantwortung zugeordnet werden an Ehrenamtliche, Diakoniebeauftragte, SozialarbeiterInnen, DiakonInnen, PfarrerInnen.
18 Tübingen
3.2Vesperkirche Rottenburg, Café Vesperkirche
und sozialdiakonische Sprechstunde
Anhand der Vesperkirche Rottenburg und der monatlichen Angebote
Café Vesperkirche mit sozialdiakonischer Sprechstunde wollten wir
das Ziel evaluieren:
Treff- und Austauschmöglichkeiten für Menschen in Not untereinander und mit anderen Interessierten sind geschaffen.
Diese Angebote geben Raum zur Entfaltung von Selbsthilfepotenzialen der Betroffenen.
Es wurden dafür fünf Interviews17 mit Besuchern und Besucherinnen und Mitarbeitenden der entstandenen Angebote durchgeführt.
Zunächst möchten wir jedoch oben genannte Angebote mit ihren
charakteristischen Merkmalen darstellen:
3.2.1 Vesperkirche Rottenburg
In Rottenburg wurde 2012 die 5. Vesperkirche durchgeführt. Wegen
der baulichen Gegebenheiten findet diese Vesperkirche im an die Kirche angrenzenden Gemein­dehaus statt. Das in den ersten bei­den Jahren entwickelte Konzept hat sich inzwi­schen bewährt. BesucherInnen
werden an einen gedeckten Tisch geleitet und dort bedient. Auf den
Tischen stehen Spendengläser mit einem Hinweis: „Wer wenig hat,
gibt sein Weniges in die bereitgestellte Kasse – Andere geben mehr
und unterstützen damit die Idee einer Solidarität untereinander.“
Insgesamt engagieren sich ca. 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Diese kommen aus der evangelischen und den katholischen Kirchengemeinden, aus dem ganzen Gemeinwesen sowie den umliegenden
Orten. Es sind überwiegend Menschen, die im Ruhestand sind, aber
auch Jüngere, sowie Schüler aus den verschiedenen orts­ansässigen
Schulen, Konfirmanden, Firmgruppen und in der Mehrheit Kir­chen­
ferne18.
Auffällig ist, dass sich immer mehr „verhaltensoriginelle“ Menschen
melden, die manch­mal einen speziellen Arbeitsplatz brauchen und
ebenso eine intensivere Begleitung. Die wohltuende Atmosphäre
der Vesperkirche ermutigt viele Menschen, hier mitzu­arbeiten: Menschen aus der örtlichen Kontaktgruppe und Menschen mit psychischen Schwierigkeiten wie auch Menschen mit Handicaps konnten in
Dienste eingebunden werden und/oder fanden als Besucher über die
Zeit ein tagesstrukturie­rendes Programm.
17
Interview Rottenburg A, Interview Rottenburg B, Interview Rottenburg C, Interview 1,
Interview 2. die Interviews A, B und C wurden von einer Kollegin des Kirchenbezirks
Tübingen durchgeführt, die Interviews 1 und 2 von einer Praktikantin der EH Freiburg.
Alle Interviews fanden im November 2011 im Gemeindehaus in Rottenburg statt.
18
Mit der Bezeichnung „Kirchenferne“ sind Menschen gemeint, die im kirchlichen Gemeindeleben nicht auftauchen, sei es, weil sie nicht Mitglied der Landeskirche sind, sei es,
dass sie keinen sichtbaren Bezug zur Ortsgemeinde haben.
Ebenso ist die Vesperkirche für viele einsame alte Menschen aus der
Kommune und der Kirchengemeinde ein willkommener Treffpunkt.
Die liebevolle und ästhetisch schöne Gestaltung der Räume und Tische wird von vielen Besuchern und Mitarbeitenden geschätzt. Dies
zeigen erstaunte Äußerungen wie: „Was, ihr stellt uns auch noch
brennende Kerzen und frische Blumen auf den Tisch.“19; Auch die
schöne Atmosphäre und Stimmung der ganzen Tage wird immer
wieder gelobt. Die Spendenfreudigkeit von täglich gespendeten Kuchen, Brot und Brötchen von einer Bäckerei, anderen Sachspenden
wie Blumen, Saft, Süßigkeiten, Hygieneartikel und Geldspenden ist
für die Kleinstadt Rottenburg ohne spezielles Fundraising sehr groß.
Täglich gibt es auch die unterschiedlichste Life-Musik und eine Friseurin bietet nach Bedarf kostenlose Haarschnitte an.
In Rottenburg ist es schon Tradition, die Vesperkirche am StartMontag mit einem eigenen Gottes­dienst zu eröffnen. Hier entwickeln
die Diakonin und ein Pfarrer bzw. eine Pfarrerin der Gemeinde das
Thema der Predigt20, Liturgie und Ablauf und führen dies gemeinschaftlich durch. Täglich startet das Tagesteam in einer 30-minütigen
Runde mit Kennenlernen und geistlichem Im­puls, bevor die Arbeitsbereiche und Auf­gaben angeschaut, evtl. nochmals erklärt und eingeteilt wer­den. Zur Mittagszeit ge­gen 12.30 Uhr unterbricht eine Glocke
das Bedienen der Gäste für einen Mit­tagsim­puls. Dabei kam es an
besonders turbulenten Tagen schon vor, dass dieser verges­sen und
dann von den Besuchern eingefordert wurde.
Um die Kontakte zu den Gäs­ten sowie Mitarbeitenden aufrecht zu
halten, war eine dichte Anwesenheit der Diako­nin in der Vesperkirche notwendig. Dies ist unerlässlich für ihre Bekanntheit und als vertrauensbildende Maßnahme die Grundlage für einen eventuellen
Kontakt in der sozialdia­konischen Sprechstunde. Auch gibt es immer
wieder Tagesleitungen in der Vesperkirche, die mit Ab­lauf und Haus
nicht so vertraut sind und Unterstützung be­nötigen. Des Weiteren
wird im Rahmen der Vesperkirche jährlich ein Themenabend21 für alle
Besucherinnen und Besucher angeboten.
Wichtig als Anerkennung ist auch der Dankeschönabend, an dem alle
Mitarbeitenden verwöhnt wer­den sollen mit einem guten Abendessen, einem überraschenden Pro­grammpunkt, einer Interaktion und
einem Geschenk. Dieser Abend – gleichzeitig mit der Möglichkeit zur
Rückmeldung und Informa­tionen über den Abschluss – wird von 50
bis 75% der Mitarbeitenden besucht. Ebenso wird ein nett gestalteter
Weih­nachtsbrief mit Dank und den neuen Terminen an alle verschickt.
19
Äußerung eines Ehepaars, das sich erst im dritten Jahr traute, die Vesperkirche
zu besuchen und hier zu essen. Seitdem kommen sie gerne und regelmäßig.
20
Themen und Texte:
2008: Dialogansprache zum Lied „Wenn das Brot, das wir teilen, zur Rose erblüht.“
2010: „Da aßen alle, und alle wurden satt.“, Mk 6, 31-44.
2011: Alle um einen Tisch, mit einem Bild des Misereor Hungertuchs von 1996
„Hoffnung den Ausgegrenzten“.
2012: Die Werke der Barmherzigkeit.
21
Themen:
2009: „Armut“ – Podium mit Vertretern aus Kirche und Stadt.
2010: Vorstellung des Arbeitslosentreffs Tübingen.
2011: Informationen über die Schuldnerberatung Tübingen und den Pflegestützpunkt
Rottenburg.
Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk
Dass die Vesperkirche ein Angebot ist, das einem vorhandenen Be­
darf entspricht, zeigen die hohen Gästezahlen, die während der Ves­
perkirche wie auch von Jahr zu Jahr insgesamt eher ansteigend sind,
obwohl die Kapazitätsgrenzen schon erreicht sind:
350
Schaubild 4: Gästezahlen der Vesperkirche 2009-2012
300
350
350
350
350
350
250
300
300
300
300
300
200
250
250
250
250
250
150
200
200
200
200
200
100
150
150
150
150
150
50
100
100
100
100
100
0
50Tag
1.
50
50
50
50
0
0
1.00Tag
1.0Tag
1.
1. Tag
Tag
1. Tag
Besucher 2009
Besucher 2010
Besucher 2011
Besucher 2012
Besucher 2009
Besucher
2009
Besucher 2010
2009
Besucher
2009
2010
Besucher
2009
2010
Besucher 2011
2010
Besucher
2011
Besucher 2010
2011
2012
Besucher
2011
Besucher 2011
2012
Besucher
2012
Besucher 2012
Besucher 2012
19
oder nix vergessen – wir sind alle Menschen“.
„Wir sind alle Menschen.“ „Alles gleich. Alle
miteinander.“
Interview 2, Frau Z.: „Egal welche Nationalität er ist oder so. (lacht
laut) Das ist toll. Und ich iiich… hach (sucht
nach Worten) ich bedanke auch von der evan­
gelischen Kirche, wo die diese alles Essen und
Trinken von den Mensch machen die. Ich wün­
sche für die anderen Länder wo die gar nichts
hatten, hier auch, gibt es auch [wie] in Deutsch­
land, die haben gar nichts.“
3.2.2 Café Vesperkirche in Rottenburg
3. Tag
5. Tag
7. Tag
9. Tag 11. Tag 13. Tag 15. Tag 17. Tag 19. Tag 21. Tag 23. Tag
3. Tag
3. Tag
3.
3. Tag
Tag
3. Tag
5. Tag
5. Tag
5.
5. Tag
Tag
5. Tag
7. Tag
7. Tag
7.
7. Tag
Tag
7. Tag
9. Tag
9. Tag
9.
9. Tag
Tag
9. Tag
11. Tag
11. Tag
11.
11. Tag
Tag
11. Tag
13. Tag
13. Tag
13.
13. Tag
Tag
13. Tag
15. Tag
15. Tag
15.
15. Tag
Tag
15. Tag
17. Tag
17. Tag
17.
17. Tag
Tag
17. Tag
19. Tag
19. Tag
19.
19. Tag
Tag
19. Tag
21. Tag
21. Tag
21.
21. Tag
Tag
21. Tag
23. Tag
23. Tag
23.
23. Tag
Tag
23. Tag
Die Gesamtgästezahlen beliefen sich im Jahr 2009 auf 3046, im
Jahr 2010 auf 3498, im Jahr 2011 auf 3772 und im Jahr 2012 auf
3657.
Insgesamt ist den Verantwortlichen eine „Begegnung auf Augenhöhe“ wichtig – das Gegenüber spü­ren zu lassen, dass er oder sie
als ein von Gott geliebter Mensch ge­sehen und angenommen und
als solcher behandelt wird. Schön sind die vielen fröh­lichen Ge­
sichter, das Lächeln und das Lachen. Ein Schüler drückte es so
aus: „Es ist als ob lauter Fremde unter Freunden sitzen.“ Dass dies
auch bei Menschen an­kommt, die eher am Rande der Gesellschaft
stehen und keine Idee und Erfahrung des „Gesehen-Werdens“ ha­
ben, zeigte sich in allen Interviews; in zwei Gesprächen wurde dies
6 mal betont:
Interview A, Frau X.:„Ja, das für mich, ich finde das ganz gut. Ja,
alles isch eigentlich, viele wissen zu schätzen
das, ja, manchmal sagt man, ja ah, erste Jahr
habe ich mich geschämt. Ja, da sind viele
Bettler gewesen und so, aber irgendwann mal
ak­zeptiert man, das sind auch Menschen, die
brauchen auch nur ge­nau wie wir und dann wir
sind eigentlich diese Tage gleich, ja. Ich hab so­
gar meine Rechtsanwältin gesehen (lacht), da
bei Vesper,“ „also, also das ist eine gute Sache,
ja, das ist eine schöne Sache, …“
Interview C, Frau Y.:„Allerwichtigste – Wichtigste, das ist, dass
sie macht immer mit den ausländischen Frau­
en eine große Sammlung, also äh, so wie die
Finger im Hand, sie will, dass wir – wie heißt
man – wir sind alle da und dass die auslän­
dische Frau nicht auf dem Seite liegen lassen
Die Vesperkirche wird weitergeführt mit dem monatlichen Café Ves­
perkirche, am je­weils letzten Freitag im Monat von 15.00 – 17.00 Uhr.
Eingeladen sind alle, die nicht allein, sondern in bunter Tischgemein­
schaft einen Nachmittag ver­bringen wollen, alle, die sich mit Kaffee
und Kuchen verwöhnen lassen wollen und alle, die einen Tischnach­
barn zum Plaudern oder Kennenlernen suchen, oder die sich ihre
Nöte, Sorgen und Prob­leme einmal von der Seele reden wollen. An­
fänglich kamen zu den einzelnen monatlichen Treffen bis zu 35 Leute,
inzwi­schen hat es sich bei 12 bis 20 eingependelt. Es hat sich auch
hier ein kleiner Stamm von Verantwortlichen gebildet, der Kuchen
mitbringt, den Raum herrichtet, Kaffee macht und als Gesprächs­
partner anwesend ist. Eine Mitarbeiterin hat es so ausgedrückt: „Ich
werde mein Ohr und mein Herz und einen Kuchen mitbringen“. Eine
bunte Mischung von alten Menschen, Behinderten, Bedürftigen und
Interessierten besucht den Nachmittag. Beziehungen sind unterei­
nander gewachsen, die über das monatliche Café hinausgehen.22
Netzwerke unterei­nan­der bieten kleine Hilfen an, Menschen besu­
chen sich – man hat Freunde gefun­den.23
3.2.3 Sozialdiakonische Sprechstunde
Parallel zum Café Vesperkirche bietet die Diakonin als Anlaufstel­
le und Erstkontakt von 15.00 – 18.00 Uhr eine Sozialdiakonische
Sprechstunde an, die aber meist nur zur Terminvereinbarung genutzt
wird. Die verschiedenen Personen, die in der Sprechstunde waren,
kannten die Diakonin als vertrauenswürdige Gesprächspartne­rin aus
anderen Zusammenhängen ihres Dienstes, überwiegend aus der
Vesperkir­che. Allein aufgrund von Bekanntmachung des Termins für
die Sozialdiakonische Sprechstunde in Tageszei­tung, kommunalem
oder kirchlichem Mitteilungsblatt kam niemand.
22
Bsp.: Ein älteres Ehepaar wurde zu „Großeltern“, indem es ein alleinerziehendes
Elternteil mit dem Kind regelmäßig zum Essen und zu Unternehmungen einlädt.
23
Bsp. Netzwerke: Menschen bieten über die Diakonin befristete bezahlte Arbeit an.
Bedürftige Gäste der Vesperkirche freuen sich über den möglichen kleinen Extraverdienst.
20 Tübingen
Die Sprechstunde wird inzwischen sehr gut angenommen. Das dafür
vorgesehene Zeitbudget einzu­halten ist schwierig, da die Sprechstunde als Anlaufstelle für Men­schen in Notsituationen eingerich­tet
wurde, und Notsituationen selten terminiert wer­den können. Die Erfahrung zeigt, dass viele Kli­enten erst im sogenannten letzten Moment kommen. Dann heißt es: das Problem rasch ange­hen, Zeitlimits
einhalten, Widerspruch erheben, Verträge kündigen, Teilzahlungen
aushandeln, nach Geld­mitteln suchen, Anträge an den diakonischen
Fond der Rottenburger Kirchenge­meinde stellen. Daher ist es für die
Menschen wichtig, die Diakonin zeitnah zu ihren drängenden Fragestellungen zu erreichen, notfalls auch ohne Terminabsprache, wenn
die Diakonin in ihrem Büro anzutreffen ist.
Interview B, Frau A.:„Immer, wenn was Problem immer, manchmal
ao ohne Termin komme ich.“ (kichert)
Interview C, Frau B.: „Also, die hilft sehr. Frau X. hilft uns sehr. Also
wenigs­tens bei Anruf macht sie sehr, also sie ist
sehr fleißig. Oder Bewerbung bei Arbeit macht
sie auch gern. Also auch wenn sie äh, wenigste
kein Zeit, dann sie organi­siert sofort ein Termin
wegen Gespräch und dann – das wird auch.“
Interview A, Frau C: „oder egal, wenn ich Probleme habe, wenn ich
brauch manchmal nur anzurufen oder auf Kassette zu spre­chen, sie ruft mich dann zurück
und sie fragt mich, wie geht‘ s mir. Und wer
macht das? Keine macht das außer Frau X., sie
macht das und vieles. Ja, und das ist nix nur,
dass sie uns hilft so. Sie ist auch ein Person, wo
man bereit ist zum Verstehen und heutzutage
kann man nur bei einem Therapeut machen und
das war´s, so­lange bist da, ist gut und nachher
später isch vergessen schon und bei Frau X.
ist ganz anders – ich kann jeder­zeit sie anrufen
oder komm´ vorbei, oder egal, ob sie hat keine Zeit, sie nimmt für uns 20 Minuten oder ½
Stunde, und das ist mit keim Geld bezahlbar, ja,
ich persönlich weiß zu schätzen das, ja.“
Es kommen Menschen mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen,
Problemen und Sorgen, manche kommen immer wieder. Die Fälle
sind ganz unterschiedlich, meist geht es zunächst um akute Not­
situationen. Dauerbesucherin ist z.B. eine bosnische Person, die von
Kindheits- und Kriegserlebnissen traumatisiert ist, und die regelmä­
ßig von Krisensituationen im Familienumfeld befallen wird.
Weiter­hin kommen Men­schen mit psychischen Schwierigkeiten, Arbeitslose, Menschen mit teils akuten fi­nanziellen Notlagen oder Problemen, oft z.B. nach Jahresabrechnungen. Vermehrt kommen auch
ausländische MitbürgerInnen.
Nicht nur die interviewten Mitarbeitenden hatten Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen im Blick. Manch einer der Bedürftigen nutzte die Ermutigung zur Selbsthilfe in der Beratung und das Umsetzen
von nötigen Schritten zur Lösung von eigenen Problemen auch für
andere, die sie neben sich im Blick hatten. So geben diese sozialdiakonischen Angebote Raum zur Entfaltung von Selbsthilfepotenzialen
für sich und zum Teil darüber hinaus auch für andere.
Interview C, Frau Y.: „Also ich wollte gerne zu Bürgermeister nochmal abgeben, vielleicht kriegt sie nochmal eine
Hilfe von ihm. Das möchte ich mit Frau X.
nochmal mit reden. …. Ne, eigentlich nicht.
Ich möchte Leute auch helfen, nicht nur die/
der kleine Z. in meine Weg – ich möchte auch
Mensch helfen Menschen, also so möchte ich
machen weiter.“ 24
Wir stellen fest, dass das oben genannte Ziel erreicht wurde. Menschen begegnen einander in den verschiedenen Angeboten, allen voran die Vesperkirche mit in der Regel 150 bis 200 Gästen, die dort
an Leib und Seele gestärkt und genährt werden. Darüber hinaus wird
deutlich, dass die weiteren, das Jahr über stattfindenden Angebote
alltagsunterstützende Wirkung bei vielen hilfesuchenden Menschen
haben. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass Zielerreichung hier kein
„Zustand“ ist, der erhalten werden kann, sondern der sich im sozialdiakonischen Bemühen und im Wissen um das Ziel immer wieder
neu ereignet.
3.3 Vernetzung
Vernetzung gibt es in unterschiedlichster Form. Warum sie für unsere Arbeit so wichtig ist, wollen wir an zwei Beispielen aus unserer
Arbeit zeigen. Einmal die inhaltliche Vernetzung vom Wort Gottes in
Wort und Tat am Beispiel eines Vesperkirchengottesdienstes, zum
anderen die Vernetzung einer Diakonin mit unterschiedlichsten Personen und Institutionen, die eine gute Grundlage für die diako­nische
Arbeit bildet und an vielen Stellen die Hilfe unterstützt.
3.3.1 Gottesdienst in der Vesperkirche Tübingen
Bei der Vesperkirche 2012 verantwortete ein Diakon einen der
Vesperkirchengottes­
dienste: Klassische Gemeinde trifft sich mit
Randständigen zum Gottesdienst, und Menschen mit unterschied-
24
Frau Y. setzte sich für ein algerisches Kind mit Tumor ein, sammelte Nachthemden
für ein Frauenhaus im Ausland und erbat sich eine alte Kaffeemaschine ebenfalls für
ein Frauenhaus.
Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk
lichstem Hintergrund kommen zu Wort.25 Das Projektum­feld bot diese Möglichkeit auf einmalige Weise. Die Liturgie wurde bereichert
durch den Tübinger Figuralchor. Der Predigttext aus Jeremia 9, 22-23,
der für diesen Sonntag vorgesehen war, bot das ohnehin ange­sagte
Thema wunderbar an: Gott will, dass allen Menschen Barmherzigkeit,
Recht und Gerechtigkeit widerfahren soll. Die Predigt entstand auf
dem Hintergrund der Erfahrungen, die in der Vesperkirche gemacht
werden. Es geht um politische Verhältnisse – soziale Gerechtigkeit,
Moral, Anstand, Siche­rung des sozialen Friedens – damals wie heute.
Schließlich ging es – und geht es auch heute – da­rum, Schwierige
und Arme soweit irgend möglich zu integrieren, niemanden fallen zu
lassen und Reichtum einzusetzen, um Armut zu be­kämpfen.
Im Gottesdienst kamen unterschiedlichste Menschen, die sich in der
Vesperkirche begegnen, zu Wort. Zuerst erzählte eine Person, Junkie,
im mittleren Alter, Gast der Vesperkirche:
„Also, mein Herz bubbert jetzt schon ganz schön –. Ich war vor
zwei Jahren das erste Mal hier.26 Das war gut, auch dass ich was
tun konnte. Ich hab die Zettel verteilt.27 Hier kann man einfach
herkommen, sich hinhocken und mit anderen schwätzen. Ich fühl
mich wohl hier und bin auch jeden Tag da. Es ist gar nicht so
einfach, jetzt hier was zu sagen... Ich guck´ auch draußen mal
bisschen danach, dass die Kippen nicht so rumliegen und die
Bierdeckel – das kann ich beitragen, was halt möglich ist. Ich
wollt auch beim Aufbau hel­fen, eigentlich, aber das schaffe ich
dann kräftemäßig nicht. Ja, ich bin einfach gern da, jeden Tag.“
Nach dem Gottesdienst sagte dieselbe Person zu einer Mitarbeiterin des Leitungs­teams der Vesperkirche ganz staunend und fast beschämt:
„Stell dir vor, mir haben jetzt mindestens zehn Leute die Hand
gegeben! Und die haben gesagt, dass ich gut gesprochen habe
und haben sich be­dankt.“
Eine ehrenamtlich mitarbeitende Person des Leitungsteams äußerte:
„Wir haben zu Beginn des Gottesdienstes gesungen: ‚Gott ist gegenwärtig‘ – dieses Lied begleitet mich seit meiner Kindheit. Gott
ist gegenwärtig – im Gottesdienst und in vielen Bereichen unseres Lebens; er ist gegenwärtig. Die Art der Gegenwart Gottes hier
in der Vesperkirche hat mich zunächst überrascht. Er zeigt sich
uns immer wieder und ist für alle Menschen da!
25
Schon im Projektantrag gab es einen Hinweis auf einen Gottesdienst, den Arbeitslose gestalteten zum Thema „Erntedank – wofür WIR danken“. Hier wurde versucht, betroffene
Menschen, wie im Antrag beschrieben, zu aktivieren. Dort heißt es u.a., „dass Menschen,
die an den Rand der Gesellschaft geraten sind, befähigt werden sollen, ihr Leben aktiv in
die Hand zu nehmen und es zu gestalten“. Dies geschieht auch in Form von öffentlichem
Auftreten, in dem ihre Situation dargelegt und reflektiert wird. Die Unantastbarkeit der
Menschenwürde verlangt das Eintreten der Gemeinde Jesu Christi in Wort und Tat
für eine entsprechende politische und soziale Gestaltung des Gemeinwesens, in dem
sie lebt.
26
Gemeint ist der Besuch der Vesperkirche.
27
Die Person hat im Vorfeld der Vesperkirche Einladungshandzettel an Plätzen verteilt,
an denen sich Junkies, Obdachlose und alkoholabhängige Menschen aufhalten,
da sie zu dieser Personengruppe gehört und unmittelbar Zugang hat.
21
Ein Gast sagte vor einigen Tagen zu mir: ‚Ich schäme mich so,
wenn mich jemand am Tisch fragt: Was tust du denn? Warum
bist du hier? Ich geb mir richtig Mühe, dass mich niemand [als
bedürftig] er­kennt!‘ Ich hab darauf geantwortet: ‚Und ich schäme
mich dafür, dass du dich schämen musst!‘
Ich denke während der Vesperkirche oft an ein Lied, das wir früher in unserer Jugend­gruppe gesun­gen haben: ‚Besser sind wir
nicht, aber besser sind wir dran ... Jesus macht uns frei ... fängt
neu mit uns an.‘
Es macht einfach Freude, genau davon hier etwas weiter zu geben! Gott ist gegenwärtig – das spürt man hier immer wieder!“
Eine weitere ehrenamtlich mitarbeitende Person, ca. 50 Jahre und
wegen Erwerbs­unfähigkeit verrentet, berichtete:
„Es war vor 2 Jahren: die erste Vesperkirche in Tübingen, die erste Woche, am Donners­tag. Es gab eine süße Hauptspeise – das
ist nicht jedermanns Geschmack – bis heute. Die Gäste meckern
nicht, aber manche murren. Ich habe die Ehre, an einem Tisch
zu servieren, an dem Menschen sitzen, die man wohl als „harte
Junkies“ bezeichnen kann. Menschen, die ganz unten angekommen sind: verhärtet, sehr rauhe Um­gangsformen, schmutzig, verhärmt – halt ganz unten.
Ich serviere Grießbrei mit Kirschen. Meine Gäste haben Tränen
in den Augen, sie schlu­cken schwer, haben einen dicken Kloß im
Hals – nicht aus Ärger, sondern weil sie die Si­tuation berührt.
Beim Ab­servieren nimmt ein Gast meine Hand, hält sie über 10
Minuten und heult wie ein Schlosshund. Der Ausdruck in diesen
Gesichtern – das ist für mich das Bild von Vesperkirche geworden. Ich hätte nie gedacht, was ein Teller Grießbrei mit Kir­schen
in einem Menschen auslösen kann. Und ich bin ins Nachdenken
über diese Men­schen gekommen: Ein Teller Grießbrei – etwas,
was diese Menschen Jahre, ja nahezu Jahrzehnte nicht mehr bekommen haben. Für viele von ihnen vielleicht eine der wenigen
positiven Erfahrungen ihrer Kindheit; eine freudlose Kindheit, der
ein freudloses Erwachse­nendasein folgt. Menschen, die 20mal
und mehr am Tage irgendwo verjagt werden, weil sie die bür­
gerliche Idylle stören; die überdies 5mal von der Polizei ein Platz­
verbot bekommen. Die Würde – abgesprochen von den Bürgern
und selbst abgegeben bei der nächsten Jagd nach der nächsten
Droge.
Und wenn sich diese Menschen an einen schön gedeckten Tisch
setzen, freundlich von jemandem gefragt werden, ob sie zunächst
eine Suppe möchten oder sofort das Hauptge­richt. Und das alles
ohne Bedingung – kein ‚sei erst so oder so, dann kriegst du auch
– vielleicht – etwas‘. Menschen zu zeigen, welche Würde sie haben, welch würdige Be­handlung ihnen zusteht – ist das wirklich
‚unpolitisch‘? Nur eines macht mich traurig: Wa­rum ist die Vesperkirche etwas Besonderes? Hier gehen Menschen doch ‚nur‘ so
mitei­nander um, wie es eigentlich immer und überall sein sollte.“
22 Tübingen
Aus den sehr persönlichen Beiträgen wird deutlich, dass die Vesperkirche als etwas Warmes, Wohl­tuendes erlebt wird, in der das
Wohlbefinden des Einzelnen wie auch das Ermöglichen von Gemein­
schaft auf Zeit in einem atmosphärisch schön gestal­teten Rahmen im
Mittelpunkt stehen. So kann viel zwischenmenschliche Begegnung
stattfinden wie auch eine Stärkung an Leib und Seele bei den Gästen,
den ehren­amtlich Mitarbeitenden wie auch den Mitgliedern des Leitungsteams. Alle sind will­kommen und werden so behandelt, dass
sie sich wahrgenommen und sehr ernst ge­nommen fühlen. Das Wie
des Erlebens der Vesperkirche war so in diesem Gottes­dienst präsent.
Nach dem Gottesdienst wurden verschiedene BesucherInnen befragt
nach ihren Er­wartungen und Eindrücken:
„Ich hatte keine Erwartungen an den Gottesdienst gehabt – ich
war einfach nur neugierig, weil wir ja wussten vom Chor, dass es
kein „alltäglicher“ Gottesdienst sein wird. Die At­mosphäre hat mir
un­heimlich gut gefallen. Das fand ich sehr beeindruckend. Es war
spür­bar, dass es bei der Vesperkirche ein besonderes Miteinander gibt zwischen den Mitar­beitenden, euch Hauptamtlichen und
den Gäs­ten. Ich habe mich sehr wohlgefühlt und freue mich, dass
wir vom Chor die Vesperkirche mit unse­rem Gesang bereichern
konn­ten.“ (Mitglied des Figuralchors)
„Den Gottesdienst erlebte ich als stimmigen, ernsten und ermutigenden Gottesdienst. Die Sprache und das Auftreten von Diakon
H. war für mich ansprechend, glaubwürdig und natürlich, nicht
anbie­dernd locker oder so. Das Besondere an dem Gottesdienst
war der intensive Bezug zur Vesperkirche und die Einbeziehung
der Menschen, die in der Ves­perkirche sind. Es traten Menschen
vor die Ge­meinde, die ich sonst kaum oder nicht in einem Gottesdienst wahrnehme. Besonders berührt hat mich das Fürbittengebet, da es vieles aufnahm, was vorher angesprochen wurde“.
(Person, die den Gottesdienst mitge­staltet hat – schriftlich auf
Bitte)
„Also, wenn der Mann das mit dem „gleich viel wert“ wirklich so
gesagt hat, dann finde ich das phänomenal!“ (PfarrerIn im Ruhestand über ein Zitat aus der Predigt bezüglich eines Obdachlosen)
Die Äußerungen zeigen, dass diese Menschen den Gottesdienst als
etwas Gemeinschaftliches erlebten. Besonders beeindruckt hat die
durch Liturgie, Predigt und verschiedene Bei­träge des Gottesdienstes
ermöglichte Begegnung mit Gefühlen, Erlebnissen und Ansichten von
Men­schen aus einem anderen sozialen Umfeld. So wurde kein Gefälle
empfunden zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet, so­zial
schwach und gut situiert. Im Gegenteil, die Unterschiedlichkeit der
Anwesenden und das im Rahmen dieses besonderen Gottesdienstes
ermöglichte Erleben von Menschen, die im eigenen Lebensumfeld
eher weniger vorkommen, wurde als Berei­cherung erlebt. Daraus
schließen wir, dass eine Kerngemeinde mit randständigeren Menschen in guter Weise ge­meinsam Gottesdienst feiern kann.
Des Weiteren gab eine ehrenamtlich mitarbeitende Person katholischen Glaubens, die in der evangelischen Gemeinde beheimatet ist,
Rückmeldung zur Rolle des Dia­kons als Verantwortlicher eines Gottesdienstes:
„Bin katholisch aufgewachsen, dachte, ein Diakon sei eine Stufe
auf dem Weg zum Priesteramt. Heute sehe ich, dass Diakon zu
sein einen eigenständigen Beruf mit ei­nem eigenen Aufgabenfeld
und besonderen Begegnungsmöglichkeiten darstellt. Ich erlebe
H. seit 3 Jahren in der Vesperkirche. Die Texte, die Predigt und die
besondere Gestaltung des Abendmahlsgottesdienstes haben mich
sehr angesprochen und es hat mich sehr berührt, dass ein Junkie,
der nach seinen eigenen Worten noch nie vor so vielen Leuten
und nie in einem Kirchenraum gesprochen hatte, aus seinem Leben und von seinen Gefühlen hier erzählte. Auch die Hinführung
und die Einbindung wei­terer Betroffener in den Gottesdienst war
natürlich. Die Gemeinschaft und die Mahl­gemeinschaft aller in
diesem Gottesdienst erlebte ich als etwas Selbstverständliches.
So kann der Diakon arbeitsteilig zum Pfarrer heute die Aufgaben
erfüllen, zu denen er in der Urkirche berufen wurde.“
Diese mitarbeitende Person erlebte den Diakon als einen kompetenten Liturgiker, der aufgrund seiner beruflichen Identifikation als
Diakon teils intuitiv, teils wohlüberlegt sozialdiakonische Arbeit gut
mit gottesdienstlicher Verantwortung zu verknüpfen weiß. In dieser
Weise diakonisch tätig zu sein stellt seiner Ansicht nach eine direkte
und positive Ver­bindung zur christlichen Lebens- und Arbeitsweise
der Urkirche her. In seinen Augen werden so ge­nuin christliche Aufgaben erfüllt.
3.3.2 Vernetzung im Distrikt Oberes Neckartal
Kirchengemeinden und gemeindediakonische Angebote sind
vernetzt mit solchen Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen im innerkirchlichen und außerkirchli­chen Bereich, die
im Sinne nachhaltig wirksamer Unterstützungsstrukturen für
Menschen in Not relevant erscheinen
Strukturelle Vernetzung ist eine wichtige Grundlage diakonischer Arbeit, insbeson­dere, wenn es um vielfältige Hilfen für Menschen in
ganz unterschiedlichen Nöten geht.
Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk
23
Wir zeigen dies am Beispiel der Diakonin im Oberen Neckartal.
Vernetzungsskizze28
Diakoniebeauftragte
und
PfarrerInnen
im Distrikt
Ausländerbehörde
Kommune
Rathaus, Oberbürgermeister,
Sekretärin
Restgelder für
Weihnachtszuwendungen
Rathaus
Pflegestützpunkt
Bürgermentoren,
Ehrenamt,
Migration
Demenz
Oase
Rathaus
Unterschlupf
Unterbringungen
Büro für Soziales
Evangelisches
Diakonat
Alkoholproblematik
Ordnungsamt /
Polizei
Distrikt
Oberes Neckartal
Diakonisches
Werk Tübingen
Sozial- und Lebensberatung, Gesundheit; Alter, Pflege;
Gemeindediakonat
Kath.
Kirchengemeinden
St. Martin (Dom)
+ Diakon
Morizles
Kleiderkiste
Rottenburger
Tafel
Secondhand
für Kinder
Mokka
Hausaufgabenhilfe für Frauen
mit Migrationshintergrund
28
Die Vernetzung wird aus Sicht der Diakonin dargestellt. Vielfältige weitere Beziehungen
untereinander werden hier nicht berücksichtigt.
Intro
Gebrauchtwarenladen
24 Tübingen
Seit Projektbeginn wurden viele Beziehungen zu Institutionen und
Personen im kirch­lichen und kommunalen Bereich geknüpft oder
erweitert – Hilfesuchende profitieren erheblich davon; dies wird in
Bezug über die sozialdiakonische Sprechstunde an vielen Stellen
deutlich:
Dort ist es sehr hilfreich für die Klientel, eine Person mit einem guten
Stand in der Kir­chengemeinde zu haben29, die auch im Gemeinwesen gut vernetzt ist. Die Vernet­zung mit den Fachleu­ten vom Diakonischen Werk Tübingen unterstützt in fachlichen Fragen, genauso
das Asylzent­rum in Tübingen. Vor Ort ist für die praktische Arbeit
insbesondere die Vernetzung mit dem katholi­schen Stadtdiakon, der
Notunterkunft der OASE, den Sozialarbeiterinnen des Bürgerbüros
für Sozia­les und dem Rathaus im Vordergrund. Als Geldgeber ist der
Oberbürgermeister sehr wichtig.30
Die verschiedenen sozialen Angebote31 haben für die Besuchenden
eine hohe Bedeu­tung.
Interview A
Frau S.: „Wir ältere Frauen haben keine kleine Kinder mehr, dass man
sie setzen zusammen und dass man vielleicht ein-zwei Stunde mitei­nander reden, ja, dass man diese, äh, Treff – stattfinden kann. Ja. Das isch, ich weiß, bei der beispielweise,
wo man Vesper haben, des sind so viele Frauen. Ich hab
manchmal stundenlang gesetzen mit verschiedene Frauen,
wo ich habe nie im Leben gesehen habe, und das hat mir gut
getan. Mich besonders – ich bin sicher, dass viele Frauen
finden so.“
Aus den Feldnotizen der Diakonin wird an einem weiteren Beispiel
deutlich, dass beim Wohnungsverlust von Person W. mit den VernetzungspartnerInnen kurzfristig und erfolgreich eine gute Übergangslösung gefunden wer­den konnte: In Absprache mit Person M.
von der „Oase“ konnte eine kleine Wohnung als Notunterkunft belegt
werden. Ein leer stehendes Haus der kommunalen Gemeinde wurde
besichtigt zur Unterstellung der Möbel und des Hausrats von Person W. Mit „trockenen Alkoholi­kern“ der Oase wurde die Ausräumung der gekündigten Wohnung geplant und vom diakoni­schen
Werk in Tübingen wurde ein finanzieller Zuschuss für diese Helfer
or­ganisiert.
Im kirchlichen Bereich hat sich der Kontakt in den Distrikt hinein gut
entwickelt, zum einen bei regio­nalen Treffen in den einzelnen Gemeinden mit PfarrerInnen und Dia­koniebeauftragten und zum anderen durch die Teilnahme an den PfarrerInnen-Dienstbesprechungen
im Distrikt. Im kommunalen Bereich sind vielfältige Kontakte entstanden. So wurden die SozialberaterInnen der Stadt in die Vesperkir29
Es ist inzwischen Tradition geworden, dass von der Diakonin eingeladene Bedürftige sich
die Erntedankgaben des Erntedankfestes teilen dürfen.
30
Seit mehreren Jahren werden die Kassenrestgelder des Oberbürgermeisters als
Weihnachtzuwendungen an verschiedene Bedürftige nach Vorschlägen der Diakonin
verschenkt. Das sind immer wieder überraschende Glücksmomente der Klienten, die sie
immer wieder erzählen. In 2012 bekamen Asylbewerber Freikarten fürs Freibad.
31
Dazu gehört auch das von der Diakonin verantwortete Internationale Frauencafé, welches
monatlich stattfindet. Es wird von 8-15 Frauen mit ganz unterschiedlichem Migrationshintergrund besucht.
che 2012 eingeladen, um ihre Beratungen dort vor Ort zu machen.
Zum einen waren die Sozi­alarbeiterInnen sehr beeindruckt von der
kirchlichen Arbeit, zum anderen äußerten sie: „Das, was wir hier von
unse­ren, oft denselben Klientinnen und Klienten erfahren, erzählen
sie uns auf dem Rathaus nicht“. Und ein weiterer Effekt – im vertrauten Mi­lieu der Vesperkirche taten manche ihren ersten Schritt zu
ei­ner Hilfeanfrage.
Für die gemeindediakonische Beratungsarbeit ist es äußerst hilfreich,
die Menschen zu kennen, die die verschiedensten Hilfeleistungen
anbieten. So können Hilfsbedürf­tige sehr gezielt weiterverwiesen
werden, z.B. im Bereich für Fami­lien mit Kindern zu „Mokka“ und
den dortigen Angeboten für soziale Gruppenarbeit oder Hausaufga­
ben­betreuung. Auch ist es wichtig zu wissen, dass „Morizles Kleiderkiste“ nicht einfach nur ein Secondhand-Laden ist, sondern auch
Sprachkurse und Eltern-Kind-Aktivitä­ten anbietet. Kontakte zur Kleiderkammer der Oase oder zum Tafelladen, sowie zum Gebrauchtwarenladen Intro ermöglichen in akuten Krisen und Notfällen, schnell
und unbürokratisch Hilfe zu bekommen. Für Ältere hat sich der Kontakt zum Pflegestütz­punkt bewährt, der vorübergehende Pflege anbahnen konnte.
Auch im Bereich der Migration gibt es durch eine gute Vernetzung
positive Entwick­lungen: Die Be­kanntheit der Diakonin führte bei ihrem Klientel zu schnelleren Einrei­segenehmigungen von Seiten der
Ausländerbehörde. Auf Anregen der Diakonin lie­ßen sich Migrantinnen zur Ausbildung als Bürger­mentorin ermutigen, was wiederum
zur Folge hat, dass die Stadt verstärkt in der Migrations­arbeit aktiv wird. So werden Migrantinnen selbstbewusster und gehen ohne
Berührungsängste und unab­hängig von ihrer Religion in Kirche und
Gemeindehaus ein und aus.
Jährlich finden zwei Treffen mit den Diakoniebeauftragten des Distrikts Oberes Ne­ckartal in Rotten­burg statt neben den beiden Gesamttreffen in Tübingen. Die Dis­triktstreffen mit 4 - 6 (von 11) Diako­
niebeauftragten sind klein, aber sehr anregend. Ideen und Möglichkeiten werden untereinander ausgetauscht und es wird einander Mut
für die Aufgabe gemacht. Wir machten auch die gute Erfah­rung, dass
manche Ideen geradezu ansteckend wirken.
Viele Menschen aus dem Distrikt sind an der Vesperkirche beteiligt.
Die Kontakte und das Wissen voneinander verstärken sich. In den
lokalen Gemeindebriefen vor Weihnachten kann das Projekt „Diakonisch wahrnehmen und handeln“ mit unter­schiedlichen Aspekten
oder Anliegen veröffentlicht werden.
Die Erarbeitung des Flyers „Wir sind für Sie da!“32 mit Hilfsangeboten
im Distrikt für Menschen in Not wurde in einigen Distriktskirchengemeinden dem Gemeindebrief beigelegt. Diese Flyer dienen auch den
Diakoniebeauftragten zur eigenen Informa­tion wie auch zum Weitergeben.
32
Ein solcher Flyer wurde von allen Projektleitungen für den eigenen Distrikt erstellt
und verteilt.
Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk
Insgesamt wird deutlich, dass die hier gelebte Vernetzung in vielfältiger Weise mit Leben erfüllt wird und den Hilfesuchenden zugute
kommt.
4. Aussichten und Dank
Das landeskirchliche Projekt „Diakonat – neu gedacht, neu gelebt“,
bei uns als Pro­jekt „Diakonisch wahrnehmen und handeln – einladendes, gelebtes Evangelium“ ausgeführt, hat uns weiter geführt auf
dem Weg, diakonisches Wahrnehmen und Handeln Bestandteil des
Gemeindelebens werden zu lassen. Diesen Weg möchten wir auch in
Zukunft weitergehen. Wir haben dabei festgestellt: Dies braucht mehr
Zeit als gedacht, und wir müssen bereit sein, unsere anfänglichen
Vorstellungen den im Laufe der Zeit erkannten Wünschen unserer
Ehrenamtlichen an­zupassen. Beziehun­gen müssen wachsen.
Vertrauen zu Menschen in unterschiedlichsten Nöten muss aufgebaut
werden, damit Schamgrenzen überwunden werden können und Menschen sich in ihrem So-Sein und Gewordensein angenommen fühlen,
dass sie spüren, dass gerade sie willkommen sind. Gemeinden auf
diesem Weg zu begleiten und für Men­schen in Not Anlaufstation wie
auch Schlüssel­person für konkrete Unterstützungsbe­darfe zu sein ist
eine auf Diakone und ihr Kompetenzprofil zugeschnittene Aufgabe.
Dieser Aufgabe kommen wir als Diakoninnen und Diakone gerne
nach und hoffen, dass Rahmenbedingungen weiterhin so festgelegt
werden, dass wir sie auch in Zu­kunft aus­führen können.
An dieser Stelle danken wir daher allen, die dieses landeskirchliche
Projekt initiiert und ermöglicht haben wie auch den Verantwortlichen
unseres Kirchenbezirks, die es unterstützt und mitgetragen haben.
Anhang 1:Alle sind eingeladen! Beim Gespräch
verweilen und das Essen teilen.
Seit Februar 2012 gibt es im evangelischen Gemeindehaus in Dußlingen unter dem obengenannten Motto einen monatlichen Mittagstisch. Der Kirchengemeinderat un­terstützt das Angebot – es wurde
vorab einstimmig beschlossen und das Gemeinde­haus wie auch
300.- € dafür zur Verfügung gestellt. In gegenseitiger Übereinstim­
mung wird kein Essensgeld verlangt, es stehen am Ausgang lediglich
Spendenkäss­chen.
Von Beginn an wurde der Mittagstisch von der Bevölkerung angenommen. Zum ers­ten Mal kamen gleich 25 fröhliche Mittagesser, die sich
beim Essen begegnen konnten. Im Schnitt kommen in der Zwischenzeit 35 bis 40 Esser zum Mittagessen. Von Anfang an waren Mütter mit
ihren Kindern genauso dabei wie die Menschen aus einer Einrichtung
der Behindertenhilfe. Diese Menschen sind insbesondere über die Begegnung und die Gespräche dankbar, sind sie doch sonst im Dorf nur
25
wenig inte­griert. Hier bekommen sie die Möglichkeit, mit anderen aus
dem Dorf zusammenzu­kommen und sich so bekannt zu machen. In
der Zwischenzeit haben sich auch die Kinderkrippe mit ihren Erzieherinnen und Menschen aus dem betreuten Wohnen dazugesellt.
Besonders auffallend ist die Tatsache, dass diejenigen Menschen, für
die dieses An­gebot ursprünglich gedacht war, nämlich Menschen mit
einem prekären und meist auch mit einem Migrationshintergrund
sich jetzt auch trauen und nicht nur beim Es­sen dabei sind, sondern
sich nachher auch gerne beim Aufräumen einreihen und so mit den
MitarbeiterInnen ins Gespräch kommen.
Eine Begegnung macht mir persönlich sehr große Freude: Es ist eine
Person, die im betreuten Wohnen lebt und kein Essen verpasst. Es
ist erstaunlich, wie bewegt so ein Leben sein kann – die Person war
beruflich in der ganzen Welt eingesetzt. Weil sie mehrere Sprachen
spricht, bildete die Person andere in Sprachen fort. Natürlich finde
ich es auch wichtig, mit dieser Person in ihrer Muttersprache zu reden, weil es sonst keine Möglichkeit für diesen Menschen gibt seine
Sprach-Kenntnisse anzuwenden.
Schön ist auch, dass beim letzten Essen ein Mann kam, der vor
einem Jahr sehr schnell seine Frau verlor. Trotz seiner eigentlich
nahen Anbindung an die Kirchen­gemeinde brauchte es ein Jahr, bis
er wieder Kontakt suchte und ihn beim Essen fand. Er wurde von den
Müttern mit ihren Kindern gleich in Beschlag genommen und freute
sich sichtlich darüber.
Wichtig zu erwähnen ist auch, dass eine finanzielle Solidarität selbstverständlich ge­worden ist. Denn es kommen Menschen aus Dußlingen und darüber hinaus, die das Essen durch ihren freiwilligen Beitrag stützen und tragen.
Im Februar feiern wir dann das einjährige Jubiläum. Die vier ehrenamtlichen Mitar­beiterInnen freuen sich schon jetzt, an diesem Tag
etwas Besonderes zu kochen.
Diakon Fritz Steinhilber
Anhang 2: Ein Diakon berichtet von Begegnung
und Begleitung im Rahmen des Projekts
Es begann so: Im Lehrerzimmer in der großen Pause erfuhr ich von
einem überaus schwierigen Kind. Es mache Probleme, wie sie an
dieser Schule in Jahrzehnten nicht erlebt wurden. Schon bald nach
der Einschulung 2011 fing es an: Das Kind lief im Klassenzimmer
umher, nahm anderen Kindern ihre Mäppchen weg, trat und schlug
Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Lehrerin mit Händen und
Füßen. Immer wieder musste die Rektorin zu Hilfe geholt werden. Im
August 2012 kam das Kind dann nach Mariaberg zur Beobachtung
und Therapie. Dort wurde es im Dezember wieder entlassen. Jetzt
muss es regelmäßig Medikamente nehmen und darf am Un­terricht
nur beschränkt teilnehmen, von der 1. bis zur 4. Stunde.
26 Tübingen
Ich besuche die Familie in unregelmäßigen Abständen seit Dezember
2011. Man zeigte mir beim letzten Besuch das Schreiben vom Oberschulamt. Es wird ange­strebt, dass das Kind eine Schulbegleitung
bekommt, doch bis zur Umsetzung dau­ert es, und dies geht zu Lasten des Kindes und der Familie.
„Ich habe hier gearbeitet und es hat sehr viel Spaß gemacht. Nun
komme ich öfter zum Essen und finde es immer noch gut. Danke.
Seit Advent 2011 kommt ein Elternteil der Familie ins BegegnungsKaffee. Dessen Deutschkenntnisse sind seither wesentlich besser
geworden. Die Familie lebt von Hartz IV, und die Person kann immer
noch nur auf Abruf in einer Pizzeria etwas dazu verdienen. Leider
hat der andere Elternteil eine angebotene Arbeit nicht angenom­men.
Nach meinem Eindruck möchte dieser Elternteil bislang noch keiner
geregelten Arbeit nachgehen, um den Großvater in einem Altenheim
im Heimatland besuchen zu können. Außerdem machte dieser Elternteil den Hauptschulabschluss nach und be­vorzugt daher derzeit kurzfristige kleinere Erwerbseinsätze. Mehrmals äußerte die Person mir
gegenüber, dass es ihr zunächst wichtig sei, dass der andere Elternteil eine geregelte Arbeit habe, um später eine Rente zu bekommen.
In der Familie gibt es zwei Kinder: ein Kleinkind aus der jetzigen zweiten Ehe und das erwähnte Grundschulkind. Über den Bürgermeister
bekam ich Geschenkgut­scheine für Kinder in bedürftigen Familien.
Beim Begegnungs-Kaffee im Advent half ich dem Elternteil beim Ausfüllen der beiden Geschenkgutscheine. Bis dahin hatte die Person
das kleine Kind immer dabei gehabt, was nicht immer einfach war.
Beim letzten Begegnungs-Kaffee hatte ich nun den Eindruck, dass
die Person entspannter sein konnte, weil das jüngere Kind nun im
Kindergarten ist. Die Person konnte so länger mit einer Mitarbeiterin
sprechen und ihr Herz ausschütten.
Diakon Joachim Pfeifer
„Es ist so schön, eine (kleine) große runde warme menschliche Insel
am Tag zu ha­ben, Gesellschaft und Gespräch, gemeinsames Essen,
Menschen, die mich – so freundlich und zugeneigt – versorgen…
endlich mal wenigstens 3 Wochen im Jahr, wo ich frei von der Sorge
ums tägliche Mittagessen bin; einfach herkommen, so (er­schöpft)
wie ich bin und menschliche Nahrung empfangen, aufnehmen wie
ein tro­ckener Ackerboden den lange ersehnten, lange vermissten Regen…und wieder hinausziehen, um mit dieser Kraft selber zu sorgen,
zu versorgen, weiterzugeben…
Vergelt’s Euch allen Gott!
Voller Dankbarkeit für Euren Einsatz!“
Anhang 3: Einträge aus dem Vesperkirchen-Gästebuch
in Tübingen
„Dank von Herzen!
In das Bild dieser, einer Menschenfamilie, tauche ich immer gerne ein
– und komm‘ als ganzer Mensch genährt wieder „an die Oberfläche“
… trage das Bild, so weit wie mir möglich, unter die Menschen auch
nach „draußen“, auf dass es Kreise ziehe.
Freue mich aufs nächste Jahr!“
„Herzlichen Dank für die gute Gastfreundschaft. Mal sehen, ob es
nächstes Jahr ge­nauso gut wird. (Besser geht es ja nicht).“
Literaturverzeichnis:
Diakoniegesetz der Württembergischen Landeskirche. Verfügbar
unter: http://www.diakonie-wuerttemberg.de/fileadmin/Medien/
pdf/Diakoniegesetz.pdf (15.01.2013).
Sozialraumanalysen der Distrikte Steinlachtal und Unteres Neckartal
(2009).
27
„Eine Chance für Kinder“–
Hilfe für Familien mit Kindern
in Armutslagen und prekären Situationen
Bericht 2: Schwenningen
Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen
Barbara Kuchel-Müller
Projektort:
Schwenningen
Projektträger:
Evangelische Kirchengemeinde / Diakonie Schwenningen
Projektstelleninhaberin:
Diakonin Barbara Kuchel-Müller
28 Schwenningen
1. Die Projektidee
In der Vesperkirchenarbeit der evangelischen Kirchengemeinde
Schwenningen fällt auf, dass insbesondere das Angebot der 4-wöchigen Vesperkirche vermehrt auch von Familien mit Kindern genutzt
wird. Durch die andere diakonische Arbeit der Gemeinde, wie zum
Beispiel der diakonischen Beratungsstelle und auch des Diakonieladens, wird dieser Eindruck vielfältig bestätigt. So entstand 2008 der
Wunsch nach einem speziellen Angebot der Diakonie für Familien mit
Kindern in Armut und prekären Situationen.
Durch die Veränderung und das Anwachsen der gesellschaftlichen
Herausforderung braucht es eine besondere zukunftsweisende Wahrnehmung des diakonisch-missionarischen Auftrages der Kirche. Die
bisher vorherrschende Komm-Struktur von Diakonie und Kirche/Kirchengemeinde soll dabei durch eine gezielte und von der Kirchengemeinde Schwenningen und ihrer Diakonie bereits gemeinsam
begonnenen Geh-Struktur ergänzt und weiter entwickelt werden.
Die Mission im Projekt besteht darin, dass besonders Familien mit
Kindern, die in Armut und prekären Verhältnissen leben, nicht nur
eingeladen werden, kirchliche und diakonische Angebote zu nutzen,
sondern dass sie gezielt aufgesucht werden und eine Begegnung
dort stattfindet, wo sie leben und zu Hause sind. In diesem Rahmen
werden die besonderen Bedingungen geschaffen, die eine wirkliche
„Leib- und Seelsorge“, die ja Diakonie im Eigentlichen ausmacht, ermöglichen. Hier setzt das Projekt direkt bei Johann Hinrich Wichern
an, der in seiner berühmten Stehgreifrede genau dieses einforderte:
Wir müssen hingehen, nicht warten, bis sie von selbst kommen.33
Bei dem Projekt verbessert die Kirchengemeinde und die Diakonie
nicht ihre Event-Kultur, um im Wettbewerb anderer Anbieter zu bestehen, sondern sucht gezielt Menschen auf, die das Evangelium mit
seiner Option für die Armen (Mt.25) im Blick hat. Das Projekt greift
damit die vielfältigen Erfahrungen vieler Institutionen auf, dass Familien mit Kindern durch Angebote präventiver, beratender oder alltagsbezogener Art nicht oder kaum erreicht werden, obwohl gerade
sie es sind, die diese Angebote am meisten benötigen. Oft ist der
Zugang eben mühsam und mit hohen Hürden behaftet oder in dem
Dschungel der vielfältigen Informationen nicht transparent, als dass
hier wirklich eine Hilfe gegeben ist.
Das Projekt setzt auch die in den Begegnungen mit den Menschen
in der Schwenninger Vesperkirche vorliegenden Erfahrungen fort,
dass die Menschen den Raum und die Nähe der Kirchengemeinde
suchen, wenn besonders Begegnung auf gleicher Augenhöhe und im
gegenseitigen Respekt der unterschiedlichen Lebensformen erfolgt
und nicht notwendigerweise eine Anpassung eingefordert wird. Hierbei sollen nicht das Auffüllen oder Beseitigen eines Defizits vorherrschend sein, sondern auch die vorhandenen Ressourcen der Familien in den Blick genommen werden. Dies hat ganz viel mit Ermutigung
und Würde zu tun, was dem oftmals vorhandenen Gefühl von Scham,
Resignation und Wertlosigkeit in den Familien entgegenwirkt.
33
Wichern [1848] 1962.
Dabei stehen weder die aufsuchende Diakonin, noch die Eltern oder
die Kinder unter der Anforderung der Rechtfertigung oder der erzwungenen Veränderung. Gemeinsamkeiten, Belastungen, Benachteiligungen und Schwierigkeiten wahrzunehmen und auch gemeinsam nach Lösungen zu suchen und Lösungswege zu beschreiten ist
das Ergebnis eines fortlaufenden, vertrauensvollen und begleitenden
Prozesses.
1.1 Das Konzept und die Umsetzung des Projekts
Im Projekt ist angedacht, eine präventive und niederschwellige Arbeit zu initiieren. Aus diesen Überlegungen heraus entwickelten sich
4 Säulen, die den Rahmen des Projekts bilden:
Die Institutionalisierung von einer niederschwelligen Beratungsstruktur an evangelischen Kindertageseinrichtungen im Sinne
einer Erziehungsberatung, Lebensberatung, Seelsorge und sozial-rechtlichen Beratung. Dabei sollen Möglichkeiten einer Weiterentwicklung (exemplarisch) zu einem Familienbildungszentrum überprüft und angedacht werden.
Die aufsuchende Gehstruktur in Form von Hausbesuchen und
das Aufbauen einer vertrauensvollen Beziehung mit den Familien
durch die Diakonin. Das Aufbauen einer ehrenamtlichen und unterstützenden Arbeit in Form eines Familienpatenmodells.
Das Knüpfen von tragbaren sozialen und helfenden Netzen unter
Einbeziehung der vorhandenen Hilfesysteme.
Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Kirchengemeinde
für das Thema.
Im Projekt ist die Diakonin direkt und vor Ort in den Familien im Einsatz. Dabei wird großes Gewicht auf die Gehstruktur im Gegensatz
zu einer Kommstruktur gelegt, die in den gängigen Hilfesystemen
sowohl der Kommune als auch der Kirche üblich ist. Die Diakonin, die
durch die regelmäßigen Besuche eine Vertrauensbeziehung zu den
Familien aufbaut, unterstützt diese bei den Zugängen zu vorhandenen
Hilfesystemen, durch beratende Gespräche, durch Begleitung und Information. Dabei sollen tragfähige Hilfsnetzwerke aufgebaut werden.
Eine Unterstützung ist auch im Bereich der Seelsorge erwünscht.
Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen
Dabei nimmt sie die rechtlichen, sozialen und religiösen Dimensionen in den Blick. Eine besondere Herausforderung des Projekts ist,
den frühen Zugang zu Familien zu finden, die durch die Lücken im
Hilfesystem fallen, über Informationen nicht verfügen, oder sich
selbst nicht aufmachen, Hilfe zu suchen. Die Kontaktaufnahme und
die Unterstützung der Familien wird durch eine enge Zusammenarbeit mit den kirchlichen Kindergärten unterstützt, in denen besonders
Familien aus der Zielgruppe präsent sind. Diese Kindergärten wurden
zu Beginn des Projekts durch die Sozialraumanalyse ermittelt. Eine
regelmäßige Präsenz der Diakonin in den Kindergärten ist dabei von
Vorteil.
Des Weiteren wird unter der Begleitung und Schulung durch die Diakonin eine ehrenamtliche Arbeit initiiert, in der ehrenamtliche Paten
und Patinnen in den Familien zum Einsatz kommen. Dies soll vor
allem die vielfältige Arbeit der Diakonin unterstützen, aber auch dazu
beitragen, Grenzen zwischen den Milieus zu überwinden und gegenseitiges Verständnis sowie das Entdecken der eigenen Ressourcen,
die in den Familien noch vorhanden sind, zu fördern. Auch soll hierbei eine Resilienzstärkung der Kinder stattfinden.
Die Arbeit des Projekts, sowie die daraus resultierenden Erfahrungen
sollen sowohl der evangelischen Kirchengemeinde für ihr diakonisches Selbstverständnis, als auch der interessierten Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden, um einen Sensibilisierungsprozess für
das Thema zu befördern. Es geht ebenfalls darum, den Inhalt des diakonisch-missionarischen Auftrages der Kirche neu zu untersuchen
und zu überprüfen, wie in diesem Auftrag die Familien am Rande der
Gesellschaft erreicht werden können.
1.2 Weichenstellungen im Verlauf des Projekts
Nach einer kurzen Zeit der Arbeit im Projekt wurde schnell deutlich, dass es einen anderen Blick auf die Zielgruppe geben musste.
Zuerst war angedacht, besonders die Kinder in einer Familie zu unterstützen, ihre Resilienz zu fördern und ihnen aktive Hilfe für eine
Chancengleichheit zukommen zu lassen. Ebenso lag der Fokus auf
der Problematik der Armut. Es stellte sich aber heraus, dass diese
enge Sichtweise so nicht realistisch war. Die Familien entpuppten
sich nicht als reine Armutsfamilien, sondern die Probleme, sicherlich
auch oft durch Armut ausgelöst, waren vielschichtig und betrafen alle
Familienmitglieder in ihrer Existenz, ihrer Entwicklung und in ihren
Beziehungsgeflechten.
Es handelte sich in fast allen Fällen folgerichtig um sogenannte Multiproblemfamilien. Insofern musste also die gesamte Familie mit einem
ganzheitlichen Ansatz in den Blick genommen werden: die Kinder,
wie ihre Eltern und andere wichtige soziale Kontakte, die in den Familien eine Rolle spielten.
Der präventive Ansatz, sich Familien auszusuchen, deren Kinder
noch klein (unter 12) waren und den Zugang besonders in den Kindergärten zu finden, war richtig. Doch erwies sich die Anwesenheit
29
der Diakonin in den Einrichtungen nicht als notwendig. Die Familien
nahmen dieses Angebot nicht wahr. Der Kontakt erfolgte von daher
immer über die ErzieherInnen, die das Angebot eines Hausbesuches
durch die Diakonin machten. Dieses Angebot wurde von den Problemfamilien gerne angenommen. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den ErzieherInnen und der Diakonin war von Anfang
an wichtig.
Die Initiierung einer ehrenamtlichen Arbeit in den Familien war von
Anfang an ein großes Anliegen im Projekt. Es gelang sehr schnell,
Paten zu finden, die hoch motiviert waren. Auch der Rahmen für diesen Ansatz im Projekt stimmte. Das Interesse in der Fachöffentlichkeit an diesem Teil des Projekts war ebenfalls hoch.
Nach 1,5 Jahren der Durchführung musste allerdings gesagt werden,
dass trotz großen Engagements und Einsatzes, sowohl von Seiten
der Projektleitung, also auch der Paten und Familien dieser Ansatz
gescheitert ist.
Die Gründe dafür sind hauptsächlich in der dynamischen und teilweise dramatischen Entwicklung in den Familiensituationen zu sehen,
die zu einer Überforderung für alle Beteiligten wurden. Vertrauen
kann nur wachsen, wenn Beziehungen auch auf längere Sicht bestehen und belastbar sind. Das ist bei einem ehrenamtlichen Einsatz leider in den wenigsten Fällen gegeben. Bei den älteren Paten
und Patinnen war schnell eine Überforderung durch die belastenden
Familiensituationen gegeben, bei den jüngeren Patinnen war der
eigene Lebensentwurf (Scheidung, neuer Job, Schwangerschaft,
mehrere Aufgaben) ein Hindernis, eine Beziehung auf längere Sicht
zu pflegen.
Dabei muss abgewogen werden, was schwerer wiegt: die durchaus
gelungene mögliche Resilienzstärkung der Kinder und der Familie,
sowie der Aufbau von sozialen Kontakten auch über die Milieugrenzen hinweg, oder der manchmal schmerzhafte Abbruch der Beziehungen, der neue Frustrationen mit sich bringt. Die Projektleitung
entschied sich daher, diesen doch sehr wichtigen und interessanten
Ansatz im Projekt zu beenden.
2. Vertiefte Evaluation
2.1Ziele des Projekts im normativen
und strategischen Bereich:
Teilziel 1
Das übergeordnete normative Hauptziel lautet: Orientiert an
den Maßstäben des Reiches Gottes sind in der evangelischen
Kirchengemeinde Schwenningen die Lebenssituationen von
Familien mit Kindern, die in Armut oder prekären Situationen
leben, dahingehend verändert, dass sie an Leib und Seele Anteil haben an der heilenden Zuwendung Gottes.
30 Schwenningen
Ausgehend von diesem normativen Ziel wurde das strategische Ziel
zur Evaluation ausgewählt:
Die Diakonin hat die individuellen Lebenssituationen besonders bedürftiger Familien in ihren sozialen, rechtlichen und
religiösen Dimensionen mit ihren Bedürfnissen und Chancen
wahrgenommen und mit den Familien angemessene Formen
der Hilfe innerhalb eines funktionierenden Netzwerkes gefunden.
Für die vertiefte Evaluation des Projektes wurden folgende soziographische Daten erhoben: Tabellen mit Fallzahlen, exemplarische Falldokumentationen, aufgezeichnete Verbatims, Feldnotizen, Gruppeninterviews mit Patinnen und einzelne Interviews mit den betroffenen
Familien.
handelt, sondern um sogenannte „Multiproblem-Familien“ mit vielschichtigen Beziehungsgeflechten und Problematiken. Insofern sind
die Familien im weitesten Sinne „arm“, und nicht nur im materiellen
Sinn. Manche der Familien im Projekt sind bereits durch einige vergebliche Hilfsansätze von Institutionen enttäuscht oder gelten bereits
als „hilferesistent“.
„Mir könnte alles Mögliche passieren, wenn ich nicht zufällig vom
Projekt gehört hätte…“
„…ich bin in Depressionen hereingefallen, (Suizidgefährdung,
Anm.), nicht mehr wissen einfach wo Hilfe, – ja auf der Straße
liegen vielleicht. Wär ja mit mir auch der Fall gewesen, fast. Also,
mit ich und meine Kinder und mein kranker Mann. Haben wir jetzt
aber alles (mit Hilfe des Projekts Anm.) klein bekommen.“35
„Mh, finanzielle Probleme. Ich hatte auch damals kein Geld gekriegt, glaub ich. Familiär. Also ich hab die Rollladen einfach unten gehabt und hab mit keinem Kontakt gehabt. Das war ganz
schlimm.“ 36
2.1.1 Zahlen und Fakten34
Im Verlauf des Projekts konnten bis Oktober 2011
25 Familien (neu 7/2012: ca.30 Familien) mit insgesamt 59 Kindern (neu 7/2012 über 70 Kinder) betreut werden.
Davon waren 14 Kinder in der Altersgruppe 0 – 3, 20 Kinder in der
Altersgruppe 4-6, 15 Kinder in der Altersgruppe 7-12, 10 Kinder
waren 13 Jahre und älter.
Davon waren 16 Familien Ein-Eltern-Familien, bei 2 weiteren stand
die Trennung bevor. Dies ist insofern interessant, da die zuvor im
Projekt erstellte Sozialraumanalyse aufzeigt, dass in Schwenningen doppelt so viele Familien (37,6%) wie im Bundesdurchschnitt
(16,8%) mit einem alleinerziehenden Elternteil leben. Diese Gruppe ist laut anderer Studien besonders häufig von Armut betroffen.
15 Familien hatten Migrationshintergrund, 2 Familien hatten Asyl
beantragt.
7 Familien davon waren muslimischer Religion, 11 davon christlich, bei den anderen war keine Religion bekannt.
Froma Walsh37 hat die Lebenssituation von „armen“ oder prekären
Familien mit der eines Lastkraftwagens verglichen. Dieser LKW fährt
in einem gefährlichen Gebirge, aber dem Fahrer ist nicht klar, ob die
Bremsen noch in Ordnung sind. Jede Steigung, jede gefährliche Kurve, jeder Abgrund kann zur Gefahr werden, da nicht klar ist, wie und
ob die Bremsen funktionieren werden. So wird jede neue Situation
und Herausforderung zur potentiellen und existenziellen Gefahr. Es
kann sein, dass danach nur noch alles Schrott ist.
So kann jede Veränderung in diesen Familien zu erheblichen Einschnitten, Strukturveränderungen und Umbrüchen führen. Ihre Armut begrenzt erheblich ihre sozialen und psychischen Möglichkeiten,
Veränderungen als Chancen und Neubeginn zu nutzen.38
In den meisten Fällen macht Veränderung auch schiere Angst. Es
braucht viel Mut und Vertrauen, neue Schritte zu gehen. Dabei muss
aber auch gesehen werden, dass in den Familien nicht nur Defizite
vorherrschen, sondern auch Ressourcen, die neu entdeckt und gestärkt werden müssen. So ist es für den „Unterstützenden“ ein grober Fehler, wenn er nach einer Studie von Beck39 drei Aspekte nicht
beachtet:
20 Familien bekamen Leistungen nach dem SGB XII (Sozialgeld,
Hartz-IV)
1. das Unterschätzen von Stärken,
2. das Überbetonen von jedem Fehler,
2.1.2 D
er vertiefte Blick auf die Zielgruppe
und die stabilisierenden Maßnahmen
Wie schon am Anfang erwähnt, ist der Blick auf die Zielgruppe dahingehend verändert, dass es sich nicht nur um reine Armutsfamilien
34
Stand der Erhebung 10/ 2011.
3. die Entwicklung einer Katastrophenstimmung.
35
Familie X, Interview mit ausländischer Mutter, 2 Kinder, Mann verunglückt,
Zeilen 160 u.161,166-169.
36
Interview mit Familie Y.,. Migrationshintergrund, 2 Kinder, psychisch erkrankt,
alleinerziehend, Zeile 25-29.
37
Vgl. Walsh 1998.
38
Vgl. Conen 2002, S. 41.
39
Vgl. Beck et al. 1987.
Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen
Interessant ist dazu eine wissenschaftliche Studie40, die Armutshaushalte wie folgt typisiert:
Die verwalteten Armen leben seit Jahren in einer prekären Lebenslage und haben einen engen Kontakt zu Behörden und Institutionen, ohne die sie ihren Alltag kaum noch bewältigen können.
Die erschöpften Einzelkämpfer/innen sind Alleinerziehende oder
Familien, die trotz Erwerbsarbeit in Armut leben. Diese Haushalte
stehen unter der dauernden Belastung, ihren Alltag mit unzureichenden materiellen Mitteln meistern zu müssen.
Die ambivalenten JongleurInnen geraten durch risikobehaftetes
Handeln immer wieder in Notlagen. (Hier finde ich vor allem viele
Borderline-Mütter.)
Die vernetzten Aktiven sind selbstbewusste, aktive Menschen, die
in soziale Netzwerke eingebunden sind und wissen, wo und wie
sie für ihre Lebenssituation Hilfe und Unterstützung finden können.41
Die vielschichtige Problematik in den Familien erfordert auch eine
sehr individuelle Hilfe und verschiedene Maßnahmen zur Stabilisierung und Unterstützung. Wobei wieder ausdrücklich zu betonen ist,
dass auch die Eltern der Familie deutlich gestützt werden müssen,
wenn Kindern nachhaltig geholfen werden soll. Es ist nicht ausreichend, die Kinder nur durch Angebote zu stützen, die außerhalb der
Familie angesiedelt sind. Geht es den Eltern besser, geht es auch den
Kindern besser.
Stabilisierende Maßnahmen:
Bei 16 Familien wurden durch das Nutzen eines Hilfenetzwerkes
zusätzliche Hilfen und Träger eingeschaltet.
Vermittlung an psych. Behandlung
Vermittlung an Jugendamt und
sozialpädagogische Betreuung
Beratung:
Psychosoziale Beratung
Seelsorgerliche Beratung
Rechtliche und sozialrechtliche Beratung
Vermittlung an medizinische Behandlung
25 Familien
23 Familien
26 Familie
7 Eltern
Aus der Tabelle geht aber hervor, dass es nur bei 5 Familien gelungen
ist, diese auch in eine psychologische Behandlung zu vermitteln. Das
ist ein Ergebnis innerhalb der Arbeit des Projekts, dass besonders bei
psychosomatischen Krankheitsbildern, die anscheinend in der Zielgruppe gehäuft auftreten, oft dringender Handlungsbedarf besteht, der
nicht abgedeckt werden kann. Dies gilt für die Kinder in den Familien
mit deutlich psychosomatischen Verhaltens-Auffälligkeiten gleichermaßen. Das gehäufte Auftreten von Depressionen und anderen psychosomatischen Erkrankungen, wie Burn-Out Problematik, Borderline-Persönlichkeiten, posttraumatische Belastungsstörungen, u.a.,
stellen eine große Herausforderung für die Diakonin und die Arbeit
des Projekts dar. Es wäre hierbei interessant, zu untersuchen, ob die
prekären Milieus diese Krankheitsbilder befördern, ob es eher die
Trennungssituationen der alleinerziehenden Mütter sind, oder ob diese Krankheitsbilder mit zur prekären Situation beitragen.
2.1.3 Die Gehstruktur und der Kairos-Moment im Projekt
Auszüge aus Interviews mit den betroffenen Familien:
„Und genauso find ich des ganz toll, das, äh – das wenigstens
z.B. einmal in der Woche, also, das sie einfach kommen zu Hause
und – die Leute einfach – ähm ,zu Hause ankucken, wie, wie die
Lage ist, z.B. manche Leute können des ja auch nicht erzählen,
oder von sich aus sagen, dass einem dreckig geht, oder am Telefon klingt des halt viel anderster wie, wie wenn sie halt persönlich dorthin gehen und diese Leute, bzw. diese Familie ankucken,
überhaupt. Wie ist die Wohnsituation, das sagt ja schon alles aus.
Wenn Sie sich noch erinnern können, wo Sie zum ersten Mal bei
mir waren, da sah es schon (Lachen) katastrophal aus.“42
„Ja, wenn ich bin äh – zu viele traurig, weinen, beten: Mein Gott
bitte Hilfe! – und dann, kommt Frau von Diakonie –, klingeln meine Tür. Und das ist bei mir, äh – sehr gut, warum die Frau sagt,
äh – was brauchen Hilfe? – Kann ich machen.“43
42
Aus dem Interview mit Familie X., Zeile 173 – 180.
Aus dem Interview mit Familie E. Christen aus einem muslimischen Land, 4 Kinder,
unsicherer Aufenthaltsstatus, abgelehntes Asylverfahren, dadurch Arbeitsverbot,
Zeile 29-32.
43
40
Vgl. Meier-Graewe 2011.
Vgl. Meier-Graewe 2011.
41
5 Familien
Aus den gesammelten Daten geht hervor, dass bei 8 Familien eine Depression oder andersgeartete psychische Erkrankung, besonders bei
alleinerziehenden Müttern in Trennungssituationen eine Rolle spielt.
Hilfsmaßnahmen, die zu einer Stabilität in den Familien geführt haben:
17 Familien
14 Familien
5 Familien
11 Familien
10 Familien
10 Familien
5 Eltern
Es fällt auf, dass der Bedarf an Beratung und Information in den Familien besonders hoch ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob
dies eine psychosoziale, rechtliche oder religiöse Fragestellung ist. In
allen Bereichen ist der Beratungsbedarf gleich häufig.
Bei 11 Familien musste zwischen den Familien und den Ämtern
vermittelt werden.
Finanzen:
Existenzsicherung Finanzielle Zuwendungen aus Stiftungen
Vermittlung an Schuldnerberatung
Verbesserung der finanziellen Struktur
Vermittlung an diakonische Beratungsstelle
Vermittlung und Begleitung bei Ämtern
31
32 Schwenningen
„Jetzt komm ich ja zu ihnen nach Hause. Ist das eine Hilfe für Sie,
oder eher ein Druck?“
Frau Y: „Druck nie, des isch Hilfe. Hilfe, eigentlich ne. Des isch
wie: Aha, die Mutter kommt jetzt, die klingelt und kommt jetzt
rein. Die hilft mir jetzt, oder sagt mir, was ich jetzt machen muss.
Also, des ist kein Druck, sondern (ihr fällt kein Wort ein) – Druck,
nie.“
D: „Eher wie ein Schutzraum?“
Frau Y.: „Ja, ja, ein Schutzraum.“44
Erst wenn die Reihenfolge und die Wichtigkeit der einzelnen Schritte geklärt sind, wird mit der Familie besprochen, wie man vorgehen
kann.
Durch die aufsuchende Arbeit finden also verschiedene Aspekte Berücksichtigung, die in anderen Kommstrukturen innerhalb der gängigen Hilfesysteme so nicht gegeben sind:
Bisherige Erfahrungen der Familien mit Helfersystemen hinterlassen oftmals ein Gefühl der Unterlegenheit. Es handelt sich um
fremdes Territorium, Verbalisierungsanforderungen und die Konfrontation mit einer Vielzahl von Helfern, die auch noch ständig
wechseln (z.B. Jobcenter und Arge) in den jeweiligen Ämtern und
Hilfeträgern.
Auszug aus der Feldnotiz: Familie XY:
Regelmäßige Hausbesuche bei Fam. XY. (alleinerziehend nach
dramatischer Trennung, drei Kinder) sind mir sehr wichtig, da
sich Frau XY. mittlerweile in einem äußerst instabilen Zustand
befindet, sie ist auf 50 kg abgemagert, zittert und weint häufig.
Psychisch ist sie mittlerweile so unter Druck, dass sie nicht mehr
unterscheiden kann, wer es nun gut oder schlecht mit ihr meint.
Sie ist sehr misstrauisch und ängstlich, ihre Wohnung wird immer mehr zur Flucht- und Trutzburg. Bei meinem Hausbesuch
fällt auf, dass die Jalousien an den Fenstern heruntergelassen
sind. Sie öffnet nach meinem Klingeln die Tür nur einen Spalt weit
und lässt mich herein. Sie ist froh, dass ich da bin…
Diese und viele andere Beispiele (siehe Falldokumentationen 1-6) zeigen deutlich auf, dass gerade durch die Gehstruktur und die regelmäßigen persönlichen Hausbesuche durch die Diakonin eine wichtige
Lücke im Hilfesystem geschlossen werden konnte. So werden die
Hausbesuche von den Familienmitgliedern als hilfreich erlebt, besonders, wenn nach der Kennenlernphase Vertrauen wachsen konnte.
Die Bezeichnungen wie „Freundin“, „Mutter“, „Familiencoach“, oder
arabisch: „chaleh“ (Tante, ältere Ratgeberin, die eine wichtige Rolle zum Schutz innerhalb des Familienclans hat) zeigen, dass auch
Gefühle wie „Geborgenheit“ und „Ermutigung“ sowie eine gewisses
Empfinden von „Sicherheit und Schutz“ bei den Familien mitspielen.
Das ist ein großer Vorteil, wenn man wirklich zu neuen Schritten ermutigen will und Dinge zum Besseren ändern. Auch spielt in dieser
Form ganz stark die positive Bestärkung der Familien und das gemeinsame Entdecken der vorhandenen Ressourcen und Stärken der
Familie eine Rolle.
Bei den Hausbesuchen gelingt es viel besser, die Problematiken
innerhalb der Familien wahrzunehmen und in ihrer Wichtigkeit einzuschätzen. So ist eine Familie in einer prekären Situation oft sehr
überfordert und unfähig, die eigenen Probleme und Bedarfe richtig
zu benennen, zu reflektieren und einzusortieren. Ebenso fehlt die Information, wo die richtigen Hilfen zu finden sind und welche Angebote genutzt werden können. Das gilt nicht nur im materiellen und
finanziellen Bereich, sondern auch im Bereich der Rollen innerhalb
der Familie, des Erziehungsstils, der Ehebeziehung und der physischen und psychischen Gesundheit, u. a. Dieser Prozess kann bei
den persönlichen Besuchen der Diakonin zusammen mit der Familie
angestoßen und erarbeitet werden, dabei sind alle Familienmitglieder
mit einbezogen.
Es gibt große Scheu und Probleme dieser Familien, diese Institutionen aufzusuchen. Manchmal sind die Hürden einfach zu groß.
Das Ausfüllen einer Vielzahl von unverständlichen Bögen und das
Einfordern von Bescheinigungen und Nachweisen kann leicht
zur Schikane werden. Familien äußern Gefühle wie: Resignation,
Hoffnungslosigkeit, Abwehr, Depression und Ängste.
Beim Hausbesuch kann die Diakonin die Familie beobachten und
umgekehrt genauso. Man kann mögliche Handlungsalternativen
vor Ort ausprobieren.
Die Wertschätzung und Achtung gegenüber den Lebensumständen der Familie können vor Ort sichtbar werden, ganz besonders,
wenn man Anteil nimmt an den Dingen, die passieren, an Neuerungen in der Wohnung, beim Teilnehmen an einer Mahlzeit, Kaffee, usw.
Es geschieht automatisch auch eine Wertschätzung gegenüber
den anderen Familienmitgliedern, besonders, falls vorhanden,
auch Väter.45
Immer wieder wird im Projekt deutlich, dass durch die besondere
Form der Arbeit der Diakonin im Projekt, durch die Gehstruktur und
dem niederschwelligen Ansatz sowie durch die Vertrauensbeziehung,
die zwischen der Diakonin und den Familien wachsen kann, ein Moment eintritt, der mit dem griechischen Wort „kairos“ am besten umschrieben wird.
Auszüge aus der Falldokumentation 2: Fam. M:
Frau M. wird demnächst eine ambulante psychiatrische Tagesklinik besuchen. Ihr Allgemeinzustand ist mittlerweile bedenklich.
Die Angst, dass ihr Mann dann ihr die Kinder wegnehmen könnte,
konnte ich zerstreuen.
Die Betreuung durch das Projekt in dieser Familie ist weiterhin
sehr intensiv und wird auch benötigt, vor allem, da Frau M. durch
ihr Misstrauen und ihre Angst mittlerweile fast unfähig ist, zu unterscheiden, wer nun Freund oder Feind ist. Das wird ihr auch oft
44
Aus dem Interview mit Familie Y., alleinerziehend nach Trennung, psychisch erkrankt,
Migrationshintergrund 2 Kinder, Zeile 66-71.
45
Vgl. Conen 2002, S. 47-48.
Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen
zur Hürde, da sie in der Öffentlichkeit sehr aggressiv und bockig
wirkt. Ihre hysterische und laute Art stößt die Leute ab, besonders, wenn auf der anderen Seite auch der Ehemann öffentlich auf
der Bildfläche erscheint, der einen ganz gegenteiligen Eindruck
macht. Durch meine Hausbesuche erlebe ich aber als Einzige, das
er in Wirklichkeit stalkt und droht, wenn er meint, es bekomme
keiner mit.
Das kleine Mädchen der Familie weist eine sehr depressive und
zurückgezogene Verhaltensstörung auf, der dreijährige Junge ist
aggressiv, spuckt und beißt. Auch bei dem anderen Kind besteht
Behandlungsbedarf. Auf Anfrage erklärt die Mutter, dass den Kindern während des Unfalls von den Verwandten erklärt wurde, der
Vater sei tot, und sie seien von Allah verflucht.
Die Familie beschäftigt mehrere Anwälte, hat Ärger mit der zuständigen Versicherung, die eine sehr lückenhafte Informationspolitik betreibt. Es besteht außerdem eine Räumungsklage. Des
Weiteren soll der kranke Ehemann ins Heimatland abgeschoben
werden, da sein Aufenthalt ausläuft. Während meines Hausbesuches erscheint die Polizei mit Gerichtsvollzieher, um den Mann
zu verhaften, er hatte es versäumt, eine eidesstattliche Erklärung
abzugeben.
Auch in diesem Fall erlebe ich, dass die Ämter, sowie auch die
Anwälte nicht die Hilfe bringen, die erhofft wird. Frau M. erleidet
geradezu die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit. In diesem Fall ist
leider meine Vermutung, dass ohne das Projekt (kairos!) diese
Geschichte eine sehr dramatische Wendung für die Mutter und
die Kinder genommen hätte. Ich hatte ihre Drohung, Schluss zu
machen, durchaus ernst genommen. Ich frage mich, wer sonst
meine Rolle in diesem Fall hätte übernehmen können. Ich erlebe
mich in diesem Fall besonders in meiner Berufung als Diakonin:
ein Anwalt für die zu sein, die chancenlos sind, ungerecht behandelt werden und durch alle Lücken fallen, und Antworten aus dem
Evangelium bereit zu haben, wenn die Fragen in seelsorgerliche
Richtung gehen. Ich möchte hinzufügen, dass die oben geschilderte Situation der Mutter und ihr Erleben eigentlich typisch ist
für die Familien, die ich betreue. Es handelt sich in den meisten
Fällen um alleinerziehende Mütter, die versuchen, sich und ihre
Kinder in einem Zusammenspiel aus Unterhalt, Hartz-IV-Geld
oder anderen Hilfen über Wasser zu halten. Zu den existenziellen
Sorgen gesellen sich dann alsbald auch andere Probleme. Viele
dieser Mütter, und dadurch bedingt auch ihre Kinder, befinden
sich in seelischen Ausnahmesituationen, ähnlich diesem Fall.
Auszüge aus der Falldokumentation 1: Fam. X:
Fam. X. hat Migrationshintergrund (muslimisches Land). Drei
Kinder im Alter von 2- 9 Jahren. Der Vater verunglückte bei der
Arbeit, stürzte auf den Kopf und ist seitdem ein Pflegefall. Die
Mutter spricht fließend Deutsch, ist gelernte Pflegerin und versucht nun, den Ehemann zu versorgen, ist aber insgesamt durch
die Geschehnisse sehr belastet und überfordert. Als sich die
Diakonin der Familie annimmt, der Kontakt entstand durch die
Eigeninitiative (Flyer) der Familie, stellt sich die Situation als völlig
chaotisch dar. Eine ausreichende Therapie und Behandlung für
den Mann ist nicht vorhanden. Niemand fühlt sich zuständig. Er
befindet sich in der völlig chaotischen Wohnung mit einem offenen Schädel-Hirn-Trauma. Auf Anfrage berichtet die junge Ehefrau, dass er nach der Erstversorgung im Krankenhaus an der
weit entfernten Unfallstelle, bei der man ihm die zertrümmerte
Schädeldecke entfernte, in eine Reha-Klinik geschickt wurde. Dort
blieb er aber nicht lange, da er kein Wort Deutsch verstand und
desorientiert war. Ohne seine Frau war er nicht zu beruhigen. Diese konnte aber einen Aufenthalt in der Klinik weit ab vom Wohnort
nicht finanzieren, hatte selber die Arbeit verloren und noch keinen
Antrag auf Hartz-IV gestellt.
Bei meinem ersten Hausbesuch äußert sie ihre totale Überforderung und spricht von Suizid. Sie hatte den Überblick komplett verloren. Sie ist an allen Stellen abgewiesen worden und gescheitert.
33
Meine Aufgabe ist zuerst, die Lage zu stabilisieren.
(Anmerkung der Diakonin: nach einer Begleitung von ca. 2 Jahren
im Projekt geht es der Familie heute wieder besser. Der Mann
wird ein Pflegefall bleiben, aber er bekommt Therapie, der finanzielle Rahmen ist gesichert, die Kinder wurden heilpädagogisch
betreut und in einer Ganztageskita aufgenommen. Die Schuldenregulierung läuft, der Ehemann bekommt Rente und hat einen
gesicherten Aufenthalt. Die Diakonin kümmert sich weiter um die
Familie, aber nicht mehr so intensiv. Die Diakonin blieb allerdings
während der gesamten Zeit die erste Ansprechpartnerin und Brücke zu den verschiedenen Hilfenetzwerken, die mit Hilfe des Projekts eingeschaltet wurden.)
Diese Auszüge aus den Falldokumentationen und auch die anderen
Falldokumentationen sowie die Feldnotizen und Interviews zeigen,
dass für nicht wenige der Familien eine ausweglose Situation die Folge gewesen wäre, wenn nicht „zufällig“ das Projekt: „Eine Chance für
Kinder-Hilfe für Familien in prekären Lagen“ vor Ort gewesen wäre. Es
zeigt unter anderem, dass die gängigen Hilfesysteme Lücken haben
und oftmals durch die hohen Hürden nicht erreichbar sind. Ebenso
können, wie schon gesagt, manche Familien nicht mehr die Kraft aufbringen, diese Hürden zu überwinden. Zu groß ist das Empfinden von
Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit. Auch fehlt es ihnen an Kompetenz,
ihre Lage selbst einzuschätzen und sich dann an die „richtigen“ Stellen zu wenden. Ich bin überzeugt, dass ohne die besondere Hilfe des
Projekts die eine oder andere Entwicklung in den Familien einen dramatischen Verlauf genommen hätte. Beachtenswert ist dazu auch die
häufiger auftretende Aussage, mit allem „ein Ende machen zu wollen“.
2.1.4 D
er ganzheitliche Ansatz und das
diakonisch-missionarische Handeln
Aus dem Verbatim 146:
FE1: „Kommen Sie rein. Wollen Sie Tee mit mir trinken.“ (Frau
46
Die Gedächtnisprotokolle der Gespräche (Verbatims) wurden von der Diakonin jeweils
direkt im Anschluss an die Gespräche notiert
34 Schwenningen
E. bereitet ihren ausländischen Tee. Sie spricht leider noch sehr
schlecht Deutsch, versteht aber immer mehr, und wir können uns
einigermaßen verständigen. Ich nehme regelmäßig an, wenn ich
von Frau E. zum Teetrinken und Essen eingeladen werde. Wenn
sie die Gastgeberin ist, hellt sich ihr depressives Gemüt auf, und
sie fühlt sich in ihrem Element.)
D2: (nimmt das kleine Kind auf den Schoß und gibt ihm den
Kakao zu trinken). „Gerne möchte ich mit Ihnen eine Tasse Tee
trinken. Sie wissen doch, dass ich Ihren Tee sehr gerne mag. Ich
habe gute Nachrichten. Sie haben doch erzählt, dass Ihr Sohn
in der Realschule nicht mit ins Schullandheim kann, weil das zu
teuer ist und die Realschule keine Sozialkasse hat. Ich habe bei
einer Stiftung für sie einen Antrag gestellt und das ganze Geld für
das Schullandheim bekommen. Nun kann sie doch mitfahren.“
FE2:. „Oh ja, ich freue mich. Er wird sich auch freuen. War schon
sehr traurig. Er ist so gut in der Schule.“ (Frau E. nimmt den nicht
unerheblichen Betrag an sich) „Du bist die Diakonin Barbara. Du
weißt von der heiligen Barbara? Ich habe viel gebetet zur heiligen Barbara. Als ich mit Sahra Barbara schwanger war, und mein
Mann musste in unser Land zurück (wurde abgeschoben), der
Arzt hat gesagt – es ist nicht gut mit dem Kind, – ich hatte große
Schmerzen und viel Angst – ich bete und bete, zur heiligen Barbara und dann – alles ist gut. Kind ist gesund. Ich bin gesund.
Mann ist zurück.
(Frau E. teilt mir gerne ihre Glaubenserfahrungen mit. Auch da
erlebt sie sich als Christin, der mit einer anderen Christin über den
Glauben spricht. Sie ist in dieser Rolle nicht der Hilfeempfänger
und abgelehnte Asylant, der bei jeder Kleinigkeit beim Ausländeramt um Hilfe bitten muss. Ich erlebe sie in diesen Gesprächen als
stark und auch ein bisschen stolz über ihre Erfahrungen und ihr
Wissen. So teilte sie mir unter anderem auch einmal mit, dass
sie im Herkunftsland Kinder in biblischer Lehre unterwiesen hat.)
FE3: (Sie streicht dem Kleinkind über das Haar.) „Sie ist etwas
Besonderes. Will nur Barbara genannt werden.“ Frau E. bringt mir
ein mit Tesafilm zusammengeklebtes Bild der heiligen Barbara.
Ich bestaune es. (Verbatim)
Es ist ein grundlegender Gedanke im Evangelium, dass ein Mensch
nicht nur auf seine Defizite reduziert wird, sondern immer ein Mensch
ist aus Leib, Seele und Geist. Trotz Schwachheit, Schuld, Versagen
oder ein Leben am Rand der Gesellschaft, sieht ihn Gott als Menschen, den er wert achtet und liebt. Jesus, der Archetypus des Diakons nahm sich besonders derer an, die an den Rand gedrängt waren
oder Probleme hatten. Er sah sie immer im Ganzen. Er begegnete
ihnen mit Liebe, Anteilnahme, Würde und Wertschätzung. Besonders
als DiakonInnen sind wir zu dem gleichen Handeln aufgerufen. Kein
höher, schneller, weiter, sondern: Lass dir genügen. Es ist gut so. Es
reicht. Du brauchst nicht nach den Sternen zu greifen, und du musst
dich nicht ständig überfordern. Du musst nichts beweisen, und du
darfst mit dir selbst gnädig umgehen, denn Gott ist gnädig zu dir.
Durch Gottes Gnade und Liebe bist du, was du bist.
Was heißt das für das diakonische Handeln und den ganzheitlichen
Ansatz?
Nach der Botschaft des Evangeliums sollten wir in jedem Menschen
diesen unendlichen Wert entdecken, den Christus auch in ihm sieht.
Menschen sind eben keine Motoren, auch wir nicht, bei denen nur die
Stellschraube justiert werden muss, um die Leistung zu optimieren.
Wir sind alle Menschen eben aus Leib, Seele und Geist, mit Sehnsüchten und Sorgen, mit Leidenschaften und Begabungen, aber auch
mit Schwächen. Und weil niemand von uns allein auf seinen Körper,
allein auf seinen Beruf, allein auf seinen Hartz-IV-Antrag oder auf seine Krankheit reduziert werden will und darf, ist es im diakonischen
Handeln an und mit den Menschen eine Verpflichtung, die Ganzheitlichkeit eines jeden Menschen wahr- und ernst zu nehmen.
Daher gilt der Leitspruch: Menschen sollen ganzheitlich unterstützt,
in der Eigenverantwortung gestärkt und ihnen soll Hilfe zur Selbsthilfe gegeben werden.47
Auszüge aus der Feldnotiz Nr. 5 Familie I. (zeitnah notiertes Gespräch )
Kontextinformation:
Ich besuche Familie I., nachdem ich einen Anruf bekommen
habe. Die Familie Ist eine Patchworkfamilie. Beide Eltern leben
von Hartz-IV. Sie haben 4 Kinder im Alter von 1,5 - 10 Jahren.
Das 7-jährige Kind ist schwer erkrankt. Der älteste Sohn wurde
von der Mutter mit in die Ehe gebracht. Für den Vater ist es die X.
Ehe. Die Familie hat Migrationshintergrund.
Aktuelle Beobachtung:
Der Vater (er ist heute allein zuhause mit dem jüngsten Kind) erzählt mir die Situation, als er die jetzige Ehe-Frau kennenlernte.
Immer wieder betont er, dass er ihr nur helfen wollte, da sie psychisch krank war, alleinerziehend und völlig überfordert. Dabei
entstand eine Beziehung. Er verließ für sie eine andere Ehefrau.
Eigentlich wollte er sich wieder trennen, da die Frau noch andere
Männerbekanntschaften pflegte, aber da war sie schon schwanger. Nun meint er, dass sie ihm nur auf der Nase herumtanzt und
die Kinder nicht gut versorgt, wenn er nicht aufpasst. Er müsse
den ganzen Haushalt machen, während sie ihrer Computersucht
nachgeht und mit fremden Männern chattet. Er meint, dass dies
wohl die gerechte Strafe für ihn sei, von „dem da oben“.
Mein Kommentar zu der Beobachtung:
Herr I. sieht die Dinge sicherlich etwas einseitig. Er ist auch sehr
viel älter als seine Frau und hat andere Vorstellungen vom Alltag
einer Familie und der Frauenrolle.
Herr I. ist beileibe kein religiöser Mensch. Ich vermute, er hat seit
Jahrzehnten keinen Gottesdienst mehr besucht. Trotzdem frage
ich ihn gezielt, ob er Schuld empfindet, seine vorigen Ehefrauen
verlassen zu haben. Ebenso frage ich ihn, ob er denn jetzt bereit
sei, nach vorne zu schauen und die neue Familie zu akzeptieren.
47
Vgl. Diakonie Schwenningen, Beratungsstelle 2011, S. 6.
Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen
Er kommt mir vor wie ein Tiger im Käfig, völlig verzweifelt. Er
kann nicht ausbrechen, obwohl er sich auch diesmal gerne verdünnisieren würde. Er hat Angst vor den Konsequenzen. Er will
die Kinder aber auch nicht mitnehmen bei einer Trennung, er fühlt
sich zu alt und äußert ständig, dass er wohl bald sterben werde.
Ich wundere mich, dass er plötzlich fragt, ob dies alles eine Strafe
Gottes sei. Das verneine ich, obwohl ich ihm recht gebe, dass er
Schuld auf sich geladen hat. Ich sage ihm, dass die Umstände
seiner Ehe eine logische Konsequenz für sein eigenes Handeln
sind. Aber dass es nun darum geht, sich den Realitäten zu stellen,
um mit Hilfe von außen nun Schritte in die richtige Richtung zu
gehen. Dabei darf er aber auch um die Hilfe und die Barmherzigkeit Gottes bitten. Ich erinnere ihn auch an die Bitte im Vater
unser – Vergib mir meine Schuld. Er erzählt, dass er dieses Gebet
als Kind in der Sprache seines Heimatlandes gelernt hat.
Bereichen mitbringen und umfassende Kenntnis über die regionalen
möglichen Hilfsangebote und Netzwerkpartner besitzen. Im Projekt
war in diesem Fall besonders die Zusammenarbeit mit der diakonischen Beratungsstelle wichtig und auch die gründliche Erarbeitung
einer Sozialraumanalyse, die bereits im Vorfeld einen Überblick und
erste Kontakte zu möglichen Netzwerkpartnern ermöglichte. Als Beispiel für die Vielschichtigkeit der Problematik und die vorherrschende Ratlosigkeit der Familien, folgender Auszug aus einer kürzlich
eingetroffenen E-Mail einer Familie:
„Als ich gestern im Rathaus etwas zu erledigen hatte entdeckte ich Ihren Flyer und möchte mich einmal an Sie wenden. Unsere Situation ist sehr schwierig und offensichtlich kompliziert.
Im April diesen Jahres zog ich mit meinem Mann und meinem
Enkelkind, welches bei mir wie meine eigene Tochter auf wächst
hier her. Mein Mann hatte schon eine Weile gesundheitliche Probleme und war deshalb auch in Behandlung als wir hierher zogen.
Er bekam ein Angebot von einer Firma dort gleich anfangen zu
können sobald wir hierher gezogen wären. Wir versuchten eine
preiswerte Wohnung zu finden jedoch ohne Erfolg .Unsere jetzige
Vermieterin bot uns hier eine Wohnung an die angeblich tadellos
in Ordnung sei, was jedoch eine Lüge war. Nichts desto trotz wir
sind hier gezogen und waren sicher das die Wohnung vom Gehalt
finanzierbar wäre. Die Arge erkennt diese Miete leider aber nicht
an. Bei der Arbeitsstelle ging schnell alles in die Brüche denn
mein Mann hatte mehr Leistung und Können versprochen wie er
bieten konnte. Einen Antrag auf Hartz 4 haben wir dann umgehend gestellt, jedoch wurde das Kind (6 J.) nicht mit angerechnet
weder bei der Miete noch bei der Regelleistung. Ein Anwalt ging
in Widerspruch und bis heute erfolgte keine Rückmeldung. Der
Anwalt tut nichts mehr. (Anm.d. Projekts: Pflegekinder werden
nicht zur Bedarfsgemeinschaft gerechnet.) Ich bekomme lediglich das Kindergeld für S. und die finanzielle Situation ist alles
andere als toll. Die Vermieterin hat die Wohnung nun gekündigt
da zum einen die ARGE nur 373 € anerkennt statt 700 € und zum
anderen wohl die Miete auch auf ein falsches Konto überwiesen
hat. Telefonische Rückfragen bei der ARGE bringen nur so viel,
dass man sich angeblich sofort um diesen Fall kümmert und innerhalb 2 Tagen zurück ruft. Es kommt jedoch weder ein Anruf
noch ein Schreiben. Außerdem möchte ich mich trennen. Mein
Enkelkind ist behindert. Für mich wäre es wichtig Unterstützung
zu bekommen damit alles seine geordneten Weg geht und sich
die finanzielle Situation normalisiert. Wichtig wäre mir auch einen
Ratgeber zu haben. Ich weiß nicht mehr weiter.“48
Aus diesen zwei ausgewählten Beispielen wird besonders deutlich,
dass es eben nicht nur um ein schlichtes Bedienen der Defizite geht,
die sicherlich eine große Rolle spielen, sondern dass gerade der Diakon bzw. die Diakonin auch für ganz andere Dimensionen Ansprechpartner ist. Die Gefühle von Wertlosigkeit, Sinnlosigkeit, Angst, Schuld
und Versagen und fehlende Hoffnung spielen in hohem Maße in die
verschiedenen Problematiken herein. So ist zum Beispiel gerade bei
dem ausländischen alten Vater seine eigene ungelöste Schuldfrage ein
Anlass, besonders das Stiefkind als den Sündenbock für die familiäre Misere zu identifizieren und zu beschuldigen, was bei dem Kind zu
starken Verhaltensauffälligkeiten führt. Es würde also niemals reichen,
sich bei der Familie nur darum zu kümmern, dass die Schulden geregelt werden, dass zusätzliches Geld aufgetrieben wird für das 7-jährige
kranke Kind, das eine gefährliche seltene Krankheit hat, und deshalb
vom Jobcenter keinen Mehrbedarf für die Spezialernährung bekommt,
da eine solch seltene Krankheit nicht auf der Liste für den krankheitsbedingten Mehrbedarf auftaucht!, oder sich um eine heilpädagogische
Behandlung für die Kinder zu bemühen. Ich denke, hier wird deutlich,
warum die Notwendigkeit für den ganzheitlichen Ansatz besteht und
wie wir auch in unserem missionarisch-diakonischen Handeln, besonders auch mit der Botschaft des Evangeliums, dem „ganzen“ und oft
verwundeten Menschen etwas von dem Heil Gottes vermitteln können.
2.1.5 „Lotsen-Funktion“ der Diakonin und Netzwerkarbeit
Die Haupt-Arbeit der Diakonin im Projekt ähnelt in den meisten Familien der eines Lotsen, der durch den dichten Nebel der Probleme,
Bedarfe und Hilfeträger, die sich manchmal zuständig fühlen und
manchmal auch eben nicht, führt. Dieses Bild umschreibt am besten
die Situation, die sich zu Beginn der Arbeit in den Familien bietet.
Die Familien empfinden ihre Situation oft verzweifelt, hoffnungslos
und verworren in jeder Beziehung. Sie wünschen sich einen Lotsen
durch den „Nebel“. So stammt dieses Bild selbst von einer betreuten Familie, die diese Arbeit der Diakonin so für sich beschrieb. Die
Voraussetzung dieser Lotsenarbeit bildet aber in jedem Fall eine Zeit
des Kennenlernens und Vertrauens seitens der Familie. Der Diakon
bzw. die Diakonin muss dabei viel Kompetenz in fast allen Beratungs-
35
Nach dem ersten Kennenlernen der Familie kann nun analysiert werden, was am dringendsten ist, z.B. die Stabilisierung des finanziellen Rahmens, das Nachhaken bei den Ämtern, eine seelsorgerliche
und beratende Begleitung in der Erziehung des Enkelkindes oder der
Trennungsphase. Auch kann die Großmutter bei den Ämtern unterstützt werden, durch Begleitung oder Anrufe. Mittlerweile ist auch
das Jobcenter zur Zusammenarbeit mit dem Projekt gerne bereit und
in nicht wenigen Fällen kooperativ.
48
Anonymisiertes E-Mail im Originalton
36 Schwenningen
Zugänge zu den Familien
Durch die Dauer des Projekts von mittlerweile vier Jahren ist mit
den meisten Netzwerkpartnern, allen voran die diakonische Beratungsstelle mit Schuldnerberatung, Kindergärten und Schulen, das
Jugendamt, das Landratsamt, das Bürgeramt, die psychiatrische
Klinik für Kinder, Heilpädagogen, diverse Ärzte und nicht zuletzt das
Jobcenter (früher Arge) und anderen eine kooperative Zusammenarbeit möglich. Grund dafür ist der gewachsene Bekanntheitsgrad des
Projekts und die guten Ergebnisse der gemeinsamen Zusammenarbeit im Netzwerk, die für die Familien erreicht werden konnten. Diese
Netzwerke für die Familien nutzen zu können ist ein großer Vorteil
für das Projekt, und es ist bedauerlich, dass diese Netzwerke für die
Familien nicht in dem Maße mehr genutzt werden können, wenn das
Projekt enden wird, da die Zusammenarbeit auch auf dem gewachsenem Vertrauen der Netzwerkpartner zur Diakonin basiert.
Schaubild 1: Zugänge zu den beratenden Familien
Zugänge zu den Familien
Zugänge zu den Familien
Zugänge zu den Familien
Zugänge
zuzu
den
Familien
Zugänge
den
Familien
Zugänge zu den Familien
Zugänge zu den Familien
über Kindergärten
über
Kindergärten
über
über Kindergärten
diak. Ber. Stelle
über
Kindergärten
über
diak.
Ber. Stelle
über
diak.
Ber. Stelle
Familie
selbst
über
Kindergärten
über
Kindergärten
über
diak.
Ber. Stelle
Familie
selbst
über
Kirchengem.
Kindergärten
über
diak.
Ber.
Stelle
über
diak.
Ber.
Stelle
Familie
selbst
Familie
selbst
Kirchengem.
über
Kindergärten
Sozialstation
über
diak.
Ber. Stelle
Familie
selbst
Familie
selbst
über
Kirchengem.
über
Sozialstation
diak.
Ber. Stelle
über
Vesperkirche
Familie
selbst
über
Kirchengem.
über
Kirchengem.
über
Kirchengem.
über
Sozialstation
über
Vesperkirche
Familie
selbst
über
Kirchengem.
über
Sozialstation
über
über Sozialstation
Vesperkirche
über
Kirchengem.
über
Sozialstation
über
Vesperkirche
über
Sozialstation
über
Vesperkirche
über
über Sozialstation
Vesperkirche
über Vesperkirche
über
Vesperkirche
2.1.6 Neue Formen der Zugänge und die Kindergartenarbeit
Am Anfang des Projekts wurde die Befürchtung geäußert, dass der
Ansatz, den Zugang über die Kindergärten zu suchen, eine zusätzliche Belastung für die ohnehin überforderten ErzieherInnen darstelle,
die bereits mit einer Vielzahl von Aufgaben betraut sind. Es wurden
aber nach den anfänglichen Gesprächen mit der Diakonin, bei denen
das Konzept vorgestellt wurde, diese Befürchtungen bei Seite gelegt.
Im Gegenteil erlebten die ErzieherInnen im Verlauf des Projekts die
Möglichkeit, die Diakonin einschalten zu können, als Entlastung.
Besonders die LeiterInnen der drei ausgewählten Kindergärten, die
bei der Sozialraumanalyse als Einrichtungen mit einem verstärkten
Besuch von Familien mit Problemen identifiziert wurden, waren oftmals mit den Recherchen und der Suche nach Hilfsangeboten für
Familien in prekären Lagen beschäftigt und nicht selten überfordert,
da ja die Aufgabe einer Kindergartenleitung diese Arbeit gar nicht
umfasst. Obwohl anfänglich eine regelmäßige Anwesenheit der Diakonin in den Einrichtungen angestrebt und auch durchgeführt wurde,
stellte sich heraus, dass die Familien dieses Angebot nicht nutzten.
So entstanden die Kontakte in allen Fällen über die ErzieherInnen,
die den Familien das Angebot eines Besuches der Diakonin machten.
Diese Angebote nahmen die Familien gerne wahr, da sie auch den
ErzieherInnen Vertrauen schenkten. Sobald die Diakonin einen Hausbesuch machte, konnte die Arbeit in den Familien beginnen, wobei
oftmals auch eine Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Kindergarten
nach wie vor wichtig blieb. Im Endergebnis bedeutet dies, dass der
präventive Ansatz über die Kindergärten sich als richtig erwiesen hat
und für die Arbeit in den Kindergärten bereichernd und ergänzend
war. Im Verlauf des Projektes erarbeitete die Diakonin ein Konzept für
die Einbindung der Projektarbeit in ein mögliches Familienbildungszentrum als Zukunftsmodell auch für die Kindergärten der evangelischen Kirchengemeinde.
Zugänge zu den Familien kamen aber auch über die diakonische Beratungsstelle, über den Flyer und zunehmend über die Familien selbst,
über private Kontaktpersonen z.B. aus der Kirchengemeinde u. a. (siehe Abbildung).
2.2 Das Familienpatenmodell: Teilziel 2
Zielsetzung Familienpatinnen und -paten unterstützen die Familien mit entsprechendem Hilfebedarf und werden als Brückenbauer in die Gemeinde wahrgenommen. Die Diakonin hat
Familienpatinnen und -paten gewonnen, qualifiziert und in geeignete Familien vermittelt, sowie deren Arbeit supervisorisch
begleitet.
Nach einer anfänglichen Werbungszeit über die Zeitung und das
Gemeindeblatt und das persönliche Ansprechen von verschiedenen
Personen, wurden relativ schnell 8 Patinnen für das Projekt gewonnen. In regelmäßigen Schulungen wurden die Patinnen auf ihre Aufgabe vorbereitet, allerdings sollte auch der Einsatz in den Familien
nicht zu lange auf sich warten lassen, da sonst die hohe Motivation
der Patinnen nicht mehr vorhanden gewesen wäre. Im Grunde war
es ein sich entwickelnder, begleitender Prozess. Auch während der
Einsätze in den Familien gab es regelmäßige gemeinsame Treffen.
Alle Patinnen waren meines Erachtens sehr gut geeignet, teilweise
hatten sie auch einen professionellen pädagogischen Hintergrund.
4 Patinnen waren über 60 Jahre alt, 4 zwischen 30 und 50. Alle Patinnen waren selber Mütter. Nur eine Patin war zusätzlich ehrenamtlich
in der Kirchengemeinde tätig.
Mit allen Patinnen wurden intensive Gespräche geführt über die Art
der Aufgabe und die Motivation. Dabei wurde auch der Rahmen des
FPM (Familienpatenmodell) besonders besprochen:
Paten sind nicht preiswerte Babysitter, Putzhilfen, oder Familiencoaches in Form einer Super-Nanny. Jede Patin bekommt nur
eine Familie für einen Einsatz.
Es geht um eine Unterstützung auf Zeit, um Beziehung und besonders um die Resilienzstärkung der Kinder in den Familien. Es
geht um Hilfe zur Selbsthilfe und um Begegnung auf Augenhöhe.
Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen
Es geht auch um das „Experiment“, ob eine Begegnung und der
Kontakt zwischen verschiedenen Milieus funktioniert.
Die Paten werden 1 mal pro Monat auf Patentreffen geschult. Dabei werden auch die Einsätze reflektiert und besprochen, auch im
kollegialen Kreis.
Jede Patin erhält 28 Euro monatlich als Unkostenpauschale und
ist über das Ehrenamt in der Kirchengemeinde versichert.
Jede Patin im Einsatz steht im regen Kontakt mit der Diakonin.
Die Erstbesuche finden immer mit der Diakonin statt, und es
werden im gemeinsamen Gespräch mit den Familien die Möglichkeiten einer Begleitung der Patin und ihre Aufgaben genau
besprochen.
2.2.1 E rgebnisse nach einem Jahr Einsatz der Patinnen
in den Familien
Die Schulungen verliefen gut. Sie waren auch von den Themen ausgewogen und angemessen. Es gab bei jedem Patentreffen, das mit einer
Andacht eingeleitet wurde, ausreichende Möglichkeit über die eigenen
Erlebnisse in den Familien zu berichten und auch den Rat oder die
Meinung der anderen einzuholen. Diese Möglichkeit wurde gut genutzt, und es fand echte kollegiale Beratung und Austausch statt.
„Also ich war bei einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern.
Die Mutter ist depressiv, nimmt auch Tabletten, die beiden Kinder
sind adipös, der Junge noch mehr wie das Mädchen und…als ich
das erste Mal hin kam, ja wusste ich gar nicht so recht, wie ich an
die Familie ran kommen soll, und dann hab ich mich ins Wohnzimmer gesetzt und die haben mit mir geplaudert, die Tochter war
sehr neugierig und irgendwann hat sie dann gesagt, also sie sind
jetzt Familientherapeutin und dann sag ich nein, nein ich bin hier
Laie und ich bin eigentlich für euch da ... und dann sagt sie, also
gut, ich möchte abnehmen ich schaff es nicht alleine, ich möchte
das machen und ich habe ihr dann Adipositasprogramm besorgt,
über meine Kinderärztin, und alles in die Wege geleitet und sie hat
dann irgendwann gesagt, nein sie will das nicht, weil es wäre so
gewesen, dass die drei Mal in der Woche dahin gemusst hätte….
Bei dieser Familie ist das Problem, dass die alle sehr, sehr faul
sind, also ist wirklich, die Mutter schläft sehr viel, ich vermute
auch durch die Medikamente…“49
37
stimmung. Wenn dann aber gutgemeinte Angebote und Anschübe
der Paten abgelehnt werden, führt das zu Enttäuschungen und Frustrationen. Obwohl den Paten dies auch vermittelt wurde, waren sie
doch darauf nicht vorbereitet und litten an diesen Erfahrungen. Es
ist eine grundsätzliche Frage, ob die passive Haltung vieler Eltern im
Projekt einer psychischen Erkrankung geschuldet ist, ob die prekären
Milieus diese Erkrankungen befördern, was meine Meinung ist, oder
ob diese Erkrankungen die prekäre Situation befördern, was ich auch
oft beobachtet habe. Sicherlich ist aber auch eine gewisse milieutypische Verhaltensweise hier zu sehen, besonders bei Familien die sich
schon seit Generationen im prekären Milieu befinden. Eine bessere
Sensibilisierung der Patinnen in diesem Bereich könnte sicherlich ihren Blick für diese Verhaltensweisen schärfen ohne den Ruf nach den
„Profis“ zu fördern.
Es war schwierig, auch bei einer intensiven Begleitung durch die
Projektleitung und die Diakonin, die Eigendynamik, die die Arbeit in
den Familien mit sich brachte, vorherzusehen und zu managen. Dies
war eigentlich nicht möglich, und hier zeigten sich im Besonderen
die Grenzen und Gefahren im FPM. Die Situation in den Familien ist
niemals ein Status Quo, sondern ständig im Fluss. So kann eine Problematik in der Familie anfänglich nicht so prekär erscheinen, dies
aber schnell dramatisch werden, sobald sich etwas ändert.
„…also, da hat sie ihn ganz wüst zurückgerufen und er soll sich
wieder in seine Ecke sitzen und auch die große Tochter, die 5-jährige, war dann immer Opfer ihrer Aggressionen, und das hat mich
also so mitgenommen. Der ganze Tag war voll von irgendwelchen
aggressiven Situationen, und das hat mich so geschockt, dass ich
gesagt hab, ich kann nicht mehr zu dieser Familie gehen. Da muss
was anderes passieren, da muss professionelle Hilfe her, das geht
nicht, ich kann nicht als Laie, als Familienpatin, mit gutem Gewissen, ich krieg das nicht in den Griff, geht nicht.“51
„…ich denk halt, wen man den Kindern, also wenn man was für
die Kinder machen wollte, dann müsste man ihr die Kinder wegnehmen eigentlich. Es geht ja schon seit der Grundschule so. Das
Mädchen kümmert sich um den Bruder, die Mutter bewegt sich
kein bisschen.“52
Es war schwierig, den Patinnen zu vermitteln, dass Menschen in prekären Situationen oftmals auch Probleme mit dem Antrieb haben.
Resignation und Depressionen sind oft die vorherrschende Grund-
Die Paten äußerten teilweise den Wunsch, man möge doch Ämter
oder andere professionelle Hilfen einschalten. Sehr schnell wurde
der Ruf nach dem Jugendamt laut oder auch nach Ämtern, die die
Eltern zwingen sollten, anders und besser mit den Kindern umzugehen. Sicherlich dem eigenen Gefühl der Hilflosigkeit geschuldet, war
dies bei den Patinnen ein verständlicher, wenn auch unrealistischer
Wunsch. Gerade diese „Ämter und Gewalten“ waren für die Familien oft mit hohen Hürden behaftet. Auch arbeiten die „Ämter“ in den
meisten Fällen nicht mit Zwang, sondern sind auf die Kooperation der
Familien angewiesen. Gerade dieser Umstand zeichnet die Wichtigkeit der Projektarbeit aus, da es durch die Arbeit der Diakonin gelingen konnte, Misstrauen und Ängste der Familien gegenüber Ämtern
abzubauen, so dass eine Zusammenarbeit möglich wurde.
49
51
„Im ersten Moment waren sie begeistert, und irgendwann haben
sie bemerkt, es ist anstrengend, ich muss ja was tun und so, und
dann haben sie abgeblockt.“50
Gruppeninterview mit Patinnen, Zeile 122- 138.
Gruppeninterview mit Patinnen, Zeile 147-149.
50
Gruppeninterview mit Patinnen, Zeile 61-68.
Gruppeninterview mit Patinnen, Zeile 171 – 174.
52
38 Schwenningen
Die Problematiken innerhalb der Familien sind nicht nur finanzieller oder materieller Art, oder mit einem kleinen Justieren der Stellschraube zu beheben. Sondern die Probleme sind vielschichtig und
undurchschaubar. Das überforderte die Patinnen, die ihrerseits klar
definierte und überschaubare Aufgaben brauchten. Obwohl diese
Aufgaben anfänglich auch mit den Familien so besprochen wurden,
lief das in der Praxis schnell aus dem Ruder, was allerdings bei beiden Parteien begründet lag. Weitere Aufgaben wurden unbeabsichtigt
oder auch eigenmächtig in Angriff genommen oder von den Familien
eingefordert. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass es besser gewesen wäre, die Einsätze von vornherein zeitlich zu begrenzen,
um eine Überforderung zu verhindern. Hierbei stellt sich aber dann
die Frage, inwieweit dann ein Beziehungsaufbau zu den Familien Sinn
macht. Beziehungsabbrüche aus Überforderung zogen Frustrationen
nach sich.
Felddokumentation 1:
Die Tochter schließt sich eng an Frau H. an. Sie erfährt zum ersten
Mal auch Wertschätzung für ihre Leistungen in Deutsch und auch
in ihren Ordnungsstrukturen. Frau H. nimmt die Kinder und teilweise auch die Mutter mit zu Sport- und Kulturveranstaltungen.
Die Kinder, besonders das Mädchen, lernen durch Frau H., die
eine sehr feine Art hat, dass Konflikte nicht zuerst mit eskalierender Aggression ausgetragen werden müssen, sondern dass man
sich auch verbal ausdrücken kann. Es gelingt Frau H., dass die
Mutter nicht eifersüchtig wird. Im Gegenteil wird deutlich, dass
diese froh ist, Verantwortung auf andere Schultern zu legen. Sie
versinkt aber immer mehr in einer Internetspielsucht, Konflikte
verdrängt sie. Besonders die Tochter wird ihr immer fremder, sie
hat Angst, dass diese „etwas Besseres“ sein möchte. Die beiden
Teenager haben sich einer rechtsradikalen Clique angeschlossen,
was von der Mutter begrüßt wird. Die Patin beendet den Einsatz,
möchte aber zur Tochter ein freundschaftliches Verhältnis aufrechterhalten. Die Information wurde ans Jugendamt weitergeleitet.53
Der Pateneinsatz war im Hinblick auf die Resilienzstärkung der Kinder
sehr wertvoll. Die Kinder konnten im Umgang mit den Paten, die sich
mit ihnen beschäftigten, kennenlernen, wie z.B. Konflikte anders gelöst werden, Aufgaben mit mehr Energie angepackt werden können,
Wertschätzung erfahren wird für Leistungen, die im Familienverbund
nicht gewürdigt wurden, u. a. Dies konnten die Patinnen sehr speziell
leisten, auf eine andere Art als professionelle Hilfen oder auch die Diakonin, die mit anderen Aufgaben beschäftigt war. Die Schwierigkeit
für die Patinnen lag allerdings darin, dass dieser Effekt oder „Erfolg“
nicht gleich messbar oder erfahrbar war. Aber es gilt zu bedenken:
Erneute Beziehungsabbrüche durch scheiternde Patenschaften stellen hier zugleich auch eine enormes Gefährdungspotenzial für diese
Kinder dar!
Felddokumentation 2:
Leider stellte sich der Umzug als Überforderung heraus. Die Patin
war sehr verärgert, besonders über die Untätigkeit und Gleich53
Vgl. fortlaufende Felddokumentation im Patenmodell.
gültigkeit der Mutter in der Familie, die, für sie üblich, sich zurücknahm und anderen das Feld überließ. Dies ist ein für sie übliches Verhaltensmuster, das gepaart mit dem Gefühl von erlebter
Ungerechtigkeit zu einem sehr unreifen und bockigen Verhalten
führt. Außerdem war entgegen den Absprachen nichts vorbereitet und beide Wohnungen in einem fürchterlichen Chaos. Durch
diesen Umzug kam es zu enormen Unstimmigkeiten zwischen
der Patin und der Mutter, was auf beiden Seiten zu schlimmen
Anschuldigungen führte. Mit beiden Parteien wurde intensiv gesprochen. Die Patin äußerte den Satz: „Die Mutter ist das Übel in
der ganzen Familie!“ Der Pateneinsatz wurde von der Diakonin
abgebrochen.54
In den wenigsten Fällen gelang es, dass sich die Diakonin mehr aus
den Familien herauslöste. Eine enge Begleitung der Pateneinsätze war
erforderlich. So wurde die Diakonin nicht entlastet, sondern zeitlich
noch mehr gebunden. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass
nun Aussagen, die zwischen drei Parteien getätigt wurden, verschieden gefüllt und wiedergegeben wurden, es so zu Missverständnissen
kam und von der Diakonin zusätzlich Übersetzungsarbeit geleistet
werden musste.
Die Einsätze in den Familien machten auch Angst und hinterließen ein
Gefühl von Rat- und Hilflosigkeit bei den Patinnen. Durch den Einsatz, speziell in einem Ehrenamt, fühlten sich Patinnen nicht bis zum
Letzten verantwortlich. Ein Ehrenamt gibt sich leichter auf, als eine
bezahlte Anstellung. Dies stellt aber die Nachhaltigkeit des Projekts
und der entstandenen Beziehungen in Frage. Familien zu finden, die
nur „wenig Probleme“ haben und somit besser für einen Pateneinsatz geeignet sind, ist schwierig, da sich die Dinge schnell ändern,
und Familien mit genügend Ressourcen und nur wenig Problemen
gar keine fremden Paten wollen. Sie suchen sich ihre Sozialkontakte
selber.
Es war zu beobachten, dass die Patinnen bei ihren Einsätzen dazugelernt haben. Sie wurden sensibler im Blick auf die Problematiken der
Familien. Auch konnte ich beobachten, dass die Patinnen von ihren
Familien in fast allen Fällen immer mit Achtung und Wertschätzung
sprachen. Die typische Mittelstands-Einstellung und -Abgrenzung
zum anderen Milieu der Patinnen war nach den Einsätzen weitgehend
verändert. Manche Erfahrung wurde aber auch als beunruhigend verbucht.
Nach 1,5 Jahren hatten alle Patinnen auf ihren Wunsch hin die Arbeit beendet. Die älteren Patinnen fühlten sich durch die Belastung
überfordert, auch im Blick auf ihr Alter. Sie konnten doch nicht mehr
so viel Flexibilität aufbringen. Die jüngeren Patinnen waren mit ihren
persönlichen Ressourcen für diese Arbeit besser gerüstet. Allerdings
gab es auch bei ihnen Frustrationen und Überforderungen. Die Gründe für die Aufgabe der Arbeit lagen allerdings im persönlichen Bereich, da bei den jüngeren Frauen sich die eigenen Lebensumstände
schnell änderten, die ein so intensives Ehrenamt nicht mehr möglich
machten.
54
Aus der fortlaufenden Felddokumentation des Patenmodells.
Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen
Abschließend bleibt die Erkenntnis, dass solche Einsätze bei prekären
Familien und in grenzwertigen Situationen bei allem guten Willen und
hoher Motivation nicht unbedingt für ehrenamtliche Kräfte geeignet
ist. Es gibt Aufgabengebiete, für die es die Professionalität braucht
und in diesem Fall auch den besonders geschulten Blick des Diakons
bzw. der Diakonin.
4. Ausblick und Anregung
Die besondere aufsuchende Gehstruktur der Diakonin und die Projektkonzeption ist eine wichtige und unverzichtbare Ergänzung zu
der vorherrschenden Kommstruktur in den gängigen Hilfesystemen.
Aber wichtig ist zu betonen, dass hier allenfalls von einer Ergänzung
und nicht einer Ersetzung gesprochen wird. Mit der speziellen Gehstruktur und der daraus folgenden Möglichkeiten der Hilfe in den
Familien ist ein besonderer diakonischer Ansatz gegeben, der eher
in der dichten und umfassenden Arbeit besteht und nicht in den Fallzahlen. Hier ist auch die Grenze des besonderen Ansatzes zu sehen.
So ist eine Fallzahl von ca. 35 Familien, die aktuell im Projekt betreut
werden, bereits grenzwertig zu sehen.
Durch DiakonInnen in dieser besonderen Arbeit, die die sozialen,
rechtlichen und religiösen Dimensionen in den Blick nehmen können,
wird in dieser Arbeit besonders der Auftrag der Kirche zur Diakonie
erfüllt. Einerseits werden gerade die aufgesucht, die sich am „Rande
der Gesellschaft“ bewegen und von selber nicht den Zugang zu den
Hilfen finden, andererseits haben DiakakonInnen durch den speziellen Dienstauftrag den Rücken frei, umfassend auf die Probleme und
die Menschen einzugehen. DiakonInnen können hier wirklich ganz
besonders zum Auge und zur Hand der Kirchengemeinde werden
und die Botschaft des Evangeliums weitergeben, die sich meines Erachtens immer an die individuelle Person in ihren ganz individuellen
Lebensumständen richtet und diese dort abholt. Es kommt dadurch
wirklich ein Stück weit zu einem Anteilnehmen der Familien an der
heilenden Zuwendung Gottes.
Es wäre hilfreich, solch eine Diakonats-Stelle z.B. in den diakonischen Beratungsstellen, in den Kindergärten, oder besser noch in
den Familienbildungszentren zu verorten. Durch die länger andauernde Projektzeit konnte besonders intensiv der Kontakt zu den bestehenden Hilfesystemen aufgenommen werden, auch dadurch, dass
die Arbeit der Diakonin im Laufe der Zeit von der Öffentlichkeit und
der Fachöffentlichkeit bemerkt und geschätzt wurde (s.a. Presseberichte). Das so entstandene Hilfsnetzwerk konnte so intensiv genutzt
werden und kam den Familien direkt zu Gute. Die Arbeit der Kirche/
Diakonie wurde positiv bemerkt und wertgeschätzt. Es ist sicherlich
eine grundsätzliche Überlegung wert, ob eine Kirche es „sich leisten“
kann und will, diese dem Auftrag des Evangeliums entsprechende
diakonisch-missionarische Arbeit zu tragen.
39
Anhang: Ein Tag aus dem Projekttagebuch
Beginn 7.00
Weiter PT Tagebuch.
Klären der Fahrtkosten.
Gespräch mit Frau L. diesbezüglich.
Mail an den Regionalkonvent zur Absage, habe einfach keine Zeit.
Ausdrucken des PT 2010 und abheften.
Auto zur Reparatur-Terminabsprache gebracht, die Bremsen funktionieren nicht mehr. Ich bekomme einen Termin für Freitag. Es soll 600
Euro kosten. Der Wagen braucht eine völlig neue Bremsanlage durch
den hohen Verschleiß. Habe nun innerhalb von 3 Jahren 90000 km
draufgefahren.
Danach Hausbesuch bei XY2
Dort sitzt auch Fam. Y3, mit mehreren Kindern, die meine neue Familie sind. Frau Y3 Ist psychisch sehr angeschlagen, wie auch ihre
Kinder. Der größere Junge braucht Psychotherapie. Die Mutter auch,
findet aber keinen Arzt. Ich schlage ihr die psychologische Beratungsstelle vor und mache ihr dort auch einen Termin. Desgleichen
für Frau XY2. Außerdem rate ich Frau Y3 zu einer Mutter-Kind-Kur,
und leite auch dort die ersten Schritte in die Wege.
Frau XY2 vertraut mir das kaputte Notebook an, das Kleinkind war
mal wieder am Werk. Werde es S. geben, vielleicht kann der was
retten.
Frau Y3 ist gerade in Trennung, weil ihr Mann sie mit einer anderen
Frau betrogen hat. Diese wurde in der Affäre schwanger, von der Familie im Ausland zu einer Abtreibung gezwungen, wurde aber erneut
schwanger und dieses Kind wurde auch geboren. Herr Y3 bezahlt
für seine ehelichen Kinder keinen Unterhalt, und kümmert sich auch
nicht. Er hat außerdem noch weitere Kinder mit anderen Frauen. Sehr
verworren. Verheiratet ist er nur mit Frau Y3, aber er ist wohl irgendwo abgetaucht. Vielleicht in seinem Heimatland?
Frau XY2 ist mittlerweile eifersüchtig, weil sie meint, dass Frau Y3 ihr
zu viel von meiner Zeit stiehlt, die doch eigentlich ihr zusteht. Werde
mich auf diese Doppelhausbesuche nicht mehr einlassen.
Bin ziemlich fertig.
Schreibe noch einen Brief an Frau XYZ5
Liebe Frau XYZ5
Ich bin gerade dabei, mit dem AA das Gespräch zu suchen, direkt mit
dem Chef der Agentur, da Sie nachweislich zu wenig AlG II bekommen. Die 95 Euro pro Kind Wohngeld bekommen Sie nach unserer
Anfrage auf dem zuständigen Amt nicht, das lief schon im Oktober
aus. Das Amt behauptet, Sie hätten sich ja nicht mehr gemeldet.
Durch die neuen ALG II Regelungen wird erst in ca. 1-2 Wochen geklärt, ob das in Zukunft weiter mit dem Kinderwohngeld geht, oder
ob insgesamt ein neues Prozedere für alle Familien erfunden wird. Im
Moment kann also keiner sagen, welches Amt in Zukunft für welche
Zahlung zuständig ist. So muss das AA zumindest diesen fehlenden
Betrag neu berechnen und darf ihn nicht als Einkommen dazu addieren. Sie haben ja in Wirklichkeit auch kein Geld erhalten. Ich denke in
1-2 Tagen ist sicher, ob Sie dann eine direkte Nachzahlung bekommen werden, die ihnen erst mal über die Runden hilft. Das wäre dann
40 Schwenningen
kein geliehenes Geld, sondern Geld, das ihnen wirklich zusteht, und
das fühlt sich doch besser an, oder?
Bitte haben sie noch etwas Geduld, ich kümmere mich mit Hochdruck.
Ansonsten werde ich in den nächsten Tagen nach Ihnen schauen und
eventuell noch eine Hilfe für Sie finden, die die nächsten Tage mit
über die Runden hilft.
Liebe Grüße
(Anscheinend bekommen noch mehr alleinerziehende Mütter das
Problem, dass die Ämter gerade nicht einig darüber werden, wer nun
für die anteiligen Mieten der Kinder zuständig ist, habe gerade einige
Familien mit diesem Problem.)
Gespräch mit D. wegen einer Kur für Frau Y3.
Gespräch mit einem Anwalt für Familienrecht wegen Familie XYZ4. Er
setzt ein Schriftstück auf. Termin abgemacht.
Dienstende
Literaturverzeichnis
Beck, A. T./ Rush, A. J./ Shaw, B. F./ Emery, B. (Hrsg.) (1987):
Cognitive therapy of depression. New York.
Conen, M.-L. (Hrsg.) (2002): Wo keine Hoffnung ist, muss man sie
erfinden, Heidelberg.
Diakonie Schwenningen, Beratungsstelle (2011): Jahresbericht.
Verfügbar unter: http://www.gemeinde.schwenningen.elk-wue.de/
fileadmin/mediapool/gemeinden/KG_schwenningen/DiakonieBeratungsstelle/11Jahresbericht.pdf (15.02.2013).
Meier-Gräwe, U. (2011): Armutsprävention von Kindern und
Familien im Sozialraum: eine strategische Aufgabe zur Verringerung
von Bildungsarmut, in: Wittmann, S./Rauschenbach, T./Leu, H. R.
(Hrsg.): Kinder in Deutschland: eine Bilanz empirischer Studien,
München, S. 106-123.
Wichern, J.H. (1962): Rede Wicherns auf dem Wittenberger
Kirchentag [1848], in: Ders., Sämtliche Werke I, hg.v. P. Meinhold,
Berlin/ Hamburg, S. 155-165.
Walsh, F. (1998): Strengthening family resilience, New York.
41
Diakonische Jugendarbeit
als Mitgestalter der Schule
Bericht 3: Esslingen
Diakonische Jugendarbeit und Schule
Michael Proß
Projektort:
Esslingen
Projektträger:
Evangelischer Kirchenbezirk Esslingen
Projektstelleninhaber:
Diakon Michael Proß
42 Esslingen
1. Einleitung und Gesamtschau
Seit Jahren ist zu beobachten, wie Schulen in Baden-Württemberg
verstärkt zum bestimmenden Lebensraum für Kinder und Jugendliche werden.55 Die Umwandlung in Ganztagesschulen sowie die
Einführung des achtjährigen Gymnasiums sind jedoch nicht nur die
Schüler betreffende Umstellungen, sie sind vielmehr ein gesellschaftlicher Prozess. Bis zum Jahr 2015 sollen in Baden-Württemberg
40% der Schulen explizite Ganztagesschulen sein. Schülerinnen und
Schüler verbringen dann ungefähr acht Zeitstunden im schulischen
Kontext. Das Zeitfenster für die Freizeitgestaltung wird kleiner. Schon
jetzt ist ein Trend erkennbar, Freizeitangebote in den Raum der Schule zu verlegen, um Kindern und Jugendlichen weiterhin den Zugang
zu Freizeitangeboten zu ermöglichen. Vereine und Verbände sind
hierbei gefordert, sich für diese veränderte Situation neue Konzepte
zu überlegen. Durch die Verlagerung von Zeiten hin in die Schule
ändert sich auch der zeitliche Anteil für die Familie als einem weiteren
wesentlichen Sozialisierungsbestandteil. Eltern müssen sich hierbei
auch überlegen, wann und wie qualitative Zeit mit den Kindern verbracht werden kann.
Neben der Umstellung hin zu Ganztagesschulen wurden in den letzten Jahren mehrere schulische Entwicklungen in Gang gesetzt,56 die
nach und nach auch außerhalb der Schule sichtbar werden:
Schulen geben sich selbst ein Profil.
Schulen sollen verstärkt Schlüsselqualifikationen und
Kompetenzen vermitteln.
dass sich kirchliche Jugendarbeit der Herausforderung stellen
muss, neue Wege zu beschreiten, wo bisher bewährte Zeitfenster
und Gestaltungsfreiräume Jugendlicher teilweise nicht mehr zur
Verfügung stehen.
dass die Möglichkeit besteht, qualitätsvolle, an der ganzheitlichen
Bildung junger Menschen orientierte und verlässliche Angebote
in das System der Ganztagesschule einzubringen, die auf dem
christlichen Menschenbild basieren, die Persönlichkeit stärken
und jungen Menschen Orientierung geben.
Aufgrund der oben genannten Entwicklungen ist der Ansatzpunkt
des Esslinger Projekts „Diakonische Jugendarbeit als Mitgestalter
der Schule“, einen diakonisch motivierten Beitrag zur ganzheitlichen
Bildung von Schülerinnen und Schülern im Lebensraum Schule zu
leisten. In dem großen Feld von möglichen diakonischen Beiträgen
verständigten sich die Projektverantwortlichen in Esslingen darauf,
einzelnen Schulen im gesamten Kirchenbezirk Esslingen Projekte
kirchlicher Jugendbildungsarbeit anzubieten. Primär im außerunterrichtlichen Angebot wollen wir den Lebensraum Schule mit persönlichkeits- und gemeinschaftsfördernden Elementen einer christlich
orientierten Arbeit füllen.
Soziales Lernen und Persönlichkeitsentwicklung sind unserer Meinung nach Stärken außerschulischer und verbandlicher Bildungsarbeit. Daher wollen wir die resilienzfördernden Charakteristika kirchlicher Jugendarbeit in den Lebensraum Schule transferieren, um
jungen Menschen bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und -reifung
und zu helfen und sie zu inspirieren, Verantwortung für sich, für andere und für die Gesellschaft zu übernehmen.
Schulen nehmen eine ganzheitliche Bildung in den Fokus.
So kann festgestellt werden, dass im System Schule in den letzten
Jahren viele wegweisende Veränderungsprozesse in Gang gesetzt
wurden, denen es nun gilt, sie gesellschaftlich aufzunehmen und
einzupassen. Wie andere Systeme müssen sich auch Kirche und
kirchliche Jugendarbeit diesen neuen Rahmenbedingungen und den
damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen. Es
ist unabdingbar, dass kirchliche Arbeit auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert und sich zum Wohle von Kindern und Jugendlichen einbringt. In diesen Prozessen kann kirchliche Jugendarbeit ein
kompetenter Partner sein, da soziales Lernen und Persönlichkeitsentwicklung explizite Stärken außerschulischer und verbandlicher
Bildungsarbeit sind.
In der Erweiterung des Bildungs- und Lernspektrums ist eine große
Chance zu sehen, die Erziehung und Bildungssituation für die junge
Generation nachhaltig zu verbessern. Als Konsequenz oben erwähnter Entwicklung ist zu sagen:
dass die Schulen und ihre Träger Unterstützung gesellschaftlicher
Teilsysteme – damit auch der Kirchen – brauchen.
55
Vgl. Rauschenbach 2010, S. X.
Vgl. Hentig 2004, S. 7-20.
56
In der Ausgestaltung der Angebote war uns wichtig, dass zur Persönlichkeitsentwicklung und Lebensentfaltung ein „notenfreier Raum“
benötigt wird. Unsere Angebote sollen sich diesbezüglich von den
schulischen Fächern unterscheiden. Den Projektpartnern vor Ort war
die Verknüpfung der Projekte mit der bestehenden kirchlichen Jugendarbeit ein wesentliches Anliegen. Mit Hilfe des Projekts sollte
ausprobiert werden, ob Schulkooperationsmaßnahmen sich zukünftig zu einem weiteren Standbein evangelischer Jugendarbeit entwickeln könnte.
Der Evangelische Kirchenbezirk Esslingen ist der Anstellungsträger.
Die Dienst- und Fachaufsicht liegt beim Schuldekan. Ein Fachbeirat, bestehend aus Vertretern aus dem Evangelischen Jugendwerk
Esslingen und dem CVJM Esslingen, dem Jugendpfarrer und dem
Schuldekan, begleitet die Arbeit. Insgesamt handelt es sich um 150%
Stellenanteile im Feld Evangelische Jugendarbeit und Schule. 100%
nimmt die Projektstelle „Diakonat neu gedacht, neu gelebt“ ein. Jeweils 25% bringen das eje, Evangelisches Jugendwerk Bezirk Esslingen, und der CVJM Esslingen aus bestehenden Stellenanteilen in die
Arbeit mit Schulen ein.
Als Unterziele für das erste Projektjahr war die Kontaktaufnahme
mit Schulen sowie örtlicher Jugendarbeit und Kirchengemeinden
vorgesehen. Es sollten Strategien für die Vernetzung von Schulen
Diakonische Jugendarbeit und Schule
und örtlicher Jugendarbeit entwickelt werden. Im zweiten Jahr sollten Bildungsangebote entwickelt und implementiert, sowie das Gesamtkonzept weiter entwickelt werden. Relativ schnell kristallisierten
sich zwei Bildungsangebote heraus, die bei mehreren Schulen auf
offene Türen trafen: zum einen ein zweitägiger Kompetenz-Check zur
Berufsorientierung, der eingehend die Fähigkeiten und Stärken der
Teilnehmer analysiert und ihnen passende Berufsfelder aufzeigt, zum
anderen die Ausbildung von älteren Schülern zu sogenannten JuniorJugendbegleitern57, die im schulischen oder verbandlichen Umfeld
die gewonnenen pädagogischen Kenntnisse in der Betreuung von
Kindern einbringen können. Da die Inhalte der Jugendbegleiterausbildung denen der Schülermentorenprogramme (SMP) sehr ähnlich
sind, konnte schon im ersten Projektjahr ein erstes Kooperationsprogramm gestartet werden.
Bei vielen Punkten wurde während des Projekts die Zielerreichung
früher als angenommen erreicht. Lediglich bei der Vernetzung mit
örtlicher Jugendarbeit in der Breite des Kirchenbezirks blieben wir
hinter den Erwartungen zurück. Es hat sich als schwierig herausgestellt, zu den benötigten Zeiten qualifizierte Ehrenamtliche zu gewinnen, die in die Programme mit einsteigen können.
In der vorliegenden Evaluation wurden neben Schulleitern kooperierender Schulen ausschließlich Teilnehmer verschiedener Jugendbegleiterausbildungen befragt, um Ergebnisse vergleichbar zu machen.
Daher sei zu Beginn noch etwas eingehender auf das Konzept der
Jugendbegleiterausbildung eingegangen:
Jugendbegleiter sind Menschen, die außerunterrichtliche Bildungsund Betreuungsangebote an Schulen durchführen. Primär waren
von der Landesregierung 2006 Erwachsene im Blickpunkt des Programms. Da sich aber nicht in dem benötigten Maß Erwachsene für
diese Art des bürgerschaftlichen Engagements finden ließen, wurde
das Programm auf Jugendliche ausgedehnt.
43
gendbegleiterausbildung viele Faktoren für eine Kooperation gegeben zu sein. Auch war es im Esslinger Projekt möglich, Schülerinnen
und Schüler zu erreichen, die bislang wenig oder keine Vorerfahrungen mit kirchlicher Jugendarbeit hatten. Viele Teilnehmer profitierten
von den Erfahrungen, die sie während der Kooperationsprogramme
machen konnten.
2 Vertiefte Evaluation
Ausgehend von unserem normativen Ziel
„Evangelische Jugendarbeit leistet einen diakonisch motivierten Beitrag zur ganzheitlichen Bildung von Schülerinnen und
Schülern im Lebensraum Schule.“
wollten wir uns bei der Evaluation darauf beschränken, die Zielerreichung unseres ersten strategischen Ziels
„Evangelische Jugendarbeit ist als Träger von Angeboten zur
ganzheitlichen Bildung von Schülerinnen und Schülern in deren Lebensraum bekannt. Sie werden von Schulen, Schülerinnen und Schülern gerne in Anspruch genommen.“
zu untersuchen. Das strategische Ziel haben wir in folgende vier Unterziele zerlegt, die den Leitfaden für die vorliegende Evaluation bilden:
Angebote der Evangelischen Jugendarbeit im Feld Schule sind bei
Rektoren und Schülern bekannt und werden gerne in Anspruch
genommen.
In unserer 40 Stunden umfassenden Ausbildung erhalten die Teilnehmer, die meist zwischen 13 und 15 Jahren alt sind, eine kompakte
Schulung zu wesentlichen pädagogischen Themen, die die Teilnehmer in die Lage versetzen sollen, unter Anleitung Angebote für Kinder
durchzuführen. Themen wie Aufsichtspflicht, Spielpädagogik, Gruppenpädagogik usw. werden behandelt.
Evangelische Jugendarbeit begegnet einer breiten sozialen Schicht
der Teilnehmer, darunter viele, die bisher noch an keinem kirchlichen Angebot teilnehmen.
Wesentlicher Bestandteil ist auch ein Praktikum, in dem die Teilnehmer die in der Theorie gelernten Inhalte praktisch anwenden können.
Als Träger der Jugendbegleiterausbildung stellen wir den Teilnehmern unter anderem auch Stellen im kirchlichen Umfeld vor.
Jugendliche gelangen durch diakonische Arbeit an Schulen in
weitere kirchliche Angebote.
Aufgrund der Projekterfahrungen in Esslingen kann gesagt werden,
dass momentan in vielen Schulen offene Türen für Kooperationen
mit der Evangelischen Kirche vorhanden sind. Manchen Schulleitern
ist es wichtig, dass die Kooperationsprogramme so konzipiert sind,
dass die Schulen ihre weltanschauliche Neutralität weiter wahren
können. Bei vielen anderen Rektoren scheinen vor allem bei der Ju57
Näheres zum Thema Jugendbegleiter unter www.jugendbegleiter.de
Wo verorten Jugendliche „Glaube“ und welche Rolle spielen Angebote der Evangelischen Jugendarbeit darin?
2.1 Ausarbeitung Teilziel 1:
Bekanntheit und Inanspruchnahme der Angebote
Angebote der Evangelischen Jugendarbeit im Feld Schule sind
bei Rektoren und Schülern bekannt und werden gerne in Anspruch genommen
44 Esslingen
Um das Teilziel 1 zu evaluieren wurden folgende Methoden angewandt:
Zwei Gruppendiskussionen mit Schülern, die an einem Programm
teilgenommen haben. Bei den beiden Gruppen handelt es sich um
Schülerinnen und Schüler zweier unterschiedlicher Schulformen
im Alter von 13 bis 15 Jahren. Eine Gruppendiskussion wurde mit
sechs, die zweite mit sieben Teilnehmern geführt. Der Leitfaden
für die Diskussionen wurde vom Projektstelleninhaber erstellt. Die
Durchführung wurde von externen Personen vorgenommen, die
den Teilnehmern vorher nicht bekannt waren. Wesentlich ist noch
zu erwähnen, dass die Schülerinnen und Schüler bei einer Kooperation freiwillig am Programm teilgenommen haben58, wohingegen
sich die zweite Kooperation auf eine komplette Klasse erstreckte,
deren Schüler somit am Programm teilnehmen mussten59.
Ein Gruppeninterview mit Rektoren60, deren Schule bei Programmen kooperierte. Es handelt sich bei den teilnehmenden Rektoren um Rektoren zweier Schulformen. Der Projektstelleninhaber
erstellte den Interview-Leitfaden, eine externe Person führte das
Interview durch.
A: „Ja, eben, ich wär auch nicht.“
[kurzer Exkurs]
A: „Und halt ein Aushang oder ein Plakat .. ist mittlerweile echt
das Problem, weil es zehntausend Aushänge und Plakate. Man
erreicht darüber einfach auch kein Schwein mehr.“
In einer zweiten Befragung64 kommt die Teilnehmerin bei der abschließenden Frage, ob es noch etwas zu sagen gibt oder was er sich
von Kirche und CVJM wünscht, zu folgender Aussage:
C: „Ich finde, die einzelnen Gruppen sollten mehr Werbung machen … So an Schulen oder so. Weil wenn ich jetzt in der Schule
erzähle, ja kommt doch mal in den CVJM oder in TenSing, dann
fragen die mich, gucken die mich doof an und fragen, ja was ist
denn das? Ok, früher wusste ich auch, was CVJM ist, aber man
könnte ja heutzutage schon ein bisschen Werbung machen dafür.
Also meine Meinung.“ (Z. 105ff.)
Ein weiterer Gesprächsauszug der Jugendbefragung65 ab Zeile 248
dreht sich ebenfalls um die Bekanntheit christlicher Angebote. Die
Lösung, die in der Diskussion entwickelt wird, schlägt ein Programmheft mit vor:
Zwei Befragungen mit Jugendlichen61, die an Programmen teilgenommen haben. Sie wurden vom Projektstelleninhaber durchgeführt, einmal mit einem Teilnehmer, das andere Interview mit zwei
Teilnehmenden.
A: „Ich find das CVJM muss man sich seine Angebote relativ zusammen suchen.“
B: „Ja.“
A: „Also wenn man mal so rein und rein kommt kriegt man ja viel
mit und dann kriegt man auch viele coole Aktionen mit, aber es
gibt einiges wovon ich denk, hey das würde Anderen auch Spaß
machen, wenn sie das mal wissen würden. (2) Ähm.“
Interv.: „Zum Beispiel?“
A: „Einfach die Freizeiten, die ich beim CVJM einfach geil finde.
Ähm .. aber auch so Jugendbegleitergrundkurs. Gut da ist man
durch die Schulen gegangen, das fand ich echt was ziemlich Cooles. Da kommt dann der nächste Punkt mit rein, dass halt einfach
.. der CVJM, weil er so christlich ist, halt was total doofes ist. Weil
Glauben ist ja eh scheiße. Ähm .. ja aber ich find es eigentlich die
Angebote werden zu wenig genutzt.“
A: „Ja. Das nur ein Programmheft für Jugendliche so ganz klar
irgendwas drin steht das wär gar nicht schlecht. Das dann irgendwo ausliegt.“
Feldnotizen des Projektstelleninhabers62.
2.1.1 Aussagen zum Thema Werbung
In einer Befragung mit zwei Jugendlichen63 diskutieren die Teilnehmer über die Frage, welche Angebote es für Jugendliche in ihrer
Stadt bräuchte, und wie diese inhaltlich und äußerlich gestaltet sein
müssten. Manche Jugendeinrichtungen werden als positiv, andere
als negativ empfunden beschrieben. Sie entwickeln den Gedanken
eines großen Jugendzentrums, das vielerlei Interessen bedienen
kann. In diesem Zusammenhang kommt es auch zu folgendem Wortwechsel ab Zeile 306:
B: „Und so ein Zentrum, das vielleicht nicht nur unter diesem
christlichen Aspekt läuft. Soll dann halt mehr ansprechen.“
A: „Ha, ich fand es gut, dieses ähm, durch die Klassen gehen.
Das ist eine tolle Kommunikationsart, mit der man hier diesen
Jugendbegleiter ...“
B: „Ja, da sind auch viele dazu gekommen. Ich wär sonst auch
nicht dazu gekommen.“
58
60
61
62
63
59
Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion
Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion
Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview
Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung und 2011_12_22 Jugendbefragung
Vgl. Feldnotizen Michael Proß
Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung
Aus den Feldnotizen des Stelleninhabers66 lässt sich beobachten,
dass sich eine Schule im direkten Bezug auf einen Zeitungsartikel am
Vortag gemeldet hat. Daraus hat sich eine jahrelange Kooperation
ergeben. Einige Kooperationen entstanden durch die Vermittlung des
Schuldekans, der Großteil der Kooperationen ist auf die Initiative des
Stelleninhabers zurück zu führen, der auf die Schulen aktiv zugegangen ist. In einigen Gesprächen waren Schulleiter bei Kooperationen
mit der Evangelischen Kirche skeptisch und wollten bei der Art des
Kooperationsprogramms ihre weltanschauliche Neutralität gewahrt
halten. Ebenso aus Feldnotizen kann der Stelleninhaber berichten,
64
Vgl. 2011_12_22 Jugendbefragung
Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung
66
Vgl. Feldnotizen Michael Proß
65
Diakonische Jugendarbeit und Schule
dass fast alle Schulen, die bei einem Programm kooperiert haben,
diese Kooperation auch im nächsten Jahr wünschen. Gestützt wird
diese Feldnotiz durch folgendes Zitat eines Rektors67:
Z. 32, X: „Ich weiß aber gar nicht genau, ähm, jetzt der vierte oder
fünfte Durchgang. Mir kommt es auf jeden Fall schon so vor wie,
wenn’s .. ja schon eine gewisse Tradition hat.“ (Anmerkung: Es
lief zu der Zeit gerade der dritte Durchgang)
2.1.2 A
ussagen zur Motivation zur Teilnahme
an Kooperationen
In einer Gruppendiskussion69 wurden die Teilnehmer nach ihren Erwartungen und nach ihrer Motivation zur Teilnahme gefragt:
J: „Also am Anfang habe ich eigentlich mitgemacht, weil jemand
gesagt hat, es ist gut für die Bewerbung. Aber dann nach einer
Zeit hat es mir auch ziemlich Spaß gemacht. Also ich hätte nicht
gedacht, dass es so gut wird.“
K: „Ich habe auch immer gedacht, das wird voll langweilig und
was will ich da. Und das habe ich eigentlich nur für den Zeugnis
gemacht und so dass es drinnen steht. Aber dann hat es mir auch
übelst gefallen und es hat mir auch Spaß gemacht und ich habe ja
auch was dazu gelernt.“ (Z. 233)
Im ihrem Interview68 kommen die Schulleiter nach ca. 22 Min. (ab
Zeile 301) zu der Frage, mit welchen Interessen sich die Kirche auf
die Schule zu bewegt:
Z: „Wobei die die evangelische Kirche sicher Interesse hat, dass
sie jetzt gerade hier Mitarbeiter in diesen Bereich schickt, ja. Also
ich mein, das kostet ja auch Zeit, kostet Geld und es sollte ja eigentlich für die Kirche auch irgendwas bringen. Oder ist es nur so
aus Spaß an der Freude, oder? Ja, ich denke äh die Kirche, sagen
wir es doch offen, hat Probleme Kinder und Jugendliche in die
Kirche rein zu kriegen und wo gibt’s die, die gibt’s in der Schule,
ja, also. Da kann man sie ansprechen.“
Interv.: [...]
Z: „Ja, ja gut, find ich auch legitim, ja. Also, ich mein in anderen
Bereichen mach sagt man des dann offener. Wenn man eine Tennis AG mit einem Tennisclub macht (unverständlich) der macht
das, weil die dann nachher in Verein eintreten sollen, ja. Da kann
man das offen sagen. Ich mein in der Kirche, wenn ich jetzt muslimische Kinder dabei sind, dann kann das Ziel nicht jetzt so vordergründig sein, ja. Sondern eher indirekt vielleicht, äh erreicht
werden.“
Interv.: [...]
Z: „Von daher wär’ es ja ein richtiger Weg der Kirche, ja raus zu
gehen in Bereiche, die zunächst einmal nicht kirchlich geprägt
sind.“
Laut den Aussagen der Teilnehmer haben Jugendliche heute keinen
automatischen Zugang zu den Werbekanälen der Evangelischen
Jugendarbeit. Da sie die kirchlichen Angebote positiv erlebt haben,
wünschen sie sich eine bessere Werbung. Die Möglichkeit, über
Schulkooperationen gezielt bei Schülern zu werben, unterstützen
sie in hohem Maß. Laut Schüleraussagen scheint es möglich, über
Schulkooperationen neue Zielgruppen anzusprechen.
Bei der Kooperation mit Schulen besteht die größte Herausforderung
darin, den Erstkontakt zur Schule herzustellen und erstmalig Kooperationen durchzuführen. Schulen verlängern bei guten Erfahrungen
gerne die Kooperation. Rektoren stellen sich sehr wohl die Frage,
aus welcher Motivation heraus die Kirche ihr Engagement an Schulen
betreibt. Auch wenn es beim vorliegenden Interview nicht eindeutig
scheint, ob es sich für Kirche nicht schickt, Mitgliederwerbung zu
betreiben, oder ob Kirche in diesem Aspekt nicht immer vollständig
ehrlich auftritt, so lässt sich feststellen, dass Kirche ihren diakonischen Einsatz für Schüler an Schulen klar kommunizieren sollte.
67
Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview
68
Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview
45
Zu einem späteren Zeitpunkt, ab Zeile 495, wird in der gleichen Diskussion in Zusammenhang nach der Frage des Trägers ein weiterer
Motivationsgrund genannt:
K: „Der (Anmerkung: der Projektstelleninhaber bei der Werbeaktion im Unterricht) hat uns ja auch etwas – also gefragt, wer das
machen will, hatten die ja gesagt, das ist ein kirchliches Angebot
und hat dann ein paar kleine Details gesagt, dass es während der
Schulzeit so ist und dann (unverständliches Gemurmel) kein Unterricht, kein Mathe, kein Deutsch, gehen wir doch Jugendbegleiter machen.“
L: „Ja, ich denke, deswegen haben das auch alle gemacht. Wäre
es in der Freizeit, dann würden es nicht so viele Leute machen,
denke ich mal. (…) Aber danach hat es sich ja verändert.“
M: „Es war ja aber auch so wie Unterricht, halt nur auf eine andere
Art. Eine andere Perspektive. Aber sonst“
K: „Also ich würde es persönlich jedem empfehlen, so was zu
machen. Lernt man was – ziemlich viel Neues.“
Ebenso drückt es ein Schüler in einer anderen Gruppendiskussion70
aus:
Z. 702, G: „Ich glaub die meisten (…) gehen zu solchen Aktivitäten eigentlich auch nur, damit sie halt keine Schule haben.“
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein kurzer Abschnitt71
zuvor (ab Zeile 677), bei dem die Meinungen darüber auseinander
gehen, ob man ein solches Programm auch freiwillig besucht hätte:
Interv.: „Ihr musstet die Jugendbegleiterausbildung ja machen.
Das war ihr durftet es euch ja nicht aussuchen.“
F: „Ja eben, des war des Problem.“
Interv.: „Des war´s Problem. Hättest nicht gemacht, wenn du`s“
F:„Nein, ich würd´s auch nicht“
E:„Nich?“
D: „Ja, Schule oder oder Jugendbegleiterausbildung?“
69
Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion
Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion
71
Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion
70
46 Esslingen
E: „Ich glaub ich hätt´s gemacht.“
F: „Wenn du zuhause bleiben dürftest, wärst du lieber zu Hause
geblieben oder wärst du da hin gegangen?“
E: „Ich hätt es gemacht.“
G: „Ich wär da hin gegangen.“
D: „Ich auch.“
H: „Du Gangster.“
An anderer Stelle73, als das Gespräch wieder auf die verlässliche Organisation der Kooperation geht, verdeutlicht X dies mit einer weiteren Aussage:
Für die Schüler standen zu Beginn Faktoren wie Unterrichtsausfall
und Nützlichkeit für die Bewerbung im Vordergrund. Die Möglichkeit,
bei Schulkooperationen teilweise Unterrichtszeit für die Programme
zu benutzen, öffnete den Zugang zu einer größeren Zielgruppe. Während des Kurses kamen dann auch andere Faktoren zum Tragen, so
dass viele Teilnehmer dem Programm am Ende positiv gegenüber
standen.
Für die Kirche als Kooperationspartner der Schule sind in diesem Zusammenhang Aussagen zu bedenken, dass Schulleitungen bei der
Auswahl von Kooperationen oftmals sehr pragmatisch vorgehen:
2.1.3 F aktoren, die aus Rektoren-Sicht
für Kooperationen vorliegen sollen
Relativ zu Beginn (ab Zeile 104) kommen die Schulleitenden72 bei
der Frage, was sie von Erfahrungen bei der Kooperation mit Kirche
beschreiben können, auf das Thema Verlässlichkeit:
Y: „Ich denk, für mich war das Wichtigste, dass die Verabredungen, die man getroffen hat, wirklich absolut zuverlässig und im
vollen Umfang durchgeführt werden. [5] Einmal abgesprochen –
funktioniert.“
Interv.: „Ja. Schön.“
Y: „Braucht man sich nicht mehr groß drum kümmern.“
Interv.: „Ja. Können Sie da zustimmen?“
X: „Ja, das kann ich bestätigen. Also das ist unheimlich wichtig
eben auch im Schulbereich wenn man solche Sachen macht gerade zwischen vielen Kooperationspartnern die Kirche ist ja nur
einer davon. Und wenn man dann dauernd irgendwie nachhaken
muss und das funktioniert nicht richtig dann äh macht das keinen
Spaß.“
Interv.: „Ja.“
X: „Kann ich unterstreichen und möchte es auch ergänzen auf
die angenehme Art des Kontakts. Die Beziehung stimmt. Würd
man so sagen. Ähm und muss es auch noch ergänzen mit einem
weiteren Projekt, dass ich zum einen vergessen hab. Wir haben
ja noch den Kompetenzcheck im Rahmen der Berufsorientierung.
Und auch hier ist ähm ne klarere Absprache und dann läuft`s.“
Interv.: „Ja.“
X: „Und ich kann mich auch hundert prozentig drauf verlassen,
wenn der Weigel (Anmerk.: Der Hausmeister) den Herrn Proß
und seine Mitarbeiter sozusagen ja vermietet sind äh dann hat
es Hand und Fuß und brauch ich nicht mehr darüber nachdenken
oder danach gucken. Und das ist sehr angenehm.“
72
Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview
X: „Herr Proß hat auf seiner zeitlichen Agenda, wann er mich anruft. (…) und das ist für uns, für mich auf jeden Fall, eine unheimliche Erleichterung.“ (Z. 439)
X: „Wenn ich an Angebote im Schulalltag bedenke, dann dank ich
mir meine Schüler und dann denke ich, welche Person kann das
machen – und nicht welche Institution steht da dahinter.“ (Z. 278)
Und wenig später:
X: „Also für uns immer wichtig, viele sag ich mal, Personen mit
in die Schule zu bekommen, also Externe oder Experten, dass
unsere Schüler ein umfangreiches Bild bekommen von dem, was
außerhalb der Schule ist. Dass unsere Schüler auch unterschiedliche Personen und deren Wertvorstellungen kennen lernen.“
(Z. 343)
Bei Schulen hat im Zusammenhang mit Kooperationen immer Verlässlichkeit die oberste Priorität. Die Verlässlichkeit lässt sich aber
nicht aufgrund der Organisation des Kooperationspartners ableiten,
sondern ist personal gebunden.
Auf die Frage, was bei Kooperationen mit der Evangelischen Kirche
auf keinen Fall passieren dürfte, äußerte sich Schulleiter Z wie folgt:
Z: „Ja gut, es dürfte auf keinen Fall passieren, dass eben die muslimischen Kinder völlig vor den Kopf gestoßen werden, ja, oder
dass eben der Missionsgedanke vielleicht zu sehr einfach in den
Vordergrund gerückt wird.“ (Z. 368)
Rektor Y hatte dieses Thema bereits früher im Gespräch ähnlich eingebracht, als es um mögliche Kooperationsfelder zwischen Kirche
und Schule ging:
Y: „Also es gäbe sicherlich Felder, wo man Kooperationen auch
lebt, man lebt sie auch, indem man Schulgottesdienste macht
und solche Dinge. Aber es gibt schon auch andere Verknüpfungspunkte, aber das sind dann doch wieder Angebote eher für spezielle Gruppen. Jetzt hier hat man ja ein Angebot, wo eigentlich alle
dran teilnehmen – ohne Ansehen der Person sozusagen oder seines Hintergrundes. Und ich denk, das ist eine ganz wichtige DingSache, denke ich, dass man wirklich alle an dieser Ausbildung
teilnehmen können, die Interesse haben und nicht jetzt sortiert
wird in evangelisch und katholisch und muslimisch oder sonst
irgendwas.“ (Z. 290)
73
Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview
Diakonische Jugendarbeit und Schule
Schulleiter wünschen sich Kooperationsprogramme, die für alle Schüler offen stehen, und die nicht aufgrund ihrer ideologischen Prägung
Schüler ausschließen. Ohne es letztendlich durch Originalzitate belegen zu können, scheint es den Rektoren lieber, wenn sich Schüler
aufgrund von Interessen für Angebote und Kooperationen entscheiden, als wenn religiöse Herkunft über die Teilnahme entscheidet.
aber schon die überwiegende Mehrzahl und ich habe dann wirklich
eine positive Auswirkung auf die Klassengemeinschaft gespürt. Ja,
der Umgang miteinander, auch dadurch dass sie da zusammen auf
dem Wochenende in Asch waren, hat dazu beigetragen dass sie
einfach besser und angenehmer miteinander umgegangen sind.
Also des war jetzt der positive Effekt für die Schule. Die anderen
sind ja schon genannt worden: Stärkung der Persönlichkeit und so
weiter. Aber das war jetzt für uns ganz äh, ganz angenehm.“
An einer Stelle unterhalten sich die Rektoren darüber, wie sie das konkrete Kooperationsprojekt „Jugendbegleiterausbildung“ bewerten:
Z: „Ich mein, letztendlich profitieren die Schüler ja zunächst mal
von der Ausbildung selber, von diesem halben Jahr. In ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Man kann auch sagen, das ist ok, wenn
das dabei bleibt und sie sich dann noch in der Schule noch in
ein paar Projekten einbringen, dann hat man sein Ziel erreicht.“
(Z. 185)
In einer zweiten Gesprächssequenz über dasselbe Thema am Ende
des Interviews (ab Zeile 381) äußern sich die Schulleitenden wie
folgt:
Y: „Ich denk, da ist der Erfahrungsraum noch ein bisschen trotz
allem kurz. Vor allem wenn man die Schüler ja auch noch kurz
nach dieser Ausbildung haben, also ich kann mich jetzt erinnern
an einen Schüler der letztes Jahr die Schule verlassen hat, nach
der Klasse neun. Ich denk, der hat der ist in seiner Persönlichkeit, der kommt aus schwierigen sozialen Verhältnissen, durch
diese Ausbildung ganz gut gestärkt worden, so dass er jetzt in
eine problemlos in eine Berufsausbildung wechseln konnte uns
sogar sich unter zwei verschiedenen Ausbildungsbereichen sogar
noch wählen konnte. Also ich denk das ist so und ich denk der hat
soviel Stärke entwickelt, dass er sich auch durchboxen kann, wie
man das so schön des einfach ausdrückt. Ich denk auch, andere
die einfach jetzt sehen wir haben jetzt Möglichkeiten zu sagen,
wenn uns das Angebot der Schule nicht passt, im Bereich Mittagszeit oder so was selber auf Ideen Ideen zu entwickeln und und
auch diese Dinge wenn sie praktikabel sind auch um zusetzen.“
X: „Mir fallen auch zwei Stichwörter ein und das ist Begegnungen
mit Menschen, die die dort machen und dann äh Belehrungssituationen.“ (3)
Interv.: „Wollen Sie da noch bisschen was dazu sagen?“
X: Also, im Hinblick zum Beispiel, wenn sie unsere Schüler egal
ob sie im Kindergarten ihr Praktikum machen oder dann im Altenheim für jemanden zuständig sind oder hier für älteren Senior
in im Ortsteil hier sich bewähren müssen, alleine ohne die den
Freundeskreis dabei zu haben sich mit einem Menschen auseinander zu setzen, sich mit der Situation auseinander zu setzten, die
man vielleicht so noch nicht erfahren hat und dann nachher das
Gefühl zu haben, ich habe mich gut bewährt auch die positiven
Rückmeldungen von den jeweiligen Personen zu bekommen. Ich
glaub des ist ganz wichtig für unsere Schüler.“
Z: „Ja, bei uns kamen ja die Schüler alle aus einem gleich – aus der
gleichen Klasse, es hat zwar nicht die ganze Klasse mitgemacht
47
Die Schulleitenden haben den konkreten Nutzen der Kooperation für
ihre Schüler und für die Schule als Ganzes im Blick. Mit der Jugendbegleiterausbildung scheinen viele Faktoren für die Schulleiter zu
passen, weshalb sie großes Interesse an einer Zusammenarbeit in
diesem Bereich zeigen.
2.2 Ausarbeitung Teilziel 2:
Erreichte Teilnehmer und Teilnehmerinnen
Evangelische Jugendarbeit begegnet einer breiten sozialen
Schicht der Teilnehmer, darunter viele, die bisher noch an keinem kirchlichen Angebot teilnehmen.
Um das Teilziel 2 zu evaluieren wurde folgende Methode angewandt:
Bei Kooperationsprogrammen (Jugendbegleiterausbildungen und
Kompetenzchecks) wurden in den Jahren 2010 und 2011 insgesamt n=176 Teilnehmer per Fragebogen befragt.74
Zum besseren Verständnis der Datenlage muss hinzugefügt werden,
dass unter den Realschülern 55 Teilnehmer sind (entspricht 62,5%
der Realschüler), die aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit beim Kooperationsprogramm teilnehmen mussten und dies vielleicht nicht
freiwillig gewählt hätten, wie es bei Haupt- bzw. Werkrealschulen und
Gymnasien der Fall war.
2.2.1 Auswertung Fragebogen
Schulart
HS und WRS
25,6%
RS50,0%
Gymnasium
24,4%
Im Gegensatz zu den Schülerzahlen der unterschiedlichen Schulformen in Esslingen (Verteilung grob: 25% HS und WRS, 25%
RS, 50% Gymn.) ist bei unseren Kooperationen die Realschule
überdurchschnittlich stark vertreten. Dies liegt unter anderem an
der sehr guten Verknüpfung unserer Kooperationen mit dem TOP
74
Vgl. Gesammelte Sozialdaten
48 Esslingen
SE75 in Klasse 8. Leider liegen uns für Esslingen keine Vergleichsdaten bezüglich Schulform der Jugendgruppen-Teilnehmer vor.
Religionszugehörigkeit
evangelisch
48,3%
katholisch
25,0%
Muslime 13,6%
Ohne
7,4%
5,7%
Sonstige
Isoliert betrachtet beträgt der Anteil der Evangelischen am Gymnasium 60,5%, der Anteil der Muslime an der HWRS 17,8%. Es
war in unseren Auswertungen nicht feststellbar, dass ein besonders hoher Teil an konfessionslosen Gymnasiasten unsere Angebote besucht hätte.
Wenn die Fragebogen von den Teilnehmern ehrlich ausgefüllt wurden, so zeigen sie, dass durch die Schulkooperationen ein hoher
Anteil an Schülern erreicht wurde, die mit kirchlicher Jugendarbeit
zuvor noch keine Kontakte hatten. Nicht nur Christen oder Mitglieder
bestehender Jugendarbeit besuchen die Schulkooperationen. Auch
der Anteil der Teilnehmer mit Migrationshintergrund oder mit muslimischem Glauben zeigt, dass eine breite soziale Schicht angesprochen werden konnte.
2.3 Ausarbeitung Teilziel 3:
Verortung von Glauben
Wo verorten Jugendliche „Glaube“ und welche Rolle spielen
Angebote der Evangelischen Jugendarbeit darin?
Migrationshintergrund
36,9% haben Migrationshintergrund (1. oder 2. Generation)
Vereinszugehörigkeit
16,5% gehen nicht in einen Verein oder eine regelmäßige
Gruppe (HWRS 26,7%; RS 14,8%; Gymn. 9,3%)
Um Daten im Rahmen des Teilziels 3 zu erheben wurden folgende
Methoden angewandt:
Zwei Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern76,
die an einem Programm teilgenommen haben. Es handelt sich
um dieselbe Gruppendiskussion wie unter Punkt 2.1. In den Gesprächsleitfäden wurden diesbezüglich Fragen eingebaut.
14,8% besuchten schon vor ihrer Teilnahme am Kooperationsprogramm regelmäßig kirchliche Angebote
(HWRS 11,1%; RS 9,1%; Gymn. 30,2%)
Vorerfahrungen mit kirchlichen Gruppen
(in Kirchengemeinden, CVJM, Evang. Jugendwerk)
wie z.B. Kinderkirche, Jungschar, Waldheim, Freizeit:
33,0% haben davor schon kirchliche Angebote besucht
(der Konfirmanden-Unterricht wurde in diesem Zusammenhang nicht als kirchliches Angebot erfasst, da uns hierbei
der Freiwilligkeitsgrad beeinträchtigt schien): HWRS 35,6%;
RS 25,0%; Gymn. 46,5%, (Bemerkung: bei RS sind einige
Projekte für ganze Klasse verpflichtend gewesen.)
67% hatten mit kirchlicher Jugendarbeit davor noch
keinen Kontakt.
Zwei Befragungen mit Jugendlichen77, die an einem unserer Programme teilgenommen haben.
Im Rahmen der Interviews wurden diesen Jugendlichen eine
Landkarte und farbige Nadeln zur Verfügung gestellt, um ihren
Lebensraum zu kennzeichnen (Nadelmethode).
Als Einstieg in die Befragung78 wurde die sogenannte Nadelmethode
verwendet. Den Jugendlichen wurde ein Stadtplan vorgelegt, in den
sie Nadeln an die Orte stecken mussten, an denen sie ihre Freizeit
verbringen. Das Interesse lag daran, anhand der Nadelmethode festzustellen, ob auch Kirche bzw. kirchliche Jugendarbeit bei der Freizeitgestaltung genannt wird und somit im Blickfeld der Jugendlichen ist.
Glaube
Für 29,2% spielt der Glaube an Gott eine Rolle in ihrem Leben.
Betrachtet man nur die Nennungen der muslimischen Schüler,
so ist der Anteil höher (64%).
Interessant ist, dass von denen, bei denen der Glaube an Gott
in ihrem Leben eine Rolle spielt, nur 47% monatlich oder
mehrmals im Monat ein Gotteshaus besuchen. Glaube und
Besuch eines Gotteshauses scheinen nur zu gewissen Graden
zu korrelieren.
Fasst man auf die Frage „Spielt der Glaube an Gott eine Rolle
in deinem Leben“ die Antworten „Ja“ und „ein bisschen“ zusammen, so steigt der Wert auf 52,7%.
75
Themenorientiertes Projekt Soziales Engagement
Es wurden folgende Orte als Plätze, an denen die Jugendlichen
ihre Freizeit verbringen, benannt: Freunde, Kino, Cafés o.ä., Parks,
Theater, Bücherei, Sportorte, Orte für Musik und Band, AG‘s in
der Schule sowie vereinzelt kirchliche Einrichtungen.
Im Anschluss an die Nadelmethode wurde den Jugendlichen in der
Befragung 2011_12_21 die erste Frage gestellt, an welchen Orten
etwas für Jugendliche angeboten wird. Neben den Jugendhäusern
und den Sportvereinen fiel auch das Stichwort Kirche, das mit Teeniekreisen/Jugendgruppen, Ministrantenstunden und Konfi-Gruppen
näher spezifiziert wurde.
76
Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion und 2011_07_22 Gruppendiskussion
Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung und 2011_12_22 Jugendbefragung
78
Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung und 2011_12_22 Jugendbefragung
77
Diakonische Jugendarbeit und Schule
Auf die zweite Frage, an welchen Orten man etwas über Glauben erfahren kann, schließt ab Zeile 95 folgender Dialog an:
B: „Oh an ganz schön vielen.“
A: „In den Kirchen.“
B: „Also in den Kirchen, jetzt mal ganz vorne angefangen. Dann
natürlich beim CVJM, BDKJ, in den Jugendtreffs auch. Das
kommt halt drauf welcher jetzt angeboten wird oder in Anspruch
nimmt. Jetzt bei der Öffnungszeit zum Beispiel weniger, als in irgendeiner Gruppe. Äh das Pfadfinder, das ganze“
A: „Ist ja auch CVJM.“
B: „Genau. Auch CVJM. Ähm.“
A: „An den ganzen privaten
B:„Ja christlichen (unverständlich)“
A: Gebetsrunden. Mitarbeiterkreisen. Und so weiter ja. Die sind ja
über die ganze Stadt verstreut.“
B: „Ja. Ich denk so am meisten hab ich jetzt zum Beispiel bei den
ganzen Mitarbeiterschulungen Erfahrungen gemacht.“
A: „Ja.“
B: „Also Jugendbegleiter, Jugendleiter.“
A: „Die (unverständlich) gibt es noch. Aber ist ja auch praktisch
eine Kirche.“
B: „Ja Sportvereine jetzt überhaupt nicht.“
A: „Selten. Selten. Ja, das stimmt. Ähm bei Freunden.“
B: „Ja, da haben wir uns ja ganz gut arrangiert.“
A: „Ja. Ja.“
Interv: „Ok und so Freunde, die Christen sind und da irgendwie
über Glaubensthemen reden.“
B: „Ja“
[eine kurze Passage wird übersprungen]
A: „Von irgendwelchen Menschen in der inneren Brücke
(Anmerk.: Fußgängerzone), die einem was über Glauben erzählen
wollen.“
B: „Ach so ja, die Tollen.“
A: „Ja oder von Leuten, die bei einem an der Tür klingeln und dir
was über den Glauben erzählen wollen.“
B: (lachen)
A: „Ist halt nicht so positiv. Aber das gibt es auch.“
Die beiden Jugendlichen vermitteln im Interview ein sehr detailliertes
Bild davon, wo Glaube erfahrbar ist. Neben Kirche und kirchlicher
Jugendarbeit wird auch der Austausch mit christlichen Freunden
benannt. Aber auch Gruppierungen wie wahrscheinlich Mormonen
oder Zeugen Jehovas wurden wahrgenommen, aber nicht als positiv
empfunden. Bestimmt haben ihre Aussagen mit ihren eigenen Erlebnissen zu tun, die unter Punkt 2.4. eingehender beleuchtet werden.
In einer anderen Gruppendiskussion79 wurde die Frage nach der
kirchlichen Trägerschaft des Kooperationsprogramms mit einem anderen Tenor besprochen:
J: „Ja, also, ich fand das eigentlich jetzt nicht schlimm, dass das
jetzt kirchlich war, weil ich meine, das Gemeindehaus hat ja nicht
so viel mit Kirche zu tun. – Also ich meine, in dem Sinn hin schon,
79
Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion
49
aber irgendwie jetzt – wären wir zum Beispiel jetzt in irgendeine Kirche gegangen, hätten da dann Unterricht gemacht oder so,
dann wäre das natürlich wieder was anderes gewesen – auch von
der Stimmung her.“ (Z. 430)
[eine Passage heraus gekürzt]
K: „Hätte ich gewusst, dass es das was Kirchliches – hätte ich
persönlich gedacht, ja dann werden wir viel mit der Bibel machen
und so was. Aber da haben wir nichts gemacht.“ (Z. 452)
Viele Teilnehmer verbinden die Jugendbegleiterausbildung nicht direkt mit Kirche, weil sie keine explizit christlichen Inhalte vermittelt.
Für diese Teilnehmer ist es Horizont erweiternd, dass Evangelische
Jugendarbeit auch anders sein kann.
Zudem lernen manche Jugendliche kirchliche Räumlichkeiten erstmals kennen:80
Interv.: „Ihr habt ja schon vorher gesagt, das hat im CVJM im
Lutherbau stattgefunden. Habt ihr vorher damit schon was zu tun
gehabt?“
(Leute reden durcheinander): „Ne“, „Ja“, „Nein“
I: „Ich wusste nicht, dass es existiert.“
(Leute reden durcheinander)
L: „Also wir beide, wir waren da halt schon mal auf so einer Freizeit vom CVJM.“
M: „Also, wir beide waren 2009 im Sommer-Camp und 2010 und
sonst ich hatte auch mal was früher im CVJM, weil ich da Pfadi
habe und – ja – halt auch jetzt von – also von früher her noch, war
ich da halt auch beim CVJM und deswegen.
J: „Also, ich wusste gar nicht, was das war. Weil ich habe es noch
nie gehört gehabt.“
M: (leise und ironisch) „Ich wusste gar nicht, dass es existiert.“
I und J: (protestierend) „Wusste ich auch nicht.“ (Gelächter)
M: „Hey, das ist so ein großes Gebäude.“ (lachen)
J: „Nein, ich wusste es echt nicht.“
I: „Ich bin da tausendmal vorbeigelaufen und dachte, da wohnen
bestimmt Leute oder so was.“ (Z. 457)
2.4 Ausarbeitung Teilziel 4:
Teilnehmer von Schulkooperationen finden
weitere kirchliche Angebote
Jugendliche gelangen durch diakonische Arbeit an Schulen in
weitere kirchliche Angebote.
Um das Teilziel 4 zu evaluieren wurden folgende Methoden angewandt:
Zwei Befragungen mit Jugendlichen81, die an Programmen teilgenommen haben. Sie wurden vom Projektstelleninhaber durchge80
81
Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion
Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung und 2011_12_22 Jugendbefragung
50 Esslingen
führt, einmal mit einem Teilnehmer, das andere Interview mit zwei
Teilnehmern.
O: „Also, (lacht), also auch zu helfen und ich möchte es auch
weiter machen und ja, also auch in der Kirche zu helfen.“
P: „Ja, ich könnte mir schon vorstellen, noch weiter zu machen.
Ja, weil es Spaß macht und ja.“
Feldnotizen des Projektstelleninhabers82.
Zitate aus einem Radiobeitrag83, den das Evangelische Medienhaus
bei einem unserer Kooperationsprogramme aufgenommen hat.
Der Aspekt der Anwendung der erlernten Kompetenzen ist in einer
anderen Gruppendiskussion86 einer Teilnehmerin so wichtig, dass sie
ihn mehrmals einbringt. Ein Mal in folgender Form:
In der Vorstellungsrunde einer Gruppendiskussion84 sollen die Teilnehmer sagen, wo sie ihr Praktikum gemacht haben (ab Zeile 82):
F: „Es hat auch Spaß gemacht. Wir müssen ja so also mit den
Leuten müssen wir uns gut verstehen. Also nicht das wir das die
was wollen und wir sagen nein, das geht nicht. Dass wir denen
immer was Gutes bringen und nichts Verschimmeltes.“
E: „Es gab verschiedene Abende so, Disko, was bei uns ausgefallen ist. Oder, was gab´s noch, Kinoabend. Es gab verschiedene
Sachen also es war nicht immer nur das Gleiche. Wir mussten ja
an einem Abend mussten wir das selber planen. Und ja da haben
wir auch haben wir ja den ... Kinoabend gemacht. Und mussten
dann des selber also überlegen was für Cocktails wir verkaufen,
was wir zum Essen anbieten. Wir mussten des dann einkaufen …
und das Geld haben wir dann später zurückbekommen. Das war
auch ne gute Erfahrung für mich.“
Interv.: „Cool. Und würdet ihr sagen, ihr habt schon was gelernt?“
F: „Ja, auf jeden Fall.“
Interv.: „Cool. Wo habt ihr anderen des Praktikum gemacht?“
G: „Ja, ich hab mein ... Praktikum im Kinderferienprogramm in
A-Stadt beim Jugendhaus A gemacht. Da waren noch halt da
gab`s zwei Vorbereitungstermine, wo wir besprochen haben, was
wir machen und das haben auch ausprobiert. Und dann haben
wir eben halt, dann gab´s halt zwei Tage wo wir die Kinder betreut
haben. Haben mit denen Spiele gespielt, gebastelt und so ... ja,
war schön.“
H: „Äh, ich hab mein Praktikum im Jugendhaus B in B-Stadt gemacht und äh da haben wir halt mit den Kindern äh beim Kidstreff
gespielt und die es war halt ne gute Erfahrung so mit den äh wie
mit den Kindern umgeht, dass die nicht anfangen zu weinen oder
wenn was passiert.“
D: „Ähm ich hab im Jugendhaus B auch in B-Stadt gemacht. Also
ich hatte Thekendienst und da hab ich auch gelernt, wie man Sachen verkauft und besser mit den Menschen umzugehen und ich
durfte auch mithelfen beim Malen und so an der Wand. Und es
hat schon Spaß gemacht.“
I: „Und was mir sehr gefallen hat ist, dass wir jetzt diese Zertifikat
bekommen haben und weil wir ja nächstes Jahr Ganztagsschule
haben, können wir jetzt mit Kindern etwas unternehmen. Wie zum
Beispiel ich und meine Freundin wollen jetzt eine Tanzgruppe aufmachen. So mit ganz kleinen Kindern und dafür haben wir jetzt ja
die Erlaubnis und das können wir da machen und das ist schön.“
(Z. 210)
Die Ausbildung zum Jugendbegleiter scheint Jugendlichen einen
Anstoß zur Mitarbeit zu geben. Durch den Praktika-Bezug kommt
dadurch auch die Evangelische Jugendarbeit in den Blick. Ein Teilnehmer berichtet im Interview87 über seine Motivation, im Anschluss
an die Jugendbegleiterausbildung weitere kirchliche Angebote zu besuchen:
A: „Bei mir ist es ne ganz klare Geschichte. Meine Mutter hat eine
Kollegin. Und ähm die ist im CVJM. Und dann gab es Jugendgruppe A und die Kollegin hat diesen Pfeil mitgebracht, meine
Mutter war hellauf begeistert und meinte, diese Jugendgruppe A
ist genau das Richtige für mich. Und obwohl ich erst sehr skeptisch war, weil ich als äh nicht Gläubiger, mit Christen nicht so
doll. Hab mich irgendwie von meiner Mutter dahin beschwatzen
lassen, und dann wurde ich von einem Hans (Anm.: ein Mitarbeiter) davon überzeugt, dass ich das unbedingt machen muss und
dann hab ich mit Jugendgruppe A angefangen. Hab es zwar bald
wieder aufgegeben, aber bin dann irgendwie in Jugendbegleiter.
In Jugendbegleiter bin ich gegangen, weil jemand in meine Klasse
gekommen ist und das erzählt hat, dass es den gibt. Und dann am
Ende (unverständlich) Dann dachte ich, hey coole Sache. Dann
kann ich es jetzt schon ein bisschen, dachte ok dann geh ich da
mal hin. Jo und dann zieht es einen da so rein. Stück für Stück.“
(Z. 180)
Bei einem anderen Interview88 berichtet die Teilnehmerin ihre Geschichte:
Die Praktika in der Jugendarbeit haben den Teilnehmern in der Regel
Freude gemacht und ihnen Einblicke in die kirchliche Arbeit gegeben.
Es hat sich daher bewährt, Praktika u.a. in der kirchlichen Jugendarbeit als festen Bestandteil der Jugendbegleiterausbildung zu verankern. Auf die Fragen einer Radioreporterin85 äußerte sich eine andere
Gruppe (ab Sek. 28):
82
84
85
83
Vgl. Feldnotizen Michael Proß
Vgl. 2011_11_10 Ausschnitt aus Rohschnitt Radiobeitrag
Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion
Vgl. 2011_11_10 Ausschnitt aus Rohschnitt Radiobeitrag
C: „Also ich bin nur hingegangen wegen Mitarbeiter X. Ganz ehrlich. Und er hat ja auch viel Werbung gemacht (…) Ich bin eigentlich nur hingegangen, weil eine Freundin mitgekommen ist.
Alleine wär ich auch nicht hingegangen (…) Und ja (…) es hat
Spaß gemacht und ... richtiges Familiengefühl da. Richtige Gemeinschaft. … Deswegen bin ich auch dabei geblieben ... Und
hab noch paar Freunde mitgebracht.“ (Z. 86)
86
Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion
Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung
88
Vgl. 2011_12_22 Jugendbefragung
87
Diakonische Jugendarbeit und Schule
Durch unterschiedliche Erlebnisse oder auch durch entstandene Beziehungen – sei es zu Gruppenteilnehmern oder Mitarbeitern – wagen
Jugendliche den Schritt in weitere kirchliche Angebote, die auch explizit christliche Themen beinhalten können89:
B: „Und dann war es für mich zum Beispiel auch eine gute Hilfe
im Glauben zum Beispiel. Ich hatte das Glück, irgendwie da schon
auf sehr angenehme Weise irgendwie reinzukommen, und das hat
mich dann auch unterstützt und vor allem dann der Jugendleiterkurs (Anm. Grundkurs CVJM). Und dann war es irgendwie dieses
Lechzen nach mehr.“ (Z. 206)
3. Metareflexion
Der beim Esslinger Projekt „Diakonische Jugendarbeit als Mitgestalter der Schule“ praktizierte Ansatz, mit Schulen Projekte kirchlicher
Jugendbildungsarbeit durchzuführen, in denen die Schülerinnen und
Schüler in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden, hat
sich als erfolgversprechend erwiesen.
Es ist gelungen, dauerhafte Kooperationen mit Schulen einzugehen.
Trotz der im Projekt zur Verfügung stehenden Ressourcen konnten
aus Kapazitätsgründen nicht alle in Frage kommenden Kooperationen durchgeführt werden. Durch die bezirksweite Ausrichtung stehen
dem Projekt auch viele Schulen zur Verfügung.
Durch unsere kirchliche Jugendbildungsarbeit kann Kirche dem System Schule Inhalte und Erfahrungen geben, die es in dieser Form an
der Schule nicht gibt. Bedingt ist dies unter anderem durch die Qualifikation der Diakone, die sich von der eines Lehrers unterscheidet.
Aufgrund der ausgewerteten Daten ist davon auszugehen, dass in
den durchgeführten Projekten Schülerinnen und Schüler erreicht
wurden, die zuvor mit kirchlicher Jugendarbeit noch keinen Kontakt
hatten. Es war durch die Programme möglich, Beziehungen zu den
Teilnehmern aufzubauen. Im Zusammenhang mit der grundsätzlichen
demographischen Entwicklung und dem seit Jahren anhaltenden
Rückgang der Bevölkerung mit Mitgliedschaft in einer christlichen
Kirche, könnte den Kooperationen im schulischen Bereich eine zukunftsweisende Bedeutung zukommen. Durch ihren Charakter eignet
sich die Jugendbegleiterausbildung in hohem Maße dazu, Teilnehmern Einblicke in die kirchliche Jugendarbeit zu vermitteln. Vor allem
die Praktika dienen dazu. Jedoch benötigt es kirchliche Praktikumsplätze, d.h. vielfältige Jugendarbeit vor Ort, um diese Verknüpfung
überhaupt erst herstellen zu können.
Die von den Schulen geforderte und benötigte Verlässlichkeit scheint
in dem für Schulkooperationen benötigten Zeitfenster hauptsächlich
durch angestellte kirchliche Mitarbeiter leistbar zu sein. Dadurch
stellt sich jedoch sowohl auf kirchlicher wie auch auf schulischer
Seite die Frage nach der Finanzierbarkeit. Die im Esslinger Projekt
89
Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung
51
praktizierte bezirksweite Ausrichtung bietet Chancen, die koordinierenden Aufgaben hauptamtlich abzudecken und die konkrete Durchführung vor Ort mit Ehrenamtlichen zu unterstützen. Jedoch sind wir
im Bereich der Mitarbeitergewinnung hinter unseren Zielerwartungen
zurück geblieben.
Es stellt sich als herausfordernd heraus, im schulischen Kontext ausdrücklich als Kirche erkannt zu werden. Auch die Durchführung von
Programmen in kirchlichen Räumen bietet dafür noch keine automatische Gewähr. Die Durchführung von Programmen mit explizit
christlichen Inhalten scheint bei Schulleitern auf Skepsis zu stoßen.
Ein offenes Programm, das allen Schülern die Teilnahme ermöglicht,
wird von Rektoren sehr begrüßt, stellt aber die Herausforderung,
trotzdem christliches Profil zu zeigen. Der im Projekt gewählte Weg
scheint diesbezüglich eine gute Balance gefunden zu haben, da er
Schülerinnen und Schüler nicht grundsätzlich abschreckt, interessierten Teilnehmern jedoch auch die Möglichkeit zu weiteren Schritten in anderen kirchlichen Programmen eröffnet.
Anhang: Ausgewählte Situation zur Beschreibung
des christlichen Profils in Schulkooperationen
Da es Rektoren oftmals wichtig ist, dass möglichst alle ihre Schüler
an Kooperationen teilnehmen können und nicht aus Glaubensgründen beispielsweise muslimische Schüler ausgeschlossen werden
(siehe Zitate dazu unter Punkt 2.1.3), so haben wir uns entschieden, dass die Jugendbegleiterausbildung pädagogische Grundlagen
vermitteln soll, die jedoch von unserem christlichen Wertesystem
durchdrungen sind. Die ausgewählte Begebenheit zeigt exemplarisch
die Herausforderung, in sich ereignenden Situationen transzendent
sprachfähig zu sein.
Einen unserer Schulungstage für Jugendbegleiter einer Hauptschule
führten wir in einem Gemeindehaus durch. In diesem Raum hing ein
Bild von Martin Luther an der Wand. Während unseres Kurses fragte
ein Schüler: „Wer ist das auf dem Bild dort an der Wand?“ Ich gab
die Frage an die Gruppe zurück: „Weiß es jemand von euch?“ Und
schon bald war sich die Gruppe sicher, dass es sich um Martin Luther
handelte. Nun fragte ich die Gruppe: „Kann mir jemand von euch sagen, was Martin Luther gemacht hat?“ Es meldete sich Mehmet, ein
14jähriger muslimischer Junge: „Der hat doch die Bibel geschrieben,
oder nicht?“ Ich lobte ihn für sein Wissen und fragte in der Gruppe
weiter nach, ob jemand diese Antwort noch präzisieren könne. Es
antwortete Bernd: „Wir hatten doch da mal so was im Konfi-Unterricht. Wie war das nochmals? Der hat glaube ich die Bibel übersetzt.“
Daraufhin konnte ich in ein paar wenigen einfachen Sätzen über die
Entdeckungen Luthers zur Rechtfertigung erzählen, und was dies für
mich als Christ bedeutet.
Bei einer anderen Gelegenheit saßen wir in einer Pause vor dem
CVJM und ein Teilnehmer betrachtete das Mosaik auf dem Boden
52 Esslingen
und fragte: „Was heißt denn CVJM?“ Ich antwortete: „Christlicher
Verein Junger Menschen“. Seine prompte Rückfrage lautete: „Und
wird da auch gebetet?“ Daraufhin konnte ich in einem kurzen Statement sagen, wie es im CVJM mit dem Beten gehalten wird und was
ich so wertvoll am Beten finde.
Literaturverzeichnis
Hentig, H. von (2004): Einführung in den Bildungsplan 2004, in:
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg:
Bildungsplan. Realschule. Verfügbar unter: http://www.bildung-
staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsplaene/Realschule/Realschule_Bildungsplan_Gesamt.pdf (06.01.2013).
Rauschenbach, T. u.a. (2010): Lage und Zukunft der Kinder- und
Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Eine Expertise, Dortmund
u.a.
Weitere Quellen aus Tonbandaufnahmen:
2011_07_21 Gruppendiskussion
2011_07_22 Gruppendiskussion
2011_10_25 Gruppeninterview
2011_11_10 Ausschnitt aus Rohschnitt Radiointerview
2011_12_21 Jugendbefragung
2011_12_22 Jugendbefragung
Darüber hinaus:
Feldnotizen des Projektstelleninhabers Michael Proß
Gesammelte Sozialdaten als Excel-Datei
53
Diakonisch-missionarisches Handeln
im Gemeinwesen
Sozialraum- und gemeindebezogene Vernetzung von
Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugend-
arbeit mit kirchlichen und kommunalen Hilfesystemen
Bericht 4: Bernhausen
Schule im Sozialraum: Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit
Oliver Pum
Projektort:
Filderstadt-Bonlanden
Projektträger:
Evangelischer Kirchenbezirk Bernhausen
Projektstelleninhaber:
Diakon Oliver Pum
54 Bernhausen
1. Projektidee und Projektkonzeption
Soziale Benachteiligung macht auch vor Kindern und Jugendlichen
nicht halt. Im Dezember 2009 bezogen nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit in Baden-Württemberg rund 161.000 Kinder
und Jugendliche Transferleistungen nach dem SGB II und lebten
damit an der Armutsgrenze. Das entspricht einem Anteil von 8,3%
der Jugendlichen in diesem Alter oder etwa jedem zwölften Jugendlichen.90 Nach Einschätzung des Kommunalverbandes für Jugend und
Soziales Baden-Württemberg (KVJS) sind „…in Baden-Württemberg
Alleinerziehende, kinderreiche Familien mit drei und mehr Kindern
und ausländische Familien besonders stark von Armut betroffen.“91
Das bedeutet nicht nur, dass die betroffenen Jugendlichen wenig eigenes Geld zur Verfügung haben. Mit Armut gehen auch „erhöhte Risiken und Beeinträchtigungen in den Dimensionen der körperlichen
Entwicklung und Gesundheit, der Teilhabe an Bildung, des Erwerbs
sozialer Kompetenzen jenseits des eigenen engen Milieus, der Optionen vielseitiger kultureller Entwicklung und Freizeitgestaltung sowie
der Chancen auf eine stabile Persönlichkeitsentwicklung mit der Ausbildung eines positiven Selbstwertgefühls einher.“92 Der KVJS sieht
einen Ansatzpunkt, hier Abhilfe zu schaffen, in „Angeboten zur zielgerichteten Förderung und Bildung von Kindern und Jugendlichen aus
sozial belasteten Verhältnissen, die eingebettet in die Arbeitsfelder
der Kinder- und Jugendarbeit Lernfelder und Teilhabe an sozialen und
kulturellen Aktivitäten erschließen…“93.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei den Ganztagsschulen zu. Das Staatsministerium Baden-Württemberg sieht den Ausbau der Ganztagsschulen „als einen vielversprechenden Weg, um den nach wie vor bestehenden Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen
aufzubrechen, indem wichtige Zielgruppen über Ganztagsschulen
besser als bisher erreicht werden können.“94 Erklärtes Ziel ist es, dass
bis zum Jahr 2015 40% aller Schulen in Baden-Württemberg zu Ganztagsschulen ausgebaut werden.
Dies war auch der Ansatzpunkt für den Evangelischen Kirchenbezirk
Bernhausen, der im Stadtteil Filderstadt-Bonlanden exemplarisch erproben wollte, „wie eine Kirche der Zukunft für benachteiligte Jugendliche im Gemeinwesen sozialraumbezogen tragfähige Netzwerke aufbauen kann, die die Jugendlichen und ihre Familien dabei unterstützen, den Herausforderungen des Lebens zu begegnen.“95
Seit dem Jahr 2006 ist der Evangelische Kirchenbezirk Träger der
Schulsozialarbeit an der Werkrealschule im Bildungszentrum Seefälle
(WRS Seefälle) im Stadtteil Filderstadt-Bonlanden sowie seit 2008
an drei weiteren Schulen in Filderstadt. Daneben gibt es langjährige
Erfahrungen in sozialraumorientierter Jugendsozialarbeit: seit 1998
betreibt der Ev. Kirchenbezirk aufsuchende Jugendarbeit/Streetwork
im Auftrag der Stadt Filderstadt.
90
92
93
94
95
91
Zahlen nach: KVJS 2010, S. 131
KVJS 2010, S. 130-132
KVJS 2010, S. 131
KVJS 2010, S. 132
KVJS 2010, S. 126
Aus dem Grundsatzbeschluss des Kirchenbezirksausschusses (KBA) des Evangelischen
Kirchenbezirks Bernhausen vom 19.02.2008.
Konkreter Auslöser für das Projekt waren Erfahrungen aus der Einzelfallhilfe an der WRS Seefälle. Es fiel auf, dass vielen Schülerinnen
und Schülern – insbesondere in benachteiligten und prekären Lebenslagen96 – Hilfsangebote im Sozialraum – wie z.B. die Psychologische Beratungsstelle der Diakonie – unbekannt waren. Auch fehlte
ihnen der Zugang zu Freizeitangeboten der kirchlichen Jugendarbeit,
in denen der KVJS ein wichtiges Lernfeld und eine Form der Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten sieht. Daraus entstand die
Idee, beziehungsorientiert über die Person eines Diakons/einer Diakonin Brücken zwischen Schule, aufsuchender Jugendarbeit/Streetwork, Hilfsangeboten im Sozialraum sowie Angeboten der Ev. Kirchengemeinde Bonlanden und des CVJM Bonlanden e.V. zu bauen.
Die Projektstelle umfasste 50% Schulsozialarbeit an der WRS Seefälle sowie 50% Projektarbeit mit dem Schwerpunkt „Aufbau von
Netzwerken zu Hilfesystemen im Sozialraum sowie Vernetzung
mit Angeboten der Kirchengemeinde und des CVJM“. In das Projekt mit eingeflossen sind die Ressourcen einer zweiten Stelle, die
50% Schulsozialarbeit an der WRS Seefälle, 20% aufsuchende Jugendarbeit/Streetwork sowie 30% Gemeindejugendarbeit umfasste.
Anstellungsträger für beide Stellen war der Evangelische Kirchenbezirk Bernhausen. Die Dienstaufsicht war teilweise an den Leitenden
Diakon delegiert, die Fachaufsicht an den Vorsitzenden des CVJM
Bonlanden e.V..
Die Arbeit wurde von einem örtlichen Begleitgremium begleitet. In
diesem waren der Evangelische Kirchenbezirk Bernhausen, die Stadt
Filderstadt, die WRS Seefälle, der Verein zur Förderung der Ev. Jugendarbeit, die Ev. Kirchengemeinde Bonlanden sowie der CVJM
Bonlanden e.V. als Projektpartner vertreten.
Ausgehend von der Aufgabe, beziehungsorientiert Netzwerke zwischen Schulsozialarbeit, Streetwork- und Gemeindejugendarbeit sowie kommunalen und kirchlichen Hilfesystemen im Sozialraum für
sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Familien zu bauen, stand
zu Beginn des Projekts das Kennenlernen der verschiedenen Einrichtungen im Sozialraum sowie der Jugendlichen im Vordergrund.
Danach ging es darum, bestehende Hürden abzubauen. Ein Meilenstein waren hierbei Verbesserungen beim Mensaessen (Salate für
1,50 €; Möglichkeit, mitgebrachtes Essen in einer Mikrowelle aufzuwärmen; bezuschusstes Essen für 1,- € für sozial Benachteiligte,
später teilweise abgelöst durch die Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepaketes). Auch die persönlichen Kontakte zu verschiedenen
Hilfsangeboten im Sozialraum (Psychologische Beratungsstelle, Flexible Erziehungshilfestelle etc.) erwiesen sich im Projektverlauf als
wertvoll.
Die Begleitung der Schülermentoren ermöglichte den Jugendlichen
echte Beteiligung, das Ballspielangebot eines Mitarbeiters aus dem
CVJM an der Ganztagesschule sowie das neu eingeführte Jugendkonzept „FiSch!“ des CVJM machten eine niederschwellige Begegnung zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus möglich.
96
Zur Begriffsbestimmung vgl. Bundesministerium 2005, S.186.
Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit
2. Vertiefte Evaluation
Ausgehend vom normativen Ziel:
„Es gibt für sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Familien im Stadtteil Filderstadt-Bonlanden tragfähige Netzwerke
zwischen Schule, Streetwork, kirchlicher Jugendarbeit, Kirchengemeinde, Diakonischen Einrichtungen im Kirchenbezirk
sowie kommunalen Hilfesystemen“
haben wir für die Evaluation die beiden strategischen Ziele ausgewählt, die die meisten Erkenntnisse im Rahmen der Evaluation versprachen:
Zugangsbarrieren zu den Hilfesystemen sind für Jugendliche in benachteiligten und prekären Lebenslagen und
ihre Familien abgebaut.
Die Kirchengemeinde hat ein Bewusstsein für Jugendliche
in benachteiligten und prekären Lebenslagen und ihre
Familien.
Durch die Auswahl dieser beiden Ziele werden auch die vom KVJS
vorgeschlagenen Maßnahmen „Zielgerichtete Förderung“97 und „Einbettung in die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendarbeit als Lernfelder“98 abgebildet. Für die Evaluation war insbesondere der Begriff
„sozial benachteiligte Jugendliche“ näher zu bestimmen.
Der Zwölfte Kinder und Jugendbericht des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend benennt als Faktoren für
soziale Benachteiligung und Armut von Jugendlichen insbesondere
finanzielle Armut, ökonomische Benachteiligung, alleinerziehendes
Elternteil, Migration aus süd- bzw. osteuropäischen Staaten sowie
Nicht-EU-Ländern, niederes schulisches Bildungsniveau der Eltern
sowie geringer Zugang zu außerschulischem Bildungserwerb.99
Für die Evaluation des Projekts wurden zwei Gruppendiskussionen – einmal mit Mitarbeitenden aus Kirchengemeinde und CVJM,
einmal mit Eltern von Schülerinnen und Schülern der Werkrealschule – sowie die Feldnotizen des Projektstelleninhabers herangezogen100.
Der Fokus lag dabei auf den unterschiedlichen Perspektiven der Menschen in Kirchengemeinde, CVJM und Schule.
97
KVJS 2010, S. 132
KVJS 2010, S. 132
99
Vgl. Bundesministerium 2005, S. 186 und 189.
100
Die Gruppendiskussion mit den Mitarbeitenden wurde vom Projektstelleninhaber selbst
durchgeführt. Die Gruppendiskussion mit den Eltern wurde von einer Kollegin aus der
Schulsozialarbeit durchgeführt, der die Beteiligten vorher nicht bekannt waren.
98
55
2.1 Zugangsbarrieren zu den Hilfesystemen sind
für Jugendliche in benachteiligten und prekären
Lebenslagen und ihre Familien abgebaut
Dass es für sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Familien Zugangsbarrieren zu Leistungen gibt, die ihnen grundlegend zustehen,
wurde unter anderem in der Gruppendiskussion mit den Werkrealschuleltern deutlich. Eine Mutter und ein Vater schildern dies in einer
Gesprächspassage, in der es um Leistungen aus dem Bildungs- und
Teilhabepaket geht, sehr plastisch101:
Frau M.:„Die Idee ist ja vielleicht ganz gut. Aber es ist viel zu
kompliziert.“
Herr T.: „Ja. Kompliziert. Wenn [der Schulsozialarbeiter/Diakon]
net geholfen hätt, ich hätt aufgegeben. Ich mein. Ich
blick da einfach net durch. Mit dene Formulare. Hier ein
Kreuzle. Dort keins. Oder erst später. Des ist doch ein
Käse.“
Frau M.:„Des mit den Formularen geht schon, finde ich. Aber
es ist halt alles zu umständlich. Für alles gibt es eigene
Gutscheine. Ausflüge muss man gleich am Schuljahresanfang beantragen. Klassenfahrten nicht. Mal muss man
den Gutschein im Sekretariat abgeben. Mal beim Lehrer. Dann wieder bei der Stadt. Wie soll ich da arbeiten
gehen? Zum Schluss beantragt man dann halt einfach
gar nix. Das ist am einfachsten. Und die Wohngeldstelle
muss nix bezahlen.“
Herr T.: „So geht`s mir au. Man lässt`s halt irgendwann. Und
schaut, wie man halt so klar kommt. Oder auch net.“
Herr T. hat seine Erfahrungen mit dem Jobcenter gemacht, Frau M.
die ihren mit der Wohngeldstelle in ihrem Wohnort. Es scheint also
kein singuläres Problem zu sein. Zwei Dinge werden daran deutlich:
zum einen sind für alle Betroffenen die Wege zu lang. Selbst für Kleinigkeiten („ein paar Stifte“) muss man mehrere Stellen anlaufen. Dazu
kommt, dass die Einrichtungen oft nur zu bestimmten Zeiten geöffnet
haben und die Betroffenen teilweise auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, für die wiederum Kosten entstehen. Zum anderen sind
zumindest für manche Klienten die Formulare unklar („ich blick da
nicht durch“) und die Abläufe erscheinen nicht immer logisch („Ausflüge muss man gleich am Schuljahresanfang beantragen, Klassenfahrten nicht“). Die Konsequenz aus diesen Hindernissen wird klar
benannt: Resignation („ich hätte aufgegeben“, „zum Schluss beantragt man einfach gar nichts“ oder „man lässt es halt irgendwann“).
Im Rahmen des Projektes wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um Zugangsbarrieren für sozial benachteiligte Jugendliche und
ihre Familien abzubauen. In einem ersten Schritt wurde eine Übersicht über die im Sozialraum vorhandenen Hilfsangebote erstellt.
Diese wurde auch den anderen Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern zugänglich gemacht. Danach wurden über Besuche
in den Einrichtungen persönliche Kontakte zu den dort beschäftigten
Menschen hergestellt. Dies war sehr zeitaufwändig, hat sich aber ge101
Zitate aus Gruppendiskussion 1: Eltern von Schülerinnen und Schülern
56 Bernhausen
lohnt. So war es möglich, einen genauen Einblick in die Arbeitsweise
und die Arbeitsaufträge der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort zu
bekommen. In der Einzelfallhilfe konnte so zielgerichteter vermittelt
werden, teilweise konnten den Jugendlichen oder ihren Eltern – z.B.
in Bezug auf die Psychologische Beratungsstelle – Ängste genommen werden, da genau beschrieben werden konnte, was sie dort
erwartet. Auch von den Eltern wird die Vermittlung durch die Schulsozialarbeiter/Diakone in passende Unterstützungsangebote positiv
wahrgenommen. Ebenso hat die konkrete persönliche Beratung
durch den Schulsozialarbeiter/Diakon für viele Eltern einen hohen
Stellenwert. Wichtig scheint hier – wie bei den Jugendlichen auch
– die Tatsache zu sein, dass man einen niederschwelligen Zugang
zur Beratung hat.
Seit dem Schuljahr 2010/2011 hat der Projektstelleninhaber im Rahmen des Projekts die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabegesetzes
an der WRS Seefälle übernommen. Wie oben schon beschrieben,
sind hier die Zugangsbarrieren für die Betroffenen deutlich zu spüren. Neben der konkreten Unterstützung bei der Antragsstellung ist
es bei manchen Klienten auch nötig, dafür zu sorgen, dass sie sich
um ihre Angelegenheiten auch selbst kümmern. Die Unterstützung
schließt gegebenenfalls auch zeitlich befristete finanzielle Unterstützungen ein, die über einen Spendentopf realisiert werden können.
Positiv wird erlebt, dass unbürokratisch geholfen wird. Der Spendentopf wird – neben Geldern die über den Förderverein der Schule
eingeworben werden und Spenden von Firmen – unter anderem aus
Spenden von Gemeindegliedern zweier Kirchengemeinden gespeist.
Über den Spendentopf reden in der Gruppendiskussion auch Frau
M., Frau W., Herr B. und Herr T.. Die Ausgangsfrage war, ob es für
sie eine Bedeutung hat, dass die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter als Diakoninnen und Diakone bei der Kirche angestellt
sind102:
Frau M.: „[Der Schulsozialarbeiter] hat mal gesagt, dass das Geld
fürs Mensaessen auch von der Kirche kommt. Also des
wo nicht von der Wohngeldstelle kommt. So für so Fälle
wie uns. Da werden dann in der Kirche halt so Spenden
gesammelt. Und des Geld ist dann fürs Mensaessen.
Oder fürs Schullandheim.“
Herr T.: „Des find ich gut.“
Frau M.:„Ich find das auch toll. Und eine Zeit lang haben wir des
echt gut brauchen können. Für mich hat das also schon
eine Bedeutung.“
Frau W.: „Ja gut. So gesehen schon. Ich find des ja auch gut.
Aber ob des Geld jetzt von der Kirche kommt oder von
der Caritas ist mir eigentlich egal. Ich finds gut, dass es
den [Schulsozialarbeiter] gibt und die Schulsozialarbeit
und die Ganztagesschule. [Die Schulsozialarbeiter] machen ihr Geschäft gut. Und des find ich super. Ich weiß,
wenn`s ein Problem mit dem Flori gibt, dann kann ich
zum [Schulsozialarbeiter] gehen. Und wenn der bei der
Kirche arbeitet, soll’s mir recht sein. Da hab ich überhaupt kein Problem damit.“
102
Zitate aus Gruppendiskussion 1: Eltern von Schülerinnen und Schülern.
Herr B.: „Ich finde gut, dass Kirche macht. In unser Gemeinde
wir auch sammeln Spenden für Menschen wo Not. Gibt
immer die brauche. Wir nicht viel. Aber gibt Mensch wo
noch mehr weniger. Ich gern helfe, wenn kann. Und gut
für Vicky. Gefallen in Gemeinde Freitag. Und Konfirmation. Matthias und Hannah auch mache Konfirmation in
„Stadtteil C.“ wenn alt.“
Frau W. hatte zuvor angedeutet, dass sie keinen Bezug zur Kirche hat
und nichts damit anfangen kann. Alle Beteiligten bewerten es – als
persönlich Betroffene, auch wenn Frau M. inzwischen keine Unterstützung mehr haben möchte – positiv, dass über die Kirchengemeinden Geld für das Mensaessen eingeworben wird und dadurch
unbürokratische Hilfe möglich ist. Herr B., der selbst Leistungsempfänger ist und wenig eigene Ressourcen hat („wir nicht viel“) findet
es wichtig, anderen zu helfen, die noch weniger haben. Ob dies aus
seiner Glaubensüberzeugung kommt – er besucht mit seiner Familie
eine Freie Gemeinde in Stuttgart – oder weil er selbst Unterstützung
erfahren hat, wird nicht deutlich. Bei Frau M. ist dagegen deutlich ihre
Dankbarkeit für die Unterstützung zu spüren, die sie erfahren hat.
Der KVJS hatte die Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten
als einen wesentlichen Faktor für die Verbesserung der Lebensumstände von sozial benachteiligten Jugendlichen benannt. An der
WRS Seefälle geschieht dies im Rahmen des Ganztagesangebots
unter anderem durch Angebote verschiedener Partner. Die regulären
Angebote dieser Partner (Volkshochschule, Kunstschule, Musikschule,…) könnten sich die meisten Jugendlichen – auch mit Bildungsgutschein – nicht leisten. Auch die Schulsozialarbeiter/Diakone sind mit eigenen Angeboten vertreten (Sportangebot, Klettern,
Schülermentoren).
Die Schülerinnen und Schüler haben großen Spaß an den Angeboten
und erzählen das auch ihren Eltern. Neben dem Spaß können sie
sich in Dingen ausprobieren, zu denen sie sonst keine Gelegenheit
hätten.
Sie haben Erfolgserlebnisse („Stolz war sie“, berichtet ein Vater) und
bekommen positives Feedback zuhause („und der Papa auch“, sagt
derselbe Vater). Gemeinschaftserlebnisse (mit den Freunden Fußball
spielen) werden von den Jugendlichen insgesamt höher bewertet als
vermeintlich coole Angebote (Internetcafé).
2.2 Die Kirchengemeinde hat ein Bewusstsein
für Jugendliche in benachteiligten und
prekären Lebenslagen und ihre Familien
Um das Bewusstsein für sozial benachteiligte Jugendliche und ihre
Familien in der Evangelsichen Kirchengemeinde Bonlanden zu wecken, gab es verschiedene Anläufe. Seit Dezember 2009 wurden
regelmäßig Gebetsbriefe an verschiedene Menschen in der Kirchengemeinde verschickt. Es wurden – anonymisiert – verschiedene Jugendliche mit ihrer jeweiligen Problemlage vorgestellt, mit der Bit-
Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit
te, für sie zu beten. Eine direkte Resonanz auf diese Gebetsbriefe
gab es nicht. In der Gruppendiskussion mit den Ehrenamtlichen aus
Kirchengemeinde und CVJM wurde aber deutlich, dass es durchaus
Menschen in der Gemeinde gibt, die für Jugendliche beten. Dies
wurde von den an der Diskussion beteiligten Jugendlichen als sehr
schön und wertvoll empfunden. Ob nur für Jugendliche aus der Gemeinde und für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebetet wird oder
auch für die in den Gebetsbriefen genannten Jugendlichen konnte
nicht ermittelt werden.
In der Diskussion mit den Eltern der Werkrealschülerinnen und -schüler wurde bereits der Spendentopf für das bezuschusste Mensaessen
angesprochen. Dort wurde deutlich, dass das Engagement der Kirche
für sozial benachteiligte Jugendliche sehr positiv bewertet wurde. Um
diesen Spendentopf einzurichten, hat der Projektstelleninhaber im Februar 2011 einen Antrag in einem Kirchengemeinderat einer Kirchengemeinde im Projektumfeld gestellt, mit der Bitte, das Opfer eines
Sonntagsgottesdienstes für diesen Spendentopf zur Verfügung zu
stellen und für regelmäßige Spender für das Mensaessen für sozial benachteiligte Jugendliche zu werben. Die Reaktionen waren folgende103:
KGR: „Brauchen die es wirklich? Wie ist gewährleistet, dass da
keiner dabei ist, der es nicht nötig hat?“
KGR: „Sie könnten doch auch nach Hause zum Mittagessen.
Also meine Mutter hat immer gekocht und das ist ja viel
besser…“
KGR: „Die können doch auch etwas dafür tun. Sie sollen in unsere Gruppen kommen. Sie sollen sonntags nach dem Gottesdienst Mittagessen oder Kuchen verkaufen.“
KGR: „Wir könnten eine Patenschaft übernehmen, aber dann
wollen wir auch den Namen des Kindes.“ (Einwand meinerseits: Würde des Kindes und der Eltern…, Schulleitung
weiß nichts davon…) „Die sollen sich nicht so anstellen.“
KGR: „Habt ihr schon Firmen angefragt? Und die Kirchengemeinde in „Stadtteil D.“? Es kommen ja auch Schüler von da.“
KGR: „Nur wenn die Kirchengemeinde in „Stadtteil D.“ mitmacht,
machen wir auch mit.“
KGR: „Wie viele Kinder sind es? Wenn man den Betrag durch 3
(Förderverein der Schule, Kirchengemeinde „Stadtteil D.“
und Kirchengemeinde „Stadtteil C.“) teilt, dann kommt xy
raus.“
Als Denkstrukturen lassen sich beobachten: Leistungsdenken („die
können doch auch etwas dafür tun“), Marginalisierung („wo ist das
Problem: sie sollen halt zuhause essen; sie sollen sich halt nicht so
anstellen“), Abwälzen („wer könnte sonst noch helfen?“ = „dann
sind wir raus…“), Pragmatismus („wie viele Kinder? – Aufteilen“).
Zu diesem Zeitpunkt kann festgestellt werden: Ziel größtenteils nicht
erreicht. Wenige Tage später ein Lichtblick: eine Kirchengemeinderätin richtet einen Dauerauftrag ein und überweist seither jeden Monat
20,- €. Außerdem motiviert sie andere, dies auch zu tun. Die Entwicklung von Empathie für sozial benachteiligte Jugendliche scheint
eher individuell möglich zu sein. Trotz intensivem Werben ist es nicht
103
Die folgenden Zitate stammen aus der Gruppendiskussion 2:
Mitarbeitende aus Kirchengemeinde und CVJM.
57
gelungen, mit Sachinformationen den Kirchengemeinderat als gesamtes Gremium von der Sinnhaftigkeit des Antrags zu überzeugen.
Bei Einzelpersonen scheint dies einfacher zu sein. Ein „Bewusstsein
der Gemeinde“ besteht aus dem Bewusstsein, den Haltungen und
Erfahrungen vieler Einzelner. Diese gilt es zu gewinnen.
Mit dem FiSch!-Konzept wurde in der Evangelischen. Kirchengemeinde und im CVJM im April 2010 eine neue Form der Jugendarbeit
installiert, die für die Jugendlichen verlässlich, aber unverbindlich
einen niederschwelligen Zugang zu Kirchengemeinde und CVJM ermöglichen sollte. Die Jugendlichen sollten sich beteiligen können.
Eine Trennung zwischen Teilnehmenden und Mitarbeitenden sollte
es nicht geben. Zielgruppe waren einerseits die Konfirmanden, explizit aber auch Jugendliche „von außen“, die sonst nicht den Weg
ins Gemeindehaus finden. Das Konzept scheint anzukommen, wöchentlich 30-60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind für Bonlanden
eine große Zahl. Zumindest für einen Teil der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer ist dabei das selber Kochen (= beteiligt sein) ein wichtiger Punkt, weshalb sie kommen. Da machen sie sogar Dinge, die
ansonsten undenkbar wären („ich koche daheim nie“). Neben dem
Kochen wird auch das gemeinsame Essen als wichtiger Erfolgsfaktor
benannt. Gemeinschaft, Leute treffen, die man sonst nicht sieht werden positiv bewertet. Die Anziehungskraft ist bei einer Teilnehmerin
der Gruppendiskussion so groß, dass sie sogar versucht zu kommen,
wenn sie eigentlich keine Zeit dafür hat.
Wie sieht es aber mit dem niederschwelligen Zugang für Menschen
von außen aus?
Mit FiSch! werden zwar zahlenmäßig viele Jugendliche erreicht,
überwiegend sind es aber dennoch Insider, die in irgendeiner Art und
Weise zu Kirchengemeinde oder CVJM dazugehören. Ein Teilnehmer
mutmaßt, dass es daran liegen könnte, dass es eben doch ein spezielles Angebot der Kirche ist. Er schlägt vor, ein Begrüßungsteam zu
installieren, das Neue begrüßt, schränkt aber gleich wieder ein, dass
das ja auch anstrengend sein kann. Wenn Jugendliche kommen, die
anders sind als die üblichen Besucher, fallen sie auf. An einem Abend
schimpfen mehrere Besucher über „Hauptschüler“: „Die benehmen
sich alle voll daneben, die sind alle gestört!“ Mögliche Gründe für das
von den „Neuen“ gezeigte Verhalten (Unsicherheit, wahrgenommen
werden wollen,…) werden nicht gesehen. Verständnis und Empathie
wuchsen immer dort, wo es echte persönliche Begegnung gab, wo
man sich nicht in der Gruppe verstecken konnte. Zwei Gymnasiastinnen haben den Diakon einmal mit der Klettergruppe der Werkrealschule zum Felsklettern begleitet. Hinterher haben sie gegenüber der
Kollegin geäußert:
L.: „Es war richtig gut. Weil die Schüler merken konnten, dass
Gymnasiasten auch nicht anders sind. Und ich die Hauptschüler kennen lernen konnte“.104
Den größten Schritt auf die Werkrealschüler zu hat T. gemacht, der
ein Mal in der Woche ein Ballspielangebot an der Ganztagesschule
104
Bernhausen_Feldnotizen_Auswahl, S. 2, 02.08.2011
58 Bernhausen
angeboten hat und dadurch regelmäßig in Kontakt mit Jugendlichen
aus einem anderen Milieu gekommen ist105:
T: „Na ja, so würd ich des net sagen. Ist halt was andres. Ich
find beides gut. Ich würd glaub net die Jungschar sein lassen
wegen dem GTS-Angebot (= Ganztagsangebot). Wenn ich
nur eins machen könnt, würd ich glaub trotzdem eher Jungschar machen. Macht halt Spaß und mir ist des au wichtig.
Aber GTS macht au Spaß. Und gibt noch Geld dazu. Eigentlich ist des so optimal. Dass ich beides machen kann. Ich
freu mich auch immer drauf. Meistens. Und viele seh ich au
auf der Straße. Die schreien dann halt von irgendwo: „Hey
Tobi!“ Und dann schwätzen wir halt. Des ist schon cool. Ich
mein, ansonsten hätt ich mit denen ja nix zu tun. Des wären
halt irgendwelche Kinder. Aber wenn man sich kennt und jede
Woche sieht dann ist des schon was anderes. Dann kennt
man sich halt.“
M.: „T.s neue Freunde.“
T.: „Irgendwie schon. Jetzt net so richtig. Weil die sind ja viel
jünger. Aber ich mach da keinen Unterschied mehr zwischen
denen und meinen Jungscharlern. Die gehörn genauso dazu.
Halt anders. Und es ist ja auch cool, nicht immer mit den
gleichen Leuten rumzuhängen.“
Auch hier ist zu sehen, dass persönliche Begegnung den Blick verändert und Brücken baut.
3. Metareflexion
Durch das Projekt „Diakonisch-missionarisches Handeln im Gemeinwesen“ ist es gelungen, sozial benachteiligten Jugendlichen und ihren Familien Zugänge zu Hilfen und Leistungen zu ermöglichen, die
ihnen sonst nur schwer zugänglich gewesen wären. Insbesondere in
Bezug auf Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket sowie
beim vergünstigten Mensaessen konnten spürbare Verbesserungen
erreicht werden.
Auch wenn es sehr aufwändig war, hat es sich gelohnt, persönliche
Kontakte zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen
Hilfsangebote aufzubauen und deren Arbeitsweise kennenzulernen.
Dadurch war es möglich, passgenauer zu vermitteln.
Von den Klienten wurde positiv bewertet, dass der Zugang zu den Angeboten der Schulsozialarbeit niederschwellig war und dass versucht
wurde, unbürokratisch und konstruktiv zu helfen. Auch hier war der
intensive persönliche Kontakt zu den Jugendlichen und Eltern ein
wesentlicher Erfolgsfaktor. Als wichtige Ressource stellte sich hier
die enge Zusammenarbeit mit den Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern heraus, die bei vielen Eltern der WRS Seefälle ein großes Vertrauen genießen.
105
Die folgenden Zitate stammen aus der Gruppendiskussion 2:
Mitarbeitende aus Kirchengemeinde und CVJM
Wichtig für sozial benachteiligte Jugendliche ist die Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten. Die breite Angebotspalette hochwertiger Freizeitangebote an der WRS Seefälle ermöglicht diese Teilhabe.
Auch die Schulsozialarbeit kann sich hier einbringen, insbesondere
mit Angeboten, die Jugendlichen Beteiligung und Erfolgserlebnisse
ermöglichen. Im Rahmen des Projekts war es möglich, die Schülermentorinnen und Schülermentoren intensiv zu begleiten und die
Grundlagen für ein auf die Bedürfnisse von Werkrealschulen zugeschnittenes Konzept der Mentorenausbildung zu erarbeiten.
Kirche wurde von den Schülerinnen und Schülern und insbesondere
von den Eltern dort positiv wahrgenommen, wo sie sozial benachteiligte Jugendliche und ihren Familien konkret unterstützt hat. Dies
steht teilweise im Gegensatz zu den Erwartungen, die bei manchen
Verantwortlichen in der Kirchengemeinde vorhanden sind. Das Bewusstsein hier nachhaltig zu verändern wird sicher noch ein längerer
Prozess sein. In der Evaluation haben sich Hinweise ergeben, dass
dies wohl am ehesten zu erreichen ist, wenn es gelingt, einzelne
Gemeindeglieder zu einem Perspektivwechsel zu bewegen. Dieser
scheint dort zu gelingen, wo sich Menschen auf den Weg machen
und echte Begegnung über Milieugrenzen hinweg suchen.
Das FiSch!-Konzept hat die Jugendarbeit in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonlanden und im CVJM Bonlanden e.V. neu belebt.
Das Angebot wird von Jugendlichen gut angenommen. Der größte
Teil der Besucher ist aber weiterhin dem Bildungsbürgertum zuzurechnen. Indem Diakone „Wanderer zwischen den Welten“ sind und
Jugendliche vom einen Milieu ins andere mitnehmen und umgekehrt,
kann es gelingen, dass immer wieder Begegnung geschieht und sich
so langfristig mehr Verständnis füreinander entwickelt. Dies erfordert
immer wieder Toleranz von allen Beteiligten. Kirchlich sozialisierte
Jugendliche können lernen, Jugendliche zu ertragen, die beim Lobpreis oder der Andacht rein und raus gehen möchten, kirchenferne
Jugendliche können lernen, die Ausdrucksformen junger Christen zu
respektieren und eventuell gemeinsam neue Formen zu entwickeln.
Als kirchlicher Mitarbeiter an der Schule zu sein – oder als Diakon in
der „Welt“ – wurde von niemandem negativ bewertet. Schlimmstenfalls wurde die Tatsache, dass wir als Diakone beim Evangelischen .
Kirchenbezirk angestellt sind, gleichgültig aufgenommen – auch von
Kirchendistanzierten. In der Regel waren die Reaktionen aber positiv.
Es wurde wahrgenommen, dass sich Kirche ins Gemeinwesen einbringt, sich kümmert und Gesellschaft mit gestalten möchte.
Anhang: Ein typischer Tag im Projekt
Um 9 Uhr beginnt die Präsenzzeit im Büro der Schulsozialarbeit, das
zentral im Ganztagsgebäude der Werkrealschule Seefälle liegt. Dieses
Gebäude enthält neben einigen Fachräumen (Lehrküche, Computerraum) auch ein Internetcafé, ein Spielezimmer, einen Gruppenraum
und die Mensa. Die ersten Mails sind schnell beantwortet und auf
dem Anrufbeantworter sind zwei Anrufe. Die Rückrufe müssen war-
Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit
ten, denn es hat geläutet und Jessica, Lavah und Mergime106 sind
gleich zu Beginn der ersten großen Pause um 9.15 Uhr ins Büro gekommen und wollen wissen, wie es mir geht und sie erzählen, dass
die ersten zwei Stunden bei Frau Meyer ziemlich langweilig waren
und Tobi den Florian geärgert hat und deshalb vor die Tür gestellt
wurde. Außerdem hätten sie sich Briefchen geschrieben und Frau
Meyer hätte es nicht gemerkt. Yasin kommt herein und möchte das
vergünstigte Mittagessen buchen. Außerdem bringt er den neuen Bildungsgutschein vorbei, den ihm sein Vater mitgegeben hat.
Nach der Pause steht eine Klassenkonferenz mit den Lehrerinnen und
Lehrern der Klasse 5b an. Johanna kommt seit mehreren Wochen
nur sehr unregelmäßig in den Unterricht. Die Mutter ist verzweifelt.
Sie schafft es einfach nicht, ihre Tochter aus dem Bett zu bringen.
Dies war wohl schon in der Grundschule so und die Mutter dachte,
an der neuen Schule hätte sie es gepackt – aber jetzt fällt Johanna
wieder in alte Muster zurück. Die Familiensituation ist schwierig. Zum
leiblichen Vater gibt es keinen Kontakt. Mit dem neuen Freund der
Mutter hat Johanna ständig Stress. Es wird vereinbart, dass ich ein
Gespräch mit Johanna führe und parallel dazu Kontakt zum Sozialen
Dienst aufnehme.
In der zweiten großen Pause bin ich im Lehrerzimmer und führe kurze Informationsgespräche mit verschiedenen Lehrerinnen und Lehrern über einzelne Schüler.
Danach habe ich mit Timo aus der 7a unseren wöchentlichen Termin:
wir spielen eine Runde Basketball auf dem Sportplatz und unterhalten uns über sein Verhalten im Unterricht. Er ist stolz, denn er fliegt
jetzt deutlich seltener raus als früher. Und gestern wurde er vom Musiklehrer, Herrn Müller, der ihn eigentlich jede Woche rausschmeißt,
weil er stört, sogar gelobt.
Kurz vor 13 Uhr gehe ich zum Mittagessen in die Mensa, um fertig
zu sein, bevor der große Ansturm kommt. Herr Jahn, der Schulleiter,
ist auch beim Essen und wir nutzen die Zeit, um noch einige Dinge zu
besprechen. Dann kommen auch schon die ersten Schüler, die Bälle
für die Mittagspause ausleihen wollen. Die Schülermentoren holen
die Spielekiste ab und die Schülerfirma braucht den Schlüssel für den
Schülerkiosk. Es reicht noch für eine Runde Tischkicker mit Marina,
Ioanna und Serkan, bevor um 13.45 Uhr Vanessa und Martin kommen, die im Auftrag des Sozialen Dienstes eine Soziale Gruppe an der
Schule anbieten. Sie informieren mich über zwei Elterngespräche, die
sie letzte Woche hatten, dann muss ich auch schon los, denn in der
Sporthalle wartet meine Klettergruppe, die ich im Rahmen des Ganztagsangebots anbiete. Bei den ganzen Einzelfällen ist es auch gut, mit
einer regelmäßigen Gruppe arbeiten zu können.
Nachdem um 15.30 Uhr das Material aufgeräumt ist und die Schülerinnen und Schüler nach Hause dürfen, mache ich noch eine kurze Streetworkrunde: es reicht für den Spielplatz am Festplatz, die
Halfpipe und den Vorplatz des REWE-Marktes. Doch heute Mittag
ist nicht viel los, dafür höre ich, dass am Samstagabend wohl eine
106
Die Namen der Schuler und Schulerinnen, Lehrer und Lehrerinnen wurden zur
Anonymisierung verändert.
59
größere Party auf einem Spielplatz geplant ist – dann werde ich wohl
da noch mal losgehen.
Am Abend ist FiSch!, der Jugendabend des CVJM. Glücklicherweise
haben sich genügend Jugendliche und Erwachsene gefunden, die
etwas vorbereitet haben – ich habe daher heute keine Andacht und
auch sonst keinen Programmpunkt, so dass ich viel Zeit für Beziehungsarbeit habe. Lavah und Karina aus der Werkrealschule haben
sich getraut und sind zum ersten Mal vorbeigekommen. Sie freuen
sich, mich zu sehen und wir unterhalten uns ein wenig.
Nach der Andacht und der kurzen Inforunde sind sie plötzlich weg.
Die Angebote (heute gibt es Indiaca im Gemeindehausgarten, Geldbeutel aus Filz und Brettspiele – außerdem trifft sich das Jugendgottesdienstteam zur Vorbereitung) scheinen sie nicht zu interessieren.
Aber beim Abendessen um 21 Uhr sind sie plötzlich wieder da. Und
sie sitzen sogar bei ein Paar Jungs, die Karina aus dem Konfiunterricht kennt. Mal sehen, ob sie nächste Woche wieder da sind…
Literaturverzeichnis
Bundesagentur für Arbeit (2009): Personen in Bedarfsgemeinschaften und Bevölkerung in ausgewählten Altersgruppen.
Baden-Württemberg. Zitiert bei: KVJS 2010.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(Hrsg.) (2005): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über
die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der
Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. München.
Kommunalverband Jugend und Soziales Baden-Württemberg
(KVJS) (Hrsg.) (2010): Kinder- und Jugendhilfe im demografischen
Wandel – Herausforderungen und Perspektiven der Unterstützung
von jungen Menschen und deren Familien in Baden-Württemberg –
Berichterstattung 2010.
Spiegel, Jürgen: Jugendstudie für Filderstadt 2007. Die Studie steht
als Download auf der Homepage der Stadt Filderstadt unter
http://www.filderstadt.de/servlet/PB/show/1237071_l1/
Jugendstudie.pdf zur Verfügung
Weitere Quellen:
Bernhausen_Gruppendiskussion_Eltern vom 24.11.2011.
Bernhausen_Gruppendiskussion_Ehrenamtliche vom 24.02.2012.
Bernhausen_Feldnotizen_Auswahl (Juli bis Oktober 2011)
Pum, Oliver: „Diakonat – neu gedacht, neu gelebt“ Teilprojekt 15:
Ev. Kirchenbezirk Bernhausen/Filderstadt-Bonlanden. Sozialraumanalyse. Filderstadt 2009.
60
61
Diakonische Schulsozialarbeit –
seelsorgerliches und kirchliches Handeln
an der Schule
Bericht 5: Creglingen
Diakonische Schulsozialarbeit
Elsbeth Loest
Projektort:
Creglingen
Anstellungsträger:
Stadt Creglingen
Projektstelleninhaberin:
Diakonin Elsbeth Loest
62 Creglingen
1. Diakonische Schulsozialarbeit
Diakonische Schulsozialarbeit orientiert sich am normativen Ziel:
Kinder und Jugendliche erfahren in ihrer persönlichen und
sozialen Entwicklung, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer in
ihrer erzieherischen Arbeit am Lebensort Schule diakonisch
und kirchlich profilierte Unterstützung und Begleitung.
1.1Rahmenbedingungen
Anstellungsträger des Projektes „Diakonische Schulsozialarbeit“
ist die Stadt Creglingen, wobei die Finanzierung der Stelle von verschiedenen Organisationen getragen wird (Projektgelder des Oberkirchenrats, des Kirchenbezirks, der Kirchengemeinden des Bezirks,
des Landkreises, der Kommune und örtlicher Vereine bzw. landeskirchlicher Gemeinschaft). Als Anstellungsträgerin hat die Stadt die
Dienstaufsicht, wobei die Fachaufsicht bei der Evangelischen Landeskirche liegt.
1.2Projektidee
Im Projekt „Diakonische Schulsozialarbeit“ sollte die bereits bestehende Schulsozialarbeit personell breiter aufgestellt werden; weiter
stand das Anliegen im Mittelpunkt Kirche und Schule zu verzahnen.
Damit verbunden die Idee, im Rahmen der Ganztagesbetreuung
kirchliche Gruppenarbeit am Lebensort Schule anzubieten.
2. Kernaufgaben der Diakonischen Schulsozialarbeit
In der Stellenausschreibung für das Projekt wurde die Stelle folgendermaßen beschrieben:
„Das Aufgabengebiet umfasst neben der Schulseelsorge und der
kirchlichen Jugendarbeit auch die Einzelfallberatung, die Elternarbeit, die sozialpädagogische Gruppenarbeit, die Zusammenarbeit
mit Jugend- und Arbeitsämtern sowie die Kooperation mit den
Kirchengemeinden, den Beratungsstellen der Diakonie und der
Caritas.“
Diese Stelle wurde als „Ergänzung zur bereits bestehenden Schulsozialarbeit“ geschaffen und arbeitet mit ihr eng in den verschiedenen
Arbeitsfeldern zusammen. Dabei ist die Schulseelsorge das eigene,
spezifische Arbeitsfeld, um dieses wird es in der Evaluation vorrangig
gehen.
2.1 Zur Situation vor Ort
Im September 2008 wurde die Projektstelle besetzt; krankheitsbedingt war die Stelle jedoch über einen längeren Zeitraum verwaist.
Manche Anfänge der Arbeit, z.B. die „Atempause“ (Schülerkreis mit
Lied und geistlichem Impuls), führten die Pfarrer weiter. Im September 2010 wurde die Stelle dann neu besetzt. Bei Dienstantritt waren
die Ziele bereits ausgearbeitet, konnten von der Stelleninhaberin aber
eigenständig gestaltet und gewichtet werden.
Schon in der Einarbeitungsphase zeigte sich, dass die Schulsozialarbeit dringend Ergänzung benötigte, da die Fülle der Aufgaben und Anforderungen das Pensum einer Stelle überschritten. Deshalb war es
nötig, dass die Diakonin zeitnah verschiedene Aufgaben übernahm.
Diese Anforderungen machten es schwierig, Zeit für die eigentliche
Entwicklung des Projektes zu finden. Häufig war es ein Agieren im
vorgegebenen Raum; es galt, Situationen zu erfassen und möglichst
schnell und professionell zu handeln. Diese Situation schlägt sich in
der folgenden Evaluation nieder, da der zeitlich verkürzte Rahmen
Grenzen vorgibt. Für manche Arbeit hätte es einfach noch mehr Zeit
gebraucht, um Dinge zu entwickeln und reifen zu lassen.
Im Schuljahr 2011/2012 erteilte die Diakonin außerdem 4 Stunden
Religionsunterricht, der nicht direkt zum Dienstauftrag gehörte und
anstellungsrechtlich über die Evangelische Landeskirche geregelt
war. Der Unterricht gehörte aber wesensmäßig zur diakonischen
Schulsozialarbeit.
Die zunächst geplante kirchliche Jugendarbeit war einer der Punkte,
die aufgrund der Situation nicht angegangen werden konnte, wobei
die Stelleninhaberin an Konfirmandenfreizeiten unterstützend teilnahm, diese aber nicht wesentlich gestaltete.
Für das Schuljahr 2012/2013 soll der Punkt „Kirchliche Jugendarbeit“ neu angegangen werden, die Planungen dafür laufen schon.
Diakonische Schulsozialarbeit
2.2 Schulseelsorge als Kernaufgabe
der Diakonischen Schulsozialarbeit
Schulseelsorge geschieht in impliziter Weise, das heißt, sie ist im
Agieren der Diakonin vorhanden, egal, um welchen Arbeitsbereich
es sich handelt. Schulseelsorge, die als „sozio-religiöse Unterstützungsarbeit“107 geschieht, den Menschen mit seinem Gewordensein
und aktuellen Problemen ernst nimmt, zum Wegbegleiter wird und
den Raum für religiöse Reflexion öffnet, aber ergebnisoffen handelt.
Sie versteht sich nicht als Case-Management sondern als Präsenzarbeit.108 Deshalb will diakonische Schulsozialarbeit Anlaufstelle für
alle am Lebensort Schule eingebundenen Personen sein und Unterstützung und Begleitung bieten. Sie konkretisiert sich in Gesprächen
in Krisenzeiten, in Ritualen, die das Schulleben begleiten, in der kollegialen Beratung und in Zweiergesprächen, die in Alltagssituationen
stattfinden, aber auch in der Abgeschlossenheit eines speziell dafür
eingerichteten Raumes. Sie kann aber auch im Religionsunterricht
geschehen, in Fragen, die die Schüler während des Unterrichtsgesprächs stellen, oder auch in Tür- und Angelsituationen, die auf eine
Unterrichtsstunde Bezug nehmen. Des Weiteren geschieht Schulseelsorge in ihrer expliziten Form in der Mitgestaltung von Gottesdiensten, der Atempause und Impulsen zum Kirchenjahr an zentralen
Orten der Schule.109
3.Auswertung
Diakonische Schulsozialarbeit orientiert sich an folgenden strategischen Zielen:
1. Es besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Diakonischer
Schulsozialarbeit, SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern.
2. Die diakonische Schulsozialarbeit ist integraler Bestandteil
des Creglinger Schullebens und eingebunden in ein örtliches
und regionales Netzwerk zur Unterstützung von Familien.
3. Am Creglinger Schulzentrum besteht ein umfassendes
schulsozialarbeiterisches Angebot, das von kommunaler und
diakonischer Schulsozialarbeit gemeinsam verantwortet und
von SchülerInnen, Eltern und Lehrerinnen sowie im Rahmen
zivilgesellschaftlichen Engagements mitgestaltet wird.
4. Diakonische Schulsozialarbeit in Creglingen zeichnet sich
dadurch aus, dass situationsorientierte, christliche Impulse
und Angebote christlicher Lebensdeutung integraler Bestandteil ihrer gesamten Arbeit sind und dadurch, dass sie „Kirche
an der Schule“ gestaltet.
Die folgende Auswertung greift 2 dieser Ziele auf.
107
Benedict 2008, S. 136.
Benedict 2008, S. 136.
109
Vgl. hierzu insgesamt Pädagogisch-Theologisches Zentrum der Evangelischen
Landeskirche in Württemberg (Hrsg.) 2010
108
63
3.1 Vertrauensverhältnis (Feldnotizen)
Zunächst steht das oben aufgeführte erste strategische Ziel im Mittelpunkt, dieses gliedert sich in folgende Teilziele auf:
1. Der Diakon/die Diakonin ist verlässlich zu bestimmten Zeiten an festgelegten Orten in offenen Angeboten für Schülerinnen und Schüler ansprechbar, und diese suchen aktiv den
Kontakt oder lassen sich ansprechen
2. Der Diakon/die Diakonin ist verlässlich zu bestimmten Zeiten im Lehrerzimmer und bei Lehrerkonferenzen anwesend
und ansprechbar, wird von Lehrerinnen und Lehrern in angemessener Art und Weise informiert und einbezogen und erhält
angemessene Unterstützung bei dieser Arbeit.
3. Der Diakon/die Diakonin ist bei Elternabenden, Elternsprechtagen und Schulveranstaltungen nach Bedarf anwesend, ist für Eltern ansprechbar und wird von diesen bei entsprechendem Bedarf kontaktiert oder kann Eltern mit positiver
Resonanz ansprechen.
Erste Priorität bei Dienstantritt hatte – neben dem Kennenlernen der
Arbeit und der Aufgabe, sich einen Überblick zu verschaffen – der
Aufbau eines Vertrauensverhältnisses. Vertrauen ist unabdingbare
Grundlage für gelingende soziale und diakonische Arbeit, das Maß
des Vertrauens kann entscheidend die Annahme der Arbeit beeinflussen. Deshalb soll das Gegenüber in partnerschaftlicher Weise und
in möglichst verständnisvoller und offener Kommunikation wahrgenommen und ernst genommen werden und somit Wertschätzung erfahren. Ein gezieltes „sich dem anderen Zuwenden“ und der Versuch,
sich in die jeweilige Situation einzufühlen, sind in diesem Prozess
genauso wesentlich wie die Präsenz im Alltag und die offensive Kontaktaufnahme. Auch die Verschwiegenheit der Diakonin ist gerade für
das Gegenüber – das oft in schwierigen Lebensumständen lebt – ein
wesentlicher Faktor für gelingendes Vertrauen. Es geht sowohl um
den Aufbau von personalem Vertrauen als auch um Kompetenzvertrauen. Letzteres wird zunächst als Teil des Berufs vorausgesetzt,
muss sich aber im konkreten Alltagsgeschehen bestätigen. Die Diakonin soll deshalb ihrerseits wahrgenommen werden als Mensch,
der ansprechbar ist, der zuhört, der schweigen kann und sich möglichst kompetent der jeweiligen Situation annimmt.
In offenen Angeboten (Pausentreff, Begleitung der Schülermentoren,
Film-AG und eines Projektunterrichts zum Thema Sexualität in Klasse
8 Hauptschule, Teilnahme an Konfirmandenfreizeiten) wurde Kontakt
aufgenommen, die Schüler konnten die Diakonin kennenlernen, Alltagssituationen erleben (mit Schülern im Catchraum, Streitigkeiten,
Spiele während des Pausentreffs) und auch Fragen stellen. Auch die
alltäglichen Tür- und Angelbegegnungen (Wie geht es Dir heute?
Schreibt ihr heute eine Arbeit? Wie war das Wochenende? etc.) sind
wesentliche Elemente dieses Prozesses. Teil dieses Geschehens bil-
64 Creglingen
dete ein recht regelmäßiger Besuch von zwei Jugendlichen im Büro
der Diakonin. Sie kamen oft nur um hereinzuschauen, ein wenig zu
erzählen, sich selbst bei der Diakonin ins Gedächtnis zu rufen.
Die seelsorgerliche Arbeit der Diakonin wird im Folgenden anhand
von zwei Fällen exemplarisch verdeutlicht:
durchschaubar werden zu lassen, ihre Gründe offenzulegen und
somit den Jugendlichen auch in dieser Handlung bewusst einzubeziehen und das Vertrauen in ihn selbst zu bestärken, so dass er
es schaffen kann, diese negative Rolle zu überwinden.
Fallbeispiel 2: Gespräche in einer Lebenskrise
Fallbeispiel 1: Schülermobbing
Eine Person des Lehrkörpers, die durch eine Lebenskrise geht,
bittet um ein persönliches Gespräch. Die bisherige Beziehung war
von kurzen Begegnungen im Lehrerzimmer geprägt. Im Büro sitzend wird zunächst mehrmals betont: „Du darfst es aber niemand
sagen…“ Bald wird deutlich, dass hier therapeutische Beratung
nötig ist, und so wird mit Einverständnis der Person der Kontakt mit einer Beratungsstelle aufgenommen. Die Beratung dort
läuft, die betroffene Person bittet in einer weiteren Begegnung
ausdrücklich darum, dass sie weiter zu Gesprächen kommen
möchte, da die Person den „Eindruck hat, dass das mehr bringt.
Hier fühle ich mich wohler.“ (Feldnotizen) Diese Bitte wird gerne aufgenommen, verbunden mit dem klaren Hinweis, dass die
Diakonin keine Therapeutin ist. Es werden regelmäßig Termine
wahrgenommen, in denen gezielt die Probleme angesprochen
und reflektiert werden. Die Person bestimmt selbst, welche Problembereiche sie ansprechen möchte.
Am Ende des ersten Dienstjahres kam einer dieser Jugendlichen
alleine, um auf ein Problem aufmerksam zu machen: „Frau Loest
Sie sind ja ganz nett, aber ich finde nicht gut, dass Sie nichts
dagegen getan haben, dass Simone (Name geändert) gemobbt
wurde.“ (0riginalton aus Feldnotizen)
Nach den Sommerferien wurden Gespräche zur Intervention des
Mobbings geführt, und dabei wurde deutlich, dass genau jener
Schüler, der mir vor den Ferien die Ansage des Problems gemacht
hatte, der Initiator des Mobbings war. Zunächst zeigte er sich gesprächsbereit, und die Situation beruhigte sich. Er kam öfters ins
Büro, um von sich und seiner Lebenssituation zu erzählen, fragte
um Rat in einer Situation, wie er eine Beziehung gestalten könne.
Im Verlauf der Begleitung gab es mehrere Gespräche, die für ihn
unangenehm waren, da er als Urheber des Mobbings angesprochen wurde. (Feldnotizen)
Die Beziehung zu oben beschriebenem Jugendlichen durchlief
verschiedene Stadien. Da war zunächst der sporadische Besuch
im Büro, mal sehen, wer diese Diakonin ist, wie sie „drauf ist“.
Auch provokative Fragen hatten in diesem Zusammenhang ihren Raum. Eine weitere Stufe wäre dort zu sehen, wo er alleine
kommt und ein Problem zur Sprache bringt, das zunächst betrachtet noch nichts mit ihm selber zu tun hat. Er äußert Kritik
an der Diakonin, die doch für solche Fälle zuständig ist, ohne zu
fragen, ob ihr die Information schon bekannt war. Zunächst ist
dies als Anfangsvertrauen zu interpretieren. Auch die angedeutete
Kritik bedarf des Vertrauens, dass der Andere zuhört, es nicht
gleich von sich weist und die Beziehung damit nicht beendet ist.
Vielleicht steht auch die Frage im Raum, inwieweit es möglich
ist, sich auseinanderzusetzen. Im Verlauf der Monate bringt er
sich selber als Mensch mit seinen Problemen zur Sprache. Auch
sehr persönliche Gefühle und Ängste werden formuliert. Genauso war der Email-Kontakt mit dem Jugendlichen ein Meilenstein.
Da konnte er – auf Distanz hin – deutlich machen, dass er die
Rolle des „Mobbers“ gerne los wäre. Durch die Beziehung, das
Vertrauen zur Diakonin gestärkt, kann er sich mit seiner Lebenssituation auseinandersetzen, was aber noch nicht als Lösung für
seine Schwierigkeiten gedeutet werden kann.
Eine professionelle Herausforderung für die Zukunft ist das
nicht gelöste Problem des Mobbings. Der Jugendliche ist sich
sehr bewusst, dass er mit Konsequenzen von Seiten der Schule zur rechnen hat, als Schulsozialarbeiterin ist die Diakonin Teil
der Schule. Um Vertrauen zu erhalten, ist es wichtig, in diesen
Schwierigkeiten das Handeln und somit auch die Konsequenzen
Nach einiger Zeit kam die Person und sagte: „Du ich muss dir
unbedingt etwas erzählen…“ (Feldnotizen) Sie nahm dann Bezug
auf das letzte Gespräch, in dem wir eine für sie große Herausforderung durchgegangen waren, und sie daran gearbeitet hatte und
eine Ermutigung in dieser Hinsicht erlebt hatte. Hier ist zunächst
die Ebene des personalen Vertrauens im Mittelpunkt. „Hier fühle
ich mich wohler...“ – „Ich muss erzählen...“ Von der Begegnung im
Schulhaus vertieft sich im persönlichen Gespräch das Vertrauen,
und es können ganz persönliche Dinge angesprochen werden. Es
braucht nicht mehr die Vergewisserung der Geheimhaltung. Auch
das Kommen und Reden ohne Terminabsprache ist ein Indikator
dafür, dass das Vertrauen eine tiefere Schicht erreicht hat. Innere,
sehr persönliche Prozesse können offen angesprochen werden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Vertrauen ein Kennenlernen in Alltagssituationen braucht, welches als Anfangsvertrauen
bezeichnet werden kann. Ob dieses Vertrauen wächst, hängt von den
oben ausgeführten Faktoren ab. In der Einzelfallhilfe, den Elterngesprächen und der Beratung von LehrerInnen braucht es im Alltag
die Weiterarbeit an diesem Vertrauen, um seelsorgerliche Begleitung
zu ermöglichen und gleichzeitig dem Gegenüber über das Problem
hinaus zur Gewissheit zu verhelfen, die eigene Lebenssituation eigenständig meistern zu können. Dieses Meistern kann auch die Gewissheit beinhalten, dass das Leben trotz seiner Widrigkeiten in Gottes
Hand geborgen ist.110 Durch die Präsenz der Diakonin an der Schule
wird ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, das eine seelsorgerliche
Unterstützung und Begleitung in Krisensituationen ermöglicht.
110
vgl. hierzu insgesamt Böhme 2010 und Petermann 1985.
Diakonische Schulsozialarbeit
3.2 Diakonische Schulsozialarbeit –
Gestaltung von Kirche an der Schule
Das aufgeführte strategische Ziel
Diakonische Schulsozialarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass
situationsorientierte, christliche Impulse und Angebote christlicher Lebensdeutung integraler Bestandteil ihrer gesamten
Arbeit sind und dadurch, dass sie Kirche an der Schule gestaltet.
gliedert sich in folgende Teilziele:
Im Rahmen offener Angebote, im Rahmen der sozialpädagogischen Gruppenarbeit und in verschiedenen Veranstaltungen
des Schullebens gestaltet der Diakon/die Diakonin christliche
Impulse.
Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern
nehmen seelsorgerliche Begleitung in Anspruch.
Angebote christlicher Jugendarbeit finden in der Schule statt.
65
und wurde von dort weggeholt. „Wir brauchen Sie dringend….“
Wenige Minuten später saß die Diakonin in der Schulklasse, in
der die meisten der Freunde des Toten waren. Manche weinten
haltlos, andere saßen stumm da. Die Klassenlehrerin war sehr
betroffen, da der Tote vor wenigen Jahren ihr Schüler gewesen
war. Andere Schüler hatten das Klassenzimmer verlassen, da sie
keine Beziehung zu dem Toten gehabt hatten. Behutsames Fragen
und Hören gestaltete die ersten Minuten. Fragen und Impulse wie:
„Wer möchte etwas sagen, erzählen, mitteilen, fragen …. In solchen Momenten fällt es uns sehr schwer, etwas zu sagen. Es ist
so schwer….“ Die Schüler sprachen über das Unfassbare: „Vor
wenigen Tagen waren wir noch gemeinsam beim Jugendlager ….
Er war immer fröhlich …… Er hatte so gute Ideen…. War so ein
toller Kumpel….“ Die SchülerInnen drückten spontan, oft unter
Tränen aus, was sie bewegte, zwischendurch war es auch ganz
still. Nach ca. 45 Minuten waren sie an einem Punkt angekommen, dass sie sich ein wenig beruhigt hatten, das Unfassbare
stand im Raum, sie schauten mich an: „was nun?“ Vorsichtig
versuchte ich die Fragen und Kommentare der SchülerInnen zusammenzufassen und stellte die Frage in den Raum, ob es ihnen
helfen würde, wenn ich ein Gebet spräche. Allgemeines Nicken,
aber auch SchülerInnen, die vernehmlich „Ja“ sagten, ermutigten
mich, dies zu tun, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass man gerne
den Raum verlassen könne, wenn man nicht am Gebet teilnehmen möchte. Stellvertretend für alle sprach ich ein Gebet. Dann
gingen alle in die Pause.
Der Tod eines ehemaligen Schülers, dessen Schwester und einige
Freunde noch an der Schule sind, soll im Folgenden als exemplarisches Beispiel dafür beschrieben und ausgewertet werden.
Am nächsten Tag war Schulanfangsgottesdienst, der kurzfristig
umgestellt worden war. Später ging ich noch einmal in die Klasse,
fragte nach, was sie brauchten, wie wir gemeinsam weitergehen
sollten. Die Frage nach einem Ort des Erinnerns kam zur Sprache,
auch wurde geäußert, dass genügend gesprochen sei. Sie wollten
nicht mehr sprechen. Dann wurde gemeinsam über einen Ort des
Erinnerns gesprochen. Wo sollte er sein und wie gestaltet werden. Die Schüler wollten, dass es in einem Raum sein sollte, nicht
irgendwo im Schulhaus, wo alle vorbei laufen. Es war der Wunsch
nach Diskretion, nach „Privatsphäre“. So entschieden wir uns gemeinsam für den neu eingerichteten Seelsorgeraum, der noch
nicht offiziell benutzt worden war. (Dies war sozusagen die „Einweihung“.) Nur die engsten Freunde wollten daran mitarbeiten.
Die Schwester des Toten war sehr zurückhaltend und wollte nicht
daran teilnehmen, vermutlich ging ihr das im Lebensraum Schule
zu nahe. Die Schüler machten sich an die Arbeit, suchten ein Bild
ihres Freundes, kauften Kerzen und besprachen ihre Ideen; auch
Briefe an die Familie des Toten wurden geschrieben. Meine Beobachtung: Es war die Möglichkeit etwas für den Freund zu tun, so
etwas Letztes, über das er sich vielleicht gefreut hätte. Als alles
„fertig“ war, saßen wir gemeinsam, es war sehr still, wohltuend
still und der Wunsch, noch einmal zu beten, stand im Raum.
Zunächst kommen Feldnotizen zur Sprache:
Über das Mobiltelefon erfuhren die Schüler am 2. Schultag des
Schuljahres vom Tod ihres Freundes. Die Schwester des Verunglückten war an diesem Tag nicht in der Schule. Es herrschte
große Aufregung, die Diakonin war bei einer Einschulungsfeier
Danach war die Sache „abgeschlossen“. Ab und zu gingen Schüler und Lehrer in den Raum, für sich alleine, erst nach ca. vier Wochen fragte ich die Schüler und Schülerinnen, ob sie den Raum
so belassen möchten, oder ob das wieder weggenommen werden
sollte. Sie wollten, dass die Diakonin „aufräumt“. Nach einiger
Das Kirchenjahr ist im Schulleben durch entsprechende Gottesdienste und Veranstaltungen lebendig.
Im folgenden Abschnitt werde ich vor allem auf die Teilziele 1 und 2
eingehen. Sie werden unter dem Begriff Schulseelsorge besprochen,
und es wird der Frage nachgegangen, wie sie sich im Alltag gestalten
lässt. Die für mich wesentlichen Grundlagen zum Thema habe ich in
2.2 aufgeführt.
3.2.1 Umgang mit Trauer an der Schule
Diesem Abschnitt liegen Feldnotizen zu einem Todesfall in der Schule
zugrunde und die Auswertung einer Gruppendiskussion.
Fallbeispiel 3: Tod eines Schülers
66 Creglingen
Zeit bekam die Diakonin von der Klassenlehrerin eine Karte: „..
das Leben geht weiter….. Danke für….“
Einige der SchülerInnen dieser Klasse nahmen an einer Gruppendiskussion zur Auswertung der Arbeit des Schuldiakonats teil. Die Gruppendiskussionen führte Diakonin Ellen Eidt von der Projektgeschäftsstelle, ausgewertet wurden sie gemeinsam mit KollegInnen und von
der Diakonin selbst. Im folgenden Abschnitt einige Auszüge, wie die
SchülerInnen den Trauerprozess nach etwa 2 Monaten bewerteten:
Schüler 1: „Ne, also.. wir haben schon recht viel mit ihr erlebt.
Weil halt Anfang des Jahres halt auch ein Vorfall war.
Wo sie sozusagen einfach helfen musste und da sein
musste für manche. Und Sie widmet sich halt den
Problemen zu, die wo halt Probleme haben, wo einfach nicht zurechtkommen mit anderen Schülern und
so. Denen widmet sie sich halt zu.“
(Zeile 1026 – 1028)
Es folgte in der Diskussion ein kurzer Einschub, in welchem es um
die Person der Diakonin und der Schulsozialarbeiterin ging, dann
kam eine andere Schülerin noch einmal auf den Trauerprozess zu
sprechen:
Schülerin: „ ... und die Frau Loest ist halt … die löst den Fall
also. Es gibt den Spruch „Loest löst den Fall“ und ja
irgendwie so war das (lacht) find ich witzig. Ja. Ich
weiß nicht… die Frau Loest ist einfach speziell, aber
wenn man sie wirklich braucht, dann ist sie wirklich
goldwert… Eigentlich… sozusagen… also jetzt am
Anfang vom Jahr der Raum hier der war einfach perfekt. Fand ich. Und…. Ja… genau.“
(Zeile 1049 – 1055)
Auch in einer Gruppendiskussion mit Lehrern wurde der Umgang
mit Trauer thematisiert, folgender Auszug dazu (Namen wurden geändert):
LehrerIn A:„Ja also ich fand es auch ganz … gut, dass die Frau
Loest, wir hatten ja eigentlich dann einen Gottesdienst
geplant gehabt, das war wenige Tage vor dem… nach
dem Tod dieses Bruders der Schülerin. Aber es war
auch so, dass sehr viele Schüler diesen Jungen sehr
gut kannten also in der Klasse. Das hat jetzt nicht nur
das Mädchen betroffen, sondern eigentlich die ganze
Klasse war da … sehr betroffen. Und da hat die Frau
L. … dann den Gottesdienst umgestaltet. Sie hat nun
ganz kurzfristig einen Gottesdienst, der mit Band und
mit lustig – netten Liedern gedacht war … den nun
umzugestalten in einen Trauergottesdienst … war
nicht ganz leicht. Und es war dann doch auch so …
sagen wir mal ...sachlich und traurig und gut, dass
auch das Mädchen da teilnehmen konnte. Und da
denke ich, ist es schon wichtig dass man so den …
Pfarrer auch unterstützt in so einer Sache. .. Wenn so
kurzfristig die Sachen, schwere Probleme auftreten.
… (Zeilen 163 – 177)
LehrerIn A:„...Und da denke ich ist Schulseelsorge natürlich Gold
wert.“ (Zeile 480)
An anderer Stelle der Diskussion wird das Thema noch einmal angesprochen:
LehrerIn B:„Oder gerade dieser Pausentreff ... auch, wo auch die
Frau L. erzählt, dass sie ins Gespräch kommt eben
mit Schülern auch Einzelgespräche oder mal mit zwei
drei Schülern und einfach Dinge des Alltags besprechen … das ist ja schon Seelsorge. (Zeile 494 – 498)
LehrerIn C:„Ja.“
LehrerIn A „Ja, oder ich muss sagen, ich bin damals … wie gesagt als die Frau M. da von der Brücke gestürzt ist. Da
bin ich ... die wussten das alle schon, ich noch nicht
als ich rein kam ja. Und da ist mir auch … da wusste
ich nichts …
...da ist mit nichts eingefallen…
…Situation, eigentlich noch schlimmer in dem, das
ein Kind war, ja, das da zu Tode gekommen ist. Und
da war es auch so, dass die … dass ich gesagt hab du
ich habe das gerade mitbekommen zur Mathelehrerin,
ich weiß nicht ob die das schon wissen, ja, die Klasse.
… Und dann kam die gleich runter und sagt ich kann
da kein Mathe machen, die sitzen da alle auf dem Boden und heulen, ja. Habe ich gesagt ja ich gehe hoch
aber wie gesagt ich wusste da auch … auch jetzt nicht
so richtig …“
LehrerIn D „Was und wie“
LehrerIn A „Was und wie, ja. ... Zumal ich da natürlich auch ich
hatte wie gesagt den auch vier oder fünf Jahre ja,
auch als Klassenlehrer und alles. Ich war natürlich
auch …betroffen. Und da denke ich, ist es schön …
nicht schön aber wichtig, dass jemand die passenden Wörter findet ein Gebet spricht oder ... ja einfach
Trost kann…man wahrscheinlich nicht spenden in so
einer Situation. Aber auf jeden Fall .. überhaupt was
sagen kann. … Und da war sowohl die X., die Mathelehrerin wie ich doch recht froh, dass dann jemand da
war. Und auch in den nächsten Tagen … dass man da
so eine Begleitung hatte bis zur Beerdigung. Und fand
das also immer auch …sehr tröstlich, wenn dann
noch mal gefragt wurde, wie macht das Mädchen das
und ich konnte dann auch nochmals austauschen und
die Sache ist jetzt so, dass das Mädchen einen Weg
gefunden hat. … Also es gibt immer noch so Situationen, jetzt beim erste Hilfekurs bei der Mund zu
Mund Beatmung also wie es so war bei dem Kind da
geht sie raus aber das sei ihr auch zugestanden ja. ...
Also. Ansonsten denke ich schon, dass das ... also
auch mit Hilfe dieser … dieses gemeinsame darüber
Reden und …Beten oder so, dass das viel geholfen
hat weil ich hätte das nicht gekonnt. Aber ich denk
Diakonische Schulsozialarbeit
natürlich andererseits sind das diese Ausnahmesituationen … und also mir ist zweimal habe ich so jetzt
das ich in die Klasse komme und … also da war es
so, aber das sind ja auch bald 30 Jahren und nicht so
oft, ja.“ (Auszüge aus den Zeilen 502 – 552)
Die Gruppendiskussion mit den Schülerinnen und Schülern wurde
gemeinsam mit anderen Diakonen ausgewertet und ich beziehe mich
wesentlich auf ihre Aussagen.
In beiden Diskussionen kam der Trauerfall zur Sprache, ohne dass
er von Seiten des Interviewers explizit angesprochen worden war.
Der Schüler bezeichnet ihn als „Vorfall“, er wollte – obwohl er zu den
engen Freunden des Verstorbenen gehörte – nicht in den Gesprächen
dabei sein, dankte aber im persönlichen Gespräch für die Frage nach
seinem Ergehen. Er spricht die Arbeit der Diakonin in diesem Zusammenhang im Rahmen des „Helfens“ an. Als Schüler will er nicht zu
denen gehören, die ein Problem haben, auch nicht im Zusammenhang des Trauerfalls, aber er spricht ihn an und macht damit deutlich,
dass sie für dieses Problem zuständig ist. Die Schülerin ihrerseits
geht ein Stück weiter, sie geht über das Helfen hinaus und bewertet „goldwert… wenn man sie braucht ist sie da….“ Diese Situation
wurde für die Schüler zu einer wichtigen und wertvollen (goldwerten)
Erfahrung, dass in dieser schwierigen Lebenssituation einer da war,
der sie ein Stückchen begleitete. Eine Person des Lehrerkörpers gebrauchte den gleichen Ausdruck in der Diskussion der LehrerInnen,
was wiederum ausdrückt, wie wichtig im schulischen Zusammenhang die Trauerarbeit ist. Auch der Raum wurde als „perfekt“ erlebt.
Im Vorfeld hatten die Schüler deutlich gemacht, dass der Raum nicht
„öffentlich“ sein sollte, also nicht im Flur oder Foyer der Schule, sondern etwas abgeschiedener, stiller…. Dieses „perfekt“ bezieht sich
meines Erachtens darauf, und ich denke, dass hier wesentlich zum
Ausdruck kommt, dass sie ihre Trauer in einer gewissen Stille und
einem geschützten Raum leben wollten. Die Schülerin schloss ihre
Ausführungen mit einem finalen Satz, hinterher war es still, Pause.
Es war, als müsste man dem nichts mehr hinzufügen. Sozusagen:
Problem gelöst, wie vorher ironisch angedeutet, aber eben doch in
einer emotionalen Tiefe, die wesentlich für sie war.
In der Diskussion der LehrerInnen kamen ähnliche Aspekte der Trauerbegleitung zur Sprache111:
LehrerIn A drückt die Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit der LehrerInnen aus, mit solchen Situationen umzugehen und gleichzeitig die
Dankbarkeit, dass in diesem Moment jemand da war, der unterstützend (auch für die Pfarrer) arbeitete. Mit Worten wie „sachlich, traurig und gut“ beschreibt die Person, wie sie die Trauerarbeit erlebte.
Auch, dass solche Probleme unerwartet, plötzlich auftreten, wird
thematisiert. Es war für die Schülerinnen und Schüler hilfreich, aber
auch für die LehrerInnen (fügt LehrerIn B an).
111
Die folgenden Zitate stammen aus der Gruppendiskussion mit den Lehrern und
Lehrerinnen.
67
Im zweiten Teil der LehrerInnendiskussion wird noch einmal die Hilflosigkeit thematisiert. „Mir ist nichts eingefallen…“ Diese Sprachlosigkeit und Ohnmacht angesichts Todes, die Frage was man tun
oder sagen kann, kommt sehr deutlich zum Ausdruck. Die erlebte
Begleitung wird für den Lehrer zu einem Stück Alltagshilfe und Alltagsbewältigung. Es sind Ausnahmesituationen, die nicht die Regel
des Schulalltags sind, aber wenn sie eintreten, wird Hilfe gebraucht
und geschätzt.
Gerade in solchen Grenzsituationen des Lebens brauchen Menschen
Begleitung und Unterstützung, aber auch jemanden, der ein Stück
weiter sieht und in dieser Situation die geistliche, seelsorgerliche Dimension zur Sprache bringt. Ich denke, dass dies der Grund für die
Aussage von LehrerIn D ist:
LehrerIn D: „….Gottesdienst so aussagekräftig… Diakonie eine
kirchliche Sache, dass von der Seite aus auch eine gewisse Konsequenz vorhanden sein muss…“
Sie argumentiert meines Erachtens getreu dem Motto: Wo Kirche
drauf steht, muss auch Kirche drin sein.
Auf die Auswertung des Gottesdienstes möchte ich hier bewusst verzichten, da der Pfarrer, der für den Schulgottesdienst verantwortlich
war, diesen ausgearbeitet hat. Im Gottesdienst selber war die Diakonin dann wieder beteiligt.
3.2.2 Ö
ffnen religiöser Räume in der Einzelfallhilfe
(Feldnotizen)
Fallbeispiel 4: Mobbing einer Schülerin
Eine Schülerin, die über längere Zeit hinweg in ihrer Klasse
massivem Mobbing ausgesetzt war, wurde von der Diakonin im
Rahmen der Einzelfallhilfe begleitet. Die folgenden Ausführungen
beziehen sich auf Feldnotizen. Der Klassenlehrer informierte die
Diakonin über die Situation, dass Simone (Name geändert) gemobbt würde und jetzt schon mehrere Tage krank sei und die Vermutung bestehen würde, dass ihr Kranksein Folge des Mobbings
sei. Sie habe wohl auch per Facebook geäußert, dass sie nicht
mehr in die Schule wolle.
Ein Hausbesuch vermittelte Eindrücke über das Leben und Umfeld der Schülerin. Als Gesprächsöffner wurde die Sorge der
Schule über die aktuelle Situation zum Ausdruck gebracht, dass
wir mitbekommen hätten, dass es ihr nicht gut gehe. Im Gespräch
wurde deutlich, dass die Mutter der Schülerin nicht über das Ergehen ihrer Tochter in der Schule Bescheid wusste. Simone lag
in eine Wolldecke gewickelt auf dem Sofa, ihr Gesichtsausdruck
wirkte verschlossen, in sich gekehrt, sie wollte nicht sprechen,
keine Antworten auf vorsichtig gestellte Fragen geben. Wir vereinbarten, dass sie der Mutter erzählen solle und mit ihr besprechen,
was sie (Simone) weitergeben möchte.
68 Creglingen
Am nächsten Tag informierte die Mutter die Diakonin über die
Situation und nannte auch die Täter. Es folgten viele Gespräche
mit Simone, auch eine Intervention in der Schulklasse. Es wurde deutlich, dass die Schülerin eine Langzeitbetreuung und auch
professionelle Hilfe brauchte, welche dann auch gesucht und in
Anspruch genommen wurde. Simone wollte den Kontakt zur Diakonin weiterhin halten, um im Alltag über ihr Ergehen sprechen
zu können. Immer wieder, wenn sie versagt hatte, stellte sie die
Frage: „Sind Sie jetzt böse auf mich?“ Ein Ausdruck starker Verunsicherung, ob Menschen trotz ihrer Fehler zu ihr stehen, wurde hier deutlich. Unter dem Eindruck, dass das Selbstwertgefühl
Simones stark erschüttert ist, sagte die Diakonin während eines
Gesprächs: „Du bist wertvoll.“ Erstauntes Aufblicken als Reaktion
Simones und dann eine freudig überraschte Antwort: „Das hat mir
F. (Freundin des Bruders) auch schon gesagt.“ In der Rückschau
war dies ein Punkt, an dem Simone sich weiter öffnen konnte.
Warum? Wertvoll sein vor Gott kam zur Sprache.
Zu Beginn des Interviews steht für den Elternteil die Frage im Mittelpunkt, wie die Kinder die „schwierige Familiensituation“ verarbeiten
können, bzw. wie man die „Kinder auffangen“ könnte. Person K. bezieht schnell ihre eigene Erlebnisebene mit ein.
Es war wie das Öffnen einer Tür, diese Wertschätzung ihrer Person half mit, dass sie sich öffnen konnte. Hier wurde deutlich,
dass Seelsorge und Beratung oft dann am besten gelingen, wenn
wir es am wenigsten erwarten, denn es kamen Grundfragen des
Selbstwerts und der Annahme zur Sprache, seelsorgerliche Fragen also, die in einem oft langen Prozess der Begleitung bedürfen.
Person K: „Ne eigentlich nicht, mir war’s egal… tat es gut, dass
mir da jemand… gegenübersitzt, der wo neutral ist und zuhört.“
(Zeilen 103 – 106)
Einige Zeit später trafen wir uns zufällig im Umfeld überregionaler
kirchlicher Arbeit wieder. Ihre Schwester hatte sie mitgebracht.
In Folge dieser Begegnungen wurde dann auch thematisiert, was
man in den Ferien machen kann, und Simone konnte sich dazu
entschließen, an einer Jugendfreizeit teilzunehmen. Sie hatte junge Menschen aus einem anderem Umfeld kennengelernt und gefragt: „Was ist hier anders? Warum lacht mich hier keiner aus?“
Eine Frage, die nicht direkt beantwortet wurde, sondern in die
Beobachtung der Jugendlichen gestellt blieb.
Die Begleitung dieser Jugendlichen ist ein Beispiel dafür, wie Seelsorge und Beratung ineinander greifen, die oben genannte sozio-religiöse Unterstützungsarbeit, die sich im Alltag der Schule vollzieht und
über pures Case-Management hinausgeht, die Offenheit von beiden
Seiten, auch über den schulischen Alltag hinaus Begleitung zu ermöglichen, gleichzeitig aber auch in neue Strukturen hinein verhelfen
will und damit wiederum die Möglichkeit schafft, dass Hilfesuchende
wieder „entlassen“ werden können.
3.2.3
Beratung (Elternarbeit)
Im Zusammenhang einer Einzelfallhilfe wurden verschiedene Gespräche mit einem Elternteil der Kinder geführt. Eine schwierige Lebenssituation war der Grund für die Begleitung der Kinder. Anhand
des Einzelinterviews soll ein weiterer Blick auf die Schulseelsorge
getan werden.
Person K: „Ich hab sie als sehr beruhigend empfunden…“
(Zeilen 7 – 11)
Ein weiterer Eckpunkt des Interviews wird von Person K. so formuliert:
Person K: „Wir haben immer wieder mal über mich gesprochen,
wie ich das empfinde, nicht nur rein, wie gehen die Kinder damit
um, sondern wie … komme ich damit klar.“ (Zeile 48 – 51)
Auf die Frage der Interviewerin, ob es eine Rolle spielte, dass die
Beraterin Diakonin ist, antwortete Person K.:
Auf weitere Nachfrage, ob der Person irgendwo das Stichwort
„Schulseelsorge“ schon einmal begegnet sei, oder ob die Arbeit einfach ein Schulsozialarbeiter hätte tun können, antwortete Person K:
Person K: „Ja, ich denke… als Diakonin einen anderen… einen
anderen Blick auf die Dinge hat. Mag schon sein.“
(Zeilen 112 – 114)
Der letzte zu evaluierende Eckpunkt des Interviews zielt letztlich wieder in diese Richtung:
Person K: „Also, in Bezug auf Frau Loest, als wir uns mal in der
Schulsozialarbeit nicht erreicht hatten, da hat sie mir dann gesagt, wenn es mal klemmt oder so, kann ich sie jederzeit anrufen,
auch privat, sie hat immer ein Ohr ….
… wenn ich mal jemanden bräuchte… Oder mal abends… um
einfach mal zu reden. Hilft ja manchmal schon recht viel. Das Angebot ist da und das ist nicht selbstverständlich.“
(Zeilen 230 – 237)
Im weiteren Interview erklärt Person K., dass ihr Gottvertrauen
erschüttert ist, dass das Angebot eines unterstützenden Gebetes
für sie keine Relevanz hat. (Zeile 280 – 284)
Person K. lenkt selber den Blick auf sich, wie sie mit der Situation
klarkommt, dass sie jemand braucht, der zuhört, der neutral ist. Das
erlebt die Person als hilfreich, auch wenn sie sich noch anderweitige Hilfe gesucht hat. Mit dem Begriff der Schulseelsorge kann sie
zunächst gar nichts anfangen, ist ihr nicht geläufig, sie hat die Begleitung nicht bewusst als seelsorgerlich erlebt, formuliert dann aber
den Begriff „einen anderen Blick“. Person K. kann das im weiteren
Interview nicht konkretisieren, aber es schwingt etwas mit, dass hier
die Beratung noch etwas anderes beinhaltet, das sie aber nicht fassen
Diakonische Schulsozialarbeit
kann. Persönlich hat sie augenblicklich keinen Zugang zum christlichen Glauben, kann sich nicht darauf einlassen, erlebt diese von
der Diakonin intendierte Seelsorge in der Beratung als „Begleitung
auf dem Weg“ und „Tut es weiterhin. Es ist gut zu wissen dass es
das – sie gibt.“
Hier formuliert ein Laie was Seelsorge im sozialen Umfeld beinhalten
sollte:
Es braucht die Ruhe, sich der Situation zuzuwenden (beruhigend
empfunden, also auch Zeit!).
Aktives Zuhören, nicht gleich Lösungen bereit haben, das Problem „wegzuberaten“ oder Partei ergreifen.
Der andere Blick, die für den Laien nicht zu fassende, andere Dimension.
Ein Ohr, das auch über die offizielle Beratungszeit hinaus in Notsituationen bereit ist.
Person K. spricht die eingangs erwähnten Punkte der Seelsorge im
sozialen Umfeld aus ihrem Erleben heraus an und schließt das Interview ab mit der Aussage, „dass es gut ist zu wissen, dass es das
(Seelsorge?) … sie gibt.“ (Zeile 327 – 329). Die Person meint also
diese Art der Beratung und den Menschen, dies ist aber nicht notwendigerweise an die Person der Diakonin gebunden, sondern es ist
eben die Seelsorge.
4. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
Diakonische Schulsozialarbeit in der Trägerschaft der Kommune beinhaltet ein Spannungsfeld, da die Interessen von Kirche und Kommune nicht unbedingt deckungsgleich sind und sich je nach Situation
vor Ort auch schwierig gestalten können, da es ein Arbeiten zwischen
zwei Polen sein kann. Hier kann die Frage der „Missionierung“ Diskussionsstoff mit sich bringen.
Diakonische Schulsozialarbeit braucht die Professionalität des Schulsozialarbeiters, wie die Gruppendiskussionen aufzeigten, gleichzeitig
aber auch die Kompetenz der Seelsorge an öffentlichen Orten. Kirche
zu sein an der Schule, die Menschen in ihren Alltagsvollzügen, Problemen und Grenzsituationen des Lebens in ihrem sozialen Umfeld begleitet und mögliche religiöse Räume im Gespräch öffnet. Die Begleitung
ist dabei zentrales Element und sollte nicht von Seiten des Seelsorgers
zeitlich begrenzt werden, sondern sich an den Bedürfnissen des Seelsorgesuchenden orientieren. Andererseits braucht es die Professionalität des Beraters, der die zu Beratenden wieder in die Selbständigkeit
und Eigenverantwortung entlässt. Schulseelsorge steht Menschen zur
Seite, will begleiten, aber nicht in Abhängigkeiten führen.
69
In Verbindung mit Religionsunterricht hat die Diakonische Schulsozialarbeit noch andere Schwerpunkte. Da ist zum einen die Wissensvermittlung, die wesensmäßig zum Unterricht gehört. Gleichzeitig
gibt es vom Unterrichtsstoff ausgehend viele Fragen, die gestellt
werden können, und somit Schulseelsorge noch einmal von einer
anderen Warte aus aktuell wird. Da der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach ist, kann es zu eigenen Problemen aufgrund der
Benotung kommen. Im konkreten Fall war dies nicht der Fall, da
eingangs klar besprochen und die Felder deutlich abgegrenzt wurden. So wurde deutlich, dass keine Einstellungen, sondern Wissen
bewertet wird.
Eingangs wurde explizite und implizite Seelsorge erläutert. Im Alltagsgeschehen kann es bedeuten, dass die expliziten Angebote nicht
immer angenommen werden, die Bedürfnisse danach scheinbar nicht
vorhanden sind, aber jene Fragen, die Menschen bewegen, im Alltag
zwischen Tür und Angel zur Sprache kommen. Dies ist die große
Chance der Schulseelsorge. Es können Dinge thematisiert werden,
ohne dass daraus gleich konkrete Erwartungen und Verpflichtungen
erwachsen. Hier braucht es den langen Atem, Angebote zu machen,
obwohl sie scheinbar nicht gebraucht werden. So hatte es einer langen Anlaufphase für die „Atempause für LehrerInnen“ gebraucht,
und es schien, als würde sie nicht zustande kommen. Doch jetzt gehört sie für einzelne Lehrerinnen und Lehrer zum Schulalltag und hat
somit ihren festen Platz.
Schulseelsorge bedarf auch eines funktionierenden Teams am Lebensort Schule. Eine einzelne Person kann dies nicht umfassend
leisten. In diesem Punkt hat das Projekt aufgrund der Kürze der zu
evaluierenden Zeit noch dringenden Entwicklungsbedarf.
Des Weiteren bedarf es ein hohes Maß an Flexibilität für die oft
schnell wechselnden Anforderungen im Alltag, da dieser im Umfeld
der Schulsozialarbeit nur sehr eingeschränkt planbar ist. Die Frage
der Wahrnehmung von Situationen und Menschen spielt eine zentrale Rolle. Damit einher geht die oben genannte Professionalität, die
jeweiligen Methoden und Kompetenzen den Anforderungen entsprechend einzusetzen. Einfühlungsvermögen und Empathie sind hier
unabdingbar, damit hilfreiche, lösungsorientierte und seelsorgerliche
Begegnungen ermöglicht werden können. Dabei bleiben SchulsozialarbeiterIn und DiakonIn Mensch, abhängig auch von der geistlichen
Kompetenz des inneren Hörens nicht nur auf Menschen, sondern vor
allem auch auf das Vorbild aller Seelsorge, Jesus Christus. Dies bedeutet für den/die Seelsorger/in aber auch, dass es ein Leben aus der
Vergebung braucht, da die Anforderungen des Alltags das menschliche Vermögen sehr oft weit übersteigen.
Somit ist die diakonische Schulsozialarbeit für die Kirche eine Chance, Menschen am Lebensort Schule zu begleiten, aber auch ihre
„Seelsorger und Seelsorgerinnen“ als solche zu unterstützen, damit
gelingende Arbeit geschehen kann, und für die Schulgemeinschaft
das Evangelium „erlebbar“ wird.
70 Creglingen
Anhang: Beschreibung einer Alltagssituation
(Feldnotizen)
Eine Lehrerin der Grundschule bittet darum, mit Mädchen ihrer Klasse zu sprechen, da diese in letzter Zeit sehr viel miteinander streiten.
Es wird eine Unterrichtsstunde vereinbart, in welcher die Mädchen
zur Klärung der Situation aus dem Unterricht geholt werden können.
Zu Beginn des Gesprächs wird vereinbart, dass die Mädchen sich
gegenseitig zuhören, jede darf zunächst ihre Sicht der Situation beschreiben, und sie dürfen sich nicht gegenseitig beschimpfen. Beide
Mädchen stimmen den Gesprächsregeln zu.
Mädchen 1 fängt an: „Eigentlich wissen wir gar nicht mehr, warum
wir uns streiten! Früher vertrugen wir uns.“ Sie reklamiert, dass sich
der Bruder der Kontrahentin in den Streit eingemischt hätte. Er habe
ihr mal den Geldbeutel weggenommen. (Das klang so nach Stehlen,
Beobachtung der Diakonin.) Mädchen 2 sagt später, dass ihr Bruder
so etwas nie machen würde. Mädchen 2: „Du redest schlecht über
mich. Du „bespitzelt mich.“ Die anderen Mädchen erzählen ihr, was
sie Schlechtes über Mädchen 2 erzählt habe.
Die Mädchen erzählen ruhig, unterbrechen sich nicht und hören sich
gegenseitig aufmerksam zu. Auf meine Frage, wie sie miteinander
umgehen könnten, kommt das Wort „Entschuldigung“, außerdem
erarbeiten sie, dass sie aufhören wollen, schlecht über die andere
zu reden, und dass sie auch nicht mehr ihr Ohr für das schlechte
Reden der anderen Mädchen leihen möchten. Die Diakonin regt ein
Gespräch mit den anderen am Konflikt beteiligten Mädchen an. Eines
der Mädchen hat wohl durch die Streitigkeiten bedingt keine Freundinnen mehr in der Klasse und weint wohl auch zuhause. Mädchen 1
bittet, dass der Bruder ihrer Mitschülerin sich nicht mehr in den Streit
einmischt. Wir verbleiben so, dass Mädchen 1 dies mit den Eltern bespricht und ihrem Bruder den Wunsch der Mitschülerin mitteilt. Die
Mädchen reichen sich die Hand und entschuldigen sich gegenseitig.
Im Anschluss an das Gespräch gibt die Diakonin die Information des
Gesprächs an die Klassenlehrerin weiter, damit diese mit allen Beteiligten ein weiteres Klärungsgespräch führen kann.
Einige Wochen später frage ich nach:
„Wie geht es Euch?“
„Gut, wir vertragen uns wieder.“
Literaturverzeichnis:
Benedict, H.-J. (2008): Klagen, Hoffen, Zagen, Danken. Die religiöse
Dimension in der professionellen Begegnungsarbeit des Diakons,
in: Merz, R. (Hg.): Dienst und Profession. Diakoninnen und Diakone
zwischen Anspruch und Wirklichkeit (VDWI 34), Heidelberg,
S. 134-139.
Böhme, A. (2010): Beziehungsgestaltung in der Sozialen Arbeit.
Verfügbar unter: http://www.ash-berlin.eu/fileadmin/user_upload/
pdfs/Studienangebot/Master/Klinische_Sozialarbeit/Klinsa/
Vortrag_Annegret_Boehme_–_Beziehungsgestaltung_in_der_
Sozialen_Arbeit.pdf (22.01.2013).
Pädagogisch-Theologisches Zentrum der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (2010): Evangelische Schulseelsorge,
2. Aufl., Stuttgart.
Petermann, F. (1985): Psychologie des Vertrauens, Salzburg.
71
Trauerwege gehen
mit Familien
Bericht 6: Reutlingen
Trauerdiakonat
Eva Glonnegger
Projektort:
Reutlingen
Projektträger:
Bruderhausdiakonie Reutlingen
Projektstelleninhaberin:
Diakonin Eva Glonnegger
72 Reutlingen
1. Projektidee und Projektkonzeption
Das Projekt „Trauerwege gehen mit Familien“ der BruderhausDiakonie unterstützt Familien, in denen ein Elternteil oder ein Geschwisterkind stirbt oder verstorben ist. Dieser besondere Bedarf zeigte sich
in der täglichen Arbeit der Seelsorger und der Sozialarbeiter in der
Bruderhausdiakonie und deren Kooperationspartner, die Familien
wahrnehmen, in denen durch den Tod eines Elternteils das ganze Familienleben innerlich und zu einem wichtigen Teil auch äußerlich neu
aufgebaut werden muss. Der Ursprungsimpuls für diese Arbeit war,
dass ein Klinikpfarrer der Kinderkrebsklinik Unterstützer für Familien
suchte für die Zeit nach der Klinikphase. In dieser Zeit sind die Familien wieder völlig auf sich alleine gestellt und haben immer wieder
darum gebeten, weiterhin seelsorgerlich und praktisch unterstützt zu
werden.
Wir sehen in der Begleitung von trauernden Kindern und deren Eltern
eine christliche Kernaufgabe, die die Gemeinde schon in sehr früher
Zeit übernommen hat, wie man in der syrischen Kirchenordnung aus
dem 5. Jahrhundert sehen kann112. Die Urchristen zelebrierten einen
Begräbniskult für ihre verstorbenen Gemeindemitglieder und sorgten
auch für die Witwen/ Witwer und Waisen. Dieser Hilfsdienst wurde
im Laufe der Zeit auf Amtsträger wie beispielsweise Diakone übertragen, weil man die Diakonie nicht dem Zufall überlassen wollte. Die
christliche Begleitung macht deutlich, dass Sterben Teil des Lebens
ist und bleiben soll: Trauerbegleitung ist eine gemeinsam getragene
Last, ein Gemeinschaftsauftrag der Kirche, die für andere da ist.
Wir haben weiterhin festgestellt, dass das Thema Trauer noch immer
tabuisiert wird und auch Fachkollegen und -kolleginnen sich für die
Beratung und Begleitung bei uns Unterstützung holen. So haben wir
begonnen, Kollegen zu beraten und mit Beratungseinrichtungen zu
kooperieren, die ebenfalls Familien in Krisen unterstützen und ihren
Beitrag leisten können bei der komplexen Problemlage, in die trauernde Kinder und Familien kommen können. Mit diesen Einrichtungen (Beratungsstellen, Familienbildungseinrichtungen, Hospizdienst,
Jugendamt usw.) wurde ein Netzwerk aufgebaut, das zum einen
kurze Wege für die Klienten in der Hilfevermittlung ermöglicht und
gleichzeitig zum Thema Trauer inhaltlich Fortbildung für die Fachkollegen anbietet.
Dieses Netzwerk bringt das Thema Trauer auch gemeinsam in die
Öffentlichkeit durch Artikel oder Veranstaltungen und unterstützt so
die öffentliche Diskussion und dadurch den sichereren Umgang mit
Trauersituationen. Der Umgang mit Trauer wird für eine breitere Öffentlichkeit selbstverständlicher, und das trägt wiederum dazu bei,
dass sich Menschen in einer solchen Krise nicht zusätzlich ausgegrenzt fühlen müssen.
2. Vertiefte Evaluation anhand von 2 Teilzielen
2.1 Die Unterstützung von Trauerfamilien
Das zentrale Ziel des Trauerdiakonats ist:
Die Trauernden haben uns in der Begleitung vermittelt, dass sie von
dem Projekt in zweierlei Hinsicht Unterstützung benötigen, nämlich
seelsorgerlich und praktisch. Dies wurde in der Konzeption als zentrales Merkmal der Arbeit verankert. Mit dieser Zielsetzung wurde
eine berufserfahrene Sozialarbeiterin und Diakonin eingesetzt, die die
Familien begleitet bei der Auseinandersetzung mit der Sinnfrage, und
die den trauernden Kindern und Erwachsenen auch ganz praktische
Unterstützung vermittelt.
Besonderen Bedarf haben wir bei Familien wahrgenommen, die von
sich aus keinen Zugang zu Unterstützung finden und damit die Gefahr besteht, dass die Kinder neben dem Verlust des Elternteils auch
z.B. in der Schule und im gesellschaftlichen Miteinander zusätzliche
Probleme bekommen.
Deshalb haben wir ein Projekt entwickelt, das in der oft isolierenden
Situation der Trauer Teilhabe ermöglicht für Menschen, für die Kirche
und ihre Diakonie schon immer ein besonderes Augenmerk haben
wie Witwen/ Witwer und Waisen, die oftmals von staatlichen und
kirchlichen Einrichtungen schwer zu erreichen sind. Vor allem Kinder
können sich nicht eigenständig Hilfe organisieren, wenn sie in einer
solch existentiellen Krise sind und brauchen von daher Hilfe, die sie
findet und die zu ihnen kommt.
112
Die syrische Kirchenordnung ist z.B. zitiert bei: Noller 2013, S. 53.
Die Diakonin bietet in Einzelgesprächen, Gruppen und Freizeiten einen passenden Rahmen an, in dem die Anliegen der
Trauernden angemessen reflektiert werden können.
Um den Bedarf für ein solches Vorhaben genau zu bestimmen, wurde
eine Statistik erstellt mit Daten zur Kinderanzahl, der Herkunft aus
städtischem oder ländlichem Umfeld und der Art der Vermittlung
zum bzw. vom Trauerdiakonat. Darüber hinaus fließen Daten zur Ermittlung des Jugendhilfebedarfes in Baden Württemberg, Feldnotizen und ein Verbatim ein.
Der Bedarf für die Unterstützung von trauernden Kindern war vor Beginn des Projektes zwar zu erahnen, kam aber in dieser Deutlichkeit
überraschend:
Schon nach der Hälfte des Projektzeitraums hatten 70 Familien bzw.
deren „Vermittler“ um Unterstützung gebeten. Aus sehr vielen Einsätzen entwickelte sich über die Begleitung der Familie hinaus die
Zusammenarbeit mit Kindergärten, Schulen, Kirchengemeinden und
anderen Einrichtungen, sodass auch im Bereich Öffentlichkeitsarbeit/
Schulungen bis zum Ende des Jahres 2012 fünfzig Termine stattgefunden hatten. Auch hier wurde deutlich, dass die Doppelqualifikation Diakonin und Sozialpädagogin in diesem Bereich sehr sinnvoll
ist: es war der Mitarbeiterin klar, in welchem Umfeld von sozialen
Trauerdiakonat
Einrichtungen sich eine Trauerfamilie bewegt, wie die Ausbildung der
dortigen MitarbeiterInnen aussieht und wie das Themenfeld Trauer
an sie vermittelt werden kann.
Es wurden also in 4,5 Jahren 155 Kinder bzw. Jugendliche und ihre
verwitweten Eltern erreicht, dazu kamen noch 18 weitere Erwachsene. 25 Familien wurden aus dem kirchlichen Bereich vermittelt, 23
aus der Jugendhilfe und 26 aus Kindergärten und Schulen. 19 Familien fanden die Unterstützung aufgrund eines Zeitungsartikels oder
mit Hilfe des Internets.
Gut ein Fünftel der Kontakte bis 2012 (21 Familien) verliefen in Form
einer länger andauernden Betreuung in Form von seelsorgerlicher Begleitung und Vermittlung alltagspraktischer Unterstützung, also eine
Art alltägliche „Rückenstärkung“. Etwa die Hälfte (46 Familien) hatten
bis dahin 3-6 Treffen, weitere könnten folgen. Wir entnehmen diesen
Zahlen, dass das Angebot einen angemessenen Rahmen schaffen
konnte, in dem Trauernde ihre Anliegen reflektieren konnten.
Schaubild 1: Beratungs- und Unterstützungskontakte, Stand 12/2012
(Laufzeit des Projekts 7/2008 – 6/2013)
Zeitraum
Anzahl
der
Kinder
Anzahl
der
Jugendlichen
Anzahl
der
Erwachsenen
ohne /
mit
Behinderung
Anzahl
der
Familien
7-12/2008
14
1
0/0
7
1-12/2009
29
16
4/7
28
1-12/2010
31
23
6/1
35
Kapazitätsgrenze überschritten,
Neuaufnahmen reduziert
1-12/2011
9
11
0/0
8
1-12/2012
26
5
0/0
15
1-6/2013
Summe
7/200812/2012
Nach Drucklegung des Abschlussberichts
109
56
10 / 8
93
Begleitveranstaltungen
50
Veranstaltungen
(Öffentlichkeitsarbeit/
Schulungen)
Freizeiten
Frauengruppen
Ausflüge
Stadt / Land:
Familien aus der Stadt (innerhalb eines
größeren Betreuungsangebots, aber weniger
Unterstützung durch die Verwandtschaft): Familien aus kleineren oder mittleren Gemeinden:
73
50 Familien
43 Familien
Spätestens Ende 2010 war also die Kapazitätsgrenze überschritten,
da der Stellenumfang für die Diakonin nur 50 Prozent betrug. Es
bestätigte sich deutlich die Notwendigkeit, ein gutes Netzwerk von
Einrichtungen zu pflegen, zu dem immer wieder Familien weiter vermittelt werden können. Allerdings besteht zu der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in anderen Beratungseinrichtungen der wichtige
Unterschied, dass unser Ansatz die „aufsuchende Hilfe“ ist. Unsere
Klienten äußern häufig, dass es zunächst ungewöhnlich ist, wenn die
Diakonin nach Hause kommt und schließlich dort doch für die Trauer
der beste Platz ist. Trauer macht einsam und so reagieren auch Kinder
und derer Eltern zunächst so, dass sie sich höchstens gut bekannten Menschen anvertrauen, die aber wiederum meist selbst betroffen
sind vom Tod des Angehörigen.
Eine Hilfe, die geistlich und strukturell weiter führt, muss die Menschen in ihrem eigenen Lebensumfeld aufsuchen und dort als NichtBetroffene wahrnehmen, wie die Perspektive auf den nächsten Lebensabschnitt eröffnet werden kann.
Diese Beobachtungen aus dem Trauerdiakonat werden gestützt durch
Beobachtungen aus dem Zusammenhang der „Frühen Hilfen“, die
das Institut für soziale Arbeit in Münster erhoben hat:
„Eltern bevorzugen meist das private Umfeld bei auftretenden
Fragen und Problemen. Dies trifft auf bildungsbenachteiligte
Eltern ebenso zu wie auf bildungsgewohnte – allerdings fällt es
benachteiligten Familien meist schwerer, institutionelle Angebote wahrzunehmen, da sie sich, auch im Hinblick auf Bildungserfahrungen, oft als eher defizitär erleben und ihnen häufig die
Angebote der Familienbildung nicht bekannt sind. Aufsuchende
Elternarbeit kann bewirken, dass diese Eltern über die persönliche
Ansprache Vertrauen fassen und sich auf weitergehende Hilfsangebote einlassen können.“113
Es ist dringlich, dass die Hilfe die Menschen erreicht, denn eine Inanspruchnahme stationärer Jugendhilfe ist in derart betroffenen Familien sehr hoch. Im Schaubild auf der nächsten Seite wird deutlich,
dass Kinder aus verwitweten Familien in Baden-Württemberg im Jahr
2003 siebzehn Mal häufiger stationäre Jugendhilfe in Anspruch nehmen mussten als Kinder von verheiratet zusammenlebenden Eltern.
Betreuungsdauer 2008 – 2012:
Ca. 1-2 Kontakte: 26 Familien
46 Familien
Ca. 3-6 Kontakte: Kontakt über längere Zeit: 21 Familien
113
ISA, Institut für soziale Arbeit e.V. Münster (Hrsg.): http://www.isa-muenster.de/
fruehe-kindheit-und-familie/aufsuchende-elternkontakte/index.html (13.12.2012).
74 Reutlingen
Schaubild 2: Inanspruchnahme stationärer Jugendhilfe
12
10
8
6
4
2
0
verh./
zus. lebend
ledig
verh./
getr.
lebend
alleinerz. geschie- verwitwet
insges.
den
Quelle: KVJS, Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden
Württemberg (Hrsg.) (2005): Bericht zur Entwicklung von Jugendhilfebedarf und sozialstrukturellem Wandel, S. 106.
2.1.1
Beschreibung der Begleitung von drei Familien
Im Projekt „Trauerwege“ suchen wir Kinder und Jugendliche auf,
die den Verlust eines Elternteils seelisch und praktisch bewältigen
müssen und begleiten sie in der Weise, dass sie durch die Trauer
nicht ausgegrenzt werden und ihre neue Lebenssituation konstruktiv
gestalten können. Dabei werden die Kinder auch unterstützt, ihrer
Frage nach dem Sinn dieses Trauerereignisses eine Gestalt zu geben
in Form von Ritualen und Bildern. Sie begegnen anderen betroffenen Kindern und deren Eltern und können sich gegenseitig Anregung
und Unterstützung sein, um ihre neue Lebensetappe aufzubauen. Um
dies zu veranschaulichen, stellen wir im Folgenden drei Begleitungsprozesse vor:
Beispiel 1: Begleitung von Familie X.
Diese Familie steht für den Teil der Klienten, die durch Bildung
und materiell relative Sicherheit Zugang zu den Angeboten von
Kirche und Sozialstaat haben.
Zur Begleitung durch das Trauerdiakonat kam es dadurch, dass
die Trauerdiakonin von Pfarrer und Diakon der Gemeinde eingeladen wurde, eine Predigt zu halten und dabei auch das Trauerdiakonat vorzustellen.
Im selben Monat verstarb ein Gemeindemitglied, das zwei Kinder und Ehepartner/-in hinterließ, die im eigenen Haus leben. Der
Gemeindepfarrer begleitete die Familie intensiv durch die Zeit der
Beerdigung und wandte sich anschließend ans Trauerdiakonat,
weil er den Bedarf für weitere Unterstützung wahrgenommen hatte. Er vermittelte also den Kontakt, und die Diakonin besuchte die
Familie zu Hause und schaute auf die Situation der drei Trauernden. Die trauernde Person benötigte eine Gesprächspartnerin, die
nicht familiär oder bekanntschaftlich verwickelt war, und mit der
sie ihre neue Lebensetappe entwerfen konnte, ohne Rücksichten
nehmen zu müssen. Es fanden viele Gespräche und dazwischen
ein reger Email-Austausch statt, durch den die trauernde Person
eine alltägliche Rückenstärkung hatte. Es wurde z.B. in einer am
Abend geschriebenen Email berichtet wie an diesem Tag mit der
Trauer gelebt wurde. Die Person wählte die Verschriftlichung, um
ihre Trauer zu beschreiben und sie dadurch genauer begreifen zu
können. Sie traute sich das, weil sie Resonanz erwarten durfte
von einem Gegenüber, den sie noch nicht sehr genau kannte, dem
sie aber eine Belastbarkeit und Kompetenz zutraute durch den anfänglichen persönlichen Kontakt.
Eines der Kinder setzte seinen Schmerz so um, dass es sich sehr
gegen den trauernden Elternteil auflehnte. Wir vermittelten eine
Kindertrauergruppe, angeboten vom „Haus der Familie“, bei dem
es wahrnehmen konnte, dass der Tod auch andere Kinder „erwischt“ und es nicht alleine damit ist. Das jüngere Kind entwickelte eigene Rituale: es schrieb z.B. Briefe an den verstorbenen
Elternteil und hängte sie aus dem Fenster in der Hoffnung, dass
diese Briefe gelesen werden würden. Im Gespräch mit Kind und
trauerndem Elternteil versuchten wir, diese Art des Umgangs mit
der Trauer einzuschätzen und Zutrauen dazu zu entwickeln, dass
das Kind weiß, was ihm gut tut. Nachdem das Kind einige Male
mit der Diakonin gesprochen hatte, bauten die beiden zusammen
ein „Trauerregal“ im Schlafzimmer des Kindes, auf dem neben
den Erinnerungsstücken an Vater und Mutter auch die Bibel auf
ausdrücklichen Wunsch des Kindes Platz gefunden hat. (vgl. Feldnotiz Trauerregal)
Immer wieder kam bei allen dreien die Frage, warum Gott das
zulässt. Wir hielten diese Frage gemeinsam aus, ohne zu schnelle
Antworten darauf formulieren zu müssen.
Der Gemeindediakon fragte bei der Trauerdiakonin an, wie er nun
speziell im Religionsunterricht mit dem älteren Kind und der Klasse umgehen solle. Die Klassenlehrerin telefonierte häufig mit der
trauernden Person und der Trauerdiakonin. Die ErzieherInnen des
evangelischen Kindergartens waren zum ersten Mal mit dem Thema konfrontiert und nahmen an einem Seminar mit der Trauerdiakonin teil. Familie X. nahm das Angebot an, alle 4 Wochen zu
einer Trauergruppe in der Familienbildungsstätte zu gehen. Die
Familie ging mit dem Trauerdiakonat in eine Familienfreizeit, bei
der alle drei sehr intensiv ihre Themen mit den anderen bearbeiteten und auch Lebensfreude tanken konnten.
Mit einer anderen trauernden Person, die ebenso von der Trauerdiakonin betreut wurde, ergaben sich privat weitere Treffen. Die
trauernde Person berichtete immer wieder, dass sie mit dem
Rückhalt durch die diakonische Begleitung sehr viel mutiger geworden war, ihr neues Leben mit ihren Kindern in die Hand zu
nehmen.
Trauerdiakonat
75
Beispiel 2: Begleitung von Familie Y
Beispiel 3: Begleitung von Familie Z
Diese Familie steht für die Klienten mit Migrationshintergrund, die
von den Angeboten der Kirchen und des Staates oft nicht erreicht
werden.
Familie Z. war der evangelischen Pfarrerin bekannt, nahm aber
kaum an den Angeboten der Gemeinde teil. Durch die Beerdigung
kam der Kontakt wieder zustande, und in dieser Begleitung wurde
klar, dass die Familie ein prekäres Leben führte und sehr grundsätzlich Unterstützung benötigte.
Familie Y. war beim Kinderschutzbund bekannt. Dieser meldete sich bei der Trauerdiakonin, als eines der Elternteile der drei
Kinder verstorben war. Es war deutlich, dass der hinterbliebene
Elternteil versuchen wollte, die schwere Situation mit Hilfe seiner
türkischen Community zu bewältigen und keine „Außenstehenden“ in die Familie hereinzulassen. Die trauernde Person konnte nicht deutsch schreiben und war im Dreischichtbetrieb als
Hilfsarbeiter/-in tätig.
Beim ersten Besuch versuchte die Diakonin, Signale zu geben,
dass sie bereit wäre, sich an die Gewohnheiten der Familie anzupassen: sie zog zum Beispiel die Schuhe vor der Wohnung aus,
nahm gezuckerten Tee und Gebäck an und umarmte die Kinder
zur Verabschiedung. Der muslimische Elternteil der drei Kinder
war vor kurzem verstorben, der hinterbliebene Elternteil war noch
krank geschrieben. Er erzählte sehr schnell, dass er in absehbarer
Zeit wieder zur Arbeit gehen müsse, damit die Stelle nicht verloren gehe, und auch die Krankenkasse hatte einen diesbezüglichen
Brief geschrieben. Die Familie lebte auf Hartz IV–Niveau. Die Kinder hatten große Probleme in der Schule, die Lehrer hatten sich
noch nicht gemeldet.
Im Umfeld der Familie gab es kaum Unterstützer, da die Verwandtschaft in der Türkei lebt bzw. Streit hat. Da es kurz vor dem
(christlichen!) Weihnachten war, konnte die Diakonin über eine
Kirchengemeinde zunächst genau den richtigen Lego-Bagger für
eines der kleinen Kinder der Familie organisieren. Dabei haben sie
auch darüber gesprochen, wie die Familie in diesem Jahr ohne
den verstorbenen Elternteil das christliche Weihnachtsfest (am
24.12.) und das islamische Neujahr (29.12.09) feiern würde.
Die trauernde Person verstand sehr gut, was eine Diakonin macht
und sprach von da an oft sehr vertrauensvoll und ausführlich
mit der Trauerdiakonin über innere Nöte und pädagogische und
materielle Schwierigkeiten. Durch diese „Eintrittskarte“ des Verständnisses für die Trauersituation, die Kinder und die religiöse
Überzeugung durften dann die beiden jüngeren an einer Kindermusikgruppe teilnehmen. Finanziert wurde die Teilnahme durch
den Kinderschutzbund, und die Gruppe fand in der Familienbildungsstätte statt. An der Schule wurde mit den LehrerInnen und
SchulsozialarbeiterInnen ein Seminar veranstaltet, um Grundsätzliches zum Umgang mit der Trauer zu verstehen.
Und schließlich wurden zur Unterstützung der Familie die sozialstaatlichen Hilfeangebote einbezogen: eine Familienpflegerin über
das Jugendamt, die Schulsozialarbeit, eine Kur, eine Ehrenamtliche, um Deutsch zu lernen usw. Familie Y. ging dann mit zu einer
Freizeit mit anderen Trauerfamilien, und dabei ergab sich auch
immer wieder ein sehr interessanter interkultureller Austausch.
Ein Elternteil der Familie Z. war seit vielen Jahren krebskrank gewesen. Das jüngste Kind kam zu Beginn der Krankheit zur Welt.
Ab diesem Zeitpunkt musste das andere Elternteil im 7-TageSchichtdienst arbeiten, um die Familie gerade so über die Runden zu bringen. Als das kranke Elternteil verstorben war, gab es
keinen Plan mehr in der Familie, und die hinterbliebene Person
wurde im Gespräch mit der Gemeindepfarrerin auf das Angebot
der Trauerbegleitung aufmerksam gemacht.
Zunächst gab es einige Gespräche mit den Kindern und der hinterbliebenen Person, in denen eine völlige Orientierungslosigkeit
zutage kam, was sich auch in der Wohnung deutlich widerspiegelte. Eine vorrangige Aufgabe war, überhaupt den Gedanken zu
nähren, dass es irgendwann wieder besser werden würde, und
dass die Familie mit der Diakonin in kleinen Schritten in diese
Richtung gehen würde. Das bedeutete, Kontakt zu den Lehrern
und der Schulsozialarbeit aufzunehmen, um dort für eine kostengünstige Ganztagsbetreuung zu sorgen. Außerdem war es notwendig, eine Betreuung für die Abend- und Wochenendzeiten zu
organisieren, damit der hinterbliebene Elternteil arbeiten gehen
konnte. Dafür musste das Jugendamt gewonnen werden.
Um die Trauer auch seelisch zu verarbeiten, lud das Trauerdiakonat die Familie zu einer Freizeit ein, die durch Sponsoren finanziert wurde, weil die Familie kein Geld hatte für Urlaub. Durch
den dortigen Kontakt mit anderen Kindern und Trauernden, die in
derselben Situation waren, hatten alle einen Weg gefunden, über
den verstorbenen Elternteil zu sprechen und die Last zu beschreiben, die dieser Weg bedeutet. Auch die Fragen nach Schicksal,
Sinn und Glauben konnten in diesem Schonraum bewegt werden
auf kindlicher und erwachsener Ebene. Die Kinder beschäftigte
dabei vor allem, dass auch andere Kinder ein Elternteil verloren
hatten.
2.1.2 Ergebnisse aus der Begleitung der drei Familien
Insgesamt waren ein Fünftel der Begleitungen langfristig, das heißt,
die Familien riefen immer wieder die Unterstützung der Diakonin ab
und/oder beteiligten sich an den Angeboten des Trauerdiakonats.
Hier waren etwa wiederum ein Drittel Familien, die sich einen guten
Zugang zu Hilfen organisieren konnten (vgl. Familie X.), zwei Drittel
waren Familien, die in einer komplex schwierigen Lebenslage waren,
bei der auch die Themen Migration, Jugendhilfe und Armut wichtig
waren (Familie Y. und Z.). Diese wären ohne die Diakonin nicht zu
Hilfsangeboten gekommen.
76 Reutlingen
Familie X. ist an ihrem Wohnort und in der Gemeinde eingebunden
und in der Lage, Unterstützung aufzugreifen und umzusetzen. Hier
konnte ich, angeregt durch die Kooperation mit dem Pfarrer, die Möglichkeiten des Netzwerkes vermitteln. Dazu kam, dass Familie X. die
Möglichkeiten des Mailkontakts nutzen konnte. Vielen Menschen, die
durch Schule oder Beruf/Familie sehr eingespannt sind, entspricht
diese Art des Umgangs mit der Trauer. Auch für Jugendliche ist diese
Art naheliegend, und sie können so persönliche Fragen stellen wie die
nach einem gnädigen Gott, der sie nun so sehr im Stich gelassen hat.
Kombiniert mit einzelnen Besuchen ist dies eine Möglichkeit, über
einen langen Zeitraum das Thema Trauer zu bearbeiten und die Sicherheit zu vermitteln, dass immer ein Gegenüber dazu ansprechbar
ist. So viel Nähe wie nötig, um den Gegenüber zu spüren, aber auch
so wenig Nähe wie möglich, um in einen offenen Raum hineinschreiben zu können. Diese Art des Austausches ist Lebensraum orientierte
Seelsorge: die Trauernden sind in ihrem Lebensraum und die Begleiterin geht auf ihre Beschreibung der Trauersituation ein.
Bei der Begleitung von Familie Y. war das Besondere, dass sie überhaupt zustande kam. Eine Brücke zur Lebenswelt einer Trauerfamilie
ist an sich schon eine Besonderheit und in diesem Kontext fast nicht
herzustellen. In dieser Konstellation konnte der trauernde Elternteil
die Rolle der Diakonin als Garantin für eine angemessene Hilfe in
seiner schwierigen Situation schätzen. Die hinterbliebene Person öffnete sich für Seelsorge und Beratung genau so wie für praktische
Unterstützung und reflektierte ihre religiöse Überzeugung und traditionelle Rolle in der Familie. Die erste Aufgabe war also das „dolmetschen“: die Familie und die Diakonin begegneten sich frei und
wertschätzend und machten dies für die Trauerbewältigung fruchtbar. Ich nahm also wahr, „wess` Geistes Kind“ meine Gegenüber
sind, wie sie ihre Trauer und ihren Glauben mit den religiösen bzw.
traditionellen Feste leben. Und ich beschäftigte mich damit, welches
Bild sie vom christlichen Glauben haben. Für diese Familie war zum
Beispiel ein Problem, dass der verstorbene Elternteil in der Türkei
begraben ist und die Friedhöfe in Deutschland kein Ort für sie sind,
um sich an die die verstorbene Person zu erinnern. So haben wir
in der Wohnung und im Schrebergarten „Trauerwinkel“ und einen
„Trauergarten“ geschaffen. Diese Vorgehensweise kann nur in Form
aufsuchender Hilfe geschehen, auf diese Weise kann Hilfe ankommen. Die Familie würde keine Beratungsstelle aufsuchen, sie könnte
sich dort nicht äußern und würde möglicherweise nicht angemessen
verstanden. Um Menschen mit Migrationshintergrund Teilhabe zu
ermöglichen, ist es am wirkungsvollsten, sie direkt aufzusuchen. So
hörte ich jedem einzelnen Familienmitglied zu und nahm es in seiner
persönlichen Trauer in seiner Umgebung wahr. Das mindert auch die
Gefahr, eine Retraumatisierung auszulösen. Es ist der Versuch, den
Menschen in seinem ganz persönlichen Raum sich selbst zurück zu
geben in einer Lebensphase, in der er sich selbst ein Stück verloren
gegangen ist.
Ein weiterer Aspekt der diakonischen Begleitung zeigte sich darin,
dass ich Kinder, die besonders stark psychisch belastet waren, durch
das Vertrauensverhältnis in die Betreuung eines Kinderarztes oder
einer psychologischen Begleitung vermitteln konnte.
Familie Z. ist eine Familie, in der sämtliche persönlichen und materiellen Problemlagen sichtbar wurden, und so war es notwendig,
einen Überblick über die sozialstaatlichen Hilfen zu haben und sie
in die Wege leiten zu können. Hier war also die Doppelqualifikation
der Diakonin/Sozialarbeiterin gefragt. Für die Kinder war außerdem
entscheidend, dass sie aus ihrer direkten Umgebung herauskamen
und neue Erfahrungen machen konnten. Sie begegneten anderen
Kindern, die auch Vater oder Mutter verloren hatten und fühlten sich
endlich wieder normal. Kinder fühlen in der Trauer unmittelbar, dass
„nichts mehr verlässlich“ ist, dass der Lebensbezug verschwinden
kann, dass der Tod alles zerstört, was einen zentralen Teil ihres Lebens ausgemacht hat. In dieser Gruppe und in Einzelbegegnungen
mit der Trauerdiakonin wurde den Kindern klar, dass sie kein Einzelschicksal erleiden, und dass es möglich ist, wieder zurückzufinden
zu einem Leben, das Freude macht und in dem es auch wieder einen
gnädigen Gott zu finden gibt.
2.2 Das „Netzwerk Trauer“
Ein weiteres wichtiges Teilziel (Teilziel 2) in der Arbeit des Trauerdiakonats war der Aufbau eines Netzwerkes von Kolleginnen und Kollegen:
Die Diakonin initiiert ein Netzwerk von Einrichtungen, durch
das trauernde Kinder auf kurzem Abspracheweg optimal betreut werden können. Dadurch werden Einrichtungsdiakonie,
kirchliche Einrichtungen und kommunale Jugendhilfe miteinander vernetzt.
Für die Evaluation wurde dokumentiert, wie die Familien zum Trauerdiakonat kamen, und wohin sie ggf. vermittelt wurden. Außerdem
wurde eine Gruppenbefragung mit den TeilnehmerInnen des Netzwerkes und einem externen Moderator durchgeführt und dokumentiert.
Die Möglichkeiten der Trauerbegleitung sind mit einer halben Stelle
relativ begrenzt, und nach meinem Eindruck macht es Sinn, Menschen in der Trauer in sehr vielfältiger Weise zu begleiten. So habe
ich gleich zu Anfang begonnen, weitere Stellen zur Unterstützung der
Familien zusammenzubringen: in der Erziehungsberatung, der Seelsorge, der Schuldnerberatung, im Feld der Freizeitangebote, der Therapie, der Nachbarschaftshilfe usw. Dadurch werden die Wege der
Absprache einfach und Einrichtungsdiakonie, Kirchengemeinden und
kommunale Jugendhilfe kommen miteinander ins Gespräch.
In oben schon beschriebener Familie X. war zum Beispiel zunächst
der Pfarrer der örtlichen Kirchengemeinde während der Zeit der Beerdigung präsent. Er kam auf mich zu mit der Bitte um weitere Begleitung der Familie, und ich setzte mich nach dem ersten Gespräch
wiederum mit der Familienbildungsstätte wegen einer Trauergruppe
für die Kinder und einer Frauen/Männer-Gruppe in Verbindung.
Trauerdiakonat
Der Diakon der Gemeinde war gleichzeitig Religionslehrer des ältesten Kindes und es kam zu einem Austausch, in welcher Weise er das
Thema in seinem Unterricht und auch gegenüber den LehrerInnen im
Kollegium aufgreifen könnte. Die Klassenlehrerin telefonierte häufig
mit mir und auch die ErzieherInnen der örtlichen Kita machten einen
Fortbildungstag zum Thema mit mir. In einer Familienfreizeit, die der
Kinderschutzbund zum Teil mitfinanzierte, konnte die Familie zu anderen Betroffenen weiteren Kontakt bekommen. An diesem Beispiel
wird deutlich, wie hilfreich es ist, wenn vertrauensvolle Kooperationen auf Augenhöhe ein Netz für eine trauernde Familie weben.
Der Ausgangspunkt für das Netzwerk war die Feststellung, dass die
Fülle der Anfragen und die Komplexität der Problemlagen, die beim
Tod eines Elternteils entstehen, von einer Stelle nicht aufgefangen
werden können. Es bedarf einer unkomplizierten, „geräuschlosen“
Kooperation mit Fachleuten und mit ehrenamtlichen Unterstützern,
die in einer Krisenzeit ihr Fachwissen und ihre Zeit zur Verfügung
stellen können, auch im Einzelnen Stellen zu entlasten und die Arbeit
optimaler für die Hilfesuchenden zu gestalten. Ein weiterer Grund
war, dass einer guten Zusammenarbeit auch Konkurrenzsituationen
entgegenstehen, die durch ein gemeinsames Ziel konstruktiv gestaltet werden können.
Das Thema Trauer war für alle Beteiligten eine solche Aufgabe, weil
hier auch Fortbildungsbedarf erkennbar war und für alle ein Zugewinn an Kompetenz erkennbar wurde durch das Angebot, Referenten
herbeizuziehen und in einen fachlichen Austausch zu kommen.
Ich begann unmittelbar zu Beginn der Projektlaufzeit mit dem Aufbau
des Netzwerks. So konnte ich meinen persönlichen Bekanntheitsgrad
einbringen und viele Kontakte zu Institutionen nutzen, mit denen ich
auch schon in der Jugendhilfe kooperiert hatte wie z.B. Kinderschutzbund, Beratungsstellen und Kreisjugendamt. Auch persönliche Kontakte halfen, das Netz zu knüpfen in die Familienbildungsstätte, den
ambulanten Hospizverein und zu Ehrenamtlichen.
Der erste methodische Schritt war also, diese Kontakte zusammen
zu denken und sich vorzustellen, in welcher Form konkret an diesem Ort mit diesen Menschen ein größerer Zusammenhang für die
Zielgruppe geschaffen werden kann. Ich konnte dabei den“ frischen
Wind“ nutzen, der bei der Einrichtung des Trauerdiakonats entstand,
und so kamen die FachkollegInnen und viele Interessierte zu einem
Auftaktgespräch. Alle Teilnehmenden wurden zuvor persönlich angesprochen auf eine mögliche Kooperation. Es wurden dabei die direkten Emailadressen abgefragt, um anschließend den alltäglichen
Kontakt ohne zu großen Aufwand halten zu können.
Ein weiterer methodischer Schritt war, die Netzwerk-Treffen von unendlich vielen Dienstbesprechungen abzuheben. Es wurde also nachdrücklich die so genannte diakonische Gastfreundschaft gepflegt: es
gab Kaffee und Brezeln und jede/r wurde in einer Runde persönlich
und mit seine aktuellen Aufgaben wirklich wahrgenommen.
Schließlich schloss das Trauerdiakonat mit den zwei wichtigsten
Kooperationspartnern direkte Vereinbarungen ab, um einer mögli-
77
chen Konkurrenzsituation Vorschub zu leisten. Mit einer dieser Einrichtungen wurde eine Bürogemeinschaft eingerichtet.
Neben der kollegialen Kontaktpflege und dem Informationsaustausch
wurde auch vereinbart, inhaltlich miteinander zu arbeiten. Dazu gab
es bei jedem Treffen einen inhaltlichen Input: ein Referat zu Netzwerkarbeit, Informationen zu muslimischen Trauerriten, Input zur
Arbeit mit Ehrenamtlichen, zu Trauerritualen, ein Film über trauernde
Jugendliche u.ä.
Seit der fünften Sitzung tagt das „Netzwerk Trauer“ reihum, sodass
jede Einrichtung ein Mal für den gastfreundlichen Rahmen und die
inhaltliche Gestaltung sorgt. Die Treffen finden zwei Mal pro Jahr statt.
Im Hintergrund muss eine Stelle ansprechbar sein, die den Blick aufs
Ganze hat. Diese Aufgabe liegt im Moment noch beim Trauerdiakonat.
Zur achten Sitzung wurde die Presse eingeladen, um sich nach innen
und jetzt auch nach außen deutlich auf eine Kooperation festzulegen. Ebenfalls beim achten Treffen wurde als interne Evaluation eine
Gruppenbefragung mit einem externen Moderator und sechs Fragestellungen durchgeführt, zu denen im Folgenden jeweils eine Antwort
dokumentiert wird:
Moderator : „Welchen Nutzen haben Sie durch das Trauernetzwerk?“
KollegIn 1: „Also ich denk, dass das die Voraussetzung ist für eine
lebendige Kooperation. Natürlich gibt es 1000 Führer,
Beratungsführer und Schaubilder über Kooperation,
aber es ist trotzdem anders, ob man das mit Menschengesichtern verbindet oder kriegt dann auch im Nachgespräch manchmal noch irgendwie eine Idee, und kriegt
auch eine Info über irgendeine Hilfsmöglichkeit. Ich
denk, dass wir da auch für unsere Klienten diese Hilfsmöglichkeiten viel lebendiger und nutzbar machen.“
(00:05:53-4)
Moderator: „Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?“
KollegIn 2: „Also ich hab mich jetzt an einen Fall erinnert, wo ein
muslimischer Vater an unsere Stelle überwiesen wurde,
wo das dann quasi zusammen fiel mit diesen einen Fortbildungstag im Trauernetz mit dem trauerndem Muslimen, wo die Kollegin von uns hier war und das mitbekommen hat. Wo dann z.B. in einer Fallsupervision bei
uns diese Inhalte total gut gepasst haben. Also dieses
Geben und Nehmen auch wirklich spürbar war. Also ich
find deshalb auch diese Inputs, die inhaltlichen Inputs
für uns alle auch hilfreich, wir haben alle irgendwo viel
Wissen, aber es gibt trotzdem immer noch Details wo
wir wirklich davon profitieren.“ (00:13:47-0)
Moderator: „Was wäre ein ideales Netzwerk für Sie?“
KollegIn 3: „Also ideal finde ich auch, wenn man Personen und
Einrichtungen kennt und persönliche Kontakte da entstehen. Das finde ich ideal, weil dann dieses Vernetzen
schneller läuft im Sinne von: wohin schicke ich sie? Das
finde ich eigentlich ideal.“ (00:14:42-8)
78 Reutlingen
Moderator: „Wo hindert mich ein Netzwerk?“
KollegIn 4: „Wichtig ist also die Struktur, die wir hier haben. Da war
ein bisschen Reibung am Anfang. Da war es eher auch
bei dir konzentriert oder so und jetzt ist es ja eigentlich
auch so, dass es reihum geht und auch etwas entlastender ist für dich und auch für die anderen. Jetzt nächstes
Mal ambulanter Hospizdienst, dann wissen die, die sind
jetzt dran und dann geht es auch wieder zu Jemanden
anderes. Und ich glaub, dass ist auch entlastend, wenn
man weiß, dass man sich nicht immer ganz einbringen
muss, dass man nicht immer ganz konzentriert sein
muss. Also die Struktur, denke ich, ist ziemlich gut so.“
(00:19:26-2)
Moderator: „Wie funktioniert die Steuerung eines Netzwerks?“
KollegIn 5: „Also ich glaub, bei Ihnen ist schon immer noch viel
Steuerung und das ist auch gut so. Also ich würde, jetzt
von meinen Möglichkeiten und Bedürfnissen her, mich
auch nicht wirklich als gleichberechtigt sehen. Dass es
richtig reihum geht mit allen Beteiligten. Sondern es
muss schon irgendwo gebündelt sein. So auch von der
Geschichte her, fand ich, war es so ein bisschen unkompliziert. Also wenn ich mich an diese Faltblätter erinnere:
da gibt es ja Gremien, wo man Stunden zubringt und
das hier war einfach die Entscheidung: jetzt macht man
einfach ein Arbeitsexemplar und das ist jetzt nicht im
Hochglanz, oder ausgefeilt. Aber es ist irgendwie gut
und man kann es benutzten. Ich finde, wenn es so überstrukturiert wird, dann wird man auch so unflexibel, ich
finde das besser.“ (00:22:39-2)
Moderator: „Sind Ehrenamtliche oder Hauptamtliche die idealen
Netzwerker?“
KollegIn 6: „Es hängt auch sicher von Thema Netzwerk ab, um was
für ein Netzwerk geht es, wo will ich mich vernetzten,
bei was, welches Thema, um welches Thema geht es, in
welchem Kontext findet was statt? Hier glaub ich, finde
ich es ganz gut so: Haupt-, Ehrenamt und Honorarkräfte alles, ich find das fließt ganz gut hier so, weil hier
einfach alles vertreten ist und kompetent (unverständlich)“. (00:29:55-1)
2.2.1 E rgebnisse zum Nutzen des Netzwerks
für Klienten und Fachleute
In der Netzwerk-Arbeit wurde also deutlich, dass Klienten von einem breiten, gut informierten KollegInnenkreis profitieren, in dem
sie schnell vermittelt und in sehr unterschiedlicher Weise begleitet
werden können.
Auch die KollegInnen und die Einrichtungen können ihre Spezialisierungen schärfen und vermeiden, dass doppelte Angebote gemacht
werden, die dann ungenügend nachgefragt sind.
Gleichzeitig verlangt das Netzwerk eine gewisse Reife, um in einer
Mitbewerbersituation konstruktiv zusammenzuarbeiten und auch einen Teil seiner Arbeitskraft einzubringen, wenn man an der Reihe ist,
eine Zusammenkunft zu gestalten. Auch die Koordinationsfunktion
ist grundsätzlich notwendig, und es zeigt sich, dass diese noch beim
Trauerdiakonat verblieben ist, genau so wie die geistliche Begleitung
mitten in der Bewältigung der alltagspraktischen Notwendigkeiten,
was wohl das Spezifikum des Trauerdiakonats ist.
3. Ausblick und Anregungen
In unserer Zeit der Globalisierung und des demographischen Wandels ist diese Art der Zuwendung, die diakonische Seelsorge, sehr
nachgefragt bei der Kirche und ihrer Diakonie. Die Grundsituation
des Forderns und Förderns stellt jeden Menschen in einen individuellen Überlebenskampf, der sich für viele in völlig unübersichtlichen
Abläufen abspielt.114 Man findet keine Arbeit mehr und dadurch nicht
mehr den Zugang zu sich selbst, vor allem nicht in Zeiten der Trauer,
in der zunächst alles Scheitern und Misslingen zu sein scheint.
Ein Trauerdiakonat schenkt dem einzelnen Menschen in der Trauer
und in den oft damit zusammen hängenden Themen (Arbeitslosigkeit, zunehmende Armut von Kindern und Familien, knappe Finanzmittel, wenig Kinder – viele alte Menschen, globalisierter Wettbewerb, Ökonomisierung aller Lebensbereiche) eine „geformte Aufmerksamkeit“115. Diese Art der Wahrnehmung ist keine spontane,
unorganisierte Hilfeleistung, sondern sie hat u.a. auch das Ziel, auch
sozialpolitische Strukturen zugunsten Benachteiligter zu verändern.
Das Trauerdiakonat wendet sich also einerseits den Menschen „sozial-professionell“ zu, und es tut dies in der Haltung des Christen,
der seinem „Nächsten“ begegnet. Die Handlungsweise ist also zweifach, einmal sozialarbeiterisch und einmal seelsorgerlich, und das
bedeutet oft, nicht wirklich vereinbare Handlungslogiken auszuhalten
und auszubalancieren. Gemeinsam wird dann ein Weg zu Unterstützungen aus dem Feld sozialstaatlicher und kirchlicher Möglichkeiten
entwickelt. Auf diese Weise wird auch das soziale Miteinander in der
Gesellschaft gestaltet, Not und Ausgrenzung aufgespürt, und es werden für die entsprechenden Aufgaben auch Unterstützer im Ehrenamt
gesucht. Das genau ist mit dem Tätigkeitsprofil von Diakonen und
DiakonInnen gemeint: das Evangelium und die christliche Religion
kommunizieren, Menschen in existenziellen Lebensfragen unterstützen, in Organisationen von Kirche und Diakonie handeln und das Soziale gestalten.
3.1 Theologische Reflexion des Trauerdiakonats
Das Trauerdiakonat ist also dazu da, Kinder und deren Eltern in ihrer
trauernden Seele und in ihren materiellen Lebensbedingungen wahr114
Vgl. Schneider-Flume 2004.
Vgl. Steffensky 2006, 17.19.
115
Trauerdiakonat
zunehmen und zu erkennen, welche Unterstützung Not – wendig
ist. „Im biblischen Verständnis sind Kinder eine Verheißung und ein
Geschenk Gottes (1 Mose 12ff.). Die Sorge für die jeweils jüngere
Generation sowie für nachfolgende Generationen insgesamt gehört
demnach konstitutiv zum Menschsein. Sie beschränkt sich nicht auf
die eigenen leiblichen Kinder und auch nicht auf die Angehörigen der
eigenen Familie oder Nation. Dienst an Kindern ist Gottesdienst (Mk
9,37). Besonders im Neuen Testament wird dies unübertrefflich zugespitzt mit der Aussage, dass das Reich Gottes den Kindern gehöre
(Mk 10,14).“116
Diakonische Seelsorge ist Solidarität und Anwaltschaft für die Menschenwürde derer, die in Not sind und die sich dann niederschlagen
kann in zuhören, eine Trauergruppe vermitteln, Ämtergänge begleiten, Freizeiten organisieren, Selbsthilfegruppen initiieren usw. Wir
suchen also Christus im Alltag. Er ist besonders in den Leidenden
präsent, und das Diakonat geht entsprechend dort hin, um ihn zu
finden im bedürftigen Gegenüber. Das Trauerdiakonat fragt nach der
Trauer und danach, wo der Mensch Abgelebtes hinter sich lassen
kann und sich öffnen für Neues. Und an diesem Ort kann sich dann
Tischgemeinschaft und Abendmahl wieder zusammenfügen, die Sorge für Seele und Leib macht die Sache rund. Dafür braucht die Trauerdiakonin selbst eine reflektierende Persönlichkeit und sollte in der
Lage sein, Sinndeutungen in der Trauer anzubieten, ohne Glaubensbezogen übergriffig zu werden.
Geistliche Trauerbegleitung ist ein Beziehungsgeschehen, praktische Unterstützung ebenfalls. In der Aufgabe des Trauerdiakons
lebt das eine aus dem anderen. Beide Pole des Menschen, seine
materielle Existenz und seine geistliche Ausrichtung sind Bestandteil der Beziehung zwischen dem Trauerdiakon und dem Mitmenschen. So war das auch gedacht, als die Urchristen sich den Witwen und Waisen zugewandt haben und dafür einen diakonischen
Dienst einrichteten.
In unserer hoch differenzierten Gesellschaft kann also der Diakon als
„Moderator“ die verschiedensten Milieus der bürgerlichen und der
christlichen Gemeinde in Verbindung bringen, also eigentlich Kommunikation dort in Gang setzen, wo in unserer Gesellschaft starke
Ab- und Ausgrenzungen vorhanden sind, Schnittstellen, die manchmal recht scharf sind. Menschen, die keinen Zugang haben zu Unterstützung, werden im Trauerdiakonat direkt erreicht und finden für
seelische und alltagspraktische Hilfen Anschluss.
3.2 Notwendige Vernetzungspartner
eines Trauerdiakonats
Wache diakonische Kirchengemeinden und Kirchenbezirke haben
viele Möglichkeiten für Menschen in Trauer. Dazu müssen sie allerdings auch die Sprache von nicht-christlichen und alternativ-religiösen Menschen sprechen lernen und diese wertschätzen.
Dabei ist die Kooperation mit den Pfarrerinnen und Pfarrern einer
der wichtigsten Fixpunkte des Trauerdiakonats. Aufgabe und Methodik von Pfarramt und Diakonat sind verschieden, und genau diese
Unterschiedlichkeit kann bewirken, dass Menschen sich angesprochen und getragen fühlen können, manchmal sogar „weit weg“ am
Rand der Gesellschaft. Liebe verkünden und der Liebe Gestalt geben
sind geschwisterliche, komplementäre Aufgaben. Pfarramt und DiakonInnenamt haben hier wohl ein christliches Proprium. Christen ist
zumindest eine eigene Art gegeben, mit dem Sterben und dem Tod
umzugehen. Die Art und Intensität der Begleitung hängen davon ab,
was der Gegenüber in seiner Krisenzeit braucht.117
Dazu kommt, dass entsprechende Fachkollegen z.B. des Hospizdienstes, der Familienbildung, des Kinderschutzbundes usw. ihre Angebote aufeinander beziehen und dadurch die Trauernden mit ihren
verschiedenen Kompetenzen unterschiedlich begleiten. Es können so
auch Einzelberatung, Gruppenangebote, Freizeiten, alltagspraktische
Unterstützung und seelsorgerliche Begleitung für die Trauernden ermöglicht werden, die ein einzelner Dienst nie aufbringen könnte.
Das Sterben und Abschied nehmen wird so von verschiedenen Menschen begleitet, die unterschiedliche Rollen einnehmen, aber den
Prozess gemeinsam erleben und sich auch als Kollegen gegenseitig
stützen. Wir wollen dahin finden, dass Menschen im Umgang mit
Abschied und Trauer ihre persönliche Lebensgeschichte klarer sehen
und Schlüsse für einen veränderten Alltag daraus ziehen.
Nach meiner Erfahrung ist insgesamt das Trauerdiakonat ein genau passendes Aufgabenfeld zwischen Pfarramt und Sozialarbeit,
zwischen Kirchengemeinden und bürgerlicher Gemeinde. Die Trauerdiakonin ist eine Mediatorin zwischen diesen Ebenen118 vor allem
zugunsten randständig lebender Menschen, die dadurch ein wenig
menschlicher leben und loslassen lernen können.
Anhang: Schilderung einer besonderen Trauerbegleitung
Anfang Februar, also mitten in einem harten Winter, hatte die Trauerdiakonin ein Treffen mit einem 11-jährigen Kind, das unter Mobbing
in der Schule litt. Wir hatten uns an einem „seiner wichtigen Orte“,
nämlich einem Imbiss verabredet und aßen zusammen eine Pizza.
Das Kind sprach sehr viel über seine Probleme mit den Mitschülerinnen und Mitschülern, und wir entwickelten einen Plan, wie es mit
Unterstützung der Schulsozialarbeiterin vorgehen könne. Als wir mit
dem Essen fertig waren, gingen wir in Richtung der Wohnung der
Familie. Ich interessierte mich auf dem Weg dorthin noch für den
Jugendtreff, und wir machten einen kleinen Umweg dort vorbei.
Nicht ganz auf der Strecke liegt auch der Friedhof, und plötzlich
machte das Kind den Vorschlag, dass wir noch dort vorbeigehen
sollten. Sie ging direkt zum Grab des verstorbenen Elternteils, das
117
Vgl. Zippert/Klein 2011, o.S.
Vgl. Gruppenbefragung zu Steuerung des Netzwerks: „kleine Geschäftsführung“,
Frage 4.
118
116
Rat der evangelischen Kirche Deutschlands (Hrsg.) 2010, S. 27.
79
80 Reutlingen
winterlich unsortiert aussah. Wir standen eine Weile davor und sprachen z.B. darüber, dass Gräber im Winter einfach furchtbar aussehen
können. Dann klingelte das Handy des Kindes. Es schaute kurz auf
das Display, dann auf mich und ging dran. Es sprach kurz mit einem
befreundeten Kind und erklärte mir dann, dass sich die beiden heute
Nachmittag noch treffen würden. Dann fiel dem Kind ein, dass es
bei einem Einkaufsladen um die Ecke im Moment Sonderangebote
für kleine Gestecke geben würde. So machten wir auch diesen Weg
und kauften einen kleinen Engel mit Trockenpflanze. Mein Handy
klingelte danach ebenfalls. Ich holte auch kurz mit einem Blick das
Einverständnis des Kindes ab und ging ebenfalls dran, um kurz einen
Termin zu klären.
Die Begleitung des Kindes entlang seiner Orte und die kurze gegenseitige Abklärung, dass in unserem Kontakt der für das Kind übliche
Umgang mit dem Mobiltelefon der Beziehung keinen Abbruch tat,
verhalf uns dann zu einem bemerkenswerten Gespräch. Wir gingen
zurück zum Grab, räumten ein paar verdorrte Teile ab und stellten
den Engel mit neuer Pflanze darauf. Ich fragte das Kind, ob es seinen
verstorbenen Elternteil während der Pflege des Grabes spüren könne,
und es sagte: „Klar, meistens, nicht immer.“ Ich fragte dann noch, ob
es glaube, dass das verstorbene Elternteil uns sehen könne, wenn
wir da so rummachen und es antwortete: „Bestimmt!“ Ich erzählte
dem Kind, dass ich manchmal richtig rede mit meinen Verstorbenen,
vor allem über Frust, und dass ich die Verstorbenen manchmal spüren könne und manchmal nicht, so wie mit dem Gott eben. „Mach
ich auch manchmal, geht mir auch so, Mama/Papa ist bei Gott, aber
wo ist das?“ antwortete das Kind. „Ja, stimmt, frag ich mich auch
manchmal mehr, manchmal weniger“, sagte ich. „Jetzt grad sind sie
da“ sagte das Kind. Danach gingen wir zu ihm nach Hause.
Literaturverzeichnis:
ISA, Institut für soziale Arbeit e.V. Münster (Hrsg.): Aufsuchende
Elternarbeit. Verfügbar unter: http://www.isa-muenster.de/fruehekindheit-und-familie/aufsuchende-elternkontakte/index.html
(13.12.2012).
KVJS, Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden Württemberg (Hrsg.) (2005): Bericht zur Entwicklung von Jugendhilfebedarf
und sozialstrukturellem Wandel. Verfügbar unter: http://www.kvjs.
de/fileadmin/publikationen/jugend/1999-2003-Bericht_JB-Lang.pdf
(14.12.2012).
Noller, Annette (2013): Der Diakonat – Historische Entwicklungen
und gegenwärtige Herausforderungen, in: Noller, Annette/Eidt, Ellen/
Schmidt, Heinz (Hrsg.): Diakonat – theologische und sozial-wissenschaftliche Perspektiven auf ein kirchliches Amt, Stuttgart,
S. 42-84.
Rat der evangelischen Kirche Deutschlands (Hrsg.) (2010): Kirche
und Bildung. Herausforderungen, Grundsätze und Perspektiven
evangelischer Bildungsverantwortung und kirchlichen Bildungshandelns, Gütersloh.
Schneider-Flume, G. (2004): Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei
des gelingenden Lebens, Göttingen.
Steffensky, F. (2006): Schwarzbrot Spiritualität, Stuttgart.
Zippert, T./Klein, C. (2011): Kommunikation des Evangeliums –
gemeinsame Aufgabe aller Ämter und Dienste in Kirche,
Bildungsarbeit und Diakonie. Unveröffentlichtes Papier.
81
„Vergesst die
Vergessenden nicht“
Bericht 7: Ulm
Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden
Barbara Eberle
Projektort:
Ulm
Projektträger:
Evangelischer Diakonieverband Ulm/Alb Donau
Projektstelleninhaberin:
Diakonin Barbara Eberle
82 Ulm
2. Projektziele laut Antrag vom 29.04.2008
Als Projektziele wurden im Antrag formuliert:
Der Salatkopf in
der Schublade,
das Spülmittel
im Trinkglas,
auf der Wäscheleine das Toastbrot,
Anzeichen einer Demenzerkrankung?
„Ich bin nicht mehr in der Welt“ sagt ein demenzerkrankter Mann in der Beratung.
„Wir wollen nicht vergessen werden, wenn ich schon vergesse!“
1. Projektanlass und Vorgeschichte
Anlass für das Projekt waren zwei Entwicklungsstränge, die sich in der
vorgelegten Konzeption ideal miteinander verbanden und kurz skizziert sein sollen:
Das Thema „Demenz“ wurde im Evangelischen Diakonieverband
Ulm/Alb-Donau be­reits 2004 als wesentliche gesellschaftsdiakonische Aufgabe erkannt. Es ist eingebun­den in das Themenfeld des
„demografischen Wandels“, der in seinen mannigfaltigen Facetten in
den letzten Jahren deutlich wird und auf verschiedenen Ebenen zur
Auseinandersetzung zwingt.119
Bereits vor 8 Jahren wurde innerhalb der Diakonischen Bezirksstelle
in enger Abstimmung mit dem Kreispflegeausschuss, und in seinem
Auf­trag, das ProjektDEMENZ Ulm konzipiert und aufgebaut. Die Arbeit war sozialräumlich auf Entwicklung und Optimierung von Versorgungsstrukturen gerichtet. (Versorgungs­forschung, Netzwerkarbeit,
und Schnittstellenoptimierung). Die nach drei Jahren evalu­
ierten
Ergebnisse120 bildeten einerseits die Basis für ein Leuchtturmprojekt
des Geriatri­schen Zentrums Ulm mit Studiencharakter. Andererseits
fehlte weiterhin ein Hand­lungsansatz für den in unserer Untersuchung signifikant herausgearbeiteten seelsor­gerlichen Versorgungsaspekt in der Demenzarbeit.
Im Jahr 2008 beteiligten wir uns deshalb an der Ausschreibung des
Evangelischen Oberkirchenrates Stuttgart zur Umsetzung eines Projektes der Landeskirche zur Weiter­entwicklung des DiakonInnenamtes. Die Projektbewerbung unter dem Titel „Herausfor­derung Demenz
in der Kirchengemeinde – Verstehen, Handeln und Seelsorge“ wurde
im Mai 2008 von der Steuerungsgruppe des landeskirchlichen Projektes angenommen. ProjektDEMENZ ist seit Okto­ber 2009 mit weiteren
50% Personalkapazität ausgestattet. Die Aktivitäten dieser wei­teren
Personalstelle wurden in diesem Bericht nicht aufgenommen.
119
Auf eine Definition des Demenzbegriffes wird im Rahmen dieser Arbeit verzichtet.
Es handelt sich um ein medizinisch äußerst vielschichtiges Erkrankungsbild,
dessen präzise Darstellung den Rahmen weit sprengen würde.
120
ProjektDEMENZ Ulm 2005.
Verstehen – Information: Der diakonisch-missionarische Auftrag
der Kirche wird in diesem Projekt zu­kunftsweisend wahrgenommen. Verwirrte Menschen sind im Wahrnehmungsspektrum. Rahmenbedingungen werden den Menschen angepasst – Räume der
Barmherzigkeit –, weil die Liebe Gottes einfach jedem gilt!
Seelsorge: Das Projekt nimmt die gesellschaftspolitische Herausforderung des demografischen Wandels an. Der würdevolle,
seelsorgerliche Umgang im Fall des Verlustes der eigenen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit ist gesell­
schaftspolitisches
und damit auch kirchlich-diakonisches Thema.
Handeln – Diakonat als Profession: In der Auseinandersetzung
mit der Dreiecksbeziehung Fachthema De­
menz/demografische
Veränderung, Gemeinde/Informationsbedarf und seelsor­ger­licher
Auftrag/Beratungs- und Seelsorgebedarf der Erkrankten und Angehöri­gen pro­filiert sich die beruflich Handelnde und gibt dem
abstrakten diakoni­schen Dienstauf­trag den „Sitz im Leben“. Gerade die Multidimensionalität als Spezifi­kum im Handeln ist im
Diakonat vorgegeben. Handlungskompetenz be­steht im sozialwissenschaftlichen Diskurs, weil Fachwissen mit ethischer Refle­
xion ge­paart ist. Das Berufsbild des Diakons/der Diakonin wird
geschärft, weil Spezial­wissen mit Feldkompetenz und ethischer
Reflexionsfähigkeit verknüpft wird.
3. Theologische Grundsätze der Projektarbeit
Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen fallen oft aus der Welt
in die Abgeschie­denheit. Die Auswirkungen der Erkrankung ziehen
einen Rückzug aus den sozialen Bezügen nach sich. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird die Entwicklung von „Räumen der
Barmherzigkeit“ (s. Projektantrag) unumgänglich, im Bewusstsein,
dass Räume der Barm­herzigkeit (lat. Misericordia) ein Vorrecht der
Kirche sind: „Ohne sie gäbe es keine Räume der Barmherzigkeit und
des Vertrauens.“121 Das macht Kirche so bedeutsam. Das diakonische
Handeln der Kirche kann mit Worten Frère Rogers folgendermaßen
beschrieben werden: „Barmherzigkeit, die in uns wächst, sich entfaltet“ ist unabdingbar für eine diakonische Haltung. Barmherzigkeit
„verströmt Zärt­lichkeit, Mitgefühl und Mitleid.“122 Aus dieser seelsorgerlichen Haltung entsteht in der Begegnung mit Demenzerkrank­ten
und ihren Angehörigen das Vertrauen, das nötig ist, um in schweren
Lebenslagen Achtung und Anerkennung zu erfahren. Wenn dann
auch der Perspektivwechsel gelingt und die Beratenden die Welt mit
den Augen der demenziell Beeinträchtigten sehen lernen, wird dies
zwangsläufig auch die Sprache der Kirche, den Ausdruck, die Form
und Liturgie so formen, dass Kranke „verstehen“ und Barmherzigkeit
erfahren/erspüren können. Die seelsorgerliche Haltung un­terscheidet
sich vom eingegrenzten Mitleid. Sie eröffnet Begegnung auf „Augen121
Prantl 2010.
Frère Roger †, Prior Taize (Zitat mündlich überliefert).
122
Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden
höhe“, also Begegnung mit einem Menschen, dessen Einschränkung
aufgenommen wird und dessen Möglichkeiten nicht ausgeschlossen
werden. Das schließt – mit Worten Hans-Jürgen Benedicts ausgedrückt – „die Fähigkeit (ein), die religiöse Dimension existenzieller
Lebensfragen wahrzunehmen, zu deuten und in das professionelle
Handeln einzubeziehen.“123 Das Leitbild der Diakonischen Bezirksstelle Ulm wird hier „Handlungsstrategie“: „Im Gegenüber begegnet
uns Gott, des­halb sind wir miteinander unterwegs: aufmerksam,
wach, solidarisch und in gegenseiti­ger Wertschätzung.“124
4. Projektumsetzung
Die Ziele des Projektantrages wurden für drei verschiedene Handlungsebenen konkretisiert:
Kirchengemeinden sind informiert und entwickeln mit Unterstützung gemeindespezifische Angebote.
Seelsorge und Beratung sind die Grundlagen eines menschenwürdigen Zusammenlebens im Alltag von Betroffenen, ihren Angehörigen und Mitgliedern der Kirchengemeinde.
Teilhabe am kirchengemeindlichen Leben ist für demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen durch Unterstützung, Impulse und
Anleitung von Mitarbeitenden ermöglicht. Modelle von „demenzfreundlichen Gottesdiensten“ sind abrufbar.
4.1 Teilziel 1
Kirchengemeinden sind informiert und entwickeln mit Unterstützung gemeindespezi­fische Angebote.
30
4.1.1 Umsetzung: Der Pfarrkonvent
25
Im Ulmer Pfarrkonvent125 wurde die Stelleninhaberin angefragt, De20 Gesellschaft/
menz und die daraus entstehenden Fragen für eine
Kirchengemeinde darzustellen. Auch die Möglichkeit, das Projekt
„Diakonat neu gedacht – neu gelebt“ vorzustellen, war gege­ben. Pro15
jektDEMENZ Ulm zeigte sein Interesse, gemeindliche Angebote und
Projekt­ideen für Demenzerkrankte und Angehörige fachlich, planerisch und praktisch zu un­terstützen. Die Vorstellung
10 des Projektes
wurde mit Interesse aufgenommen, was fol­
gende Rückmeldung
eines Teilnehmers nach der Veranstaltung zeigt: „Deine Präsen­tation
gestern war so spannend, herzlich und lebendig. Es gibt
5 im KTA selten eine so hohe Aufmerksamkeit über die gesamte Zeit ... gut, dass
du da warst.“126 Ein anschließender Informationsbrief machte alle
Pfarrämter auf die Angebote von ProjektDEMENZ Ulm0 aufmerksam.
2004
Die Anfragen zur Mitgestaltung von unterschiedlichen Vortragsreihen, Gottesdienste, Besuchsdienstschulungen etc., waren nach dem
83
Vortrag sehr vereinzelt. Gründe dafür werden im Interview der Begleitgruppe deutlich.127 Im Gegensatz dazu stehen die immer stärker
ansteigenden Nachfragen nach Vorträgen bzw. Gesprächscafés Alter
und Demenz aus den Reihen der ehrenamtlich Mitarbeitenden in Kirchengemeinden. Als Hintergründe sind persönliche Betroffenheit und
die Mund-zu-Mund-Propaganda geäußert worden. 2008 gab es an
zwei Orten, 2011 wurden bereits in sechs Orten Gesprächscafés mit
bis zu 41 Teilnehmenden angeboten. Dies zeigt die Entwicklung zum
Teilziel 1 auf. Verschiedene informative Presseartikel, Datenübersicht
und Konzeption liegen bei ProjektDEMENZ Ulm vor.
4.1.2 D
aten, Fakten, Zahlen aus der Projektarbeit:
Veranstaltungen zum Thema Demenz
Im Folgenden werden exemplarisch einige Daten aus der Arbeit im Projekt vorgestellt, die im Zusammenhang des Teilziels 1 erhoben wurden.
ProjektDEMENZ Ulm hat bereits 2004-2008 durch Vorträge „Demenz
geht alle an“ in den verschiedensten Kommunen und Kirchengemeinden Bewusstseinsbildung angeboten. Im Verlauf des Projektes wurden folgende Veranstaltungen durchgeführt:
Zählungen zu Veranstaltungen
2008-2011 51 Vorträge mit durchschnittlich 22 Personen
2008-2011 16 Gesprächscafés Alter und Demenz an 5 Nachmittagen
in 7 unterschiedlichen Kirchengemeinden, also 80 Gesprächscafés
2008-2011 13 Besuchsdienstschulungen in 9 unterschiedlichen Gemeinden
Die Zunahme der Veranstaltungsarbeit in Kirchengemeinden ab Projektbeginn Herbst 2008 wird im Schaubild 1 deutlich. Die Veranstaltungsdichte von ländlichem zu städtischem Bereich wird in den grafischen Landkarten und vor Ort zusätzlich dokumentiert.128
Schaubild 1: Veranstaltungen zum Thema Demenz insgesamt
2004 – 2011
30
25
20
15
10
5
0
2005
2004
2006
2005
2006
2007
2007
Kirche Land
Kirche
Stadt
Kirche Land
Kirche
Stadt
2008
2008
2009
2009
2010
2010
2011
Öff. Stadt Öff. Stadt
Öff. Land
Öff. Land
123
Benedict 2008 S. 135ff.
Diakonische Bezirksstellen Ulm/Alb-Donau (Hrsg) 2001.
125
KTA (Kirchlich-Theologischer Ausschuss) 14. Januar 2010 Vortragsthema:
Demenz – Herausforderung für Kirchengemeinden.
126
Rückmeldung Email eines Teilnehmer 15.01.2010.
124
127
128
Siehe 4.2.2, Tonbandinterview Projekt-Begleitgruppe Ulm 2012.
Grafik: eigene Darstellung Stelleninhaberin. Grafikerklärung: Links Angabe Anzahl der
Aktionen, unten sind Jahreszahlen angegeben.
2011
84 Ulm
Schaubild 2: Veranstaltungen zum Thema Demenz im Kirchenbezirk
Ulm/Blaubeuren 2004-2011
Die Kirchenbezirke Ulm/Blaubeuren haben insgesamt 80 508 Mitglieder. Die jeweils unterstrichenen Gruppierungen sind nicht eindeutig
kirchlichem Hintergrund zuzuordnen. Veranstaltungen außerhalb des
Evangelischen Diakonieverbandes sind am oberen Rand der Grafik
z Bad Boll 2, Stuttgart 4, Ludwigsburg, Weinsberg, Bremen, Dresden, Giengen/Brenz 10
z Bad Boll 2, Stuttgart 4, Ludwigsburg, vermerkt.
Weinsberg, Bremen, Dresden, Giengen/Brenz 10
z
z
z
z Bad Boll 2, Stuttgart 4, Ludwigsburg, Weinsberg, Bremen, Dresden, z
Giengen/Brenz 10
z zz
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Balzheim
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z
z Balzheim
z
Legende zur Karte:
Angehörige Legende zur Karte:
Angehörige
Besuchsdienst
Besuchsdienst
Diakoniebeauftragte
zur Karte:
Legende
Veranstaltungen 2004-2011
Fachleute Diakoniebeauftragte
Angehörige
Veranstaltungen 2004-2011
Fachleute
Frauen
Besuchsdienst
Evangelischer Diakonieverband Ulm/Alb-Donau
Gottesdienst Frauen
Diakoniebeauftragte
Diakonieverband
Ulm/Alb-Donau
Evangelischer
Gottesdienst
Kirchenbezirke
Ulm/Blaubeuren
80
508
Mitglieder
Gesprächscafé
Alter und Demenz
Veranstaltungen 2004-2011
Fachleute
Kirchenbezirke Ulm/Blaubeuren 80 508 Mitglieder
Gesprächscafé Alter und Demenz
Kirchengemeinderat
Frauen
Das GebietDiakonieverband
Evangelische Gesamtkirchengemeinde
Ulm
ÖffentlichkeitKirchengemeinderat
Ulm/Alb-Donau
Evangelischer
Gottesdienst
Das
Gebiet
Evangelische
Gesamtkirchengemeinde
Ulm
Öffentlichkeit
innerhalb Ulm/Blaubeuren
der gelben Markierung:
Extra-Karte
Pfarrer Alter
Kirchenbezirke
508 siehe
Mitglieder
Gesprächscafé
und Demenz
innerhalb der 80
gelben
Markierung:
siehe Extra-Karte
Pfarrer
Senioren
Kirchengemeinderat
Senioren
Das Gebiet Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm
Öffentlichkeit
Die jeweils unterstrichenen Gruppierungen sind
innerhalb der gelben Markierung: siehe Extra-Karte
Pfarrer
Diekirchlichem
jeweils unterstrichenen
nicht eindeutig
Hintergrund Gruppierungen sind
Senioren
nicht
eindeutig
kirchlichem Hintergrund
zuzuordnen.
zuzuordnen.
Die jeweils unterstrichenen Gruppierungen sind
außerhalb
des Evangelischen
nicht Veranstaltungen
eindeutig kirchlichem
Hintergrund
Veranstaltungen
außerhalb
Diakonieverbandes
sind
am
oberen
Randdes
derEvangelischen
zuzuordnen.
Diakonieverbandes sind am oberen Rand der
Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden
Schaubild 3: Veranstaltungen im Gebiet Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm 2008-2011
und im Stadtgebiet Ulm 2004 – 2008 und 2009 – 2011
Schaubild 3: Veranstaltungen im Gebiet Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm
2008-2011 und im Stadtgebiet Ulm 2004 - 2008 und 2009 - 2011
2004-2008
zz
zz
zz
2004-2008
zzz
zz
2009-2012
2009-2012
Sozialraum 4
zz
Eselsberg
Sozialraum 1
Stadtmitte,
Oststadt
2004-2008
zzzzzzz
zzz
z
2009-2012
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
zz
zz
zz
zz
z
z
z
z
z
z
z
2004-2008
zzz
zzz
zzz
zzz
zzz
zzz
zzz
zz
z
Sozialraum 3
zzzz
zz
zzzzz
zzzzz
zzzzz
zzzzz
zzzzz
zzzzz
zzzzz
z
z
z
z
z
z
z
Weststadt, Söflingen,
Grimmelfingen,
Eggingen, Ermingen,
Donautal, Einsingen
Ulm
Sozialraum 5
Wiblingen, Unterweiler, Donaustetten,
Gögglingen
2004-2008
2009-2012
zz
zz
2009-2012
Legende zur Karte
z Karte
Frauenkreise
Legende zur
z Frauenkreise
Seniorengruppen
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
z
zzzzzzz
zzzzzzz
z
zzzzz
zzzzz
zzzzz
z
z
z
z Seniorengruppen
z
Besuchsdienste
z Besuchsdienste
z
Angehörigengruppen
z Angehörigengruppen
z Öffentlichkeit
z Öffentlichkeit
z Gottesdienst Betroffene
z Gottesdienst Betroffene
z Schulen
z Schulen
z
Fachleute
z Fachleute
z
Gesprächscafés
z Gesprächscafés
fürfür
Menschen
mit mit
beginnender
Demenz
z Gesprächskreis
Gesprächskreis
Menschen
beginnender
Demenz
Gruppen mit Unterstreichung sind nicht eindeutig kirchlichem Hintergrund zuzuordnen.
85
86 Ulm
Interviewdaten
Um Eindrücke und Erfahrungen über die Entwicklungen in Kirchengemeinden zum Thema Demenz aus verschiedenen Blickwinkeln zu
erhalten, wurde ein strukturier­tes Tonbandinterview mit der Ulmer
Begleitgruppe zum Projekt (Pfarrer/in, Kirchenge­meinderat/rätin, Kirchenmitglied und Abteilungsleiter/in) durchgeführt. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der katholischen Kirche übernahm die Moderation;
sie legte den Zeitrahmen fest und führte das Inter­view anhand eines
Leitfadens durch. Das Interview fand ohne die Stel­leninhaberin statt.
Es wurde von der Stelleninhaberin inhaltsanalytisch ausgewertet.
In der Auswertung der Tonbandaufnahme wurden förderliche Faktoren und Stolpersteine beobachtet und folgendermaßen dokumentiert:
Förderliche Faktoren, Auswertung Interview:
Aussagen über die Projektarbeit „Informationen über Demenz wurden unaufgeregt kompetent und mit Herz weitergegeben.“
(Tonbandinterview, 229)
„Der Krankheitsverlauf wurde sehr klar dargestellt und zwar aus
dem Blickwinkel – was bleibt –.“ (Tonbandinterview, 239), „Es wurde überlegt, was kann in der Kirchengemeinde umgesetzt werden.“ (Tonbandinterview, 50)
Aussagen zum Thema Kirchengemeinde: „Persönliche Sensibilisierung hat stattgefunden.“ (Tonbandinterview, 233), „Kirchengemeinde braucht Menschen mit Vorbildcharakter, damit sich
wertschätzender Umgang mit Demenzkranken ausbreitet.“ (Tonbandinterview, 313), „Mitarbeitende haben die Freiheit gespürt,
den passenden Gottesdienst entwickeln zu können.“ (Tonbandinterview, 167), „Ehrenamtliche haben an Kompetenz dazu gewonnen.“ (Tonbandinterview, 276), „Das Thema Demenz ist jetzt stark
präsent.“ (Tonbandinterview, 281), „Der persönliche Gewinn
durch die Angebote in Kirchengemeinden ist die Hoffnung gegen
die Angst vor Demenz.“ (Tonbandinterview, 412), „In Kirchengemeinden wurden Gesprächscafés, Gottesdienste, Besuchsdienstschulun­gen initiiert.“ (Tonbandinterview, 50)
Stolpersteine oder Herausforderungen, Auswertung Interview:
„Kirchengemeinderäte sind sehr beschäftigt, haben eine Flut von
Themen.“ (Tonbandin­terview, 247 und 270), „Das Thema Demenz
wird nicht leicht angenommen, es ist sehr mühsam.“ (Tonbandin­
terview, 151)
4.1.3 Beobachtungen zum Teilziel 1
Die Projektarbeit wurde in der Ulmer Projektbegleitgruppe als bereichernd empfunden. Es konnte reflektiert werden, wie das Thema Demenz in Kirchengemeinden aufgenommen wird.
Obwohl die Folgen des demografischen Wandels auch in Kirchengemeinden drängende Fragen aufwerfen, lässt sich die Sensibilisierung und Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem
„Thema Demenz nicht mit Druck beschleunigen.“ (Tonbandinterview, 247 und 270). Es braucht Zeit und „gute Räume“, bis sich
Angehörige öffnen und die Kirchengemeinde mit dem Thema Demenz konfrontiert werden kann. Das zeigt sich am Beispiel UlmSöflingen. Dort wurde ein Gottesdienst für Menschen mit Demenz
gefeiert. In der Folge entstand ein starkes Interesse, den Besuchsdienst entsprechend weiter zu qualifizieren. Zudem wurden drei
Abende „Altern neu denken“ entwickelt und parallel Gesprächscafés angeboten.
Überall dort, wo Demenzbetroffene sich über das Pfarramt bei
ProjektDEMENZ Ulm meldeten, waren weitere Anfragen zu Veranstaltungen die Folge.
Demenz ist ein heikles Thema. Die erste Bemerkung bei Kontakten ist wiederholt: „Alles, bloß nicht Demenz“. Eine behutsame
Information über die Krankheitsentwicklung und über verbleibende Ressourcen bei Menschen mit Demenz in der Öffentlichkeit ist
aus diesem Grund umso wichtiger. Auch die gedankliche Auseinandersetzung mit den Fragen des persönlichen Menschenbilds ist
eine wichtige Aufgabe in Veranstaltungen in Kirchengemeinden.
Die Anfragen zu Veranstaltungen kamen überwiegend durch Weiterempfehlung zustande.
Schriftliche Informationen erfüllen nur sehr selten eine Funktion als Werbeträger! Das wurde deutlich in der strukturierten
Nachfrage bei Terminvereinbarungen und Erstkontakten, bei der
danach gefragt wurde, wie Menschen auf ProjektDEMENZ Ulm
aufmerksam wurden.
Am folgenden Beispiel werden die „Wahrnehmung des gesellschaftlichen Umbruchs“ s.o., und die Folgen des demografischen
Wandels deutlich:
Über 70 ZuhörerInnen nahmen an einem Abend zum Thema „Demenz und geistige Behinderung“ in einer Einrichtung der Lebenshilfe Ulm/Neu-Ulm teil. Mitarbeitende, Eltern und Leitung wollten
sich der Herausforderung Demenz stellen und luden die Diakonin
als eine langjährig Erfahrene in Behindertenarbeit und als Fachfrau für Demenz ein. Im Anschluss an diesen Vortrag ist die Weiterarbeit durch einen „Runden Tisch Behindertenarbeit und Altenarbeit“ angedacht. Der „kirchengemeindliche“ Boden wurde hier
verlassen.
Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden
Das ist meines Erachtens zweitrangig, weil
▶ die meisten der ZuhörerInnen einer christlichen Kirche
angehören
▶ alle mit meinem kirchlichen Ansatz konfrontiert wurden
▶ Kirche ja auch ihren Auftrag (unabhängig der oben genannten Ziele) in der Welt hat.
Entwicklung von gemeindespezifischem Angebot braucht exemplarische Ange­bote eines fachlich ausgebildeten Menschen mit hoher
persönlicher Kompetenz, Vorbildverhalten und Feldkompetenz.129
Cornelia Coenen-Marx beschreibt Kompe­
tenz im diakonischen
Umfeld wie folgt: „Fachwissen, theologische Reflexionsfä­higkeit,
Handeln in Spiritualität, Blick auf gesellschaftliche Umbrü­che mit
kirchli­chen Planungen verknüpfen.“130 In diesen Worten spiegelt
sich auch die persönliche Vorstellung der Stelleninhaberin von
beruflicher Qualität als Diakonin. In der Bearbeitung von Teilziel 1
wurden Facetten dieser beruflichen Qualität erkennbar.
4.2 Teilziel 2
Seelsorge und Beratung sind die Grundlagen eines menschenwürdigen Zusammen­lebens im Alltag von Betroffenen, ihren
Angehörigen und Mitgliedern der Kirchengemeinde.
4.2.1 Umsetzung: Zahlen, Daten, Fakten zu Teilziel 2
Strukturierte Telefoninterviews:
Bereits 2004/2005 wurden in Ulm durch strukturierte Telefoninterviews 1366 Haushalte angerufen (ein Drittel in ländlichen Gebieten,
zwei Drittel im Stadtgebiet, aus den Telefonbüchern zusammengestellt). Schwerpunktthema war: „Durch welche Hilfsange­bote würden
Sie bei der Versorgung demenziell Erkrankter am ehesten entlastet?“
87
Die Datenauswertung der Aussagen von 876 Teilnehmenden ergaben
interessante Aussagen zur Seelsorge:
25,6% der Befragten formulierten einen Wunsch nach Seelsorge
37,2% Interviewpartner formulierten den Wunsch nach einem
Besuchsdienst, der im erweiterten Sinn auch eine Form der Seelsorge darstellen kann.
Die Daten über demenzerkrankte Menschen in Ulm aus dem Altenhilfe­plan/Seniorenbericht 1998 der Stadt Ulm sind übereinstimmend mit den Angaben in den Telefoninterviews.
Schaubild 4: Auswertung Telefoninterviews
5. Frage
Unabhängig davon, ob Sie betroffen sind
oder nicht, durch welche Hilfeangebote
würden Sie in solch einer belastenden
Situation am ehesten entlastet?
Angaben
%
durch Hilfe bei der Körperpflege
318
36,3%
Hauswirtschaftliche Versorgung
243
27,7%
Information
375
42,8%
Beratung allgemein
243
27,7%
Behördengängen
180
20,5%
Rechtsberatung
154
17,6%
Besuchsdienste
326
37,2%
Betreuungsgruppen
309
35,3%
Angehörigengruppen
264
30,1%
Tagespflege
323
36,9%
Nachtaufsicht
254
29,0%
Seelsorge
224
25,6%
Quelle: ProjektDEMENZ Ulm (2005): Zwischenbericht, Tab. 13, S. 14
129
Vgl. Tonbandinterview 2012, 68, 78, 101, 114, 137, 154, 209.
Coenen-Marx 2011, S. 27.
130
88 Ulm
Schaubild 5: Anfragen
Ein differenziertes Bild zur Seelsorge zeigt die Übersicht ProjektDEMENZ Ulm Beratungs-Seelsorgebedarf 2005-2011. Aufgelistet
Fachleute
Anonym
Umfeld, Verwandte
Sohn
Literatur,
Fortbildung,
Ablösung Familiendynamik,
Überlastung,
Vollmacht
Patientenverfügung
Sterben, Tod
Tochter
Seelsorge:
Depression, Aggression,
Einsamkeit, Abbau von
Schuldgefühlen,
Ehefrau, Lebensgefährtin
Beratung:
Pflege,
Alltagsbetreuung,
Finanzen,
Ehemann, Lebensgefährte
Betroffene
2005
sind Anfragen an Diakonin Barbara Eberle. Anfragen an Kollege/Kollegin sind gesondert erhoben. Der zugrunde liegende Seelsorgebegriff ist weit gefasst und bezieht sich auf existenzielle, insbesondere
emotionale und spirituelle Krisen.
1
4
1
4
2
1
10
2
18
3
14
16
28
10
2006
1
2
2
7
4
2
1
2007
1
6
3
15
6
3
5
2008
1
1
6
17
4
5
2009
2
4
9
19
8
4
2
1
33
17
2010
2
4
11
21
4
8
1
4
34
31
2011
2
4
17
24
3
10
0
2
35
34
1
Quelle: ProjektDEMENZ Ulm (2005): Zwischenbericht, Tab. 14, S. 14
Im Zahlenbereich der tabellarischen Übersicht wird jeweils das überwiegende Gesprächsthema angegeben. Überschneidungen zwischen
den Themen bei Seelsorge – Beratung sind üblich, deshalb ist in diesem Feld in der Tabelle keine Trennlinie. Die Zahlen der einzelnen
Felder sind nicht immer logisch abzugleichen, da an den Gesprächen
z.T. mehrere Teilnehmende beteiligt waren und verschiedene Themen
angesprochen wurden. Alle Gespräche sind auf einem festgelegten
Dokumentationsbogen bei ProjektDEMENZ Ulm belegt.131
131
Dokumentationsbogen siehe Anhang.
Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden
4.2.2 Beobachtungen zu Teilziel 2
4.3 Teilziel 3
Die Reflexion der Gespräche und der genannten Beratungsanliegen
ergab:
Grundlage für Seelsorge- und Beratungsgespräche bildet eine
echte, zwischenmenschliche Beziehung zwischen ratsuchendem
Mensch und der Beratenden. Voraussetzung für ein Gespräch
über persönliche, existenzielle und spirituelle Krisen ist das Vertrauen, das durch die Erfahrung von Angenommen sein entsteht.
Dieses Aushalten und Innehalten, ohne sofort ein Hilfskonzept
entwickeln zu müssen, entlastet Angehörige in hohem Maß. Carl
Rogers hat diese Haltung folgendermaßen beschrieben: „Bedingungslose positive Zuwendung enthält Akzeptierungsbereitschaft
und Anteilnahme gegenüber dem Klienten als einem besonderen
und selbständigen Menschen, dem es erlaubt ist, eigene Empfindungen und Erlebnisse zu haben und darin eigene Bedeutungen
zu finden.“132 Menschen mit beginnender Demenz äußern in den
Gesprächen mit der Diakonin eine große Erleichterung, wenn sie
selbst über die Auswirkungen der Krankheit sprechen können
und nehmen sehr deutlich wahr, wenn ihre eigenen Empfindungen ernst genommen und nicht „zu schnell verstanden“, sondern
ausgehalten werden. Zu schnelles Verstehen lässt Angehörigen
bzw. Demenzerkrankten wenig Zeit, ihre emotionale Dynamik
wahrzunehmen und zuzulassen.
Seelsorge ersetzt keine sachlich und fachlich fundierte Beratung.
Sie muss in einer Sprache geschehen, die Menschen verstehen.
(Tonbandinterview 134, 303)
Die Übergänge zwischen Seelsorge und Beratung sind fließend.
Seelsorgerliche Themen stehen meines Erachtens in einem engen
Zusammenhang mit Sinn- und Existenzfragen, wie sie im Alltag
erlebt werden.
Eine wichtige Voraussetzung zur Seelsorge ist: Wachheit und
Sensibilität der Fachperson ermöglichen, ohne im Gespräch zu
wer­ten, die angemessene Gesprächsform. Authentisches Verhalten, d.h. ehrlich, kongru­ent, glaubwürdig sein.
Sachliche fundierte Beratung deckt nicht immer die gesamte Lebenswirklichkeit ab, wie folgender Gesprächsauszug zeigt:
Person X kommt aus einer städtischen Beratung. Sie fühlte sich
dort gut beraten. Sie kam anschließend zu mir mit einer speziellen
Frage. Im Gespräch kamen wir an heikle zwischenmenschliche
Erlebnisse. Die Person sagte mitten im Gespräch: „Hier zeige ich
sogar meine Scham und dass ich hoffnungslos bin, und Sie beraten es nicht weg.“133
Teilhabe am kirchengemeindlichen Leben ist für demenziell
Erkrankte und ihre Angehörigen durch Unterstützung, Impulse
und Anlei­tung von Mitarbeitenden ermöglicht.
Modelle von „demenzfreundlichen Kirchengemeinden“ werden dargestellt und sind für Interessierte abrufbar.
4.3.1 Umsetzung Modell Gottesdienst
Mehrere Gottesdienste in Ulm-Söflingen für Menschen mit Demenz
und Menschen in schweren Lebenslagen haben als Sondergottesdienst freitagnachmittags stattgefun­den. Obwohl auch ein weiterer
Gottesdienst in Ballendorf am Sonntagmorgen positiv aufgenommen
wurde, sind die Nachfragen aus weiteren Pfarrämtern für den sonntäglichen Gottesdienst zögerlich. Ein Konzept und ein exemplarischer
Gottesdienst liegen vor; sie sind auf der Homepage des OKR hinterlegt.134 Im Juli 2012 fand ein Gottesdienst im Ulmer Münster statt,
im Dezember in der Christuskirche Ulm, und im Januar 2013 ist ein
Gottesdienst für Langenau in Planung.
4.3.2. Beobachtungen zum Modell Gottesdienst
Obwohl Pfarrerinnen und Pfarrer gleichermaßen über Angebote
von ProjektDEMENZ Ulm informiert werden, ist es entscheidend,
wie und ob Themen persönlich aktuell sind. Das wurde bei Anfragen immer wieder formuliert. Entsprechend werden die Angebote
in Gemeinden transportiert oder auch nicht.
Der Freiraum, Demenz im Gottesdienst als Thema aufzunehmen,
wird durch die Themenfülle in Gemeinden verhindert. (Aussage
eines Kirchengemeinde­rats).135
Der persönliche Kontakt ist oft ausschlaggebend, das zeigen die
Erfahrungen der Stelleninhaberin. Ähnlich wie bei den Vorträgen
ist das Weitererzählen von Erlebnis­sen im Gottesdienst ähnlich
wichtiger „Werbefaktor“.
Viele Anfragen kommen direkt von z.B. Frauenkreisleiter/in, Seniorenkreisverant­wortlichen, die das ProjektDEMENZ Ulm aus der Beratungsarbeit, durch Mund-zu-Mund-Propaganda und/oder über
den Erfahrungsaustausch in Kreisbildungswerken kennen.
134
132
Rogers 1985, S. 277.
133
Tonbandinterview 146.
89
https://www.service.elk-wue.de/oberkirchenrat/kirche-und-bildung/diakonat/projektdiakonat-neu-gedacht-neu-gelebt/teilprojekte.html
135
Vgl. Tonbandinterview, 247 und 270.
90 Ulm
Drei Abende mit dem Thema „Altern neu denken, Reise in ein
unbekanntes Land“ wurden mit ProjektDEMENZ Ulm in einer Kirchengemeinde entwickelt. Die Teilnehmenden arbeiteten am Thema „Altwerden heute“ und vertieften sich erst anschließend in das
Thema Demenz.
Eine weitere Kirchengemeinde nahm diese Anregung mit einem
Vortrag auf, da Kirchengemeinderäte die Abende in der o.g. Kirchengemeinde miterlebt hatten.
4.3.4 Beobachtungen zum Modell Gesprächskreis
Allein die hohe Frequenz der Teilnehmenden zeigt die Notwendigkeit
von Möglichkeiten zur „Teilhabe am Leben“, punktuell durch dieses
Gesprächsangebot. Betroffene selbst nehmen sich wahr und werden
nicht durch Angehörige dominiert. Allerdings wird noch eine konzeptionelle Weiterentwicklung anstehen. Es zeigt sich, dass durch das
Krankheitsbild bedingt Menschen nach etwa zwei Jahren die Gruppe
verlassen, weil durch die Erkrankung die sprachliche Ausdrucksmöglichkeit zunehmend stärker beeinträchtigt wird.
4.3.3 U
msetzung Modell Gesprächskreis
für Menschen mit beginnender Demenz
Auch der begleitende Beratungsmodus muss bedacht werden: „Das
Augenmerk muss sich auf Menschen richten, die spezifische Ängste,
Sorgen und Nöte in ihrem sozialen Umfeld formulieren.
Schon zu Beginn von ProjektDEMENZ Ulm war Herr Univ. Prof. Dr.
med. M. Riepe, Geschäftsführender Oberarzt Gerontopsychiatrie
BKH Günzburg, Leiter Sektion Gerontopsychiatrie Universität Ulm,
ein wichtiger fachlicher Gesprächspartner zu Weiterentwicklungen.
Erste Unterstützungsangebote in diesem Stadium (Frühstadium,
Anm. d. Verf.) sollten vor allem darauf abzielen, das Spektrum der
Verhaltensmöglichkeiten zu erweitern und schließlich Handlungsoptionen für die Zukunft hervorzubringen.
Er regte 2007 eine Gruppengründung für jung Erkrankte und auch für
betroffene Menschen im Frühstadium der Demenz an. Durch das Angebot einer Mitarbeiterin der Psychologischen Beratungsstelle Ulm
wurde dann 2010 die Absicht, eine Betroffenengruppe im Frühstadium der Demenz zu gründen, Realität. Bei Demenz im Frühstadium136
ist ein sprachlicher Austausch noch möglich. Ist die Erkrankung fortgeschritten, wird ein Gruppengespräch durch die sprachlichen Verluste erschwert bzw. unmöglich.
Besondere Aufmerksamkeit muss dabei dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung gewidmet werden, um auf diese Weise eine
Beratungskontinuität zu erreichen ...“139 Weiterentwicklung müsste
deshalb ein koordiniertes und integriertes Hilfsangebot in den Blick
nehmen. Hierzu sind die ersten Gespräche mit der Sozialbürgermeisterin der Stadt Ulm und dem Verein „TrotzDEM“, der auf inkludierende Konzepte abzielt, ins Auge gefasst.
Jeweils eine mitarbeitende Person der Psychologischen Beratungsstelle und aus dem ProjektDEMENZ Ulm haben diese Gruppe gestartet, sie sind erfreut über den regen Zuspruch. Die Projektstelleninhaberin stand in der Gründungsphase beratend zur Seite. Der
Gesprächskreis erreicht bis zu 12 Menschen mit beginnender Demenz. Immer wieder stoßen Interessierte dazu.
Die Gruppe trifft sich 14-tägig im moderierten Selbsthilfegruppenstatus.137 Im Gesprächskreis für Menschen mit beginnender Demenz
wird in der Praxis umgesetzt, was Helga Rohra aus der Sicht Betroffener folgendermaßen beschreibt: „Richten Sie Ihr Augenmerk nicht
nur auf unsere Defizite, sondern forschen Sie nach unseren Ressourcen. Häufig können wir noch viel mehr, als Sie es für möglich halten,
ganz egal, wie fortgeschritten die Demenz auch ist. Lassen Sie es
nicht zu, dass wir isoliert und an den Rand der Gesellschaft gedrückt
werden. Wir wollen integriert bleiben.“138
136
„Entscheidendes Frühsymptom der Erkrankung ist eine schleichend zunehmende Verschlechterung des Gedächtnisses .... Auffällig werden solche Einschränkungen meistens
erst, wenn sie zu Problemen in der Bewältigung alltäglicher Aufgaben und Aktivitäten
führen ... Im weiteren Verlauf kommt es dann zu einer Verschlechterung weiterer
kognitiver Fähigkeiten wie des Orientierungsvermögens, des planenden Handelns, der
visuell-räumlichen Fähigkeiten und der Sprache. Wortfindungsstörungen können sehr
früh auftreten und sich zu einer starken Belastung entwickeln. Da sie in Gesprächen sehr
hinderlich sind, führen sie zusammen mit der Vergesslichkeit oft zum sozialen Rückzug
der betroffenen Person.“ (Perneczky / Danek / Förstl 2006, S. 53 ff.)
137
www.agush.de
138
Rohra 2011, S. 86.
Tragendes Element diakonischer Arbeit bleibt, dass die Liebe Gottes
allen Menschen gilt, auch den Vergessenden und den Menschen, die
durch Betreuung und Pflege an der Teilhabe am Leben eingeschränkt
sind. Durch die seelsorgerliche Zuwendung kann und soll diese Liebe
zum Ausdruck kommen und darf von Betroffenen erwartet werden.
4.3.5 Umsetzung Modell Gesprächscafé Alter und Demenz
Überraschend schnell und positiv wurde das Konzept Gesprächscafé Alter und Demenz in vielen Gemeinden aufgenommen (siehe
auch Punkt 4.1.1). Das Konzept Gesprächscafé Alter und Demenz
entstand 2008 innerhalb einer Kooperation mit einer Mitarbeiterin
in einem Stadtteilprojekt. Angehörige erleben das Gesprächscafé als
Ort des Austauschs, der emotionalen Wärme und der Gemeinschaft.
An fünf Nachmittagen werden in offener Runde, die Anonymität und
unregelmäßige Teilnahme zulässt, Themenrunden angeboten. Um die
geschützte Atmosphäre der Gesprächsrunden zu wahren, wurde anfangs von einer schriftlichen Befragung abgesehen.
Hier als Beispiel die erste Themenreihe:
„Er erzählt 100 mal dasselbe.“
Persönlichkeitsveränderungen und doch altern in Würde?
139
Langehenning 2006, S. 39.
Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden
„Und dann kleckert sie sich einfach nur voll…“
Peinlichkeiten und Scham als Begleiter im Alltag?
„Sie fährt noch immer Auto, obwohl sie keine Orientierung
mehr hat.“
Rechte und Vollmachten im Zusammenleben.
„Und ich kann`s nie recht machen!“
Überforderung, Schuldgefühle und wo bleibe ich?
4.3.6 Beobachtungen zum Modell Gesprächscafé
Obwohl wir 2008 das Gesprächscafé als städtisches Nahraumkonzept entwickel­ten, zeigt die Übertragung in den ländlichen
Raum durch die überraschenden Besucher­Innenzahlen (bis zu 41
Gästen), dass es offensichtlich gelingt, vorhan­dene Bedürf­nisse
nach Austausch in geeigneter Form aufzunehmen
(siehe 4.1.1).
Gäste erfahren, dass aktuelle Anliegen ernst genommen und
kompetent bearbeitet werden. (Tonbandinterview, 72ff)
„Ich habe tagelang keinen zum Reden.“
Abschied, Verluste und Trauer im täglichen Zusammenleben.
Die Konzeption des Gesprächscafés und weitere Themenreihen sind
bei ProjektDEMENZ Ulm abrufbar und auf der Homepage des Oberkirchenrats140 in Aus­schnitten bereits veröffentlicht. Eine schriftliche
Arbeitshilfe wird zurzeit erstellt, und Fragebögen werden ab Dezember 2012 ausgewertet. Zur Verdeutlichung der Erfahrungen von Teilnehmenden werden einige Zitate aus den Gesprä­chen im Gesprächscafé angeführt.
Person A: „Und den alten Schlüssel (den es als Mitnehmsel gab,
Anmerk. der Verfasserin) hab` ich mir an meine Infowand gehängt. Er erinnert mich bei Gesprächen mit meinem Vater daran,
dass ich den richtigen Zugang suchen muss.“141
Person B: „Ich habe mir immer Vorwürfe gemacht, wenn ich nicht
10 Stunden bei ihr im Altenheim blieb. Seit ich ins Gesprächscafé
komme, merke ich, dass ich offener zu meiner Mutter gehe, und
es ist besser, wenn ich entspannt etwas weniger lange da bin,
aber dafür dann mit ganzem Herzen.“
Person C.: „Jetzt habe ich gesagt, halt, so kannst Du nicht mit mir
reden (Person C. zur kranken Mutter). Das hätte ich mich vor dem
Gesprächscafé nicht einfach getraut.“
91
Im Gesprächscafé bekommen belastende Situationen Raum.
(vgl. Tonbandinter­view, 114)
Die Atmosphäre ist von entscheidender Bedeutung.
(Tonbandinterview, 136)
Bereits über Ulms Grenzen hinaus ist das Modell Gesprächscafé
Alter und Demenz vorgestellt und zum Teil durchgeführt worden
(Kirchentage, Bremen/Dresden, Dia­konisches Werk Stuttgart,
Giengen/Brenz, Heidenheim).
Der Erfolg des Modells Gesprächscafé Alter und Demenz lässt
sich auch ablesen im Seniorenbericht der Stadt Ulm, in dessen
Handlungsempfehlungen die Einrichtung des Gesprächscafés Alter und Demenz in verschiedenen Stadtteilen in hohem Maß angeregt wird.142 Der Zuschuss der Kommune basiert wesentlich auf
den stadtteilori­en­tierten Angebotsformen.
4.3.7 Umsetzung Modell Besuchsdienstschulungen
Immer wieder bekundeten Kirchengemeinden ihr Interesse an Schulungen der Besuchsdienste zum Thema Demenz. Fünf Themenblöcke
wurden inzwischen erarbei­tet:
Einige Stimmen beim Verabschieden im Gesprächscafé:
Person D: „Ich dachte, hier gibt es einen Vortrag, und ich war eigentlich zu müde und erschlagen. Und jetzt habe ich wieder Kraft
für den Alltag, weil ich merke, ich bin nicht allein.“
Person E: „Hier wird man richtig ernst genommen mit seinen
schweren Fragen.“
Person F: „Die Zuwendung und die Liebe hier, das ist es, warum
ich komme.“
Was geht verloren, was bleibt?
Wie Menschen „AnSehen“ geben?
Wo Vergessende nicht vergessen werden.
Wenn Menschen Würde erleben.
Was ist zu tun, was ist zu lassen?
Inhalte dieser fünf Blöcke sind: Auswirkungen des demografischen
Wandels, Krankheitsbilder Demenzen, Alltag mit demenzerkrankten
Menschen, Herausforderung für betreuende Angehörige, Menschenbild – Leben mit Bruchstücken, Kommunikation, Miteinander trotz
Demenz.
Person G: „Ohne die Impulse und die Anregungen würde ich es zu
Hause mit meinem Kranken nicht mehr aushalten.“
140
https://www.service.elk-wue.de/oberkirchenrat/kirche-und-bildung/diakonat/projektdiakonat-neu-gedacht-neu-gelebt/teilprojekte.html
141
Dieses und die folgenden Zitate wurden während oder nach Gesprächscafés von der
Stelleninhaberin und/oder einer Praktikantin während der Laufzeit des Projektes notiert.
142
Vgl. Stadt Ulm (Hrsg.) 2010, S. 72ff.
92 Ulm
4.3.8 Daten, Fakten Besuchsdienstschulungen
In 7 Kirchengemeinden fand je eine Schulung statt.
In 4 Kirchengemeinden fanden je 2 Schulungen statt.
In 1 Kirchengemeinde fanden 3 Schulungen statt.
Insgesamt 350 Teilnehmende besuchten 18 Schulungen,
durchschnittlich also 19 Inte­ressierte.
4.3.9 Beobachtungen zum Modell Besuchsdienst
Die geäußerten Erfahrungen aus der Besuchsdienstarbeit machen
deutlich:
Die Besuchsdienste leiden größtenteils unter Nachwuchsmangel.
Etliche Leiterinnen klagen über „nicht angefragt werden“;
sie machen „nur die Geburtstagsbesuche“.
Demenzkranke Menschen zu besuchen ist eine hohe Hürde.
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Alter kommt
wenig zur Sprache.
Die momentanen angebotenen Konzepte von Besuchsdienst schulungen fordern ein großes Engagement.
Meines Erachtens sind eine grundsätzliche Analyse und eine Bestandserhebung unter der Fragestellung nötig: Was will Kirchengemeinde? Wer braucht/will einen Besuch von wem? Welche Erwartungen sind im Raum? Wie müssen Menschen ausgebildet, be­gleitet
sein, die sich diesen Erwartungen stellen?
5. Fazit und Ausblick
5.1. Fazit
Anderen ohne Vorbehalte auseinan­dersetzt, und ich wollte präsent
sein. Das bedeutet auch, mit den Ratsuchenden hineinzugehen in den
großen Schmerz des Vergessens, heißt auch, zu keiner Vertröstung
zu greifen, sondern diesen Verlust an mich herankommen zu lassen,
ohne darin zu versinken.
Zusätzlich will ich als seelsorgerlich Handelnde eine Horizonterwei­
terung in den Blick nehmen. Kann ich eine Hoffnung vermitteln, welche Einsicht kann ich verstärken, welche Perspektiven nehme ich
auf? Ich sehe meine seelsorgerliche Aufgabe darin, Gehörtes in einen
größeren Zusammenhang des Verstehens zu stellen und in großer
Achtsamkeit die individuelle Problematik zu interpretieren und zu
respek­tieren.
Durch die Ausbildung, Selbsterfahrung und Selbstreflexion wurde
mir eine Haltung der Echtheit, Akzeptanz und Empathie143 zur Überzeugung in der seelsorgerlichen Ge­sprächsführung selbstverständlich. In der breiten Öffentlichkeit wollte ich durch meine Haltung
überzeugen, auf Lebenswegen ein Stück mit zu gehen und sich mit
christlicher Zuversicht von Fragen, Ängsten und Hoffnungen bewegen zu lassen und sie – wo es geht – zu teilen.
Ich wollte aufmerksam sein, weil es im großen Feld der Verluste bei
einer Demenzer­krankung trotzdem Fundstücke geben könnte, die Leben sinnvoll sein lassen können. Die Auseinandersetzung mit dem
„Abschied zu Lebzeiten“ hat auch meine persönli­chen Einstellungen
zum Leben und Sterben sehr beeinflusst.
Meine Chance war die Doppelqualifikation als Diakonin. Ich bin befähigt, berufen, beauftragt, ver­antwortlich seelsorgerlich zu reden und
zu handeln. Aus sozialpädagogischer Sicht oder (nur) aus meiner
eigenen Überzeugung seelsorgerlich zu arbeiten – ist es eine Freiwilligkeit, auch unter Umständen eine Überforderung, während ich mir
als Diakonin in jeder Situation meiner Berufung und Verpflichtung
sicher sein darf.
Alle Projektziele auf den drei Handlungsebenen sind erreicht worden.
Das Thema Demenz wurde in vielen Gruppierungen der Kirchengemeinden aufge­nommen.
Menschen, die durch die Erkrankung Demenz betroffen sind,
finden zu ProjektDEMENZ Ulm.
Engagierte werden bei Gemeindeaktivitäten zum Thema Demenz
begleitet.
5.2. Persönliche Schlussbemerkungen
Aus der Perspektive der Diakonin sei festgehalten: Die Projektarbeit
hat große Freude gemacht, ich gehe sehr reich beschenkt mit diesen
Erfahrungen in die Altersteilzeit. Ich habe mich in meinen verschiedenen Arbeitsfeldern verstanden als Beraterin, die sich mit der Not des
5.3Ausblick
Die wichtige Frage ist, nicht nur bei Demenz: was bleibt? Wo liegen hier zukünftige Aufgaben für eine Kirche mit ihrem Schatz der
Seelsorge? Weitere strukturelle Fragen, z.B. in wie weit sich Kirche
den Herausforderungen stellt, die durch den demografischen Wandel
entstehen, bleiben offen. Fachlich kompetente Arbeit kostet Geld und
kann langfristig nicht befriedigend ausschließlich durch das Ehrenamt abge­deckt werden!
Eine Möglichkeit der inhaltlichen Weiterentwicklung sehe ich zum
Thema Scham im Kontext von Krankheit, Versagen und Generationenfragen (Kriegstraumen). Angeregt und sensibilisiert durch Gespräche im Gesprächscafé Alter und Demenz „Er kleckert sich immer
voll, Scham und Peinlichkeiten im Alltag“ vertiefte ich mich in das
143
Vgl. zu dieser Haltung Rogers 1985.
Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden
Thema Scham. Es gibt verschiedene Forschungen144 die enge Zusammenhänge zwischen Schamgefühlen und Erkrankungen aufzeigen. Sie erkannten, wie sehr die Generation der im Krieg geborenen
und im Krieg gewesenen Menschen von Schamgefühlen erfüllt und
geprägt war. Die Stadt Ulm und ProjektDEMENZ Ulm planen mit weiteren Partnern einen Fachkongress zum Themengebiet Kriegstraumen/Scham im Herbst 2013.
93
Anhang: Eine typische Projektsituation:
Gesprächscafé Alter und Demenz
Hilflosigkeit, Angst, Wut und Resignation sind Kennzeichen der Situation von Angehö­rigen, die Menschen mit Demenz betreuen bzw.
pflegen. Dies wird deutlich aus Aussagen von Teilnehmenden der
Gesprächscafes: 146
In unserem Projektantrag an den OKR haben wir im Jahr 2008 formuliert:
T1: „Und manchmal weiß ich wirklich nicht, hält er mich zum Narren, oder ist er wirklich krank!“
„Wir sind aufgrund der gemachten Erfahrungen in Ulm der Überzeugung, dass wissen­schaftsgestützte gemeindenahe Projektumsetzungen verbunden mit Zukunftsthemen, hier exemplarisch
Thema „Demenz“, für die Weiterentwicklung des Berufsbildes
von Diakoninnen und Diakonen wesentlich werden.“145
Mit dieser Aussage beginnen häufig Beratungsgespräche bei ProjektDEMENZ Ulm. Das persönliche Gespräch, die Möglichkeit zur
mehrmaligen Beratung und Begleitung sind bedeutende Grundpfeiler
der Arbeit. Immer wichtiger wird jedoch zusätzlich die Teilnahme von
betreuenden und pflegenden Angehörigen an einem Gesprächscafé
Alter und Demenz. Hier, im moderierten Gruppengespräch mit einem
Themenimpuls, erfahren Angehörige durch gegenseitiges Bestärken
und im Austausch ihrer Erfahrungen viel Unterstützung und Zuspruch. Die Gesprächscafés sind offen, das be­deutet für mich eine
ständig wechselnde Gruppenzusammensetzung, immer wieder neue
und auch wiederkehrende Fragen, die es aufzunehmen gilt, um sie
dann wieder in die Runde zu geben.
Der Themenkomplex der (biografischen) Scham, der Beschämung
und der Erhalt oder die Wiedererlangung von Würde wird u.E. die
künftige diakonische Arbeit und die Fort- und Weiterbildung im Diakonat und seinen Arbeitsfeldern nachhaltig beeinflussen.
T2: „Ja, in einem Moment weiß meine kranke Mutter ihren Namen
nicht, und kurz darauf sagt sie zu mir: ’Du brauchst mir nicht zu
sagen, wie ich heiße, das weiß ich schon’!“
T3: „Bei mir ist es so, dass ich dann genervt bin und laut und
ungeduldig werde.“
Der Salatkopf in der Schublade,
die Socke im Geschirrspüler,
die Sonnenblume verkehrt in der Vase,
Anzeichen einer Demenzerkrankung!
Hier hilft erfahrungsgemäß eine Information und Aufklärung über die
Auswirkungen einer Demenzerkrankung im Alltag. Manchmal sprechen sich Teilnehmende im Ge­sprächscafé Alter und Demenz selbst
auf den nötigen inneren Abstand an, tauschen sich über die unerlässlichen Unterstützungsangebote aus und entlasten sich gegensei­tig
von Perfektionismus.
T4: „Mir geht es oft auch so, da hilft bloß, dass ich einmal in der
Woche durch die Nachbar­schaftshilfe weg kann, dann renne ich
durch den Wald, das entlastet mich.“
„Ich kann hier zum ersten mal mit einem
Miterkrankten selbst reden“
sagt ein demenzerkrankter Mann im Gesprächskreis
für Menschen mit beginnender Demenz.
ProjektDEMENZ Ulm unterstützt Demenzerkrankte,
ihre Angehörige und macht Kirchengemeinden sensibel
für das Miteinander, wenn Menschen vergessen!
T5: „Wenn ich humorvoll auf die Rüge reagiere, dann lacht meine
Mutter mit, und sie ver­gisst ihren Vorwurf an mich.“
Es sind schwere Wege, die Angehörige von verwirrten Menschen gehen. Der durch die Demenzerkrankung nötige Rollenwechsel, jetzt
als Tochter für und oft über die Mutter bestimmen zu müssen, ist
seelisch belastend. Auch die Hilfsbedürftigkeit und der Ver­lust der
Selbstständigkeit sind in der Beziehung, die manchmal noch von der
Familien­dynamik der früheren Jahre geprägt ist, Themen, die der
Auseinandersetzung und Be­gleitung bedürfen.
144
145
Vgl. Saum-Aldehoff 2011, S. 52-53.
Projektantrag
146
Alle hier aufgeführten Zitate sind gesammelte Mitschriften aus den Gesprächscafés.
94 Ulm
T6: „Es ist gut, wenn ich von anderen höre, dass die Betreuung
Demenzerkrankter an die Grenzen der Belastbarkeit geht, das erleichtert mich.“
Saum-Aldehoff, T. (2011): Die Wunden des Krieges,
in: Psychologie heute. 20, S. 52-54.
Stadt Ulm (Hrsg.) (2010): Seniorenbericht. Verfügbar unter:
Angehörige nehmen Impulse von Betroffenen besser an, als von
Fachleuten, das ist die große Chance im Gesprächscafé Alter und Demenz. Gesprächscafé-Teilnehmende formulieren immer wieder, wie
schwer es ist, das erste Mal zum Gespräch zu kommen. Doch sehr
rasch erfahren sie Entlastung und Unterstützung in ihrer Situation
der Angst, Hilflosigkeit und Resignation durch den Austausch miteinander.
Die Arbeitshilfe „Gesprächscafé Alter und Demenz“, ein Ulmer Modell
zur Nachahmung, ist bei ProjektDEMENZ Ulm abrufbar.
Literaturverzeichnis
Benedict, H.-J. (2008): Klagen, Hoffen, Zagen, Danken. Die religiöse
Dimension in der professionellen Begegnungsarbeit des Diakons,
in: Merz, R./Schindler, U./Schmidt, H. (Hrsg.): Dienst und
Profession, Heidelberg, S. 134-139.
Coenen-Marx, C. (2011): Engagement und Spiritualität. DiakonInnen
und Diakone in der Kirche der Zukunft, in: Der Geist wirkt in den
Fugen (Impuls 2011, H. 4), Berlin, S. 19-31.
Diakonische Bezirksstellen Ulm/Alb-Donau (Hrsg.) (2001):
Qualitätsmanagement-Handbuch. Leitbild.
Langehennig, M. (2006): Das „soziale Frühstadium“ der Alzheimer
Krankheit als kriti­sche Wegstrecke der Krankheitsbewältigung, in:
Aldebert, H. (Hrsg.): Demenz verändert. Hintergründe erfassen,
Deutungen finden, Leben gestalten, Schenefeld, Bz. Hamburg,
S. 21-52.
Perneczky, R./Danek, A./Förstl, H. (2006): Frühdiagnostik der
Demenz. Alzheimer – Krankheit und Demenz, in: Aldebert, H.
(Hrsg.): Demenz verändert. Hintergründe erfas­sen, Deutungen
finden, Leben gestalten, Schenefeld, Bz. Hamburg, S. 53-62.
Prantl, H. (2010): Was Kirche war, ist – und sein kann. Verfügbar
unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/oekumene-was-kirchewar-ist-und-sein-kann-1.941173 (01.03.2012).
ProjektDEMENZ Ulm (2005): Zwischenbericht, Ulm.
Rogers, C. R. (1985): Entwicklung der Persönlichkeit, Stuttgart.
Rohra, H. (2011): Aus dem Schatten treten – Warum ich mich für
unsere Rechte als Demenzbetroffene einsetze, Frankfurt am Main.
http://www.ulm.de/sixcms/media.php/29/Ulmer%20Seniorenbericht.pdf (21.12.2012).
95
Sozialdiakonie und Seelsorge
am Krankenbett
Bericht 8: Altensteig
Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege
Gerd Gauß
Projektort:
Altensteig
Projektträger:
Evangelischer Kirchenbezirk Nagold/
Evangelische Kirchengemeinde Altensteig/
Diakoniestation Altensteig
Projektstelleninhaber:
Diakon Gerd Gauß
96 Altensteig
Die Wahrnehmung des diakonisch-missionarischen Auftrages der
Kirche wurde fixiert durch die normative Zielvorgabe:
„Die Diakoniestation verfügt über ein starkes diakonisches
Profil, das von den haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden
gelebt, von den Patienten und ihren Angehörigen erlebt und in
der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.“
Mit dieser normativen Zielvorgabe zählte das Teilprojekt zu den „zielgruppenorientierten Teilprojekten“, wobei vier Zielgruppen in den
Blick genommen wurden:
1. Einleitung: Projektbeschreibung und Gesamtschau
die MitarbeiterInnen in der Diakoniestation
ehrenamtliche MitarbeiterInnen für die ambulante Hospizarbeit
die PatientInnen der Diakoniestation und ggf. deren Angehörige
die Öffentlichkeit im Einzugsgebiet der Diakoniestation Altensteig
In unserer Gesellschaft werden Menschen immer älter. Der „demographische Wandel“ ist in aller Munde. Die daraus resultierenden
Herausforderungen sind vielschichtig und vielfältig. Zu einer der
ganz großen Herausforderungen in diesem Zusammenhang gehört
die Versorgung alter Menschen. Umfragen bestätigen, dass fast alle
nicht im Krankenhaus oder Heim, sondern – wenn schon – in den
eigenen Wänden sterben wollen. Letztendlich geht dieser Wunsch
jedoch nur für rund ein Drittel in Erfüllung. Umso stärker spürt man
die Bemühungen, das Leben in den eigenen vier Wänden wenigstens
möglichst lange hinauszuschieben. Dazu bedarf es gut aufgestellter
Nachbarschaftshilfen und ambulanter Pflegedienste, die ihre Profile
und Kompetenzen durch die Weiterentwicklung von Leitbildern immer weiter entwickeln und weiter verbessern.
Die Trägerschaft für die Projektstelle liegt beim Evangelischen Kirchenbezirk Nagold. Die durchführende Stelle ist die Diakoniestation
Altensteig, deren Trägerin die Evangelische Kirchengemeinde Altensteig ist. Bei dem Teilprojekt handelt es sich um eine Anstellung mit
25 % Stellenanteilen. Diese Stelle wurde am 1. September 2008 mit
Diakon Gerd Gauß, besetzt.
Von diesem Hintergrund her bewarb sich die Diakoniestation Altensteig im Rahmen des landeskirchlichen Projekts „Diakonat – neu gedacht, neu gelebt“ um ein Teilprojekt mit dem Titel „Sozialdiakonie &
Seelsorge am Krankenbett“. Teilziele des Teilprojekts waren und sind
die Stärkung des christlichen Profils der Diakoniestation in der häuslichen Pflege durch die
(1) Weiterentwicklung der geistlichen Kompetenzen
der Mitarbeitenden
Die Schulung und Begleitung der MitarbeiterInnen zeigte im Verlauf
des Projekts sehr deutlich, dass hier ein großer Bedarf gegeben ist.
Die Ergebnisse aus unserem Teilprojekt zeigen, dass bei MitarbeiterInnen in kirchlichen bzw. diakonischen Einrichtungen der Wunsch
nach fachlicher, spiritueller und seelsorgerlicher Förderung stark vorhanden ist. Es zeigte sich aber auch, dass der Bedarf aus der Praxis
des Alltags erwächst und daher auch ganz praxisnah und alltagstauglich sein muss. Theorie ist dann hilfreich und wird als solche
angenommen, wenn sie sich mit den Erfahrungen im Beruf deckt
– oder zumindest berührt – und diesen eine neue Perspektive gibt.
Andachtsimpulse und Fortbildungseinheiten müssen mit konkreten
Fallbesprechungen in Dialog treten. Nur dann können Glaube und
Handeln eine Einheit bilden und sich gegenseitig bereichern zu „geerdetem Glauben“ und „Handeln mit weitem Horizont“.
sowie durch den
(2) Aufbau eines sozialdiakonisch-seelsorgerlichen Beratungsdienstes für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen.
Während des Projektverlaufs wurde dieses zweite Anliegen erweitert
und konkretisiert um den
(3) Aufbau eines ambulanten Hospizdienstes für das Einzugsgebiet der Diakoniestation.
Als weitere Aufgabe war die
(4) Mitgestaltung in der Öffentlichkeitsarbeit vorgesehen,
durch die die Diakoniestation in der Öffentlichkeit als kirchliche
Anlaufstation für Nöte im Kontext von Krankheit, Pflege, Sterben
und Tod wahrgenommen wird.
Um es gleich vorweg zu sagen: Nicht alle Erwartungen und Wünsche
erfüllten sich in unserem Teilprojekt. Es kam zu Enttäuschungen und
dadurch zur Umstrukturierung und Neuausrichtung der Ziele. Die
Projekterfahrungen waren trotzdem – oder gerade deshalb – sehr
interessant und aufschlussreich. Folgendes soll zusammenfassend
schon vorweg gesagt und festgehalten werden:
Beim Auf- und Ausbau des sozialdiakonisch-seelsorgerlichen Beratungsdienstes waren die Enttäuschungen am stärksten. Die Erfahrungen zeigten, dass die meisten Patienten und ihre Angehörigen
möglichst wenige und verlässliche Bezugspersonen wünschen. Das
Angewiesensein auf Hilfe bringt für den Hilfsbedürftigen und seine
Angehörigen viele Veränderungen und Turbulenzen mit sich. Es zeigte sich daher, dass die Fixierung auf eine Person erfolgt, von der
man eine ganzheitliche Unterstützung und Begleitung wünscht. Die
Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege
„nachgehend-seelsorgerlichen“ Dienste durch den Projektstelleninhaber wurden daher nur zögerlich nachgefragt und angenommen.
Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, die MitarbeiterInnen über die reine Pflege hinaus für eine ganzheitliche Begleitung ihrer Patienten zu
gewinnen. Als Anregung sei hier nur die Frage gestellt, wie wir als
Kirche Seelsorge verstehen und umsetzen. Ist uns hier durch die
zunehmenden Erkenntnisse der Psychologie und die daraus resultierende Spezialisierung der Seelsorge die Alltagsbezogenheit verloren gegangen? Die MitarbeiterInnen in Diakoniestationen sind als
„hörende Ohren“ und „sehende Augen“ und mit „weitem Herz“ ganz
nah bei den Menschen. Sie sind der „verlängerte Arm“ der Kirche.
Als solcher wollen sie aber auch befähigt, geschult, beauftragt und
begleitet sein. Hier gibt es durchaus Entwicklungspotenzial.
Der Aufbau des ambulanten Hospizdienstes und die Mitgestaltung
der „Altensteiger Diakonietage“ als Baustein der Öffentlichkeitsarbeit
zeigten deutlich, wie präsent und herausfordernd die Fragen in Bezug
auf Krankheit, Sterben, Tod und Jenseits sind. Die beiden „Altensteiger Diakonietage“ 2010 und 2012 stießen mit ihren Vorträgen,
Podiumsdiskussionen, kulturellen Abenden und den Gottesdiensten
jeweils auf starkes Interesse. Hier wird die Diakonie durch ihre Praxiserfahrung sehr ernst genommen und gehört. Es bestehen vielfältige
Möglichkeiten, mit Menschen über ihr Leben, ihre Ängste und Sorgen, aber auch über ihre Hoffnungen und ihren Glauben ins Gespräch
zu kommen. Die gemachten Erfahrungen können als Anregungen genutzt und multipliziert werden.
2. Vertiefte Evaluation: Zielvorgaben, methodisches
Vorgehen, Beobachtungen und Erkenntnisse
Das Teilprojekt „Sozialdiakonie und Seelsorge am Krankenbett“ hatte
ursprünglich vor allem zwei strategische Ziele im Blick, nämlich die
(1) Schulung, Begleitung und Unterstützung der MitarbeiterInnen in seelsorgerlichen Fragen und Belangen
und die
(2) weiterführende bzw. nachgehende Seelsorge, Beratung
und Hilfevermittlung für Patienten und deren Angehörigen bei
lebensgeschichtlichen und sozialen Fragen und Problemen.
Weil dieses zweite Anliegen zu Beginn des Projekts weniger als gedacht an- und abgefragt wurde, kam es zu einer Erweiterung des
Auftrags mit dem Ziel der
(3) Findung, Schulung und Einführung von ehrenamtlichen
MitarbeiterInnen für ambulante Hospizdienste und damit verbunden der Aufbau einer ambulanten Hospizgruppe
97
Darüber hinaus wurde als weitere Zielvorgabe der Wunsch geäußert,
im Rahmen der Möglichkeiten im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit
mitzuwirken:
(4) Die Diakoniestation wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen als kirchliche Anlaufstelle für Nöte im Kontext von
Krankheit, Pflege, Sterben und Tod. Der Diakon wirkt bei dieser Aufgabe mit.
In der vertieften Evaluation soll es vorwiegend darum gehen, die ersten beiden Ziele und ihre Umsetzung zu beleuchten. Außerdem soll
dabei vor allem dem Grund für die nur bedingt nachgefragte „weiterführende Seelsorge, Beratung und Hilfsvermittlung“ nachgespürt
und mögliche Gründe dafür offen gelegt werden.
Zu diesem Zweck wurde mit fünf MitarbeiterInnen der Diakoniestation eine Gruppendiskussion durchgeführt. Sie fand am 01.12.2011
in der Diakoniestation Altensteig statt und dauerte rund eineinhalb
Stunden. Nach Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr147 dient
die Erhebung einer Gruppendiskussion der Generierung von Hypothesen, Annahmen und Ideen.
Gegenstand der Untersuchung sind Meinungen und Einstellungen,
wie sie während der Diskussion – mehr oder weniger – wörtlich genannt werden. Die TeilnehmerInnen einer Diskussionsrunde werden
als Repräsentanten von makrosozialen Einheiten verstanden, also in
unserem Falle stellvertretend für alle MitarbeiterInnen im Bereich der
Pflege.
Der Gegenstand der Gruppendiskussionen sind kollektive Orientierungen, Wissensbestände und Werthaltungen. Diese entstehen nicht
erst im Diskurs, sondern werden durch diesen repräsentiert. Den Zugang zu ihnen ermöglicht die Analyse selbständiger Passagen in der
Gruppendiskussion.
Das Gruppendiskussionsverfahren eignet sich aufgrund des Gesagten neben anderen Forschungsbereichen gut zur Organisationsforschung und zur Organisationsberatung. Wir haben uns daher methodisch für dieses Vorgehen entschieden.
Die Gruppendiskussion wurde unter Zuhilfenahme der dokumentarischen Methode148 gesichtet, interpretiert und ausgewertet. Beteiligt
waren dabei die Hauptverantwortlichen für das Gesamtprojekt, die
zugleich erfahrene Fachkräfte im Bereich der Evaluation darstellen,
sowie weitere Diakoninnen und Diakone, die zum Teilprojekt keinen
Bezug haben, aber in ähnlichen Kontexten Arbeitserfahrungen haben.
Daran anschließend will ich wenigstens kurz die stattgefundenen Entwicklungen im Bereich der Teilziele „Ambulanter Hospizdienst“ und
„Altensteiger Diakonietage“ darstellen. Dabei beziehe ich mich vor
allem auf Mitschriebe und Feldnotizen aus dem Arbeitsalltag.
147
Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009, S.101ff.
Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009, S. 271ff.
148
98 Altensteig
2.1.Die Schulung und Begleitung der MitarbeiterInnen
in der Diakoniestation
Um ein gegenseitiges Kennenlernen und Verstehen zwischen dem
Projektstelleninhaber und den MitarbeiterInnen der Diakoniestation
anzubahnen und die MitarbeiterInnen zu begleiten und zu schulen,
habe ich in Absprache mit der Pflegedienstleitung damit begonnen,
bei Dienstbesprechungen das Thema Diakonie „neu durchzubuchstabieren“. Zu Beginn der Dienstbesprechungen sammelten wir in einem Andachtsimpuls jeweils zu einem Buchstaben im Alphabet eine
ganze Anzahl von Begriffen, die das Pflegepersonal mit ihrer Arbeit
verbindet. Im Anschluss entfaltete ich immer einen Begriff mit dem
passenden Buchstaben, um die MitarbeiterInnen für ein ganzheitlichdiakonisches Verständnis zu sensibilisieren.149 Die Intension war, mit
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Diakoniestation das Verhältnis und Wechselspiel von „Pflege und Spiritualität“ zu beleuchten.
keiten und ein Unwohlsein, ohne sie konkret fassen und darauf in
angemessener Weise reagieren zu können. Ich hatte den Eindruck,
als spräche ich an ihnen vorbei, und als ob ich ihre Lebenswelt nicht
mehr erreichte. Die Gruppendiskussion der MitarbeiterInnen sprach
die Wahrnehmung des Problems ebenfalls an und legte es offen152:
M3: „Muss ich sagen. Das war mir viel zu, viel zu theoretisch
und zu, dass ich gar nicht mehr wusste, von was redet er jetzt
eigentlich. Muss ich, also, so manche Dinge. (3) Wo man, also für
mich wär oft viel besser gewesen, man hätte anhand von einem
Patienten oder von einem Problem, oder von irgendwas dann mal
das von
M2: „ …Was geschwind thematisiert, oder sowas …“
M3: „… Ja, von der christlichen Seite her jetzt beleuchtet. Oder
wie kann ich darauf eingehen, oder so halt einfach.“
M4: „Ein so genanntes Fallbeispiel.“
M2: „Ein Fallbeispiel.“ (lacht)
M3: „Zum Beispiel. Ja, was uns halt einfach auf der Seele liegt.
Wo wir einfach an die Grenzen kommen am Bett. Was sag‘ ich
jetzt da noch dazu wenn er sagt „Wie geht es nachher weiter?“
oder ja, einfach solche Dinge. Einfach praktische Dinge.“
Bei der Gruppendiskussion haben sich die ausgewählten MitarbeiterInnen (M) rückblickend wie folgt zu den anfänglichen Andachtsimpulsen geäußert150:
M1: „Also gut fand ich da dieses ‚ABC‘, was wir gemacht haben
am Anfang.“
M2: „mhm. Stimmt sowas, ja.“
M1: „Also da war so, also das ABC durchgegangen und immer
halt jetzt da ein Thema draus gemacht. Also ‚A‘ oder ‚B‘ – ‚Barmherzigkeit‘ oder sowas halt, das für uns gepasst hat. Also da denk
ich gern zurück. Also das hat mir was gebracht. Weil das waren
dann so Schlagwörter, die für uns auch einfach Alltag sind. …
Das fand ich gut. …Da hat man wirklich sehr viel auch lernen
können.“
Durch die Äußerungen kann man schließen, dass die Impulse offen
und dankbar angenommen wurden. Die MitarbeiterInnen sind dankbar, wenn sie geistliche Impulse für ihren Berufsalltag in der Pflege bekommen. Christel Ludewig hat dies in einer Publikation zur
Spiritualität in der Pflege folgendermaßen ausgedrückt: „Auch die
Pflegenden haben Bedürfnisse, die über die bloßen Verrichtungen hinausgehen wie Prophylaxe, Ernährung, Betten, Pflegeplanung, Dokumentation. Pflegende wollen sich wie die Gepflegten als ganze Menschen begegnen, die sich auch im Gegenüber entdecken.“151 Wichtig
dabei ist jedoch, dass es Impulse sind, die sich mit den Erfahrungen
im Alltag auch wirklich in Beziehung setzen lassen.
Der kurze aber prägnante Abschnitt zeigt meines Erachtens gut, dass
die MitarbeiterInnen ähnlich empfanden, und was sie in dieser Phase gebraucht hätten. Nach dem ersten Sensibilisieren für eine ganzheitliche Pflege unter Einbeziehung der spirituellen Dimension hätte
es nun konkrete Fallbesprechungen gebraucht. Theorie und Praxis
hätten mehr ineinander greifen müssen. Hier vernehme und deute
ich einen großen Bedarf, der deutlich wird an der vielleicht existenziellsten Frage „Wie geht es nachher – nach Alter, Krankheit, Sterben
und Tod – weiter?“. MitarbeiterInnen in diakonischen Pflegeeinrichtungen werden mit dieser und ähnlichen Fragen tagtäglich konfrontiert und möchten für eine aufrichtige Begegnung und eine ehrliche
Beantwortung dieser Fragen Hilfestellungen. Wie diese Verzahnung
von Theorie und Praxis aussehen kann, wird in einem weiteren Abschnitt angesprochen153:
M1: „…Und was mir dann halt auch leid getan hat, wie Du vorhin
auch gesagt hast, wenn wir dann zu den Patienten kamen oder
wenn dann unser Programm ablief, dann hat es geheißen „Jetzt
kommen wir zu den Patienten, aber jetzt redet ihr mal schnell“.
Und das fand ich dann halt eben schade, weil um unsere Patienten geht es ja eigentlich.“
M4: „Um die Probleme. … genau.“
M1: „Und wenn wir dann Probleme hatten, und wollten vielleicht
mal ein Fallbeispiel machen, und wollten von jemand mal länger
erzählen, dann war halt keine Zeit mehr da und das war das Frustige daran, dass man einfach die Zeit wahrscheinlich, war falsch
eingeteilt. Und das hat mir immer ein bisschen zu schaffen gemacht. Da ging es mir dann, da denk ich nur so… Ja.“
M2: „Ja, da denkst Du eine halbe Stunde nur so sage ich jetzt mal
als Andacht aber wo Du vielleicht bei der Patientenbesprechung
Leider haben der Pflegedienstleiter und ich es rückblickend versäumt,
nach dieser ersten positiven Phase die Andachtsimpulse umzustellen. Im Anschluss an das „Durchbuchstabieren der Diakonie“ brachte
ich weiterhin zu Beginn der Dienstbesprechungen Andachtsimpulse
mit und stellt sie als Einstiege zum Austausch vorneweg. Neben allem positiven Miteinander spürte ich je länger je mehr Unstimmig149
Bei der Entfaltung der jeweiligen Begriffe habe ich mich weitestgehend an das Buch von
Christel Ludewig „Pflege und Spiritualität – Ein ABC mit Texten, Ritualen und kleinen
Übungen“ gehalten.
150
Gruppendiskussion (Zeile 831ff)
151
Ludewig, 2008, S.7
152
Gruppendiskussion (Zeile 792 ff)
Gruppendiskussion (Zeile 842 ff)
153
Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege
oder so da lieber dranhängen würdest.“
M1: „Ja, das hat mir so ein bisschen leid getan.“
M2: „Wo Du ja auch mitreinnehmen können hättest, wo es da
Probleme gibt, gell.“
Der Abschnitt lässt sich interpretieren als Hinweis auf eine große Einsatzbereitschaft für die Arbeit und eine hohe Identifikationsfähigkeit
für die anvertrauten Patienten. So deute ich zumindest den Satz „um
unsere Patienten geht es ja“. Diese ihre konkreten Patienten möchten
die MitarbeiterInnen zum Thema machen, um konkret Hilfestellungen
geben zu können. Und das Nachdenken um konkrete Hilfe ist dann
möglich, wenn man die Impulse in die Patientenbesprechungen mit
hineinnimmt oder an den Schluss der Dienstbesprechungen stellt.
Die Konsequenz aus der Gruppendiskussion war, diese Umstellung
vorzunehmen. Schade war, dass wir das Problem nicht schon vorher
erkannt und darauf reagiert haben. Die Umstellung brachte einen zusätzlichen Arbeitsaufwand für mich, weil ich nun von Beginn bis Ende
der Dienstbesprechungen mit dabei war. Der Vorteil war und ist, dass
ich seither viel näher am Arbeitsalltag und den damit zusammenhängenden Fragen und Problemen dran bin als vorher.
Über die im Rahmen der Dienstbesprechungen stattgefundenen Impulse und Fallbesprechungen hinaus war der Diakon für hausinterne
Fortbildungen eingeteilt, die neben den sonst stattfindenden pflegerischen Fortbildungen diakonisch-seelsorgerliche Themen zum
Schwerpunkt hatten. Sie wurden von jeweils rund 20 Teilnehmenden
wahrgenommen.
2.2.Die „nachgehend-seelsorgerlichen Dienste“
Nach den ersten Wochen und Monaten in unserem Teilprojekt waren
wir etwas verwundert und enttäuscht, dass die Nachfrage an sozialdiakonischer Beratung und seelsorgerlicher Begleitung gar nicht so
stark nachgefragt wurde, als das erwartet war. Und damit stand die
Frage im Raum, was der Grund dafür war. In einem Abschnitt der
Gruppendiskussion machen die MitarbeiterInnen Äußerungen, aus
denen man mögliche Gründe ableiten kann154:
M3: „Also ich habe am Anfang gedacht, oh cool, toll, da kommt
jemand, der das macht, was ich vielleicht nicht so richtig kann.
So, also wo ich an meine Grenzen gekommen bin, so mit Gesprächen führen oder mit, ja, einfach schlimmen Sachen oder
wenn jemand Bedarf hat oder ja und habe auch glaube ich auch
den Diakon zu ein paar geschickt, aber muss dann einfach auch
feststellen, dass es glaub, weiß nicht, dass wir doch näher dran
sind, dass da keine, dass da keine Beziehung zu Stande kommen
ist und dass da keine, ich weiß es nicht, also ich habe jetzt nicht
wirklich das was ich gedacht habe, was da jetzt vielleicht (?) nicht
empfinden können, dass die Patienten da wirklich was mitgenommen haben oder es war, weiß ich auch nicht …“
154
Gruppendiskussion (Zeile 683ff)
99
M2: „… ich glaube schon allein, also wenn ich jemand frage,
möchten Sie gerne mit jemandem da drüber reden oder irgendwie, aber wir kommen halt doch jeden Tag irgendwo hin und irgendwie während dem Waschen oder was weiß ich oder so hast
doch einmal das ein oder andere, also ich glaube mir würde es
jetzt auch schwer fallen, wenn jetzt jemand kommt, ja jetzt, was
gibt es für Probleme oder weiß ich jetzt nicht, wie das genau, aber
ich weiß auch nicht. Ich denke du baust halt doch eine Beziehung
auf, in dem du da hin gehst und…“
M4: „Also bei mir war es auch so, dass, dass ich eigentlich gedacht habe, au ja toll. Viele sind jetzt sowieso viel alleine und dann
kann man vielleicht den Diakon noch als zusätzlicher Ansprechpartner, aber es war ganz komisch, ich konnte, ich glaube ich
habe ihn einmal bei jemandem gehabt, bei mir war es immer so,
dass die Patienten dann auch gesagt haben, ach nein, wir haben
doch sie. Und, ach nein, nochmal jemand Fremdes (Zustimmung)
und in so gewachsene Beziehungen rein dann nochmal jemand
Fremdes, das war. Also ich glaube ich habe ihn einmal, wie gesagt, mitnehmen können, aber sonst bei, grad Patienten wo wir
auch schon lange hinkommen. Der Mann hat auch gesagt: ‚Aber
sie kenne ich doch schon‘. …“
M1: „ … und wenn die Patienten … dann was Geistliches wollten,
war es wirklich der Gemeindepfarrer, den man dann geholt hat.“
Zu Beginn des Abschnitts kommt zum Ausdruck, was sich die MitarbeiterInnen und wir – das Leitungsteam der Diakoniestation und
ich – uns ursprünglich erwartet haben: „Da kommt jemand, der das
macht … wo ich an meine Grenzen komme“ – sprich: wo das Pflegepersonal an seine Grenzen kommt. Dort, wo „einfach schlimme
Sachen sind“, dort, wo „jemand Bedarf hat“ und dort, wo zusätzliche
„Gespräche zu führen sind“ über das alltägliche hinaus, da sollte ich
eingesetzt werden. Und diese Besuche haben auch stattgefunden.
Zum Teil haben die Besuche auch wiederholend stattgefunden, auch
wenn das von den GesprächsgruppenteilnehmerInnen nicht wahrgenommen und daher verneint wurde. In mehreren Fällen kam es zu
einem zweiten oder einem dritten Besuch oder sogar zu mehrfachen
Besuchen.
Trotzdem deckt der Abschnitt eine Tatsache auf, vor die wir gestellt waren: Die Patienten waren bei der Inanspruchnahme einer
nachgehenden und weiterführenden Beratung und Seelsorge sehr
zurückhaltend. Begleitung und Seelsorge – so hatten wir den Eindruck und so lässt es sich aus dem Gesprächsabschnitt schließen
– findet an zwei Polen statt: Einerseits ganz niederschwellig durch
die Gespräche und den Austausch mit dem Pflegepersonal selbst,
oder aber ganz offiziell mit der verfassten Amtsperson der Kirche
– und das ist für die meisten dann doch der Geistliche, sprich der
Pfarrer, vor Ort.
Aufgrund der anfänglich zurückhaltenden Nachfrage der „nachgehenden seelsorgerlichen Dienste“ wurde der Dienstauftrag erweitert
um den Aufbau einer ambulanten Hospizgruppe mit ehrenamtlichen
MitarbeiterInnen.
100 Altensteig
2.3. Die Hospizschulungen und der Aufbau
eines ambulanten Hospizdienstes
2.4. Die Mitwirkung in der Öffentlichkeitsarbeit und
die Mitgestaltung der „Altensteiger Diakonietage“
Um dieses Ziel umzusetzen machten wir uns im Frühling 2009 an
die Findung von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen für die ambulante Hospizarbeit. Gleichzeitig galt es, eine geeignete Anleitung für die
Kursabende zu finden. Nach zwei durchgeführten Informations- und
Austauschrunden im Juni und September 2009 konnten wir im Oktober mit einem Einführungskurs für die Hospizarbeit beginnen.
Meine Mitwirkung im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit umfasste die
Mitgestaltung von Patientennachmittagen und von Gottesdiensten,
bei denen sich die Diakoniestation in den umliegenden Gemeinden
ihres Einzugsgebietes präsentierte. Ab Sommer 2010 informierte
ein Flyer über das Angebot „Palliativpflege und Ambulante Hospizarbeit“.
Die Schulung der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen bestand aus 10
Schulungsabenden und einer ganztägigen Exkursion in ein stationäres Hospiz in Oberharmersbach. Im Frühjahr 2010 begannen wir
– versetzt zur ersten Kursgruppe – mit weiteren 10 TeilnehmerInnen eine zweite Schulungseinheit. Die Einsetzung und Verpflichtung
der ehrenamtlichen HospizmitarbeiterInnen erfolgte im Rahmen von
zwei Gottesdiensten in September 2010 in Altensteig und im Januar
2011 in Haiterbach.
Bei den Diakoniefördervereins-Sitzungen in Altensteig, Simmersfeld
und Haiterbach stellte ich das Diakonatsprojekt vor und referierte
zum Thema „Hospizdienst & Sterbebegleitung“. Darüber hinaus war
ich bei der Planung und Durchführungen der „2. Altensteiger Diakonietage“ (2010) und der „3. Altensteiger Diakonietage“ (2012) mit
eingebunden. Die „2. Altensteiger Diakonietage“ standen unter der
Überschrift „Im Blickpunkt: Palliativ-Versorgung – Mitten im Sterben vom Leben umfangen …“ und entfalteten das Thema „Umgang
mit Sterben und Tod in unserer Gesellschaft – Einblicke, Anfragen,
Chancen“ an 4 Abendveranstaltungen und im Rahmen eines Gottesdienstes am Sonntagvormittag. Die Veranstaltungen wurden mit
jeweils zwischen 100 und 150 Besuchern sehr gut angenommen und
die Rückmeldungen waren sehr positiv. Das Thema der „3. Altensteiger Diakonietage“ lautete „Im Blickpunkt: Ernstfall Pflege – Wer wird
uns pflegen in einer Gesellschaft des langen Lebens?“. Wiederum
4 Abendveranstaltungen und ein Gottesdienst bildeten den Rahmen.
Wiederum lagen die Besucherzahlen bei den einzelnen Veranstaltungen über 100 Personen und waren somit sehr zufriedenstellend.
Zwischenzeitlich waren wir in 16 Sterbefällen durch Besuche, Sitzwachen und Begleitung der Angehörigen involviert (Stand Juli 2012).
Hinzu kommt eine ganze Anzahl von Besuchsdiensten in den drei
Seniorenzentren unserer Region, die vor allem von unseren „Ruheständlern“ gemacht werden. Die Koordination der Dienste und die
anschließende Aufarbeitung der gemachten Eindrücke und Erfahrungen geschieht durch Einzel- und Gruppengespräche der jeweils
Beteiligten und durch „Hospizdienst-Treffen“ mit der Gesamtgruppe,
die in der Regel sechswöchentlich stattfindet.
Das Matthäusevangelium zählt 6 Werke der Barmherzigkeit auf, die
Jesus in seiner Endzeitrede angesprochen hat (Matth. 25,31-46):
Hungernde speisen, Dürstende tränken, Fremde/Gäste beherbergen,
Nackte bekleiden, Kranke besuchen und Gefangene begleiten und
loskaufen. Die Auflistung wurde in der frühen Christenheit um ein
weiteres 7. Werk der Barmherzigkeit ergänzt: Sterbende begleiten
und Tote begraben.
Wir haben mit den bisherigen Diakonietagen so gute Erfahrungen
gemacht, dass sie durchaus auch als Modell genommen werden können für andere Diakoniestationen.
Mit dem Aufbau und der Gründung eines „Ambulanten Hospizdienstes“ unter dem Dach der Altensteiger Diakoniestation wollten wir dieses 7. Werk der Barmherzigkeit hier vor Ort in die Praxis umsetzen.
Grundsätzlich hat sich die moderne Hospizbewegung stark verselbständigt und säkularisiert. Hartmut Maier-Gerber schreibt in seinem
Buch „Sterben – der Höhepunkt des Lebens“: „Das Thema Sterben
und Tod wird in den letzten Jahren in zunehmendem Maße öffentlich
diskutiert. Dabei fällt auf, dass dies mehr in der säkularen Publizistik
als im christlichen Raume der Fall ist.“155 Was für die Buchveröffentlichungen gilt, scheint mir ein Hinweis auf den Stand der Hospizarbeit
im Gesamten zu sein.
In einem ersten und oberflächlichen Rückblick auf unser Teilprojekt
ist zu sagen: Nicht alle unsere Erwartungen und Wünsche wurden im
Rahmen des Teilprojekts erfüllt. Manches wurde anders und besser
erwartet. Enttäuschungen und Unzufriedenheit blieben nicht aus –
von Seiten der Leitung der Diakoniestation als auch von Seiten des
Diakons der Projektstelle. Vor allem im Bereich der „nachgehendseelsorgerlichen Dienste“ lief vieles anders als erwartet. Aber auch
bei der Schulung und Begleitung der MitarbeiterInnen blieben wir
dem ersten Eindruck nach hinter den Erwartungen zurück. Erste Eindrücke sind zwar häufig richtig, bedürfen aber eines zweiten Blickes
und einer Reflexion. Nur so kann man aus den Ersteindrücken auch
Konsequenzen ziehen und Gewinn erzielen.
Der Kirche ist in ihrer Geschichte mit der Sterbebegleitung eine ganz
wichtige Aufgabe aus dem Blick geraten. Hier haben wir unerledigte
Hausaufgaben, und ich sehe für diesen Bereich der Hospizarbeit wieder durchaus eine „diakonische Kernaufgabe“.
155
Maier-Gerber 2009, S. 11
3. Metareflexion: Aussichten und Anregungen
Was aus dem Teilprojekt „Sozialdiakonie und Seelsorge am Krankenbett“ grundsätzlich festgehalten werden kann und muss: Durch die
Dienste unserer Diakoniestationen landauf und landab erreichen wir
unzählige Patienten und ihre Angehörige. Und wir erreichen sie in
existenziell herausfordernden Lebenslagen. Die Pflegenden kommen
Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege
ihren Patienten im wahrsten Sinne des Wortes „hautnah“ und lernen sie daher auch hautnah kennen. Eine Mitarbeiterin formulierte
es so: „Durch die tägliche Beziehung weiß ich, wie er denkt und fühlt
und sich verhält. Ich weiß, was er will und braucht. Ich weiß, wie
er riecht, und ich sehe, wie er sich heute bewegt und kann dadurch
erkennen, ob es ihm gut geht oder aber, ob er heute traurig ist.“ Wie
kann diese Nähe auch für die geistlichen Anfragen und Bedürfnisse
der Patienten fruchtbar gemacht werden? Hier braucht es Austausch
und Schulung, Fallbesprechungen und Begleitung, Zuspruch und Rückendeckung, dass sich das Pflegepersonal auch Zeit dafür nehmen
darf. In der Diakoniestation Altensteig wurde über den Förderverein
ein Budget eingerichtet, aus dem solche Zusatzdienste verrechnet
und bezahlt werden können. Die Pflege einer Diakoniestation wird
nicht unbedingt besser sein als die eines anderen, säkularen Pflegedienstes. Wenn aber MitarbeiterInnen einer Diakoniestation nach
der Hoffnung gefragt werden, die uns trägt, dann sollten sie darüber Auskunft geben können. Ich denke, unser Teilprojekt hat gezeigt,
dass hier ein weites Feld an Aufgaben gegeben ist. Schön ist, dass
sich durch die Wiederentdeckung der „Pflegediakone“ ja auch schon
vieles tut. Trotzdem sehe ich hier weitere Möglichkeiten und weiteren
Handlungsbedarf.
101
ben. Natürlich – und „Gott sei Dank“ – war das kein alltäglicher und
damit typischer Tag in meinem Diakonen-Dasein. Und doch zeigt er
meines Erachtens etwas ganz Typisches in dem Amt und Beruf des
Diakons:
Ich kann mir zwar bestimmte Aufgaben für den Tag vornehmen. Die
Ereignisse des Tages und die Menschen vor Ort können diese Planungen aber kurzfristig komplett über den Haufen werfen.
Eine wichtige Regel aus der Sterbebegleitung bringt es auf den Punkt:
„Heiße Alles willkommen, weise Nichts zurück.“156 Entscheidend ist,
wahrzunehmen und zu tun, was im jeweiligen „Augenblick“ wesentlich und geboten ist! Wie wichtig diese Flexibilität ist, zeigte sich am
Fortgang der Begleitung: Herr K. verstarb bereits am Tag darauf. Es
war ein Abschied, der viele Fragen offen ließ. Durch die Begleitung
konnten manche aber doch auch noch geklärt werden …
Literaturverzeichnis:
Ludewig, C. (2008): Pflege und Spiritualität – Ein ABC mit Texten,
Ritualen und kleinen Übungen, Gütersloh.
Anhang: Erlebtes & Erfahrenes:
Ein typisch-untypischer Tag
im Leben eines Diakons
Angefragt nach etwas ganz Typischem aus meinem Berufsalltag
muss ich eigentlich antworten, dass das Typischste daran gerade das
Untypische ist: Jeder Tag ist anders. Jeder Tag hat sein ganz eigenes
Gepräge. Wenn, dann gleichen sich noch am ehesten die jeweiligen
Wochentage, weil Vorbereitungszeiten, Besprechungen, Besuchszeiten und Gruppen & Kreise sich wöchentlich oder monatlich wiederholen. Immer wieder gilt es, die Anforderungen des jeweiligen Tages
um die fixen Termine herum zu verteilen und unterzukriegen.
Maier-Gerber, H. (2009): Sterben – der Höhepunkt des Lebens.
Eine medizinisch-biblische Betrachtung, Holzgerlingen.
Napiwotzky, A./Reimann, A. (2012): 25 Jahre Hospiz Stuttgart.
Festschrift, Stuttgart.
Przyborski, A./Wohlrab-Sahr, M. (2009): Qualitative Sozialforschung.
Ein Arbeitsbuch, 2., korr. Aufl., München.
Weitere Quellen:
Transkription der Gruppendiskussion vom 01.12.2011
Ein Beispiel dazu:
Bevor ich am Abend zu einer Kirchengemeinderatssitzung ging,
plante ich mir den darauffolgenden Tag. Als ich dann später wieder
nachhause kam, blinkte der Anrufbeantworter. In der Ansage bat eine
Krankenschwester unserer Diakoniestation darum, dass ich morgen
früh unbedingt nach Herrn K. aus H. schauen sollte, da es ihm irgendwie sehr schlecht gehen würde. Herr K. hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium, einschließlich Metastasen. Aufgrund einer gebrochenen Lebensgeschichte und sozial stark an den Rand gedrängt,
hatte er bisher jede Hilfe über die Grundpflege hinaus abgelehnt. Nun
hatte sich sein Zustand innerhalb eines Tages rapide verschlechtert.
Der darauffolgende Vormittag entwickelte sich zu einem intensiven
Hospizeinsatz einschließlich der Begleitung und Beratung der Angehörigen. Um eine Betreuung zu ermöglichen, waren am Nachmittag
mehrere Telefonate zu führen. Die ursprünglich geplanten Aufgaben
am Schreibtisch musste ich auf einen späteren Zeitpunkt verschie-
156
Napiwotzky/Reimann 2012, S. 67
102
103
Kirchliche Dienste
auf der Messe Stuttgart
Bericht 9: Stuttgart
Diakonat auf der Messe
Martin Heubach
Projektort:
Stuttgart
Projektträger:
Amt für missionarische Dienste/
Diözese Rottenburg Stuttgart
Projektstelleninhaber:
Diakon Martin Heubach
104 Stuttgart
1. Einleitung
KD auf der LMS nehmen Mitarbeitende und Aussteller und
ihre Lebenssituationen wahr und suchen sie an ihren Arbeitsplätzen auf.
1.1 Die Arbeit auf der Landesmesse Stuttgart (LMS) wurde zu einem
Ort missionarischer und diakonischer Präsenz.
1.2 Die Projektstelle hatte folgende Aufgaben zum Ziel: Entwicklung
und Erprobung einer Konzeption „Kirche am dritten Ort“, Aufbau und Begleitung eines Netzwerkes von freiwilligem ehrenamtlichem und bürgerschaftlichen Engagement für die unterschiedlichsten Aufgaben und Dienste auf der LMS (das Soziale
gestalten), Aufbau der Seelsorge (Menschen in existentiellen
Lebensfragen unterstützen), Entwicklung von ökumenischen
geistlichen Angeboten für Mitarbeitende, LMS-Vertragspartner,
Aussteller und Messebesucher in den kirchlichen Räumen (das
Evangelium kommunizieren). Der Diakon hat eine Brückenfunktion erprobt, von der „Wirtschaft“ in die Landeskirche und umgekehrt. Es war eine intensive Kooperation mit den diakonischen Handlungsfeldern auf den Fildern angedacht, ebenso eine
Schnittstellenklärung mit der Airportseelsorge in Bezug auf die
seelsorgerlichen, geistlichen und diakonischen Arbeitsfelder.
Ein erster wichtiger Schritt war der Aufbau eines Netzwerkes von
ehrenamtlichen Mitarbeitenden für die unterschiedlichsten Aufgaben und Diensten auf der LMS unter besonderer Berücksichtigung
diakonischer Aufgabenstellungen und Herausforderungen. Ebenso
haben wir am Aufbau einer Seelsorge auch in Notfällen für die LMS
aktiv mitgewirkt. Es wurden Menschen in existentiellen Lebensfragen
unterstützt und begleitet und Seelsorge-Angebote für Angestellte der
LMS und Fachberatung bei Einsatzkräften auf der LMS nach Notfällen
angeboten. Ich habe als Diakon bei der Entwicklung von ökumenisch
geistlichen Angeboten mitgewirkt. Die Kooperation bei seelsorgerlichen, geistlichen und diakonischen Arbeitsfeldern auf der LMS und
dem Flughafen Stuttgart (Schnittstellenklärung) lief eher verhalten
an.
1.3 Auslöser und Projektidee: Der Bau und die Einrichtung der neuen
LMS, seitherige ökumenische Erfahrungen auf der alten Messe
bei der CMT und einem Kinderbetreuungsangebot während großer Publikums-Messen, die Bitte der Messegesellschaft, auf der
neuen LMS einen Raum der Kirchen einzurichten.
2.2
1.4 Projektträger ist das Amt für missionarische Dienste mit der Abteilung Kirche in Freizeit und Tourismus und die Diözese Rottenburg Stuttgart. Die Arbeitsform ist ein ökumenischer Zusammenschluss, der als eigenständiger Vertragspartner mit der Messegesellschaft kooperiert. Zum Team der Kirchlichen Dienste
(KD) auf der LMS gehörten zeitweise zwei Pfarrer auf einer beweglichen Pfarrstelle mit je einem Teilzeitauftrag, eine Franziskaner-Ordensfrau mit je einem 50-%-igen Dienstauftrag in der
Messe- und Flughafen-Seelsorge und der Projektstelleninhaber
(befristet auf drei Jahre, vom 01.05.2008 – 30.04.2011) mit
einem Anstellungsumfang von 50 % im Rahmen des Diakonatsprojektes.
2.2.1 Z ahlen zur Landesmesse Stuttgart
(bezogen auf 2008)157
2. Vertiefte Darstellung
2.1 Ausgewählte strategische Ziele
Als Ziel des Projekts wurde formuliert:
uswertung Teilziel 1:
A
Offene Räume für Mitarbeitende, Aussteller
und Besucher und Nutzung zentraler, öffentlicher
Messehallen
An ca.160 Ausstellungstagen war die LMS mit 71 Messen (unter
100 und bis zu 2.000 Aussteller je Messe) von ca. 17.000 großen
und kleinen Ausstellern belegt. Ca. 150.000 Personen waren als
Standpersonal auf der LMS. Diese Menschen sind im Jahr auf bis
zu 50 Messen, also teilweise sehr viel unterwegs. Somit ist es ihnen
kaum möglich, soziale Bindungen an ihren Heimatorten zu leben
und zu pflegen. Im Jahr 2008 wurden ca. 1,5 Mill. Messebesucher
gezählt.
Die LMS beschäftigt knapp 300 festangestellte Mitarbeitende, und die
Vertragspartner-Firmen können auf einen Pool von über 2.500 Mitarbeitenden zurückgreifen. Diese Mitarbeitenden haben meist einen
Zeitvertrag, werden nur saisonbedingt eingesetzt und sind teilweise
an Messetagen sehr lange im Einsatz. Viele dieser Reinigungskräfte
und Mitarbeitenden im Service-, Ordner- und Hostessendienst kommen nicht aus Deutschland und haben teilweise schlechte Deutschkenntnisse; sie kommen eher aus geringeren Bildungsschichten und
arbeiten gegen eine geringe Bezahlung.
KD auf der LMS bieten offene Räume für Mitarbeitende, Aussteller und Besucher und nutzen zentrale, öffentliche Messehallen.
157
Die Zahlen stammen von der Geschäftsleitung der LMS.
Diakonat auf der Messe
2.3Zahlen und Fakten aus den Berichtsbögen
der 37. Messezeiten
In drei Jahren habe ich 74 Einzelmessen betreut. In der Regel finden
parallel 1 – 6 Messen statt.
2.3.1 CMT (13. – 25.01.2011)
Erfreulich war die Präsenz der Kirchlichen Dienste (KD), die mit
vier Standpunkten und dem Schwerpunkt-Thema „JakobswegPilger“ am 1. Messe-Wochenende vor Ort waren: im Forum der
Kirchen, Andachtsraum, Stand in Halle 6 und 9. Das Forum der
Kirchen und der Andachtsraum sind bei einer so großen Publikumsmesse ein idealer Standpunkt mit hoher Öffentlichkeitswirkung. Wir konnten über 2.500 Pilger-Wege-Flyer (Die Jakobsweg
in Baden-Württemberg) verteilen, vielen (potentiellen) Jakobspilgern Auskünfte erteilen und mehr oder weniger tiefe Gespräche
führen. Zu beobachten war, wie selbstverständlich die KD auf der
LMS dazu gehören und ins Messegeschehen mit integriert werden. Beim „Urlaubs-Kino“ waren an neun Messetagen insgesamt
ca. 245 (210) und ca. 510 (440) Besucher im Forum der Kirchen
[Zahlen in Klammer von 2010]. Das zeigt, dass der Jakobsweg
nach wie vor ein Trend ist, den die Kirchlichen Dienste auf der
CMT bedienen können und sollen. Es waren ca. 20 Ehrenamtliche,
einschließlich der Jakobs-Pilgerweg-Freunde im Einsatz.
Zu sieben von neun angebotenen Atempausen waren zwischen
zwei und elf Besucher gekommen. In diesen Tagen hatte ich zu
über 50 Mitarbeitenden der LMS und der Vertragspartner intensivere Kontakte und Gespräche von mehr als fünf Minuten, ebenso
zu knapp 30 Ausstellern und gut 20 Besuchern. Davon würde ich
ca. 20 Gespräche bei den insgesamt ca. 100 Begegnungen als
„seelsorgerliches Gespräch“ bezeichnen.
2.3.2 Animal & Pferd-Messe (22.10. – 24.10.10)
Bei den zwei angebotenen Atempausen waren jeweils nur die
diensthabenden Ehrenamtlichen mit dabei. Kontakte und Gespräche von mehr als fünf Minuten hatte ich zu fast 30 Mitarbeitenden
der LMS und der Vertragspartner, ca. 10 Ausstellern und etwa
10 Besuchern. Von den ca. 50 Begegnungen würde ich ca. 10
als „seelsorgerliche Gespräche“ bezeichnen. In diesen drei Tagen
waren ca. 12 Besucher im Forum der Kirchen. Ein Projektleiter
(M3) war zu einer Tasse Kaffee und einem Gespräch gekommen.
Es ergaben sich viele Begegnung, „Wegegespräche und zwischen
Tür und Angel“ mit Mitarbeitenden von der Geschäftsleitung bis
zum Reinigungspersonal. In einem Gespräch mit einer Garderobendame (die Garderobe liegt gegenüber dem Andachtsraum, so
dass sie uns und das Geschehen im Andachtsraum sehr gut beobachten konnte) wurde mir die Frage gestellt: „Was machen Sie
bei den Kirchlichen Diensten den ganzen Tag über auf der LMS?“
105
Zwischenzeitlich ergaben sich mit ihr mehrere Gespräche über
diese Frage, und bei einer Messe (fünf Monate später) war diese
Mitarbeiterin zum ersten Mal bei einer Atempause und bemerkte
anschließend: „Die Atempause hat mir richtig gut gefallen“.
Es entstand eine sehr gute Kooperation und ein großes Entgegenkommen der Veranstalterin und ihrer Mitarbeiterin vom ‚Doc
Dancing’ in Blick auf unseren Gottesdienst am Sonntag im Doc
Dancing Ring mit ca. 40 – 50 Besuchern plus ca. nochmals so
vielen „Zaungästen und Laufpublikum“. Es war erfreulich, dass
die Veranstalter vom ‚Doc Dancing’ uns ein Zeitfenster eingeräumt, uns sehr unterstützt und mehrfach auf den Gottesdienst
hingewiesen haben.
Ein kurzes Gespräch mit einer Besucherin im Forum der Kirchen,
deren Vater ca. 4 Wochen zuvor verstorben war. Sie suchte eine
Spruch- und Trostkarte für ihre Mutter. Verschiedene Gespräche
mit Ausstellern über die Unzufriedenheit als Aussteller auf der
LMS.
Ein leitender LMS-Mitarbeiter, der von sich sagte, dass er Atheist
wäre, vermittelte ein Gespräch mit Ausstellern und dem Präsidenten des Shire Horse Verbandes, die eine spontane PferdeSegnung im Show-Ring von uns organisiert haben wollten: Zu
bester „Showtime-Besucherzeit“ mit hunderten von Besuchern
auf den Rängen konnten wir einen ökumenischen 7,5 MinutenGottesdienst feiern.
2.3.3 P
ET-VET–Tierärzte- und -Helferinnen-Kongress
mit kleiner Ausstellung (27. und 28.11.10)
Wir hatten keine Atempause angeboten, weil die Messehalle und
das Kongresszentrum zu weit von den Kirchlichen Räumen weg
liegen, und weil wegen einer Großveranstaltung unsere Räume
aus Sicherheitsgründen geschlossen waren. Dafür konnten wir
ein Ökumenisches Morgenlob vor dem 2. Kongresstag anbieten –
im Tagungssaal mit ca. 15 – 20 Personen.
Kontakte und Gespräche von mehr als fünf Minuten zu über 10
Mitarbeitenden der LMS und der Vertragspartner, über 10 Ausstellern und nur einem Besucher, davon mit ca. 5 Personen ein „seelsorgerliches Gespräch geführt“.
Über drei Veranstaltungen hinweg hat sich ein gutes Verhältnis zu
den Veranstaltern und der Projektleiterin der PET-VET entwickelt,
sodass wir das Ökumenische Morgenlob anbieten konnten. Es soll
Ende dieses Jahres langfristiger und besser geplant werden, darüber sind wir bereits im Gespräch.
106 Stuttgart
2.4 P
erspektive der Mitarbeitenden:
Auszüge aus der leitfadengestützten
Fokusdiskussion
Das Interview wurde von einer externen Person mit Mitarbeitenden
der LMS geführt. Alle Namen wurden anonymisiert.
Hans: Gut, ich denke…zunächst mal, wenn man ganz an den Anfang denkt, da… haben viele noch die Hemmschwelle gehabt…
In der Zwischenzeit muss ich sagen, nutzen dass auch sehr viele
Mitarbeiter wie auch Besucher die Kirchlichen Dienste und sehen
dort einfach einen Rückzugsraum auch, wo Herr Heubacher sehr
bemüht ist, es so angenehm wie möglich immer zu gestalten…
Ich kenne Herrn Heubacher sehr viele Jahre auch von meiner Heimatstadt her. vom CVJM und wir haben uns hier oben erst seit
langem wieder getroffen. Von mir, von der Messe oder von der
(Dienststelle) wir nutzen es auch sehr gut, wenn wir irgendwelche
schwierigen Fälle haben, wenn wir dann auf die kirchlichen Dienste zurückgreifen können… Bei Kirche hat man ja immer ein Aber.
Aber es gehört jetzt einfach mit zum Messeleben dazu. Muss man
ganz klar sagen. Und der Herr Heubach ist ja so engagiert. Er
findet immer wieder Möglichkeiten oder deckt was auf. Wenn ich
was mitbekomme, gebe ich ihm auch Tipps und sage: Mensch,
da wäre doch auch noch was, wo man noch mehr auf die Leute
zukommen kann...“
Petra: Ich kann nur von meiner Warte aus sagen, wie die Anfänge
hier waren, und die waren nicht leicht... Die Ablehnung war sehr
groß. Meine Einstellung von damals zu jetzt hat sich grundlegend
geändert. Das lag aber auch daran, dass ich die Arbeit, die das
Team macht, auch eine Schwester Agnesita und Herr Heubach,
aber auch schätzen gelernt habe. Ja und einfach kontinuierliche
Gespräche suchen. Raum der Stille geht und das Buch einfach
mal so ein bisschen durchblättert und sieht, was da drin steht,
dann bewegt das schon und man sieht, dass die Leute das schon
annehmen… ich fand es sehr sehr schlecht umgesetzt von der
Messe Stuttgart…ins Gespräch zu kommen und die Vorteile
eben einfach auch, die so was letztendlich bietet. Weil ich habe
jetzt auch zum Beispiel zum Herrn (…), der macht die (Messe
XY), gesagt, geh doch mal zum Herrn Heubach und frag mal…
Er fand den Tipp ganz gut. Das ist neutraler, was der ein oder
andere Aussteller vielleicht noch gibt und da sage ich, das ist
absolut top.“
Monika: „Ja, ja. Ich muss auch sagen, die Anfänge. Es wurde ganz
schlecht kommuniziert… ich habe den Herrn Heubach kennengelernt an einem Wochenende. Da hatte ich Dienst, da kam er ins
(Büro) rein, hat sich kurz vorgestellt und dann sind wir so ins
Gespräch gekommen. Also war sehr nett und dann habe ich mich
auch so ein bisschen... beklagt. Ich bin katholisch und in Stuttgart
wird überhaupt nichts für die Katholischen getan. Ich bin hier angemeldet und ich kriege nie irgendwie einen Gemeindebrief und
so… Er hat mich dann gleich mit Infos versorgt. Das fand ich echt
ganz toll und er war da ganz arg engagiert.“
Auswertung und Reflexion: Zu Hans und Monika habe ich über eine
persönliche Beziehung, einen persönlichen Zugang gefunden: „Er ist
da, wenn man ihn braucht“; „er ist bemüht, hat Ideen, trotz Widerstände und Rückschläge“ – diese Zugangsebene gilt auch für M4.
Petra argumentiert aus Sicht der LMS: „Zoff, weil Räume Konkurrenz
sind und effektiver genützt werden könnten“, sie sagt zu Kollegen:
„Kirchliche Dienste kannst du nützen, um die Stimmung zu erfragen“.
Für Sie und auch für M3 wurden die KD für das „System Messe“
wichtig, die LMS hatte einen Nutzen von den KD.
In der diakonischen Arbeit stehen die Beziehungen im Vordergrund,
es geht darum, auf Menschen zuzugehen, Offenheit, Verlässlichkeit,
Verschwiegenheit, Verstehen und eine Wertschätzung der Arbeit und
des Menschen zu signalisieren. Zur diakonischen Arbeit auf der Messe gehört auch die Sensibilität, den Nutzen für das „System LMS“ zu
erspüren und zu kommunizieren. Die diakonische Arbeit nimmt die
Ausstellenden und LMS-Mitarbeitenden wahr und orientiert sich an
ihren Fragestellungen und Problemen dran.
Interessant sind die unterschiedlichen Erinnerungen und Wahrnehmungen, z.B. sagt Hans, dass er und ich uns in (XY), als ich in dieser Stadt Jugendreferent war, schon begegnet wären. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass wir uns vor der Messetätigkeit je gesehen
hätten. Wir haben gemeinsame Bekannte: eine Chorsängerin und der
Jungscharleiter seines Sohnes.
Subjektiv geprägt ist auch die Wahrnehmung, dass wir in der Vergangenheit als KD oft bei Notfällen in Anspruch genommen worden
wären. Das „Oft“ ist relativ, aber Hans hat den Eindruck, dass wir
da sind und uns um Problemfälle kümmern, wenn es „brennt“. Dies
gilt auch für die Teilnahme von LMS-Mitarbeitenden bei der Atempause. Sie ist bei einigen LMS-Mitarbeitenden ins Blickfeld gerückt
und sie haben den Eindruck bekommen: Es ist auch für uns ein Angebot. Meines Erachtens wird von der Atempause nur gelegentlich
Gebrauch gemacht.
2.4.2 A
us der Zusammenarbeit mit Projektleitung:
Feldnotizen mit M3
M3 hat mich als Projektleiter einer Messe bei einer telefonischen
Kontaktaufnahme meinerseits im Frühjahr 2009 gebeten, nicht in die
Ausstellungshalle zu gehen, denn im „Messegeschäft“ würden diese
Gespräche stören und ablenken. Erst durch eine Klarstellung der Geschäftsleitung, dass dies gewünscht und okay wäre, und nach einem
Ausräumen von Missverständnissen über e-Mails mit M3, bekam ich
für unseren Dienst auf dieser Messe ein zaghaftes oder verärgertes
Okay. Aus meiner Wahrnehmung wich mir M3 bei zufälligen Begegnungen auf dem Messegelände aus.
Eintrag im Berichtsbogen (Mai 2009):
„Das Verhältnis zum Projektleiter, M3, hat sich normalisiert bzw.
sehr verbessert. Es war aus meiner Sicht ein gutes Miteinander
Diakonat auf der Messe
107
auch zu den anderen Projektassistentinnen, mit denen ich gute
und nette Begegnungen und Gespräche hatte“.
lichkeit, aber auch notwendigen Distanz zu begegnen und seine Haltung und Erfahrung gegenüber Kirche zu respektieren.
Eintrag im Berichtsbogen (Oktober 2010):
„Begegnungen und Gespräche mit der Projektleitung, u.a. mit
M3. Ich habe den Projektleiter für nächste Woche zu einem Kaffee
ins Forum der Kirchen eingeladen.“
Mein Eindruck ist, dass M3 zwischenzeitlich gemerkt hat, dass die
KD auf der LMS für das System Messe gewinnbringend sind und
dass wir in manchen persönlichen Dingen eine „gleiche Wellenlänge“
haben.
Feldnotizen von einem Gespräch am 22.10.2010 im Forum der
Kirchen:
Fragen: „Wie kam es zu ihrer Ablehnung bei der Messe im Frühjahr 2009?
M3: „Am Anfang war es mir zu viel. Die Arbeit stand mir oben.
Dann wollten Sie als Kirchlicher Dienst auf der LMS auch noch
etwas von mir“ – „die Kirchlichen Dienste sind mir nach wie vor
nicht so wichtig. Weil die Geschäftsleitung dies so gewünscht hat,
habe ich es zugelassen“ – „Die Aussteller klagen, dass sie von zu
vielen Seiten angesprochen, angeschrieben und mit Messe-Themen belastet werden“ – „Religion ist Privatsache und eine freie
Entscheidung eines jeden Einzelnen“ – „Was hat Religion mit der
Messe zu tun?“
Was ich darauf geantwortet habe, kann ich nicht mehr wiedergeben.
M3: „Ich möchte nicht, dass ich und die Aussteller auf der Messe
‚missioniert’ werden!“
M3 war bis zu diesem Gespräch nicht bewusst, dass die Kirchlichen Dienste (KD) zwei Räume auf der LMS haben. Bei diesem
offenen und ehrlichen Gespräch haben wir viele Gemeinsamkeiten festgestellt, u.a. sportliche Aktivitäten, und es war m.E. eine
„vertrauensbildende Maßnahme“.
Einträge im Berichtsbogen (Januar 2011):
Ich ging auf M3 zu. Er war mit einem leitenden LMS-Mitarbeiter
und einem Veranstalter im Gespräch: M3 stellte mich einem leitenden Mitarbeiter mit den Worten vor: „Unser guter Geist der
Messe“. Bei einem gezielten Besuch im Projektleiterbüro war meine Rückmeldung an M3: „Ich habe mich über Ihre Bemerkung
und Bewertung heute Morgen sehr gefreut!“
Durch diese positive Vorstellung und mich in das Gespräch mit
einbeziehend entwickelten sich weitere Gespräche mit leitenden
Mitarbeitenden des Veranstalters. U.a. ergab sich die Überlegung
für den Kongress im nächsten Jahr, dass der Veranstalter bei diesem Kongress ethische Themen aufgreifen könnten.
Inzwischen hat sich ein eMail-Kontakt im Blick auf den nächstjährigen Kongress entwickelt. Wir haben uns angeboten, bei der Themenund Referentensuche behilflich zu sein.
Bewertung und Reflexion: Ich habe versucht, M3 mit meiner und unserer Präsenz als KD und unseren Angeboten nicht zu „erdrücken
oder missionieren“ zu wollen, sondern ihm in einer stetigen Freund-
2.4.3 W
ahrnehmungen einer Vertragsmitarbeitenden:
Feldnotiz mit M4
(am 29.01.11 im Forum der Kirchen mit M. Heubach)
M4 ist eine Vertragspartner-Mitarbeiterin: Sie konnte am 18.01.11
bei der Fokusdiskussion wegen ihres Dienstplans nicht teilnehmen;
sie ist seit über 40 Jahren Kirchengemeinderätin. Die nachfolgenden
Punkte bzw. Fragen sind aus der leitfadengestützten Fokusdiskussion
entnommen:
1. Smalltalk und Ankommen bei einer Tasse Kaffee
2. Einstiegsimpuls
M4: „Es ist sehr positiv, dass bei den Kirchlichen Diensten jemanden da ist, der ein offenes Ohr hat, und dass die Kirchlichen
Dienste an einem neutralen Ort, nicht im Wohnort oder in derselben Kirchengemeinde sind“.
3. Vertiefung – Orte
M4: „Die Gottesdienste am Sonntag sind für mich schön. Wenn
man oft am Sonntag arbeiten muss, hat man immer wieder die
Möglichkeit, seinen Dienst so zu gestalten, dass man zeitweise,
zumindest am Rande, vom Gottesdienst etwas mitbekommen
kann“.
4. Vertiefung – Diakon
M4: „Ob Pfarrer oder Diakon ist nicht so entscheidend. Viel wichtiger ist, was herüber kommt. Bei Herrn Heubach spürt man,
dass er vorher einen praktischen Beruf gelernt hat. Zu ihm hat
man schnell einen ‚guten Draht’. Bei Pfarrern habe ich oft den
Eindruck (auch bei denen auf der Messe), dass sie ein ‚kleines
Treppele höher’ stehen…. Dies ist bei Pfarrern anders, die vorher
Diakone o.ä. waren bzw. die einen Beruf gelernt hatten. Denn
sie sind ‚näher an der Basis’ …habe ich manchmal das Gefühl,
dass das Gespräch auf einer Ebene geführt wird, die ich nicht
verstehe“.
5. Vertiefung – Kirche – persönliche Einschätzung
M4: „Ohne die Kirchlichen Dienste würde eine gewisse Menschlichkeit fehlen. Ebenso die Möglichkeit, dass ein Besucher, Messebauer, Aussteller oder Messe-Mitarbeitender einen Ansprechpartner finden, um eigene Probleme, gleich welcher Art, bereden
zu können. Oftmals hat dieser Personenkreis nicht die Gelegenheit, den Seelsorger in der eigenen Gemeinde anzusprechen, be-
108 Stuttgart
dingt durch die Arbeitszeiten... Missioniert zu werden’ finde ich
nicht gut, denn das finde ich erdrückend...“
6. Reste
M3: „Mir wäre es wichtig, dass wir auf der LMS einen Diakon bei
den Kirchlichen Diensten haben, denn ein Diakon spricht meist
die gleiche Sprache wie ein Arbeiter im Berufsleben“.
Auswertung und Reflexion: M4 hat bei ihrem langjährigen ehrenamtlichen Engagement sehr positive Erfahrungen mit Diakonen und
kirchlichen Mitarbeitenden gemacht, die aus der „weltlichen Berufswelt“ kommen oder sich darin auskennen. Die Begegnung auf Augenhöhe“ ist ihr sehr wichtig.
2.4.4 Auszüge aus dem Gästebuch im Andachtsraum
Als Folge zum Evaluationsgespräch am 18.01. hat Petra auf Kosten
der LMS einen Fotografen über die Presse-Abteilung organisiert,
der einige Seiten des Gästebuches fotografiert hat. Die Auswertung
der Einträge können in folgenden Punkten zusammengefasst werden:
Viele der Andachtsraum-Besucher (Mitarbeitende, Aussteller und
Besucher) sind erstaunt und erfreut, im Messetrubel und in der
Geschäftswelt einen so schönen und ruhigen Ort zu finden und
dass die Kirchen auf der LMS mit Räumlichkeiten und Personal
präsent sind.
In das Gästebuch wurde manche Not aus dem Herzen geschrieben und mancher Hilferuf als Gebet formuliert.
Als Raum für alle Religionen sind u.a. auch Muslime erfreut, einen
Ort für das Tagzeitgebet zu finden. Sie bringen ihre Dankbarkeit
zum Ausdruck, dass Christen für sie als Muslime diesen schönen
Raum für ihr Gebet zur Verfügung stellen.
Dieser sakrale Raum ist auch eine ideale Möglichkeit für den interreligiösen Dialog.
Leider finden Juden den Weg nicht in den Andachtsraum, zumindest haben wir noch nichts bemerkt. Ob das Kreuz, die Quibla…
ein „Ärgernis“ sind?
Im Gästebuch geäußerte Kritik zeigt auch, dass dieser Raum zu
wenig bekannt und deshalb nur zu selten genützt wird. Aber auch,
dass im Messetrubel und -stress zu wenig Zeit für Stille und Gebet möglich sind. Wir arbeiten ständig daran und nützen jede Gelegenheit, unsere Präsenz und Bekanntheit zu erweitern.
2.4.5 Ökumenische Atempause
Bei einer „alpha & omega-Sendung“ für bw Family.tv – „Innehalten,
zur Ruhe kommen, Atempause im Messestress“158 gab es dazu folgende O-Töne von LMS-Mitarbeiterinnen:
Monika: „Atempause ist für mich ein schöner Moment, einfach
abzuschalten von der Arbeit, sich auf ein anderes Thema einzustellen, runter zu kommen und sich zu besinnen.“
Julia: „Von der Arbeit abgelenkt, nicht nur im Büro sitzen und
Vespern, auf andere Gedanken kommen.“
Beide LMS-Mitarbeiterinnen waren auf meine Bitte zum ersten Mal
bei einer Atempause. Sie reden schon so, als ob sie schon öfters bei
einer Atempause gewesen wären.
Beobachtungen zum Angebot Atempause: Bei Publikums-Messen
kommen einzelne Messebesucher, bei Fachmessen nur ganz vereinzelt Fachbesucher. Ausstellende können kaum ihren Messestand
verlassen. Sie sind aber auch schlecht informiert, obwohl in jedem
Messe-Katalog und bei dem Welcome-Brief für Aussteller auf die
Atempause hingewiesen wird und ich bei meinen Besuchen am
Messestand persönlich dafür einlade. Dies hat schon gelegentlich
Wirkung gezeigt. Seit ca. einem Jahr kommen vereinzelt LMS- und
Vertragspartner-Mitarbeitende; bei einer Atempause waren es einmal
sogar 6 LMS-Mitarbeiterinnen und ein Vertragspartner-Mitarbeiter,
der schon öfters zu einer Atempause gekommen war.
Bei ca. 20 % der angebotenen Atempausen kommt niemand, bei ca.
30 % sind wir mit Kolleg(inn)en und Ehrenamtlichen „alleine“ (aber,
„wo zwei oder drei…“) und bei ca. 50 % der Atempausen sind ein
bis max. 20 Besucher da. Wenn nur eine Person kommt oder „zufällig“ zur persönlichen Stille im Andachtsraum sitzt, ist es oft eine
bessere Gelegenheit, mit dieser Person in ein tieferes Gespräch zu
kommen. Ganz vereinzelt hat sich auch schon nach einer Atempause
ein Gespräch ergeben oder während oder nach der Atempause eine
Diskussion mit mehreren Personen entwickelt.
2.5 Kirchliche Dienste auf der Messe nehmen Mitarbeitende und Aussteller und ihre Lebenssituationen
wahr und suchen sie an ihren Arbeitsplätzen auf
Die meisten seelsorgerlichen Gespräche auf der LMS kommen „zufällig“ zustande. Bei meinen Rundgängen durch die Ausstellungshallen begegne ich „zufällig“ einem Menschen, oder wenn ich es
geistlich sagen will: Den mir Gott in den Weg stellt oder der Geist
Gottes uns den Kairos für diese einmalige Gelegenheit zu einer intensiveren Begegnung einer „seelsorgerlichen Gesprächsatmosphäre“
schenkt. Oft sind es bestimmte (Lebens-)Situationen des Gesprächspartners, Stimmungen, etwas „Luft“ bei der Arbeit oder allgemeine
158
http://www.missionarische-dienste.de/cms/startseite/kirche-in-freizeit-und-tourismus/
kirchliche-dienste-auf-der-messe/
Diakonat auf der Messe
Auslösefaktoren (Naturkatastrophen, der Tod eines Menschen, die
wirtschaftliche oder politische Situation), die eine offene Gesprächsatmosphäre begünstigen.
Wenn ich einen Menschen noch nie gesehen habe und er bisher
nicht wusste, dass es einen Messeseelsorger/KD auf der LMS gibt,
ist ganz häufig die Einstiegsfrage: „Was machen Sie auf der Messe?“ oder „(Was) haben Sie als Messeseelsorger (etwas) zu tun?“
Schon nach relativ kurzer Zeit sind wir im Gespräch nicht mehr
bei einer allgemeinen (Ausgangs-)Fragestellung, sondern wir reden
über (s)ein Problem, das dem Fragestellenden „auf der Seele liegt“.
Am Ende einer kurzen (ca. 10 – 20 Min.) Begegnung, in der wir
nicht nur über „das Wetter geredet“ haben, ist zu spüren, bedankt
sich der Gesprächspartner oder erwidert, dass ihm das Gespräch
jetzt gut getan hätte.
Für mich beginnt oder bezeichne ich ein Gespräch als „seelsorgerlich“, wenn mir das Gegenüber sein „Herz ausschüttet“, mir etwas
anvertraut, das ihm „auf der Seele liegt“ oder er mir nach dem Gespräch zurück meldet, dass ihm diese Begegnung gut getan hätte
oder es ihm „leichter ums Herz geworden ist“.
Ein LMS-Mitarbeiter hat mir schon mehrfach gesagt: „Immer, wenn
ich Sie gesehen und mit Ihnen gesprochen habe, geht es mir wieder
ein Stück besser“. Zu einigen LMS- und Vertragspartner-Mitarbeitenden hat sich ein offenes Vertrauensverhältnis entwickelt, so dass eine
leid- oder druckvolle Situation des Mitarbeitenden, ein Tagesereignis
(Tod eines Prominenten, Erdbeben…) ein Anknüpfungspunkt für ein
Gespräch bietet.
Zu ca. 95 % finden die Gespräche während der Arbeitszeit (was für
mich nicht immer einfach und unproblematisch ist; es erfordert viel
Fingerspitzengefühl und Flexibilität, denn wir wollen die Mitarbeitenden nicht von der Arbeit abhalten oder Kundengespräche verhindern)
und „zwischen Tür und Angel statt“. Die Gespräche werden meist
unterbrochen, wenn ein Kunde kommt, ein anderes Ereignis oder die
Arbeitspflicht das Gespräch abrupt unterbricht. Oft ist am nächsten
Tag oder bei einer im nächsten Jahr wiederkehrenden Messe ein
Gesprächsanknüpfungspunkt bzw. eine Begegnung möglich. In der
Regel suche ich Aussteller und Mitarbeitende an allen Folgetagen
einer Messe auf, um nach Möglichkeit an die Begegnung und das
Gespräch vom Vortag anknüpfen zu können. Meistens kann das Gespräch weiter und tiefer geführt werden.
In der Auswertung meiner Berichtsbögen, die ich von jeder Messe
schreibe, kann ich als Fazit feststellen, dass ich pro Tag zwei bis drei
solcher „seelsorgerlichen Gespräche zwischen Tür und Angel“ führe,
bei denen wir nicht nur über das Wetter oder Tagesgeschäft reden.
Mir ist sehr wichtig ist, dass ich mit „wachem Auge und betendem
Herz“ über die Messe gehe, mich für die ausgestellten Produkte der
Aussteller, die Tätigkeit der LMS- und Vertragspartner-Mitarbeitenden, das Umfeld der Angesprochenen interessiere und Anknüpfungspunkte suche. Dabei ist sicherlich von Vorteil und m.E. auch
wichtig, dass ich als gelernter Elektromechaniker, Häuslesbauer und
handwerklich interessierter Diakon über die LMS gehe und die Ar-
109
beit wert schätze, die ein Aussteller, Sicherheits- oder ReinigungsMitarbeitender leistet.
Anknüpfungspunkte sind oftmals ein besonderes Ereignis, z.B. der
Suizid eines Prominenten, der Amoklauf von Winnenden/Wendlingen, Katastrophen in der Welt…, aber auch die Thematik der Messen… Viele Gespräche haben als Thema zum Inhalt: Scheidung
und Beziehungs-Krisen, Sozialer Abstieg, ungerechte Entlohnung,
ungünstige Arbeitszeiten, hohe Preise und Kosten auf der LMS…
Manchmal gelingt es sehr schnell, das Gespräch auf eine geistlich/
theologische Ebene zu lenken, in dem ich meinem Gesprächsgegenüber oft die drei (philosophischen) Grundfragen aller Religionen stelle: „Haben Sie für ihr Leben geklärt und wissen Sie: Wo komme ich
her? – Warum lebe ich (Sinnfrage)? – Und wo gehe ich hin (was ist
nach dem Tod)?“
Sehr viele Gespräche sind einmalig. Einige Begegnungen knüpfen an
die Gespräche vom Vorjahr an, manche Gespräche werden über eine
bestimmte Zeit (zwei, drei Wochen bzw. Monate) geführt und einige
wenige über einen längeren Zeitraum.
3. Metareflexion
3.1 Ergebnisse im Blick auf die Zielsetzungen
des Projekts
Aus meiner Sicht ist es uns in den drei Jahren im Großen und Ganzen
gelungen, die zentralen, ausgewählten und strategischen Ziele umzusetzen. Die KD auf der LMS konnten die von der Messegesellschaft
kostenlos angebotenen Räume den Mitarbeitenden, Ausstellern und
Besuchern bekannt machen, in die LMS-Strukturen einbinden und
Zugänge für eine allgemeine Akzeptanz bewirken. Im Laufe der Zeit
wurde die Präsenz der KD mit ihren Räumlichkeiten, den haupt- und
ehrenamtlichen Mitarbeitenden und den regelmäßig angebotenen
Veranstaltungen wahr- und angenommen und in den Messealltag
bzw. -kalender integriert.
Als Mitarbeiter der KD auf der LMS werden wir von fast allen Seiten
und auf allen Ebenen der LMS in den Bemühungen großzügig unterstützt und wird uns freier Handlungsspielraum gewährt, dass wir die
Mitarbeitenden und Aussteller in ihrer Lebenssituationen wahrnehmen und an ihren Arbeitsplätzen aufsuchen können. Nach längeren
Messepausen wird uns vielfach zurück gemeldet: „Schön, dass Sie
wieder da sind! Wir haben Sie vermisst.“
Dass wir als KD auf der LMS im letzten Jahr viermal mit umfangreicheren Fernsehaufnahmen von drei Fernsehsender einer breiten
Öffentlichkeit in längeren Beiträgen vorgestellt wurden, unterstreicht
diese Wertschätzung (Baden-Württemberg Aktuell: Bericht über die
Messe-Seelsorge bei der CMT – ntv-Nachrichten: im Rahmen der Invest-Messe – Kirchenfernsehen und bw-Family.tv: „alpha & omega“
und ein „Gloria-Gottesdienst“.
110 Stuttgart
3.2 W
ahrnehmungen zur spezifisch diakonischmissionarische Arbeit als Diakon
3.3 Beobachtungen zu Veränderungen
im Laufe der Projektzeit
Zunächst ist festzuhalten, dass die Mehrzahl der LMS-Mitarbeitenden, Aussteller und Besucher keinen Unterschied zwischen einem
Pfarrer oder Diakon machen können. Dies hat auch die leitfadengestützte Fokusdiskussion eindrücklich bestätigt. In den meisten Fällen
werde ich als „Herr Pfarrer“ angesprochen oder „als der Pfarrer unserer KD auf der LMS“ vorgestellt. Menschen mit keiner kirchlichen
Anbindung oder aus einem katholischen Umfeld können mit dem
Begriff „Diakon“ nichts anfangen.
Aus einer Konzeption: „Kirche am dritten Ort“ (Freizeitwelt) wurde
die „Präsenz der KD auf der LMS“. Als KD finden wir auf der LMS
weniger Zugang zu den Menschen, die eine Publikums-Messe in
ihrer Freizeit besuchen, sondern verstärkt zu Menschen an ihrem
Arbeitsplatz (zweiter Ort) mit besonderen Herausforderungen und
Erschwernissen.
Trotz aller öffentlichen Diskussion, in die die Kirchen in den letzten
Monaten hineingeraten sind, genießen wir als kirchliche Mitarbeitende eine hohe Achtung und Annahme. Viele Gesprächsgegenüber sind
erstaunt, dass sich die Kirche in einem so weltlichen und wirtschaftlich-geschäftsmäßigen Umfeld bewegt, wir als Mitarbeitende Zeit haben, uns für die Belange und Sorgen interessieren.
Als Diakon auf der LMS kommt mir m.E. mein Hintergrund mit einer
praktischen Berufsausbildung und mit einem hohen Interesse in und
an der Arbeitswelt zugute. Als Nichtakademiker und „einer von ihnen“ kann ich mich vermutlich mehr in ihre Belange, Sorgen und
Nöte hineindenken und mit ihnen fühlen. Meine Ausbildung an einer
missionarischen Ausbildungsstätte mit dem Leitmotiv: „Den Hirtenblick der Liebe entwickeln“ hat mein missionarisches Interesse am
Menschen sicherlich geweckt und gestärkt.
Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, eine 30-jährige Berufserfahrung in verschiedenen kirchlichen Arbeitsfeldern, hat meine diakonische Kompetenz und Sprachfähigkeit verstärkt.
Elementar wichtig ist ein offenes Zugehen auf Menschen, eine ehrliche und wertschätzende Grundhaltung, vertrauensbildende Maßnahmen, ein langer Atem und ein unaufdringliches Nachgehen und
-spüren von Menschen. Meinem Eindruck nach haben viele Menschen, denen ich auf der LMS begegne, eine große Sehnsucht nach
Religiösem und Spirituellem, nach mehr Qualität, Tiefgang und Sinn
im Leben. Eine ablehnende, verärgerte und enttäuschte Haltung gegenüber den institutionalisierten und verfassten Kirchen ist nicht zu
übersehen.
Viele Menschen sind vom (ihrem) Leben enttäuscht und haben einige
Lebensbrüche (Ehe, Beziehungen, Arbeitsverhältnisse...) hinter sich,
zu verarbeiten bzw. an ihnen zu tragen. Ich bin fast nach jeder Messe
dankbar, erfreut und erstaunt, wie schnell ich zu Menschen und sie
zu mir Vertrauen fassen, sie mir zwischen „Tür und Angel“ und bei
der Arbeit Seelsorgerliches und Lebenslasten in einer eher anonymen Umgebung anvertrauen.
Was ich beobachten konnte, mich aber etwas ratlos macht, ist, dass
sehr viele Menschen in Tieren eine „Ersatz-Beziehung“ suchen und
gefunden haben und dafür sehr viel Geld ausgeben.
Unterschiedliche Zeitrhythmen und -phasen, mobile Gesellschaft
und Arbeitswelt, Aufteilung des ersten, zweiten und dritten Ortes,
getrennt sein von Familie, Freunden, sozialen Bezügen, auch in Vereinen und Kirchengemeinden, sind für viele Menschen beschwerlich
und belastend.
Die Umstellung von zwei auf nur eine Atempause hat sich entlastend
für die Arbeit, und Vorbereitung herausgestellt. Die Atempause am
Abend wurde nur selten besucht und einige der Messen schließen
sowieso bereits um 16 oder 17 Uhr. Nur in seltenen Fällen wurde dies
schon bedauert, weil es dadurch nur eine Möglichkeit an einem Messetag gab. Bei einzelnen Messen oder bei Gruppenführungen bieten
wir, wenn dies gewünscht wird, auch am Morgen vor oder am Abend
noch eine zusätzliche Atempause an.
Wir bieten einen Gottesdienst nicht grundsätzlich an Messesonntagen an, sondern nur, wo dies von der LMS-Projektleitung und dem
Veranstalter erwünscht wird und auch nur an Messen, auf denen es
relativ viel Publikum gibt, bei denen es in den Zeitplan passt und die
in den Hallen rund um das Atrium gelegen sind.
Bei einer der sehr großen Messe ist ein Gottesdienst vom Veranstalter nicht mehr gewünscht. Bei wenigen Messen ist das Atrium von
Ausstellern oder Veranstaltungen belegt, so dass wir keinen „Platz
haben“. Zu einem Gottesdienst im Andachtsraum „verirren“ sich nur
ganz wenige Menschen. Bei der Uhrzeit sind wir sehr flexibel, je nach
Bedarf und anderen Veranstaltungen. Die spätere Mittagszeit hat sich
als günstige Uhrzeit herausgestellt.
Unsere ökumenischen Kurz-Gottesdienste haben eher einen „Eventoder Veranstaltungs-Charakter“, der im „Vorbeigehen auch noch
mitgenommen wird“. Der Geräuschpegel und die Ablenkungen sind
hoch. Die Gottesdienstbesucher in Lieder oder Aktionen mit einzubeziehen ist schwer möglich. Auch beim Vaterunser-Beten lade ich ein,
leise im Herzen oder laut mit zu beten. Eine „fetzige Musik“ von einer
Band oder von farbigen SängerInnen, wenn die Melodien eingängig
oder sogar bekannt sind und der Rhythmus zum Mitgehen oder -singen animiert, kommen sehr gut an.
Die wechselnde Kollegenschaft und das kollegiale Miteinander war
nicht immer für den „Erfolg“ des Projektes bzw. unseren Dienst auf
der LMS fruchtbar. Phasenweise haben die Reibungsverluste und unterschiedlichen Meinungen viel Zeit und Kraft gekostet.
Diakonat auf der Messe
3.4 Was uns eher (bis jetzt noch) nicht gelungen ist
Die Schnittstellenklärung mit der Flughafenseelsorge kam nur sehr
schleppend voran. Von Seiten der Flughafenkollegen wurde dieses
Vorhaben nicht besonders offen aufgenommen und unterstützt. Seit
aber unsere katholische Kollegin in beiden Aufgabengebieten tätig ist,
konnten manche Vorurteile abgebaut und erste gemeinsame Schritte
getan werden; z.B. in einer gemeinsamen Fortbildung für unsere Ehrenamtlichen, und dass zwei Mitarbeiterinnen, die im Flughafenchor
mitsingen, bei uns auf der LMS als Ehrenamtliche mitarbeiten. Ein
geplanter personeller Wechsel im nächsten Jahr könnte diesem Anliegen noch mehr Rechnung tragen.
Messebegleitende Themen in Foren oder bei Podiumsdiskussionen
aufgreifen und umsetzen, steckt m.E. noch am Anfang. Der Aufwand
ist relativ hoch, aber nur wenige Besucher lassen sich bisher einladen
und ansprechen.
Inzwischen gibt es zwei gelungene Beispiele: bei der CMT das Thema
„Jakobspilgerweg“ zu platzieren und bei der Bastelmesse mit einem
Messestand in der Ausstellungshalle; hier gibt es auch einen direkten
Bezug zu den zwei biblischen Szenen, die wir im Forum der Kirchen
regelmäßig gestellt haben.
After Work Veranstaltungen: Angebote nach Messeschluss als Alternativ-Angebote mit Inhalt und christlichen oder diakonischen Themen gegen das „Abtauchen“ in die „Messeunterwelten“ (Herumlungern, Alkohol, Hotelzimmerbeziehungen, Rotlichtmilieu…) konnten
wir bisher nicht platzieren.
Die starke Tendenz von Mitarbeitenden und Ausstellern, den Messeort möglichst schnell nach Messeschluss zu verlassen, ist sehr groß.
Zudem sind die meisten Ausstellenden in Hotels untergebracht, die
weit ab vom Schuss sind. Und für eine Runde Nordic Walking hat
niemand eine passende Kleidung an und für einen „Erlebnisspaziergang“ eignet sich das Messeumfeld nicht sonderlich.
Eine Kooperation mit diakonischen Handlungsfeldern auf den Fildern
hat es bisher noch nicht gegeben mit Ausnahme der Ehrenamtlichen,
die ausschließlich in der Filder-Region wohnen, einer guten und reibungslosen Zusammenarbeit mit dem Notfallseelsorge-Team des
Kirchenbezirkes Bernhausen und der Psychosozialer Notfallversorgung vom DRK im Landkreis Esslingen; bis jetzt war eine Kooperation in anderen Bereichen auch nicht notwendig.
Die Notfall-Seelsorge an Betroffenen, Angehörigen und LMS-Mitarbeitenden hat bisher im Notfall hervorragend funktioniert. Auch die
regelmäßigen und im Bedarfsfall angesetzten Gespräche und Besprechungen haben sich gut eingespielt. Eine NFS-Fachberater-Nachsorge war bisher noch nicht angefragt.
Eine „Brückenkopffunktion von der Wirtschaft“ in die Landeskirche
ist sicherlich auch noch ausbaubar und könnte in nächsten Schritten
angegangen werden.
111
3.5 Was wir als Kirche von und auf der Messe
lernen können
Die LMS arbeitet hinsichtlich der Messen mit unterschiedlichen Projektleitern. Auch unsere Zuständigkeiten der KD für die einzelnen
Messen und Aufgabenfeldern haben wir an diesem System ausgerichtet.
Es gibt Aussteller, die vorbeigehende Messebesucher als potentielle
Kunden aufmerksam wahrnehmen und sensibel auf die Bedürfnisse
und Wünsche eingehen; andere dagegen bedrängen Ihre „Opfer“ mit
Ihrer „Ware oder Idee“ sehr aufdringlich und entmündigend. Unterstützung und Wertschätzung als KD gerade auch von Menschen und
LMS-Mitarbeitenden, die der Kirche distanziert und dem Glauben
eher ablehnend gegenüber stehen. Es beeindruckt mich, wie viele an
der gemeinsamen Sache ausgerichtet und für ihre Arbeit bezahlten
Dienst versehen und Andersdenkende vorbehaltlos unterstützen.
Unsere „Mission“ in einem Wirtschaftssystem auf die Systemebene
transformieren und ausrichten. Erst in zweiter Linie auf die Beziehungsebene wechseln.
Es gibt einige Messen, auf denen „glückliche Männer mit glänzenden
Augen“ anzutreffen sind. Dazu gehört die „Retro Classics“ (OldtimerMesse), Modell-Messe (ferngesteuerte Fahrzeuge zu Land, Luft und
Wasser) und die Animal (Hunde und Katzen). Mich beeindruckt und
erschreckt zugleich, mit welcher Leidenschaft, Hingabe und Liebe
Männer ihr „heiligs Blechle“ pflegen, an ihrem Modell-Fahrzeug herumdoktern oder ihr Tier liebevoll betreuen. Einerseits finde ich es
gut, wenn ein Mensch (Mann) ein leidenschaftliches Hobby betreibt
und einen Ausgleich zu Beruf und persönlichen Herausforderungen
oder Leidvollem pflegt. Andrerseits wünschte ich mir mehr, dass
diese Leidenschaft und Hingabe in Ehrenämter und missionarischdiakonisches Engagement investiert werden.
3.6 Ausblicke
Aus meiner Sicht wäre es sehr schade, wenn nach meiner Projektzeit
und nach dem Ausscheiden der Pfarrkollegen eine kontinuierliche
Arbeit auf der Messe nicht mehr gegeben wäre. M.E. dürfen wir uns
diese missionarische und diakonische Chance, die uns die Messegesellschaft mit den beiden Räumlichkeiten bietet und mit dem, was
zwischenzeitlich gewachsen und entstanden ist, nicht entgehen lassen. Entsprechende Rückmeldungen, auch schriftlicher Art, wurden
uns signalisiert.
Ich könnte mir sehr wohl vorstellen, dass wir als evangelischer Partner uns der katholischen Seite angleichen und zukünftig mit einer
100%-Stelle für die LMS und den Flughafen diese Arbeit versehen.
Auch wenn die Menschen, zu denen wir mit unserem missionarischen und diakonischen Anliegen nicht zwischen dem Amt des Pfarrers und des Diakons unterscheiden können und der „Ruf nach dem:
112 Stuttgart
Herr Pfarrer unüberhörbar“ ist, hat sicherlich ein Diakon mit einer Berufsausbildung und Berufserfahrung in der Wirtschaft große Vorteile.
Die „klassischen pastoralen Aufgaben“, die auf der LMS und dem
Flughafen abgefragt sind, können m.E. auf jeden Fall von einem
Diakon wahrgenommen werden. Mir haben diese drei ausgefüllten
und erfüllten Jahre als Diakon sehr gut gefallen. Ich konnte mich
mit meinen Gaben sehr gut einbringen und hatte in meinem über
30-jährigen-Berufsleben als Diakon noch nie so viele missionarisch
und seelsorgerlichen Gespräche geführt und diakonische Handlungsfelder bearbeiten können. Mich hat diese 50-%-ige-Aufgabe mehr als
erfüllt und meine ursprünglichen Befürchtungen mit zwei Teilstellen
und einer großen räumlichen Trennung nicht eingetreten sind oder
sich für beide Arbeitsbereiche nachteilig ausgewirkt hätten.
Anhang: Auszüge aus dem Gästebuch im Andachtsraum
„Carriere auf dieser Welt ist nicht so wichtig, wie die Carriere neben
dem Schöpfer. Mein Dank geht denjenigen, die dieses Gebetsraum
realisierte haben.“
„Herr, Du machst die Unverständigen zum Zeugnis Deiner Macht –
Gelobt sei Dein Name, Herr Jesus Christus!“
„Danke Mutter Gottes für alles“
„Herzlichen Dank an alle die so einen Raum mit erdacht und gestaltet
habe. Der Allmächtige habe Erbarmen mit den Gläubigen.“
„Was für ein Tag. Danke für gutes Gelingen und die wohltuende
Ruhe dieses Raumes.“
„Eine tolle & wichtige Idee, auch in solch trubeligen Messehallen
den Menschen einen Raum der Ruhe & dem Glauben einen Platz zu
schenken.
Hoffe, dass er sich von vielen Menschen finden lässt!“
„Du wurdest nicht geboren, mein Kind. Es tut mir sehr leid.
Dennoch wirst du immer in meinem Herzen bleiben.“
„Und du Mensch, der du das liest. Gehst Du hier Deinen Geschäften nach, schaust, dass der Laden läuft, Gewinn, Profit, die richtige
Standzeiten für Maschinen… Und Deine Seele…? Und Jesus? Ist er
schon in Deinem Herzen? Hast Du Dich ihm schon ganz eingegeben?
Hast Du Dein Leben verloren und das neue Leben empfangen…?
Mensch, denke, dass unser Leben ein Ende haben wird, denke an
Dich, an Deine Seele…“
„Gott möge allen vergeben, die uns hier die Möglichkeit anbieten, Ihn
(Gott) anzubeten. gez. Muslim“
„Dass wir als Muslime die Möglichkeit hatten, unsere Gebete durchzuführen, danke ich Allah. Möge Allah Gesundheit, Glück und insallah
(wenn Gott will) das Paradies gewähren.“
Abkürzungen:
LMS: Landesmesse Stuttgart
KD: Kirchliche Dienste
113
Brückenschlag
„milieuübergreifende Glaubensvermittlung“
Bericht 10: Stuttgart
Verkündigung und jugendliche Milieus
Tobias Becker
Projektort:
Stuttgart
Anstellungsträger:
Evangelisches Jugendwerk in Württemberg
Projektstelleninhaber:
Diakon Tobias Becker
114 Stuttgart
1. Einleitung: Projektidee und Konzeption
Unsere bisherige Jugendarbeit erreicht meist nur Kinder und Jugendliche mit mittlerem und höherem Bildungsniveau. Das Angebot der Jugendarbeit gilt zwar allen Jugendlichen, wird aber in der
Regel nicht von allen Jugendlichen wahrgenommen. Auch die Zahl
von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist noch
vergleichsweise gering. Durch das Projekt soll der missionarische
Auftrag unserer Kirche so wahrgenommen werden, dass Jugendlichen aus bisher nicht erreichten Milieus und Lebenswelten Gottes
Liebe verkündigt wird.
Im Projekt Brückenschlag werden junge Menschen in ihrer Lebenswelt aufgesucht und zu einem mehrtägigen Auftaktevent in Form
einer Spielshow eingeladen. Die Jugendlichen werden dabei selbst zu
Akteuren und Akteurinnen, indem sie Teil einer Mannschaft sind, die
um die Ehre im Ort kämpft.
Ausgehend von unserem normativen Ziel
Durch das Projekt soll der missionarische Auftrag unserer Kirche so wahrgenommen werden, dass Jugendlichen aus bisher nicht erreichten Milieus und Lebenswelten Gottes Liebe
verkündigt wird.
soll das strategische Ziel
Jugendliche aus bisher nicht erreichten Lebenswelten haben
von Gottes Liebe gehört und christliche Gemeinschaft erlebt159
Gegenstand der vertieften Evaluation sein.
Dieses strategische Ziel wurde in zwei Teilziele aufgeteilt:
Die Glaubensvermittlung geschieht nach dem Spiel durch kurze Impulse, die an den Lebenswelten der Teilnehmenden ansetzen. In der
Vertiefungsphase folgt gemeinsames Bibellesen in Kleingruppen zum
Thema des Impulses. Fester Bestandteil ist die Befragung des „Experten“ zum Thema. Alle offenen Fragen sind erlaubt und werden
gewürdigt.
1 . Durch Brückenschlag sind Jugendliche aus bisher nicht
erreichten Lebenswelten mit kirchlicher Jugendarbeit in
Kontakt gekommen und nehmen deren Angebote gerne
wahr.
In der Weiterarbeit nach diesem Event werden interessierte Jugendliche eingeladen, Teil eines Angebotes zu werden, welches ortspezifisch ins Leben gerufen wird. Neue Formen für geistliche Beheimatung der durch das Projekt erreichten Jugendlichen sollen entwickelt
werden.
Neben der Begleitung dieser prozessorientierten Veranstaltungsform
werden die ehrenamtlichen Mitarbeitenden aus bestehenden Jugendarbeiten zu Milieuüberschreitungen motiviert und geschult.
Das Projekt Brückenschlag wird von der Landesstelle des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg verantwortet und durchgeführt.
Projektstelleninhaber ist Diakon Tobias Becker mit einem Stellenanteil von 60%. Da das Projekt jährlich wechselnd in Kooperation mit
einem Bezirk oder einer Gemeinde durchgeführt wird, findet die Umsetzung in Zusammenarbeit mit dem Kernteam des durchführenden
Kooperationspartners statt. Die Aufgabe des Diakons besteht darin
das Kernteam vor Ort zu begleiten, zu beraten und beim Event die
Rolle des Verkündigers zu übernehmen.
2 . Durch Brückenschlag haben bisher nicht erreichte Jugendliche Gottes Liebe und christliche Gemeinschaft durch
Wertschätzung, Wahrnehmung und Anknüpfungsmöglichkeiten an biblische Werte und Inhalte erfahren.
2.1 Erreichte Lebenswelten und
Inanspruchnahme der Angebote
Um Wahrnehmungen und Beobachtungen zu Teilziel 1 zu erhalten,
wurden folgende Verfahren gewählt und die Methode der Gruppenbefragung angewandt:
vier Jugendliche der Mannschaft CC und vier Jugendliche der
Mannschaft PP wurden in zwei getrennten Gruppenbefragungen
im Januar 2012 befragt
Telefongespräch mit einem CVJM-Vorstand160
2. Vertiefte Evaluation
Das Projekt wurde in verschiedenen Orten und Kontexten durchgeführt. Im Oktober 2010 fand Brückenschlag in Zusammenarbeit mit
dem örtlichen CVJM unter dem Titel XX in M-dorf statt. Die dort erhobenen Daten stellen die Grundlage der Untersuchung dar.
Protokoll der Auswertungssitzung des XX-Kernteams
am 05.05.2011
Wahrnehmungen des Projektstelleninhabers161
159
Ausarbeitung Projektziele 2010.
Telefongespräch mit C.M. (CVJM-Vorstand), Juli 2012.
161
Ich habe diese Wahrnehmungen aus dem Gedächtnis auf der Grundlage meiner
Besuche im Wohnzimmer und verschiedener Gespräche formuliert.
160
Verkündigung und jugendliche Milieus
2.1.1 A
ussagen zum Kontakt der Jugendlichen
mit der CVJM Jugendarbeit
In der Gruppenbefragung mit der Mannschaft CC werden die Jugendlichen auf ihre Motivation, bei Brückenschlag (XX) mitzumachen, angesprochen. Dabei wird (ab Zeile 7) auch deutlich, an welchem Ort
sie angetroffen wurden:
S: „Also bei mir war das so. Also die E hat sich da informiert bei H
und so hat sie uns gefragt. Und am Ende haben wir gehört, dass
wir in Europapark gehen deshalb hab ich mitgemacht.“
M: „Bei mir war´s so, H ist zu mir gekommen und hat gefragt, ob
ich da mitmachen will, da hab ich gesagt: Ja, okay. Hab sowieso
nichts Besseres zu tun.“
E: „Ja bei mir war´s auch so. Ich war ja auch im Jugendhaus und
da hat sie halt rumgefragt und hat halt keine Leute so richtig zusammen bekommen und da hat sie mich auch gefragt.“
Im gleichen Gespräch werden die Jugendlichen auf Vorkontakte
mit dem „CVJM befragt (Zeile 157):
I: „Die XX-Abende wurden ja vom CVJM durchgeführt. Hattet ihr
schon vor den Jugendabenden etwas mit dem CVJM zu tun mal?“
E: „Ich nicht.“
S: „Hmm. Also ich auch nicht.“
M: „So richtig eigentlich nicht. Außer ein bis zweimal Jungschar.“
Etwas später werden die Jugendlichen auf ihre Kontakte zu Menschen aus dem CVJM angesprochen und wie sich diese durch das
Wohnzimmer (ein 14-tägiges offenes Jugendangebot des CVJM
als Eventfortführung) verändert haben (Zeile 249):
S: „Also früher hatten wir keinen Kontakt. Weder H noch M. Aber
jetzt schon. Ich find´s ganz okay mit den hier zu sein.“
M: „Ja, ich bin auch gleicher Meinung. Und, das Wohnzimmer ist
nur durch CC so beliebt geworden. Weil, diese anderen von XX
kommen ja nicht hier her. Das sind alles unser Freundeskreis.“
Int: „Also ihr habt nur den M und die H kennen gelernt und sonst?
Haben sich sonst Kontakte geknüpft und Freundschaft oder so?“
M: „Nöö.“
S: „Ja, und dann hat sich das so entwickelt, dass wir zu dritt da
hingegangen sind.“
Im Telefongespräch mit dem CVJM-Vorstand wurden folgende Beobachtungen mitgeteilt:
Alle Jugendlichen der Mannschaft CC haben Migrationshintergrund
und besuchten zum Zeitpunkt des Events die Hauptschule. Nach Einschätzung des CVJM-Vorstands besuchen 90% der CVJM-Jugendlichen über 14 Jahren eine weiterführende Schule.162
Das Protokoll der Sitzung der Begleitgruppe des Projekts Brückenschlag ergab folgende Einschätzungen: Im Vorfeld des Brückenschlag-Events XX wurden vier Mannschaften für die XX-Spielshow
aufgestellt. Nach Einschätzung der (oder Kernteams des Projekts)
besuchten vor Brückenschlag über die Hälfte aller mitspielenden Jugendlichen keine Gruppenangebote des CVJM.163 Diese Einschätzung
wird ergänzt durch Wahrnehmungen des Projektstelleninhabers:
Einen großen Teil ihrer freien Zeit verbringen die CC-Jugendlichen
im kommunalen Jugendhaus. Hier treffen sich vor allem Jugendliche
aus dem Umfeld der Hauptschule oder der alternativen Szene. CVJMJugendliche sind hier nur sehr selten anzutreffen.
Auswertende Beobachtungen: Jugendliche aus Lebenswelten, die
bisher keine Angebote des CVJM nutzten, sind durch Brückenschlag
mit der Arbeit des CVJM in Kontakt gekommen und nutzen regelmäßig das Wohnzimmer, die offene Jugendarbeit des CVJM, welches nach dem Event ins Leben gerufen wurde. Es zeigt sich, dass
es keine Berührungspunkte zwischen typischen CVJM-Jugendlichen
und Besuchern des Wohnzimmers gab. Bei den CVJM-Jugendlichen
herrscht eine klare innere Abgrenzung zu Jugendlichen, die kein traditionelles Gruppenangebot besuchen.
2.1.2 Aussagen zur Nutzung des CVJM Angebots
Bei der Gruppenbefragung äußern sich die Jugendlichen des Teams
CC auf die Frage, was sie über die Angebote des CVJM´s wie beispielsweise das XX-Event oder das Wohnzimmer denken (ab Zeile
161), folgendermaßen:
Im CVJM war bekannt, dass XX vor allem ein Event sein sollte, um
Jugendliche zu erreichen, die bisher noch keine Gruppenangebote
des CVJM wahrnehmen. Jugendliche aus der Mannschaft PP, die aus
CVJM-Jugendlichen gebildet wurde, äußern sich auf die Frage, warum sie mitgemacht haben, wie folgt (ab Zeile 7):
C: „Sara hat uns gefragt. Der L hatte zu wenig Mitspieler und dann
hat er uns gefragt, obwohl wir eigentlich nicht die Zielgruppe waren, die da mitmachen sollten.“
S: „War es nicht so, wir waren im Mädchenkreis und danach hat
doch der L dich angerufen und irgendwie so und.“
I: „Genau.“
S: „und du hast noch gefragt, ob die C....“
I: „Weil ich nicht alleine in die Gruppe wollte.“
115
S: „Also Wohnzimmer. Ich finde das eigentlich ganz schön. Weil,
im Winter und so wir können halt nie draußen sein. Also wenn wir
draußen sind, randalieren wir, also die Jungs oder so allgemein
wird alles randaliert. Und hier hat man halt Spaß im Wohnzimmer.
Wir sind alle zusammen. Wir Schwaben (?), wir reden, wir spielen.“
M: „So wie... Das Wohnzimmer ist halt gut geeignet für ? (unverständlich) Menschen. Wir haben sowieso nichts Besseres im
Winter zu tun. Und dann gehen wir halt hierhin. Außerdem sonntags hat sowieso nichts offen. Also kommen wir hierher.“
Int: „Nur im Winter aber...?“
M: „Nö, nö, auch im Sommer. Wenn nichts los ist, kommen wir
hierher.“
162
Telefongespräch mit C.M. (CVJM-Vorstand), Juli 2012.
Protokoll Auswertungsgespräch XX, Mai 2011, S. 1 (J.).
163
116 Stuttgart
Angesprochen auf das, was sie sich vom CVJM wünschen würden,
nennen die Jugendlichen (ab Zeile 262):
E: „Dass es nicht nur sonntags, sondern auch an anderen Tagen
das Wohnzimmer gibt.“
Int: „Okay.“
E: „Weil das ist ja nur jede zweite Woche so.“
S: „Bissle zu wenig.“
M: „Ja.“
S: „Und dass wir wieder zusammen kochen und dass wir wieder
Regeln einhalten. Dass es dann Regeln gibt und dass jeder mithilft.“
E: „Und ganz einfach, dass, wenn niemand mithilft, dass dann
derjenige auch nicht dazu kommt und so.“
M: „Ich stimmt sehr da zu.“
Int: „Also man braucht unbedingt Regeln.“
S + E: „Ja, auf jeden Fall, ja.“
S: „Weil, Sie haben´s sicher auch vorher gesehen. Unsere Jungs
da drin. Die sind richtig schlimm.“
M: „Ja, die schreien halt rum und so.“
S: „Schalten das Licht aus. Vorletzte Woche müssten Sie sie sehen. Alle Tische lagen auf dem Boden und die Stühle, so was darf
eigentlich nicht passieren. Weil H war letztes Mal allein hier und
keiner hat auf sie gehört. Ich finde, alle sollten Respekt vor ihr
haben. Die ist älter. Dank ihnen (H und M) sind wir hier.“
Int: „Wie kann man so was schaffen?“
(Pause)
M: „Wenn wir alle mitmachen.“
S: „Vielleicht, dass man mal alles zusammen sitzt.“
E: Uund darüber diskutiert...“
S: „Ja genau.“
E: „Und mit M zusammen.“
Zum Ende des Gesprächs werden die Jugendlichen gebeten, noch
mal zu sagen, was ihnen wichtig wäre (ab Zeile 303):
E: „Also ich fand´s mit den CC war alles in Ordnung. Dadurch hab
ich Freunde kennen gelernt. Hab Kontakt zu M, H und den anderen. Und ich bin eigentlich öfters jeden Monat hier. Mir macht´s
voll Spaß.“
M: „Willst du nicht mal ne Predigt halten (lacht) Spaß (alle lachen).“
E: „So halt. Ich finde es sollte weiterhin so laufen, halt.“
Int: „Okay.“
E: „Ich bin zufrieden so.“
M: „Echt?“
(alle lachen)
S: „Also ich stimm ihr zu, aber sonst fällt mir auch nichts ein.“
M: „Ja ich auch. Aber wie gesagt. Es sollten halt Dinge schon
verändert werden.“
Int: „Zum Beispiel?“
S: „Regeln.“
E: „Ja.“
M: „Essen sollte man. Und mal was kochen. Was uns auch Spaß
macht. Bisschen zusammen spielen. Und nicht so in der Ecke alleine spielen, (lachen) so Puzzle und so...“
Int: „Was könntet ihr noch beitragen, dass es besser läuft? (Pause) oder die Gruppe an sich?“
M: „Ja ich bin ja nicht der Mann im Haus, aber. Ich kann da nichts
dazu sagen. Das muss schon M und H machen.“
S: „Ja.“
M: „Die sind ja die Leiter hier.“
Int: „Hmmm.“
S: „Die sind ja auch älter als wir. Wenn wir da was sagen, würden
die sagen, wieso mischt ihr euch da ein.“
Auswertende Beobachtung Ein wichtiger Grund für die regelmäßige
Nutzung des Wohnzimmers ist, dass es halt das einzige Angebot für
Jugendliche am Sonntagabend ist. Dennoch fühlen die Jugendlichen
sich mittlerweile in ihrem Wohnzimmer zuhause. Sie wünschen sich,
dass die Leitenden die Einhaltung der Regeln durchsetzen, um einen
geordneten Ablauf zu gewährleisten und den Fortbestand des Wohnzimmers sichern. Die Jugendlichen entwickeln im Gespräch dafür
einen Lösungsvorschlag. Sie wünschen sich eine gemeinsame Diskussionsrunde mit allen Jugendlichen und den Verantwortlichen.
Hier wird deutlich, dass es durch Brückenschlag und das Wohnzimmer gelungen ist, die CC-Jugendlichen im Sinne der Teilhabe zu erreichen. Es ist ihr Wohnzimmer geworden und sie sind nicht mehr
bloß Gäste.
2.2 Erfahrbarkeit der Gottes-Liebe
und christlicher Gemeinschaft
Um Äußerungen von Jugendlichen im Rahmen von Teilziel 2 zu erheben, wurde eine Gruppenbefragung mit vier Jugendlichen der Mannschaft CC (Januar 2012) durchgeführt Diese wurde durch Beobachtungen des Projektstelleninhabers ergänzt.
2.2.1 A
ussagen über Wertschätzung
und Wahrnehmung beim Event
Im Gespräch werden die CC-Jugendlichen gefragt, was man bei so
einem Event besser machen sollte. Darauf entgegnen sie ab Zeile 65
folgendermaßen164:
E: „Alles war in Ordnung eigentlich, also, s´war spannend. Alles
war schön dunkel mit viel Musik, da waren Zuschauer da.“
Zwar kommt im Gesprächsverlauf auch kurz ein Konflikt mit einem
anderen Team zur Sprache. Aber schon ab Zeile 78 dreht sich alles
wieder um die Erlebnisse bei der Show:
M: „Halt, dass es noch mal so was gibt.“
Int: „Das sollte man noch mal machen?“
M: „Ja.“
164
Gruppenbefragung CC, Zeile 65.
Verkündigung und jugendliche Milieus
Int: „Warum? Was war so richtig gut daran?“
M: „Ja es hat Spaß gemacht.“
Int: „Warum?“
M: „Ja so halt.“ (versucht zu erklären, Mädels mischen sich ein...)
S: „Vier Nächte hintereinander.“
E: „Das war halt so...“
S: „Waren alle halt zusammen.“
M: „Voll aufgeregt.“
Int: „Alle voll dabei so...“
M: „Ja.“
S: „Alle waren gut drauf.“
M: „Viele Zuschauer.“
E: „Ja.“
Auf die Bitte, das Event positiv oder negativ zu bewerten kommen die
Jugendlichen zu folgenden Aussagen (ab Zeile 135)165:
E: „Ich hab mich wie ein Star gefühlt.“
Int: „Wie ein Star... weil so viele Zuschauer da waren?“
E: „Ja.“ (lacht etwas verlegen)
Int: „Okay.“
M: „Voll geschmeichelt...“
Int: „Ja, ist doch schön. ... Sonst noch was?“
(Nöö Geräusche)
M: „Nöö.“
Int: „Besonderes Erlebnis? Irgendwas?“
S: „Schöne Erinnerungen haben wir halt.“
Auswertende Beobachtungen: Das Brückenschlagkonzept mit der
Form der Spielshow hat ein hohes Potential, dem Evangelium durch
Wertschätzung und Wahrnehmung Gestalt zu geben. Jugendliche sind
als Akteure bei der Spielshow beteiligt, sie werden als Gesprächspartner ernst genommen und ihre Potentiale werden wahrgenommen. Mit
dem Event wird ein Raum ermöglicht, in dem auch Hauptschuljugendliche zeigen können, welche Gaben und Fähigkeiten in ihnen stecken.
2.2.2 A
ussagen über Wertschätzung
und Wahrnehmung im Wohnzimmer
Als weiterführendes Angebot des Brückenschlagevents wurde mit
dem Wohnzimmer eine 14-tägige offene Jugendarbeit etabliert, die
von den CC-Jugendlichen regelmäßig besucht wird. Ab Zeile 249166
schildern die befragten Jugendlichen ihr Empfinden gegenüber dem
Wohnzimmer und den Mitarbeitenden:
117
S: „... Vorletzte Woche müssten Sie sie sehen. Alle Tische lagen
auf dem Boden und die Stühle, so was darf eigentlich nicht passieren. Weil H war letztes Mal allein hier und keiner hat auf sie
gehört. Ich finde, alle sollten Respekt vor ihr haben. Die ist älter.
Dank ihnen (Anm: H und M) sind wir hier.“
Auf die Frage, was sie sich vom CVJM wünschen würden, äußern
sich die Jugendlichen ab Zeile 292 wie folgt:
S: „Ja, dass wir vielleicht alle mal irgendwo hingehen. Irgendwelche berühmte Dinger besichtigen. Weiß nicht.“
M: „Ja das nicht, (lachen) aber nicht intelligentes, aber zum Beispiel ins Filderado irgendwann mal.“
S: (lacht) „In Zoo, ins Freibad, solche Sachen...“
E: „Eis essen.“
(alle lachen etwas)
M: „So halt mehr zusammen unternehmen.“
Wahrnehmungen des Projektstelleninhabers: Die Mitarbeitenden
des Wohnzimmers werden von den Jugendlichen geschätzt. Während meiner Besuche im Wohnzimmer konnte ich erleben, wie besonders eine ehrenamtliche Mitarbeiterin und der Gemeindediakon
immer wieder als Gesprächspartner aufgesucht wurden. Mittlerweile sind intensive Beziehungen gewachsen, so dass auch sehr persönliche Sorgen und Probleme mit den Mitarbeitenden besprochen
werden.
Auswertende Beobachtungen: Durch die hohe Beziehungsorientierung im Wohnzimmer erfahren die Jugendlichen Wertschätzung. Sie
wissen den Einsatz der Mitarbeitenden zu schätzen. Auch der regelmäßige Besuch belegt das hohe Maß an erfahrener Wertschätzung.
Mit dem Wohnzimmer wurde ein Ort geschaffen, an dem die Gesetze
der Leistungsgesellschaft keine so große Rolle spielen. Niemand wird
im Wohnzimmer nach seinen Noten gefragt. Mit dem Wohnzimmer
wird der biblische Wert von Gastfreundschaft für die Lebenswelt der
CC und ihrer Freunde in M-Dorf gelebt. Die Regelmäßigkeit, mit der
die CC das Wohnzimmer besuchen, belegt ein hohes Maß an erlebter
Wertschätzung. Die investierte Zeit für Beziehungsarbeit im Wohnzimmer trägt Früchte: Die Mitarbeitenden werden als Gesprächspartner aufgesucht und ihr Rat ist geschätzt. Das Wohnzimmer stellt
einen Ort dar, an dem Jugendliche willkommen sind.
Dennoch bleibt selbstkritisch festzustellen, dass die Möglichkeiten für
eine intensivere Arbeit mit den Jugendlichen im Wohnzimmer nicht
voll ausgeschöpft werden. Die Jugendlichen wären offen für mehr
gemeinsame Aktivitäten, die wiederum die Beziehungen intensivieren.
S: „Also früher hatten wir keinen Kontakt. Weder H noch M. Aber
jetzt schon. Ich find´s ganz okay mit den hier zu sein.“
Ein paar Zeilen später (277-280) geht es um die Disziplinschwierigkeiten, die immer wieder den Ablauf im Wohnzimmer und letztlich
auch den Fortbestand des Wohnzimmers gefährden167:
165
Gruppenbefragung CC, Zeile 135.
166
Gruppenbefragung CC, Zeile 249-250.
167
Gruppenbefragung CC, Zeile 277-280.
2.2.3 A
ussagen über Anknüpfungsmöglichkeiten
an biblische Werte und Inhalte
Aufgrund der langen Zeitspanne zwischen der Befragung und dem
Event ist davon auszugehen, dass sich die Aussagen überwiegend
auf das im Wohnzimmer Erlebte beziehen. Auf die Angebote im CVJM
118 Stuttgart
angesprochen, bei denen es um den christlichen Glauben geht, äußern sich die befragten Jugendlichen ab Zeile 200168 so:
M: „Ich find´s okay, aber wir sind halt keine Christen, was soll ich
dazu sagen...“
Int: „Ja, du hast bestimmt ne Meinung darüber, auch als Nichtchrist...“
E: „Doch, also auch wenn ich keine Christin bin oder so, trotzdem interessiert mich des also. Zum Beispiel, vor kurzem, also
nicht vor kurzem, sondern. Wir haben mal so einen Film angekuckt über Jesus. Und ich war die Einzige, die geheult hat, weil
ich weischt... mich interessiert das schon auch. Bin zwar Moslem,
aber interessieren andere Religionen auch.“
Konkret auf das Bibellesen und die Andachten im Wohnzimmer angesprochen (Zeilen 219-220):169
S: „Ja, sie (Anm: Mitarbeiterin) erzählt uns halt ab und zu solche
Geschichten oder liest uns halt was vor. Da hören wir halt zu und
sagen unsere Meinung schon dazu.“
In diesem Zusammenhang geht es dann darum, ob sie durch solche
Angebote etwas über den christlichen Glauben und für sich persönlich gelernt haben (Zeile 232-245):170
E: „Also ich weiß jetzt, wie Jesus aufgehangen wurde und warum
und so.“
S: „Ja.“
E: „Früher wusste ich das schon, aber nicht richtig. Aber jetzt
schon, so einigermaßen hab ich´s im Griff (lacht etwas verlegen).“
M: „Gehört haben wir schon viele Sachen, aber... Keine Ahnung.“
S: „Ich stimm dem zu.“
M: „Das sind Sachen, die ich schon längst kenn. Früher habe ich
auch Film von Jesus angekuckt, kam ja auch im Fernsehen. Das
hab ich alles schon gesehen, gehört und so.“
Int: „Hast du da auch was gelernt für dich? Oder nur gesehen?“
M: „Ich hab´s einfach nur gesehen. Was soll ich da auch lernen?
Dass... Keine Ahnung. Bisschen netter sein.“
Int: „Okay.“
S: „Respekt.“
M: „Ja.“
Auswertende Beobachtungen: Brückenschlag ist eine gute Möglichkeit, einen ersten Kontakt zwischen Jugendlichen und Glaubensthemen herzustellen. Das Thema Glauben ist für die CC-Jugendlichen
nicht unwichtig, auch wenn es im Wohnzimmer nicht ihr Topthema
ist. Für sie besteht kein Grund dazu, sich auf den christlichen Glauben näher einzulassen, da sie ja Muslime sind. Das Gespräch über
den Glauben wird daher von den CC-Jugendlichen eher als Lernstoff
wahrgenommen und nicht persönlich existenziell. Werte des christlichen Glaubens wie Annahme und Nächstenliebe werden unter dem
Begriff Respekt verortet und durchaus positiv gesehen.
Dennoch bedarf der Bereich des Glaubensgesprächs einer intensiveren Betrachtung. Es ist festzustellen, dass kognitiv orientierte
Verkündigungsformen im Kontext Wohnzimmer an ihre Grenzen
kommen. Es stellt sich daher eine didaktische Herausforderung. Es
ist zu hinterfragen, ob die Methode einer kognitiv ausgerichteten
Andacht in diesem Kontext das geeignete Mittel ist. Das Beispiel
des Jesusfilms zeigt, wie viel einprägsamer dieses visuelle Medium
im Gegensatz dazu war. Sicher liegt es auch daran, dass hier einer
der wenigen Methodenwechsel stattgefunden hat. Darüber hinaus
stammt das Medium Film aus der konkreten Lebenswelt der Jugendlichen.
Es kommt daher darauf an, im Wohnzimmer die Vielfalt der Methoden zu nutzen. Außerdem müssen diese adäquat für die Jugendlichen sein. Auf rein kognitivem Wege werden sie offensichtlich nicht
erreicht. Spannend ist, der Frage nachzugehen, wie Jugendlichen
dieser Zielgruppe in anderen Kontexten Wissen vermittelt wird. Der
Bildungsplan für Werkrealschulen171 Baden-Württemberg schreibt in
seinen Leitgedanken für den Evangelischen Religionsunterricht vor:
„Grundlegend ist der Zusammenhang von Handeln, Erfahrungen und
Verstehen. Besonders durch handlungsbezogene projektorientierte
Lernformen wird ein Gespräch über Einsichten und Bedeutungen
ermöglicht.“172 Christliche Jugendarbeit ist gut beraten, im Gespräch
über den Glauben diese Erkenntnisse zu berücksichtigen. Das stellt
die Verantwortlichen vor die Herausforderung, die Arbeit des Wohnzimmers vermehrt zu fördern. Die Mitarbeitenden müssen für ihre
didaktischen Aufgaben geschult werden.
Weiter ist zu beobachten, dass das Gespräch über den Glauben im
Kontext muslimischer Jugendlicher eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Allerdings scheint der Umgang in Bezug auf Gespräche über den Glauben bisher sensibel genug geschehen zu sein.
Im XX-Auswertungsgespräch wurde die missionarische Strategie
für das Wohnzimmer folgendermaßen beschrieben. Das Hauptziel
besteht nicht darin, Jugendliche zu bekehren, sondern ihnen zu
begegnen und Christus zu bezeugen.173 Man ist bereit den langen
Weg einer beziehungsorientierten offenen Jugendarbeit zu gehen.
Die Mitarbeitenden wollen daher als offene Gesprächspartner zur
Verfügung stehen. Es bleibt aber das langfristige Ziel, dass alle Jugendlichen in eine persönliche Christusnachfolge eingeladen werden sollen.
3. Metareflexion
Das Projekt Brückenschlag ist ein gutes Instrument, um mit Jugendlichen ohne kirchliche Sozialisation in Kontakt zu kommen. Die Idee
der Spielshow setzt an der Lebenswelt Jugendlicher an und ermöglicht durch das Konzept der hohen Beteiligung persönliche Wahrnehmung, Wertschätzung und Förderung ihrer Potentiale.
171
168
Gruppenbefragung CC, Zeile 200-205.
169
Gruppenbefragung CC, Zeile 219-220.
170
Gruppenbefragung CC, Zeile 232-245.
Hauptschulen werden zurzeit in Werkrealschulen umgebildet. Die Schüler und ihre
Fähigkeiten sind aber noch die gleichen.
172
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden Württemberg (Hrsg.) 2010, S. 16.
173
Protokoll Auswertungsgespräch XX, S. 2 (M.).
Verkündigung und jugendliche Milieus
Offene Räume in der Weiterarbeit wie das Wohnzimmer ermöglichen
auch Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund Beheimatung und
Begegnung. Dabei sind Wertschätzung und Wahrnehmung durch die
Mitarbeitenden von elementarer Bedeutung für ein überzeugendes
und einladendes Christuszeugnis.
Es ergeben sich folgende Herausforderungen und Lernfelder für die
Arbeit des EJW:
Glaubenssprachfähigkeit schulen.
Mitarbeitende müssen für die Weitergabe des Glaubens zu zielgruppengerechten didaktischen Formen angeleitet werden und
die Vielfalt der Methoden kennen lernen.
Interreligiöse Dialogbereitschaft.
Unsere Sprach- und Dialogfähigkeit bei der Kommunikation des
Evangeliums in der Begegnung mit Muslimen muss neu bedacht
und gefördert werden. Sind wir auskunftsfähig über unseren
Glauben?
Mut zu langem Atem.
Notwendig sind Mitarbeitende, die bereit sind, lange Wege mit
Jugendlichen zu gehen, ohne schnell Erfolge sehen zu müssen.
Nachhaltige Veränderungen bedürfen langer Zeit.
Milieusensibilität wach halten.
Das Jugendwerk hat dafür Sorge zu tragen, dass es verschiedene
Arbeitsbereiche gibt, die sich um das Thema milieusensible Jugendarbeit kümmern. Daher muss die Vernetzung und Kooperation mit diesen Arbeitsfeldern innerhalb des EJW verstärkt werden.
3.1 Schlussgedanken
Das Projekt Brückenschlag verdeutlicht, dass die bisher gegangenen
Schritte allenfalls ein Anfang auf dem Weg hin zu anderen Lebenswelten/Milieus sind. Man muss sich bewusst sein, dass die Früchte
dieser Arbeit unter Umständen erst in vielen Jahren erkennbar werden. Schließlich handelt es sich bei diesem Unterfangen um nicht
weniger als einen Paradigmenwechsel. Deshalb ist es bereits ein Erfolg, unterwegs zu sein.
Anhang: Eine typische Situation
im Projekt Brückenschlag
„Eine typische Situation“ – da fallen mir sofort Szenen mit begeisterten Jugendlichen ein. So etwas ließe sich gut berichten: Jugendliche
aus ganz verschiedenen Lebenswelten, die an vier Abenden im Rahmen der Brückenschlag-Spielshow leidenschaftlich um die Ehre im
Ort kämpfen.
119
Jugendliche, die auf diese Weise Kirche und christliche Jugendarbeit
ganz anders und vielleicht zum ersten Mal kennen lernen.
Jugendliche, die das Evangelium durch Wertschätzung erleben und
von der Liebe Gottes hören. Und so etwas ist begeisternd. Ja, davon
ließe sich gut erzählen. Doch waren es typische Situationen für das
Projekt Brückenschlag? Wohl eher nicht. Es war ein Highlight.
Typischer waren die vielen Gespräche und Diskussionen mit Menschen über das Brückenschlag-Grundanliegen.
Ich denke dabei an das Gespräch mit einer leitenden Mitarbeiterin.
Sie hatte vom Projekt gehört und versucht, ihre Gemeinde dafür zu
gewinnen, einen Brückenschlag zu wagen. Leider ohne Erfolg.
Und ich spüre: Leiten und leiden gehören manchmal zusammen. Sie
wünscht sich, dass die Jugendlichen, die von der bisherigen kirchlichen Jugendarbeit nicht erreicht werden, mehr in das Blickfeld der
Gemeinde genommen werden. Immer wieder hört sie, dass Gott ja
alle Menschen liebt und es schon wichtig sei, dass man für die da
was macht... Doch scheint dieser Wunsch eher ein theoretischer zu
sein. Denn wo und wie wird so was konkret? Oder ahnen es viele
schon?
Denn eins ist klar. Wo Jugendliche aus anderen Lebenswelten auftauchen, da wird das bisherige System der Jugendarbeit in Frage gestellt. Und auch diese Frage ist gerechtfertigt: Wer hat schon so viel
Kraft und Kapazitäten, um den Jugendlichen aus anderen Lebenswelten dann gerecht zu werden? Wir sind ja an vielen Orten froh, das
Bisherige am Leben erhalten zu können. Wie kann man da noch eine
zusätzliche Baustelle aufmachen?
Diese Fragen und Gespräche waren typisch für das Projekt. Und ich
gebe zu: Ich habe keine einfache Lösung parat. Und trotzdem. Diese
Fragen müssen vermehrt diskutiert werden. Denn Gottes Liebe gilt
allen.
Literaturverzeichnis
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden Württemberg
(Hrsg.) (2010): Bildungsplan 2010 Werkrealschule, Stuttgart.
120
Kurzberichte
II. Kurzberichte
121
122
123
Menschen entdecken – gemeindediakonisch handeln:
Diakonieladen Kaufkultur
Bericht 11: Tuttlingen
Diakoniekaufhaus
Dennis Kramer
Projektort:
Tuttlingen
Projektträger:
Evangelischer Kirchenbezirk Tuttlingen
Projektstelleninhaber:
Diakon Dennis Kramer
124 Tuttlingen
1. Projektidee und Projektkonzeption
Die Idee für das Projekt „Menschen entdecken – gemeindediakonisch handeln“ entstand durch die Beobachtung von Bedarfen, die
in der bisherigen Arbeit in der Bezirksstelle nicht abgedeckt wurden.
Mit einem Wechsel in der Geschäftsführung erlebte die Arbeit mit
Ehrenamtlichen einen neuen Aufschwung. Schon bald wurde deutlich, dass ehrenamtliches Engagement kein Selbstläufer ist, sondern
Ehrenamtliche auch Betreuung, Begleitung und Schulung bedürfen.
Anfang 2009 belief sich die Zahl derer, die sich ehrenamtlich bei der
Diakonischen Bezirksstelle engagierten, auf ca. 120 Personen. Bald
wurde klar, dass dieses Arbeitsgebiet nicht nebenbei zu bearbeiten ist.
Der zweite Hauptaspekt der Projektidee war die Überlegung, das Diakonielädle, in dem gebrauchte Kleidung günstig weiter verkauft wurde, aus- und umzubauen. Eine Erweiterung des Angebots auf Möbel
und Hausrat erschien notwendig. Von erweiterten Öffnungszeiten
versprach man sich höhere Umsätze, um so bezahlte Arbeitsplätze
zu schaffen.
Am Anfang standen Überlegungen, wie ein zukünftiges Sozialkaufhaus in Tuttlingen aussehen könnte. Dazu wurde ein Konzept geschrieben, welches die Ausgangssituation beschreibt, zentrale Ziele
formuliert und weitere Ausbauideen beschreibt. Die Konzeption wurde immer wieder mit einer Begleitgruppe diskutiert und überarbeitet.
Nachdem ein grundsätzliches Konzept bestand, wurde die Suche
nach geeigneten Räumlichkeiten aufgenommen. Diese waren überraschend schnell gefunden. Mit Hilfe eines Architekten wurden dann
erste Überlegungen zur Raumgestaltung angestellt. Weitere Hilfe
wurde von zwei Studierenden der Fachrichtung Kommunikationsdesign geleistet.
2. Wichtige Stationen / Meilensteine
Konzeptionierungsphase Diakonieladen Kaufkultur
Raumsuche und Einrichtungskonzeption
Testphase Ladenbetrieb
Der Laden etabliert sich im Gemeinwesen
Kultur im Kaufhaus
Ehrenamt
2.3 Weichenstellungen / Stolpersteine
Die wichtigsten Weichenstellungen, die auch gleichzeitig Stolpersteine hätten werden können, wurden sicherlich vom Diakonischen Bezirksausschuß (DBA) beschlossen. Am Anfang, schon vor dem Projekt, wurde grundsätzlich die Einrichtung der Diakonenstelle und die
damit verbundene Finanzierung beschlossen. In der Diskussion verschiedener möglicher Konzepte folgte der DBA dem von den „Praktikern“ favorisierten Vorschlag. So wurde es möglich, den Laden in der
Tuttlinger Innenstadt anzumieten. Schon bald wurde deutlich, dass
die Person des Diakons alleine nicht reichen würde, um Öffnungszeiten und Kontinuität zu sichern. So wurde entschieden, zwei zusätzliche 75%-Kräfte anzustellen. Schwierig war es, die Ehrenamtlichen
mitzunehmen in das neue Konzept.
3. Ergebnisse
3.1 Teilziel 1
Ehrenamtliche engagieren sich im Diakonieladen Kaufkultur
Das Thema Ehrenamt war von Anfang an zentraler Bestandteil des
Projekts. Hauptaufgabe am Anfang war es, die Ehrenamtlichen, die
im Diakonielädle vergleichsweise autark gearbeitet hatten, mitzunehmen in ein neues Konzept. Das Diakonielädle spielt in der Erinnerung
der Ehrenamtlichen immer noch eine große Rolle. Viele Diskussionen
gab es um die Frage der Transparenz des Ladens. „Da kann uns ja
jeder sehen“174 konnte man da hören und hinzugefügt wurde, „die
Kunden sieht man aber auch.“ „Da werden die alle weg bleiben.“175
Schwierigkeiten brachte auch die Vorstellung, dass neben den Ehrenamtlichen nun auch sogenannte „Ein-Euro-Jobber“ dort arbeiten
sollten. In dieser Situation habe ich versucht, die Ehrenamtlichen an
möglichst vielen Stellen der Konzeptionierung zu beteiligen. Schon
bevor überhaupt klar war, wie und wo es einen neuen Laden geben
könnte, wurde eine Projektgruppe gegründet. In dieser Projektgruppe saßen Vertreter und Vertreterinnen der Stadt, des Sozialamts,
anderer sozialer Einrichtungen, Vertreter der Kirchengemeinden und
Ehrenamtliche aus dem Laden. Mir war es wichtig, dass meine konzeptionellen Überlegungen dort diskutiert wurden. So konnten die
Experten und Expertinnen vom Konzept überzeugt werden aber auch
die Ehrenamtlichen. Dabei war ich besonders bedacht, dass vor allem
die „key persons“ aus dem Kreis der Ehrenamtlichen beteiligt waren.
Diese waren m.E. zentrale Personen, die authentisch dafür sorgen
konnten, dass die konzeptionellen Überlegungen von den Ehrenamtlichen akzeptiert werden.
Parallel dazu habe ich versucht, so viel wie möglich Kontakt zu den
Ehrenamtlichen zu pflegen. Diese Kontakte wurden genutzt, um sehr
schnell und direkt neue Entwicklungen, die den Laden betrafen, zu
verbreiten. So gab es in regelmäßigen Abständen Treffen bei Kaffee
und Kuchen. Bei diesen Treffen versuchte ich unter anderem auch
aufzunehmen, welche Anregungen die nicht direkt beteiligten Ehrenamtlichen noch geben konnten. Später wurden diese Treffen dann mit
„Baustellenbesichtigungen“ im neuen Ladengeschäft abgeschlossen.
Trotz teils großer Vorurteile gelang es schließlich, dass bei der Eröffnung des Ladens alle vormals engagierten Ehrenamtlichen weiter bereit waren, mit zu helfen. Dazu kamen noch einige Neue, die wegen
der Berichterstattung in den Medien neugierig geworden waren.
174
Gedächtnisnotiz Ladenbesprechung vom 13. Mai 2009.
175
Ebd.
Diakoniekaufhaus
Im Laufe der Zeit beendeten dann auch einige ihr Engagement, andere kamen hinzu. So arbeiten im Laden kontinuierlich ca. 25 Ehrenamtliche. Durch die Berichterstattung in den Medien und die Rückmeldungen, die die Ehrenamtlichen von Kunden bekamen, wandelte
sich die Skepsis sehr schnell. „Einen schönen Laden haben wir da
jetzt, schön modern eingerichtet.“176 Unverständnis begegnete mir
sogar bei einer Adventsfeier, bei der ich mich nochmals für das Engagement bedankte. Da gäbe es nichts zu danken, es ginge ja schließlich um ihren Laden!
Das Verhältnis zwischen den Ehrenamtlichen und den „1-Euro-Jobbern“ ist weiterhin zwiespältig. Auf der einen Seite haben die Ehrenamtlichen akzeptiert, wie wichtig die Beschäftigung im Laden für die
Jobber ist. Auf der anderen Seite wird immer wieder moniert, dass es
an Identifikation mit dem Laden bzw. seinen Zielen und Bereitschaft
zum Engagement mangeln würde.177 Hier bietet der Laden Raum für
ein eminent wichtiges, gesellschaftlich bedeutendes Lernfeld. Das
Ziel eines gleichberechtigten Nebeneinanders wird wohl nie völlig erreicht werden, und doch werden die Beteiligten zu Botschaftern einer
Gesellschaftsordnung, die über Milieugrenzen hinweg miteinander
kommuniziert und arbeitet.
Zusammengefasst kann man sagen, dass Selbstbestimmung, Transparenz und Beteiligung die wichtigsten Bedingungen sind, die im Umgang mit Veränderungsprozessen aber auch in der allgemeinen Arbeit mit Ehrenamtlichen zu beachten sind.
3.2 Teilziel 2
Der wirtschaftliche Erfolg des Diakonieladens bietet die
Grundlage für sozial-diakonische Arbeit.
Neben dem Erhalt der gewachsenen Ehrenamtsstrukturen war das
Schaffen von bezahlter Arbeit und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Erfolg des Ladens Kernziel. Die Erlöse im Diakonielädle
wurden für Miete und Nebenkosten des Ladengeschäfts, Einrichtung
und Personal ausgegeben. Die Personalkosten entstanden durch die
Beschäftigung von drei Personen auf Minijobbasis. Der Erlös wurde
durch Verkauf und Regiekosten für eine „Ein-Euro-Jobberin“ erwirtschaftet. Neben den Kosten des laufenden Betriebs konnten regelmäßig Rücklagenzuführungen vorgenommen werden. Aus diesen
Rücklagen konnte dann auch letztlich die Teilfinanzierung der neu
geschaffenen Diakonenstelle bestritten werden.
125
Besonders die langfristige finanzielle Sicherung der Diakonenstelle auch über die Projektförderung hinaus stand im Mittelpunkt der
Überlegungen. So wurde also das Angebot vergrößert. Neben der
Kleidung wurden nun auch Bücher, Elektrogeräte, Hausrat, Schmuck
und Spielzeug verkauft. Bei der Einrichtung des Ladens wurde auf
attraktive und gleichzeitig funktionelle Gestaltung geachtet. Die Innenausstattung korrespondiert dabei mit dem innovativen Design der
Aussenbeklebung sowie der Werbemittel und Publikationen. Im Außenbereich wurden Wühlkörbe positioniert, um die Menschen zum
verweilen einzuladen. Die Schaufenstergestaltung wird im Zweiwochenrhythmus geändert. Insgesamt werden 44 Stunden Öffnungszeit
in der Woche vorgehalten.
Durch die genannten Maßnahmen erhöhte sich die Kundenfrequenz
und somit auch der Umsatz. Gesteigert wurde dieser Effekt noch
mal durch die Eröffnung einer Café Bar im Laden. Synergien werden auch durch die Nutzung des Ladens mit Kulturveranstaltungen
in Schließzeiten erreicht. Schon bald begannen Überlegungen, wie
die Geschäftsbereiche des Ladens weiter ausbaubar sein könnten. So
wurde ein weiteres Ladengeschäft angemietet, um dort mehr Möbel
ausstellen zu können. Kurz darauf wurde ein zusätzliches Kleingewerbe gegründet, welches sich mit dem Verkauf von antiquarischen
Büchern über die Internetplattform Amazon Marketplace™ beschäftigt. Der Geschäftsbereich Möbel erfuhr Mitte 2012 eine Aufwertung
durch ein zusätzlich angemietetes Lager mit ca. 350 m² und die
Schwerpunktverlagerung einer 75%-Stelle auf dieses Thema.
Wie auf Abbildung 1 zu sehen ist, steigerten sich die Umsätze von
Anfang an. Im Jahr 2009 gab es durch den Umzug in der Jahresmitte
knapp acht Wochen Schließzeit. Berücksichtigt sind die Einnahmen
des Diakonielädles und dann später des Diakonieladens. Durch den
frühen finanziellen Erfolg war es sehr schnell möglich, zwei Langzeitarbeitslose jeweils mit 75 % v.H. anzustellen. Die Stellen waren bis
31. August 2013 befristet und wurden, wie die Diakonenstelle auch,
entfristet.
Abbildung 1: Umsatzentwicklung in den Jahren 2008 bis 2011
120.000,00 €
100.000,00 €
80.000,00 €
60.000,00 €
40.000,00 €
Aus dieser Anfangssituation heraus wurde damit kalkuliert, dass der
Laden bei erweiterten Öffnungszeiten und einer öffentlichkeitswirksamen Präsentation bzw. Ausweitung des Angebots auch höhere
Erlöse erwirtschaften kann. Diese Überlegungen wurden durch ein
Marketingkonzept bestätigt.
176
Gedächtnisnotiz Gespräch mit Ehrenamtlichen am 17.09.2009.
177
Vgl. Gruppendiskussion Ehrenamt Zeilen 110 bis 130.
20.000,00 €
0,00 €
2008
1
2009
2
2010
3
2011
4
126 Tuttlingen
In Abbildung 2 ist eine ungefähre Aufteilung der Umsätze zu sehen.
Die Zahlen sind auf Grundlage des aktuell vorliegenden Zahlenmaterials angenommen. Zuwächse können vor allem im Internet- und
Bücherhandel verzeichnet werden, während die Umsätze im Kerngeschäft etwas nachgelassen haben. Gründe dafür sind nicht zuverlässig
zu nennen. Es ist aber zu vermuten, dass diese Entwicklung mit den
prosperierenden wirtschaftlichen Verhältnissen in Tuttlingen zusammenhängt. Diese Entwicklung scheint sich aber schon jetzt umzukehren, sodass man davon ausgehen kann, dass der Umsatz direkt mit
der Umsatzkraft bzw. Kraftlosigkeit der Kundschaft zusammenhängt.
2.000,00 € Abbildung 2: Kalkulierte Umsatzanteile für das Jahr 2012
30.000,00 €
12.000,00 €
12.000,00
€ €
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den hohe Flexibilität erfordern. Auf neue Geldquellen muss schnell
und zielgerichtet reagiert werden, ohne dabei pädagogische, theologische und soziale Ziele aus dem Blick zu verlieren. Langfristig
scheint es unumgänglich, sich aus der Abhängigkeit von Drittmitteln
und öffentlicher Förderung zu lösen. Der Aufbau einer sich selbst
finanzierenden Sozialwirtschaft z.B. nach Schweizer Vorbild könnte
eine Lösung sein.
Vor allem unter diesem Gesichtspunkt wird innerkirchliche Öffentlichkeitsarbeit immer wichtiger werden. Eine kleinmaschige Vernetzung mit den Subsystemen christlicher Gemeinschaften, die ein
hohes Maß an Sprachfähigkeit sowohl im sozialen als auch im kirchlichen Bereich erfordern, könnte eine Grundvoraussetzung sein, um
einen gesellschaftlichen Gegenpol zum Diktat des Kapitals zu bilden.
Anhang: Ein typischer Tag
Regiekosten
Es ist Montagmorgen 9 Uhr. Ich betrete den Laden und möchte in
Verkaufserlös Diakonieladen
mein Büro. Bevor ich es erreiche, fängt mich eine meiner MitarbeitenVerkaufserlös Möbel den ab. „Herr Kramer! Am Freitagabend hat mich Frau M. den ganzen
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Nachmittag Fenster putzen lassen. Ich hab es jetzt so im Kreuz…“
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Regiekosten
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4. Aussichten und Anregungen
80.000,00 €
Ein Laden ohne Ehrenamtliche ist für mich inzwischen nur noch
schwer vorstellbar. Sie sind die Brückenbauer in die örtliche Gesellschaft und zu den Kunden. Trotzdem ist es schwierig, ein Unternehmen zu führen, das innovativ sein will und sich ständig weiter
entwickelt und gleichzeitig darauf zu achten, dass alle mit der Geschwindigkeit Schritt halten können. Was in der großen Wirtschaft
nicht klappt, bei der die Abgehängten irgendwann im Wohlfahrtssystem landen, muss in einer diakonischen Einrichtung oberstes Gebot
sein. Umso wichtiger ist es, alle Beteiligten auch zu beteiligen und
eine Struktur zu finden, in der nicht zwangsläufig alle selber mitgehen, aber eben doch die Idee mittragen. Die besondere Herausforderung der milieugemischten Mitarbeiterschaft und der damit verbundenen unterschiedlich hohen Motivation und Einsatzbereitschaft ist
gleichzeitig Weg und Ziel.
Außergewöhnliche Schwierigkeiten brachten in der Vergangenheit
Umstrukturierungen in der Sozialgesetzgebung, in der ein Rückzug
des Staates aus seiner solidarischen Verantwortung hin zu einem
völlig deregulierten System, in dem nicht die Freiheit des Menschen,
sondern die Freiheit des Kapitals, im Mittelpunkt steht, mit sich.
Dieser Trend wird sich vermutlich fortsetzen. Der Ein-Euro-Job, der
zumindest einige (wenn auch nicht nur) positive Effekte hatte, ist so
gut wie abgeschafft. Das Gemeinnützigkeitsrecht steht durch Europäisierungstendenzen auf dem Prüfstand. Diese Entwicklungen wer-
(Wir werden von Herrn S. unterbrochen. Er ist für die Abholung von
Möbeln zuständig) „Herr Kramer! Nur ganz kurz! Sollte die Sofagruppe jetzt in Mühlheim oder in Möhringen abgeholt werden?“ Ich
komme meinem Büro näher, als ich gerade die Klinke runter drücke,
ruft es vom Kassentresen: „Herr Kramer! Frau X, Y und Z haben sich
krank gemeldet. Wer soll jetzt die Nachmittagsschicht übernehmen?“
Ich betrete mein Büro und schließe die Tür. Das Telefon klingelt. „Ja,
hier ist M. Ich wollte mal fragen, nehmen Sie auch Kleider?“ Ich ziehe
meine Jacke aus. Das Telefon klingelt. Frau B. aus der Verwaltung ist
dran. „Kannst Du mir heute noch Einzahlungsbelege bringen? Ich
muss den Monatsabschluss machen.“ Ich setze mich, es klopft an
der Tür. „Übrigens die Spülung im Herrenklo ist defekt“. Ich höre
den Anrufbeantworter ab. Dreimal die Frage nach den Öffnungszeiten, zweimal Schweigen im Äther. Das Telefon klingelt. Pfarrer K.
ist dran: „Herr Kramer! Ich wollte mal fragen, ob Sie bereit wären,
im Konfirmandenunterricht eine Einführung in das Thema Diakonie
zu machen? ….dann warte ich auf Ihren Stundenentwurf und sage
dann Bescheid, ob das so in Ordnung geht.“ Ich trage den Umsatz
vom Wochenende in die Tabelle ein. Es klopft. Die Ehrenamtliche Frau
S. „Herr Kramer! Ich bin da….ich wollte das eigentlich gar nicht…
es ist schon eine gute Sache…teuer ist es aber… Können Sie mir
das schreiben? Dieses, eine Kündigung. Ich will nicht mehr für den
Kneippverein zahlen.“ Es klopft. „Herr Kramer! Da fragt einer nach
einem Praktikum“. Ich schreibe einen Beitrag für das Geburtstagsheft
der Gesamtkirchengemeinde. Thema: Mein liebstes Kirchenlied. „und
reichst du mir den schweren Kelch, den bittren.“ Es klopft. Ein kleiner
Junge guckt mich mit großen Augen an und fragt: „Was machst Du?“
Das Telefon klingelt. Staatsanwaltschaft. „Herr Kramer! Ich wollte nur
eben fragen, wie weit Herr B. mit seinen Sozialstunden ist?“ Lautes
Geschrei dringt aus dem Laden in mein Büro. Eine Kundin hat nach
sechs Wochen gemerkt, dass die Bluse, die sie sich gekauft hat, nicht
grün sondern Mintfarben ist. Es ist 12.30 Uhr. Mittagspause…
127
Vernetzung von kirchlicher Jugendarbeit
und Schule vor Ort
Bericht 12: Welzheim
Jugendarbeit und Schule
Nicole Heß
Projektort:
Welzheim
Projektträger:
Evangelischer Kirchenbezirk Schorndorf
Projektstelleninhaberin:
Diakonin Nicole Heß
128 Welzheim
2. Projektverlauf
Nicole Heß
Diakonin /
Jugendreferentin
1. Projektidee und Projektziel
Die Idee der Projektstelle „Jugendarbeit und Schule“ in Welzheim
bestand in der personalen Verbindung der Alltagslebenswelt Schule und des Freizeitbereiches kirchliche Jugendarbeit. Zu bemerken
ist hier, dass Welzheim über fünf Schulen verfügt und die evangelische Jugendarbeit in einem CVJM organisiert ist. Der Evangelische
Kirchenbezirk Schorndorf war Anstellungsträger der Projektstelle,
welche gemischt kirchlich finanziert wurde (30% CVJM Welzheim
e.V., 10% Evangelische Kirchengemeinde Welzheim, 10% Evangelischer Kirchenbezirk Schorndorf und 50% Projektgelder). Das Projektteam bestand aus Verantwortlichen des CVJM Welzheim e.V. und
der Evangelischen Kirchengemeinde Welzheim, ergänzt durch einen
Fachbeirat mit Vertretern der Schulen und der Kommune.
Der Leitungskreis erarbeitete als Ziel der Projektarbeit:
Jugendliche aus kirchenfernen Milieus haben im Rahmen der
kirchlichen Jugendarbeit in Welzheim Anteil am Evangelium
als Zuwendung Gottes zu den Menschen.
Strategisch wurden hierzu Wege mit folgenden Personengruppen
vorgesehen:
1. In der kirchlichen Jugendarbeit bisher nicht wahrgenommene Jugendliche der Hauptschule der Klassen 6 und 7
erfahren sich in ihrem bisherigen Lebensraum und darüber
hinaus als Teil einer Gemeinschaft, als Menschen, deren
Stärken wertgeschätzt sind und werden in diesen Zusammenhängen zu Mitgestaltern.
2. Mitarbeitende in der kirchlichen Jugendarbeit in Welzheim
kennen, bejahen und leben die Zuwendung zu Jugendlichen
aus kirchenfernen Milieus als Nachfolge Jesu Christi.
Im folgenden Abschnitt wird der Verlauf des Projektes kurz skizziert.
Einige dieser Schritte waren vom Projektteam von vornherein so
geplant. Andere wurden von diesem Team auf dem Weg entwickelt
bzw. auf Grund der Beobachtung und Reflektion des tatsächlichen
Verlaufes entsprechend weiterentwickelt. Somit entspricht dieser
Ablauf zwar nicht einem idealen Projektablauf, kann jedoch aufzeigen, wie Verläufe von Veränderungen (z.B. von Haltungen Ehrenamtlicher) in der Realität aussehen können. Der Verlauf berücksichtigt beide strategische Ebenen, also die Arbeit mit den Jugendlichen
im Bereich der Schule und die Arbeit mit den Ehrenamtlichen im
Bereich des CVJM.
Mit Dienstantritt der Diakonin erfolgte zunächst eine vertiefte Sozialraumanalyse. Hierfür wurde eine Vielzahl von Gesprächen geführt,
sowie Beobachtungen und Fakten gesammelt. Das Projektteam wertete diese miteinander aus. Auf dieser Basis wurden die Ziele des
Projektantrages überarbeitet, d.h. ausgewählt, strategisch aufgestellt
und operationalisiert.
Mit dem Aufbau von Kontakten und ersten Angeboten im Bereich der
Schule, besonders in der Mensa, und der Hauptschule konnte erstes
Interesse bei Jugendlichen gewonnen werden. Währenddessen reagierten die Mitarbeitenden des CVJM irritiert. Sie waren im Vorfeld
nicht genug in die Entwicklung des Projektes einbezogen worden und
verstanden nicht, wieso die Schule plötzlich ein so großes Thema
darstellte. Diese Irritation war anfangs nur zwischen den Zeilen und
unausgesprochen wahrnehmbar.
Im Verlauf der folgenden Monate erwachsen aus der Arbeit in der
Schule Erfahrungen mit diesem Kontext und weitere Beobachtungen und Erlebnisse der Diakonin mit den Jugendlichen dort. Diese
werden z.B. im Mitarbeiterkreis oder Gesprächen mit den Mitarbeitenden geteilt. Die Mitarbeitenden nahmen wahr, dass sich in ihrem
Umfeld Veränderungen ergeben können bzw. sie zu Veränderungen
herausgefordert werden. Sie reagierten mit kritischen Fragen und
Ängsten.
An mehreren Stellen erfolgten Gespräche, die dies thematisieren. Die
Aufgabe und Rolle der Diakonin im Bereich Jugendarbeit und Schule
wurde gemeinsam geklärt, Ängste und Befürchtungen thematisiert.
Die erneute Vermittlung der Projektidee förderte das Verständnis für
die Prozesse und half dabei, einen gemeinsamen Boden zu finden.
Hierbei sind einige Mitarbeitende wichtig, welche den Prozess im Vorfeld mitgeprägt haben und den Ängsten die Spitze nehmen können,
da sie großes Vertrauen genießen.
Im Leitungskreis wächst die Erkenntnis für die Größe des Ziels und
das Bewusstsein, dass unser Weg länger werden wird, als zunächst
angenommen. Wir benötigen kleinere Zwischenschritte und die Bereitschaft, sinnvolle Umwege zu gehen, um die Ehrenamtlichen mitzunehmen. Diese benötigen ebenso spürbare Aufmerksamkeit wie
die Jugendlichen der Hauptschule.
Jugendarbeit und Schule
129
Im Bereich der Schule wachsen Kontakte und Beziehungen, die Angebote können weiterentwickelt und noch besser auf den Kontext
und die Jugendlichen abgestimmt werden. Die Kommunikation der
Erfahrungen dort wird bewusst dosiert.
Als Themenbereiche wurden die jeweiligen Lebenswelten angesprochen, Haltungen zum Thema Glauben und Kirche seitens der Jugendlichen bzw. gegenüber den Jugendlichen seitens der Mitarbeiter und
ihre Erfahrungen im Rahmen des Projektes.
Punktuelle Begegnungen zwischen einzelnen Ehrenamtlichen und Jugendlichen, mit denen die Diakonin arbeitet, finden statt. Sie fördern
das Verständnis für die Notwendigkeit des Projektziels und fordern
zu einer Beschäftigung mit Jugendlichen, die nicht in der Jugendarbeit beheimatet sind, heraus.
Ausgewertet wurde das Datenmaterial mit Hilfe der dokumentarischen Methode nach Bohnsack unter Beteiligung weiterer Diakone
sowie erfahrenen Fachkräften im Bereich Evaluation.
Einzelne erwachsene Ehrenamtliche engagieren sich mit der Diakonin im Bereich der Schule. Zudem begegnet die Diakonin bei ihrer
Arbeit im schulischen Bereich einigen Jugendlichen, die im CVJM
beheimatet sind.
Die Arbeit im Bereich der Schule verliert zunehmend den Charakter
des Neuen und Fremden. Die Mitarbeitenden begreifen zunehmend
den Grund und das Ziel dieses Engagements und beginnen, es als
sinnvoll zu bewerten.
Mitarbeitende, welche über Begegnungserfahrungen mit den Jugendlichen der Hauptschule verfügen, bringen ihre Beobachtungen
in Gespräche ein und werden fragend. Sie entdecken Grenzen der
bisherigen Arbeit und überlegen, wie man diesen Jugendlichen als
kirchliche Jugendarbeit begegnen könnte.
Die Beobachtungen werden mit interessierten Mitarbeitenden diskutiert, so dass Kenntnis und Beschäftigung mit diesen Jugendlichen
und der eigenen Kultur erwächst.
3. Erkenntnisse aus der Evaluation
3.1 Zur Erhebung
Im Projektziel werden vor allem zwei Personengruppen berücksichtigt:
Jugendliche der Hauptschule
ehrenamtliche Mitarbeiter des CVJM.
Entsprechend zielte die Evaluation auf die Darstellungen der
jeweiligen Lebenswelt, wie auch auf Schilderungen bzgl. des
jeweiligen Gegenübers.
Acht Gruppendiskussionen wurden im Frühjahr 2011 mit entsprechenden Leitfäden von verschiedenen Interviewern geführt; fünf davon mit insgesamt vierzehn ausgewählten Jugendlichen der Hauptschule, drei Diskussionen mit etwa ebenso vielen ausgewählten
Ehrenamtlichen des CVJM.
Ergänzt werden diese Daten und ihre Auswertung durch die Beobachtungen der Sozialraumanalyse sowie Feldnotizen aus dem Arbeitsalltag der Diakonin. Wiedergegeben werden hier also die Äußerungen und Darstellungen der jeweiligen befragten Personen und
zwar zum Zeitpunkt der Erhebung.
3.2 Die Welt der Mitarbeitenden und der Jugendlichen
Zunächst fällt auf, dass die Mitarbeitenden des CVJM stark die Norm
einer überschaubaren Gruppe als Kernangebot der Jugendarbeit vor
Augen haben, mit den Rollenangeboten Mitarbeiter und Teilnehmer
sowie wöchentlichen Treffen mit Programm und der Erwartung einer
regelmäßigen Teilnahme. Diese Angebote aufrechtzuerhalten erleben
die Mitarbeitenden bereits als große Herausforderung, ebenso wie
die häufige Bewertung durch die Teilnehmer.
Durch die häufig lange Sozialisationszeit meist seit der Kindheit im
CJVM sind bei den Mitarbeitenden zum einen die Themen in der Jugendarbeit und Vorstellungen über Jugendarbeit stark angeglichen.
Davon abweichende Zugänge zur Jugendarbeit, z.B. zu einem späteren Zeitpunkt, kommen bei den Mitarbeitenden wenig vor bzw. werden als Ausnahmen bewertet.
Dem gegenüber taucht bei den befragten Jugendlichen der Hauptschule der Wunsch nach lebensnahen bzw. publikumswirksamen
Beteiligungsmöglichkeiten auf, bei denen ihre Stärken und Möglichkeiten gefördert werden und sie sich als Teil eines größeren Ganzen
erleben.
Die Jugendlichen thematisieren außerdem mehrfach die häufig als
abwertend erlebte Art, in der Jugendliche anderer Schularten über
sie sprechen bzw. mit ihnen umgehen. Sie werden dadurch gekränkt
und in ihrem Selbstbewusstsein verunsichert. Außerdem wird von
einigen bedauert, dass in den Schulklassen immer wieder durch das
Verhalten einzelner Personen das allgemeine Klassenklima und damit
die persönliche Situation negativ beeinflusst werden.
130 Welzheim
3.3 Das Bild der Diakonin aus Perspektive
der Mitarbeitenden und der Jugendlichen
dass in der Jugendarbeit das „Menschliche“ bedeutender ist, bleiben
Unsicherheiten.
In den Gruppendiskussionen erzählen die Befragten auch von der
Diakonin und den Erfahrungen mit ihr. Bei einer Gruppe Jugendlicher,
welche in engerem Kontakt mit der Diakonin stehen, wurde explizit
danach gefragt. Die Mitarbeitenden des CVJM brachten dieses Thema selbst an mehreren Stellen ein.
Außerdem schildern sie eine angenehme Atmosphäre sowie ein gutes Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Jugendarbeit (im Vergleich
zum Konfirmandenunterricht), die sie auf die Freiwilligkeit und hohe
Partizipation zurückführen. Zudem ist für sie erkennbar, dass hier
Glauben eine zentrale Rolle spielt.
Insgesamt ist zu beobachten, dass die Diakonin v.a. als Kommunikatorin und Wanderin zwischen den Welten erscheint.
Bei den befragten Jugendlichen entsteht das Bild eines Weges von
mehreren Etappen, den sie mit der Diakonin gegangen sind. Zunächst
beschreiben die befragten Jugendlichen die Beziehung, die zu ihnen
aufgebaut wurde. Hier erfuhren sie Wertschätzung und Achtung ihrer
Person, auch in der Form, dass sie aktiv an Aktionen beteiligt wurden
und sich darin als gefragte Personen erlebten. Bei diesen Jugendlichen entstand (teils in Verbindung zur Konfirmandenarbeit) darüber
Interesse für Glaubensthemen.
Die Diakonin wird geschildert als eine Person, die erklärte, verständlich machte und den Jugendlichen zu einem Zugang und zu einer
Orientierung im Bereich des Glaubens half. Schließlich wurde den
Jugendlichen der Glauben selbst wichtig; sie fanden Raum zur Auseinandersetzung und konnten eine eigene positive Haltung dazu
entwickeln; sie wurden aufmerksam dafür, wo Glauben auch sonst
vorkommt und ordneten weitere Anregungen ein. Kurzgefasst kann
man vielleicht sagen: Beziehung, Wertschätzung, Glaube.
In den Schilderungen der Mitarbeitenden erscheint die Diakonin als
Kontakt- und Beziehungsperson: sie geht auf Menschen zu, nimmt
aktiv Kontakt auf und leistet eine erste Wegetappe in Richtung Glauben und Kirche. Diese Kompetenz führen die Ehrenamtlichen vor allem auf die Ausbildung, teils auch auf die Persönlichkeit der Diakonin
zurück. Außerdem speist die Diakonin (aus ihrer größeren Perspektive und dem Erfahrungsfeld) neue Informationen ein und bildet hier
als Gesprächspartnerin eine Ressource für die Mitarbeitenden.
3.4 Begegnungserfahrungen
Punktuell kamen in den Gruppendiskussionen Begegnungserfahrung
im Rahmen des Projekts zur Sprache.
Während abstrakte konzeptionelle Überlegungen mit Mitarbeitenden
zügig an Grenzen kommen, werden konkrete punktuelle Begegnungen sowohl von den Mitarbeitenden als auch von einigen Jugendlichen deutlich wahrgenommen und mit innerer Beteiligung reflektiert.
Ein paar Mitarbeitenden werden auch Grenzen der bisherigen Formen
der Jugendarbeit deutlich.
Die Jugendlichen wiederum nehmen im Kontext der Jugendarbeit
deutlich schulische Unterschiede wahr. Auch wenn sie feststellen,
4. Beobachtungen
Das Ziel einer Annäherung von kirchenfernen Jugendlichen
und ehrenamtlichen Mitarbeitern der Jugendarbeit bedarf eines
gründlichen und ständig reflektierten Prozesses, der gut auf die
Möglichkeiten und Grenzen dieser Gruppen abgestimmt werden
muss.
Um diese Gruppen nicht zu überfordern, sind zunächst punktuelle
Begegnungen sinnvoll, außerdem ist die Sorge für Reflektionsmöglichkeiten wichtig. Konkrete Begegnungen fördern die Auseinandersetzung miteinander mehr als gehörte Erzählungen und
diese wiederum mehr als abstrakte Überlegungen. Eine Beschäftigung mit diesen Jugendlichen (und den ggf. daraus folgenden
Notwendigkeiten) wird von ehrenamtlich Mitarbeitenden schnell
als Überforderung empfunden; sie fühlen sich schon mit ihren
bisherigen Aufgaben als Gruppenmitarbeiter mehr als ausgelastet.
Teilhabe und Mitgestaltung von Aktivitäten wird vor allem von
jüngeren Jugendlichen als hohe Wertschätzung bewertet, die es
ihnen ermöglicht, sich als „gefragt“ zu erleben. Jugendarbeiten
und Kirchengemeinden verfügen diesbezüglich über Ressourcen,
die noch zu entwickeln sind.
Die Frage nach der Ein-/Zuordnung der Arbeit an der Schule im
Verhältnis zur klassischen Jugendarbeit stellt sich als Frage nach
dem Verständnis von Kirche. Zur Identität und zum Auftrag von
Kirche gehören in dieser Konzeption die Mitgestaltung des Lebensbereiches Schule und das Zugehen auf kirchenferne Jugendliche als Nachfolge bzw. Teil von Nachfolge Christi.
Anhang: Eine exemplarische Situation
Am geplanten Schulgottesdienst möchte ich gerne Jugendliche beteiligen. Die Junior-Schülermentoren sind zur Vorbereitungszeit leider im Schullandheim. So frage ich einzelne Jugendliche an: Jemand
aus dem Gitarrenkurs, eine Person die sich gerne mit mir unterhält,
zwei Mädchen, die bereits im Jahr zuvor mitgemacht haben, und die
ich inzwischen gut kenne. Alle sagen spontan zu und fragen nach:
Wann treffen wir uns? Was muss ich genau machen? Wer macht
noch mit? Echtes Interesse und Motivation ist spürbar.
Jugendarbeit und Schule
In den Ferien treffe ich einige der Jugendlichen am Gemeindehaus;
ich sitze draußen und gehe den Ablauf des Schulgottesdienstes
durch. Eine der Jugendlichen kommt vorbei, setzt sich zu mir und will
wissen, was ich mache. So gehen wir Schritt für Schritt den ganzen
Gottesdienst durch, sie stellt Fragen, kommentiert, ich frage sie nach
ihrer Meinung z.B. zu Fragen der Verständlichkeit. Sie möchte z.B.
wissen, „was ist ein Amen“ usw.
Am ersten Schultag treffe ich mich mit zwei der Jugendlichen in der
großen Pause. Eine sieht, dass auf meinem Zettel am Anfang „Begrüßung“ steht, und sie fragt vorsichtig und mit dem Finger darauf
zeigend: „Kann ich das vielleicht auch machen?“
Ein anderer sitzt auf der anderen Seite, kuckt auf den Zettel und stellt
fest: “Ich auch.“ Ich bin kurz irritiert und frage: „Ähm, ja. Welchen
Teil wollt ihr denn machen?“ Darauf wird das Mädchen mutiger und
eröffnet: „Ich will noch allen was wünschen!“ Der andere schreitet
gleich ein mit den Worten „Aber mach keine lange Rede!“ – „Nein,
nein!“ antwortet sie und zu mir gewandt „geht das?“. Ich wedle fragend mit den Händen, überlege kurz und antworte: „Ok, lass mal
überlegen... wie wäre es nach dem Segen? Ganz am Ende?“ Sie zuckt
mit den Schultern und nickt. Sie kann es wohl nicht einschätzen, aber
wenn ich das sage, wird es schon in Ordnung sein. Ich ergänze dann
noch: „Kannst du das bitte vorher aufschreiben? Dann zeigst du mir
das morgen früh, damit es auch passt und dann kannst du das machen, ok?“
Am Tag des Gottesdienstes habe ich mich auf 7:20 Uhr mit den Jugendlichen zu letzten Absprachen in der Kirche verabredet. Bereits
10 Minuten vorher stehen sie vor der Türe. Das Mädchen ist ganz
aufgeregt und zeigt mit gleich ihren Zettel mit zwei Versionen ihrer
Abschiedsworte. Ich wähle eine davon aus.
Am Ende des Gottesdienstes stehen dann ein Pfarrer in Talar, sowie
ich in Jeans und Bluse nach dem Segen vorne. Das Mädchen stellt
sich vor uns mit ihrem Zettel in der Hand. Mit großer Ernsthaftigkeit
und nickendem Kopf verliest sie sorgfältig ihren Text. „Liebe Schüler
(Pause), liebe Lehrer (Pause), liebe Eltern. Wir hatten heute einen
sehr schönen Gottesdienst. Wir wünschen euch allen viel Erfolg,
viel Freude und Durchhaltevermögen im neuen Schuljahr. Und jetzt
(nun wird sie beschwingt und nimmt die Hand mit) – Mutig ran ans
neue Schuljahr!“ Fröhliches Gelächter, allen voran die Erwachsenen
lachen. Diese Worte sind einfach gut.
Ein paar Wochen später erzählt sie mir, dass sie sich doch sehr gewundert hat im Gottesdienst. Ich frage nach, „Warum denn?“ Sie
stellt fest, dass nach ihrer Verabschiedung keiner mehr etwas gesagt
hat. Ich verstehe noch nicht, worauf sie hinaus will und frage erneut
nach. Sie erklärt, dass doch tatsächlich sie das letzte Wort hatte. Damit hatte sie nicht gerechnet, wo doch mehrere Erwachsene hinter
ihr standen. Nach ihr hat keiner mehr das Wort ergriffen. Ich sage ihr,
dass dies ja auch nicht nötig war. Sie hat den Schluss gut gemacht,
und so hatten wir das doch auch vereinbart, oder? Trotzdem wundert
sie sich und freut sich darüber.
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133
Gastfreundliche Gemeinde
für Familien
Bericht 13: Reutlingen
Inklusive Gemeinde und kirchliche Kindergartenarbeit
Achim Wurst
Projektort:
Reutlingen
Projektträger:
Evangelische Gesamtkirchengemeinde Reutlingen
Projektstelleninhaber:
Diakon Achim Wurst
134 Reutlingen
1. Projektidee und Projektkonzeption
Wie gelingt es, familienfreundliche Gemeinde mit Familien zu gestalten, die aus nicht typisch kirchlichen Lebenswelten kommend den
evangelischen Kindergarten besuchen? Eine Kirchengemeinde mit
volkskirchlich-komplettem Angebotsspektrum in einem Neubaustadtteil der 60er-Jahre erlebt den demografischen Wandel in beschleunigter Weise, die Gründer­generation ist im hohen Alter. Die
Landeskirche hat eine Pionier-Erfahrung zur Verfügung, die zeitversetzt auf viele Gemeinden zukommen wird.
Im Projekt wird entwickelt, was es für die gemeindediakonische Arbeit mit jungen Familien bedeutet, wenn von 40 Kindern im evangelischen Kindergarten 4 evangelisch und ein Drittel muslimisch sind
und insgesamt über die Hälfte keiner christlichen Kirche angehört.
Von 71 Elternteilen kommen 19 aus Deutschland, 13 aus osteuropäischen Ländern, 12 aus Russland und Kasachstan, 7 aus der Türkei, 6 aus Pakistan, 9 aus dem Libanon, aus Irak und Iran, 3 aus
Vietnam und Indonesien und 2 aus afrikanischen Ländern. 20% der
Kinder leben in Ein-Eltern-Familien. Ein Drittel der Familien bezahlt
aufgrund prekärerer finanzieller Situation eine ermäßigte Kindergarten­gebühr.
Unser Projekt verfolgt die strategischen Ziele,
dass
(1) die Kirchengemeinde ein Raum des Miteinanders
für Familien in unterschiedlichen Lebenslagen ist,
dass
(2) der evangelische Kindergarten sich als aktiver Teil
der Kirchengemeinde erlebt und,
dass
(3) im Geist des Evangeliums verschiedene Angebote
und Aktivitäten gemeinsam entwickelt werden.
Gemeinsam wurden im Projekt neue Aktionen entwickelt, angelegt an
den Interessen der Familien, z.B. Nachmittagskurse (Bewegungsangebot Capoeira) und Kinderkino an Werk­tagen, Kirchenraumpädagogik für Kinder, Kirchenführung für muslimische Mütter, Vorlese­paten
in offener Form und zu biblischen Geschichten, gezielte Einladung zu
den tradierten Familienaktionen (Osterwerkstatt, Gemeindefest, Kinderferienwoche, Ostergarten usw.), neue Beteiligungsmöglichkeiten
für Eltern (Stockbrotbacken für Kinder bei der Stadtteilaktion Nikolaus, Zirkusfest usw.).
Die Beratung und Vermittlung in diakonischen Fragen gewann zunehmend an Umfang. Anknüpfungspunkte waren dabei: Sozialraumanalyse, niederschwelliger Kontakt der Kinder­garteneltern zur Kirche
über die leicht erreichbare „Amtsperson“ Diakon, Stärkung des Ehrenamts, punktuelle Entlastung des Erzieherinnenteams, Seelsorge.
1.2 Weichenstellungen/Stolpersteine
Zentrale Mitarbeitende aus der Kirchengemeinde und dem Kindergarten erlebten eine grund­sätzliche Neuausrichtung gewohnter Aktivitäten, als wir die Mitwirkung des Kindergartens beim Erntedank-Familiengottesdienst neu ansetzten. Anstatt dass sich die Mitarbeitenden
des Kindergartens die übliche Frage stellen „Was kann der Kindergarten beitragen?“, knüpf­ten wir neu an, und zwar an den evaluierten
Interessen der beiden Zielgruppen: der Eltern/Familien des Kindergartens und der kirchengemeindlichen Familienarbeit. Es erwuchs daraus
eine Eigendynamik der Beiträge. Und neue, vor allem ehrenamtlich
Mitwirkende ent­lasteten die eh schon stark ausgelasteten Mitarbeitenden des Kindergartens, indem für jene neue Mitgestaltungsmöglichkeiten eröffnet wurden. Über die Hälfte der Kindergartenfamilien
nahm an dem Erntedankfest teil.
2. Vertiefte Evaluation
Die Evaluation hat nicht alle 3 strategischen Ziele (s.o.) ausgewertet.
Sie fokussierte sich innerhalb des
1.1 Wichtige Stationen/Meilensteine
Das Projekt startete mit den verantwortlich Mitarbeitenden in der Kirchengemeinde und im Kindergarten. Als besondere Herausforderung
erwies sich, dass alle mit der Fülle der Regel­angebote bis an die Belastungsgrenze ausgelastet waren. Der Einsatz für das gemeinsame
Ziel der familienfreundlichen Gemeinde brauchte zeitökonomische
Planung und das wach­sende Erleben, dass die neuen Ansätze neben
dem inhaltlichen Gewinn auch reale Ent­lastung bringen.
Der Diakon baute Kontakt zu den Kindergartenfamilien auf, über den
Kindergartenalltag, über Feste und die soziale Nähe, die die Familien
im Kindergarten schätzen. Sie sind in ihrer je eigenen Lebenswelt mit
vielfältigen Anforderungen konfrontiert.
1. strategischen Ziels:
„Die Kirchengemeinde ist ein Raum des Miteinanders für
Familien in unterschiedlichen Lebenslagen“
auf folgende Kernfrage:
Welche gemeinsamen Interessen der Kindergarten-Familien und
der Ehrenamtlichen der kirchengemeindlichen Familienarbeit wurden herausgefunden, um sie für die Gestaltung des Raums des
Miteinanders nutzen zu können?
Wir fragten danach, weil Menschen aus so unterschiedlichen Lebenswelten kaum, allenfalls punktuell und über ein organisiertes Miteinan-
Inklusive Gemeinde und kirchliche Kindergartenarbeit
der Berührungspunkte haben, und weil wir über die Standardvermutung „Bildung interessiert alle“ hinaus präzise die Überschneidungen
in den originären Interessen herausfinden wollten. Dazu werteten wir
nach der dokumenta­rischen Methode zwei Gruppengespräche aus,
die uns unterstützende Studierende anhand unserer Impulsfragen
führten.
Und ein Vater sagt:
Ein Gruppengespräch wurde geführt mit 7 Vätern und Müttern von
Kindergartenkindern, die breitmöglichst das Spektrum der Lebenswelten vertraten hin­sichtlich Herkunftsländer, Religionen, finanzieller
Bedürftigkeit, Geschlecht und Alleiner­ziehung, und ein Gruppengespräch mit 7 Ehrenamtlichen der kirchlichen Familienarbeit, die sich
als Gruppe vertraut sind.
Das Lernen soll
E2: „Ich finde schön zum Beispiel, wenn die Kinder, die wo Fahrräder fahren können, dass man hier im Kindergarten mal ausüben
... auch Fahrrad zu fahren. Mit Verkehrsschilder. Dass Kin­der zeigen, wie die Verkehrsschilder sind (…) denen mal zeigen.“180
(4.) nicht in Einzelförderung sondern in Gruppenangeboten werktags nach­mittags geschehen, passend zu den Zeiten der Berufstätigkeit und lokal im Stadtteil, möglichst im Gebäude des Kindergartens. Wochenend-Aktionen für die ganze Familie sind nur
gelegentlich von Interesse, Mitwirkung wird angeboten.
Die Evaluation erfolgte in drei Schritten:
aus jedem der beiden Gruppengespräche wurde gesondert ermittelt,
welche Themenfelder die Gesprächsteilnehmer als ihre Interessen
be­schreiben, die Kindergarteneltern und die Ehrenamtlichen der Familienarbeit. Im 3. Schritt wurde untersucht, welche Überschneidungen und Ansätze für gemeinsame Interessen vorliegen.
2.1 Kindergarteneltern
Kindergarteneltern schätzen
135
(5.) Fazit: Die Erfahrungen von Nähe, Schutz und Förderung sollen erweitert werden. Bei einem großen Teil der Familien liegt eine
große Hürde zu kirchlichen Familienangeboten darin begründet,
dass sie nur sehr behutsam Vertrauen zu Neuem fassen, am
ehesten über den Kindergarten und vor allem über ihr Interesse
an Lern- und Gruppenangeboten.
2.2 Die Ehrenamtlichen der Familienarbeit
Die Ehrenamtlichen der Familienarbeit beschreiben
(1.) den sicheren, förderlichen Schutzraum des Kindergartens als
eine umfassend kinderfreundliche Oase angesichts von Gefährdungen im Umfeld wie Vermüllung von Spielplätzen oder Ausländerfeindlichkeit.
(2.) Im vertrauensvollen Kindergar­tenleben erfahren die Kinder
und auch die Eltern ein zentral wichtiges soziales Feld, räum­liche
und menschliche Nähe, einen sicheren Ort des Vertrauens und
finden Freundschaften.
(3.) Das Hauptinteresse der Eltern ist, dass ihre Kinder lernen können sollen. Damit ihre Kin­der auch außerhalb der KindergartenBetreuungszeit Neues lernen, was sie als Berufstätige in Schichtdiensten oder als Alleinerziehende zeitlich nicht leisten können.
Und sie möchten, dass ihre Kinder Bildungsinhalte kennenlernen, die
sie selber nicht vermitteln können. Das wird deutlich an mehreren
Gesprächsbeiträgen, als Beispiel sei dieses Zitats einer Mutter aufgeführt:
E1: „Oder auch gerade Musik, finde ich jetzt also, wenn die Lisa178
hier ist, hat sie sich jetzt unbe­dingt eine Gitarre gewünscht und
eine Flöte. Also wir sind völlig unmusikalisch, leider, muss ich
sagen. Mein Mann spielt Flöte, mehr aber nicht und sie ist da total
begeistert davon und möchte das echt gern machen. (…) wo man
da vielleicht musikalisch ein bisschen rangeführt wird.“179
178
(1.) als ihr herausragendes Interesse, Angebote für Familien zu
machen, auch solche, die neue Familien aus dem Stadtteil oder
Kindergarten ansprechen.
Angesichts des
(2.) Umbruchs der Familienarbeit durch Genera­tionswechsel und
unterschiedliche Familieninteressen werden Neue als Nachwuchs
auch vom Kindergarten und aus dem ganzen Spektrum des Stadtteils gesucht.
Dabei ist
(3.) der wertvolle Kern ihrer Arbeit das sorgsame, akzeptierende
Miteinander, das aber bisher noch nicht im größeren Stil Neue erreicht, u.a. weil Neue anfänglich fremd und stimmungsirri­tierend
wirken und es auch Zeiten und Aktionen geben muss, wo das
Miteinander der Mit­arbeiter gepflegt werden darf.
Das Lebensgefühl der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen ist
(4.) von dem der meisten Kindergartenfamilien (Existenzkampf,
Trennung, Armut, Fremdsein) entfernt, aber es besteht ein Interesse, mehr über die Bedürfnisse von anderen Stadtteil­bewohnern
zu erfahren, um dem entsprechend einladende, offene Angebote
für Neue machen zu können.
Alle Namen wurden verändert aus Gründen der Anonymität.
179
Gruppengespräch Kindergarteneltern, Z. 471-476.
180
Und das neben einer missionarisch äußerst aktiven Freikirche in
der Nähe, die um ihren Zulauf beneidet wird und weshalb die Fa Ebd., Z. 865ff.
136 Reutlingen
milienarbeitsehrenamtlichen sich Fragen stellen hinsichtlich ihrer
eigenen diakonischen und missionarisch-einladenden Haltung.
Sie beschreiben es
(5.) als besondere Aufgabe für Hauptamtliche, im Besonderen
Diakone, dass sie als Initiatoren und Anleiter wirken für ehrenamtliches Engagement in der diakonischen Arbeit mit anderen,
fremden Lebenswelten.
2.3 Ansatzpunkte für gemeinsame Interessen
Gemeinsame Interessensansätze finden sich, wenn man folgende Interessensbereiche kombiniert:
Einerseits das Interesse der Kindergarteneltern, dass ihre Kinder
auf vielfältigen Gebieten lernen können sollen, und andererseits
das Interesse der Familienarbeitsehrenamtlichen, dass sie Angebote für Familien, auch Neue machen wollen.
Einerseits das Erleben der Kindergarteneltern von sozialer Nähe
und Vertrauen im Kindergartenalltag und andererseits das Erleben und die Werthaltigkeit von Gemein­schaft der Familienarbeitsmitarbeitenden.
Aber die Interessen stehen auf ihrem je eigenen Lebenswelt-Kontext
und treffen sich daher nicht automatisch. Beispielsweise suchen Kindergarteneltern für ihre Kinder über die Öffnungszeiten des Kindergartens hinaus einen Schutzraum für sorgloses Spielen ohne Aus­
länderfeindlichkeit.
Dieses Interesse liegt nahe am Interesse „Gemeinschaft und wert­
schätzende Akzeptanz“ der Familienarbeitsehrenamtlichen181:
E 3: „...und auch das, was du gesagt hast, das fand ich jetzt total
wichtig, ja, dass die Marie hier erlebt: sie ist angenommen und sie
kann kommen, wie sie halt gerade ist und .. da (unverständlich 2),
ohne dass jemand gleich einen blöden Spruch sagt: He, wie siehst
denn du heute aus?“
E 4: „Ja, oder es fragt auch mal jemand: Oh, geht es dir nicht gut
oder warum? Hattest du Stress in der Schule oder gab es, was
weiß ich? .. Da kommt doch mal eine Rückmeldung. (…)“
E 5: „Das meine ich ja, das Lernen, wieder sich gegenseitig wahrzunehmen (Bestätigung),... “182
Aber diese kinderfreundliche Oase finden die Kindergarteneltern nur,
wenn eine gemeinde­diakonische Brücke gebaut wird, wie wir es in
der Projektpraxis für die Kinderferienwoche in den Sommerferien gemacht haben. Von 9 Vorschul-Kindergartenkindern nahmen 4 an der
7-tägigen Kinderferienwoche teil, die ein Höhepunkt im Jahreskreis
der Familienarbeit ist.
181
Die folgenden Zitate stammen aus einem Gruppengespräch mit Mitarbeitenden.
Die Namen wurden anonymisiert.
182
Gruppengespräch Familienarbeitsehrenamtliche S. 16, 8-19.
Ein wesentlicher Ansatzpunkt ist, dass die Ehrenamtlichen Gelegenheit bekommen, von Fa­milien aus anderen Lebenswelten, die ihnen
anfangs fremd sind, die vielfältig vorhan­denen Interessen wahrzunehmen, damit sie bedeutsamer werden für weitere oder modifizierte Angebote der Familienarbeit. Im Gruppengespräch beschäftigt
die Ehrenamtlichen die Frage, bei welchen Anlässen und in welcher
Form Neue aktiv begrüßt werden, dass es mindestens eine vertraute
Person zur Einladung braucht, und dass Neuen vorgestellt werden
soll, was der Sinn der Angebote ist, auch bezüglich der Lernziele
für die Kinder. Die Angebote der Familienarbeit sollten verstärkt im
Kindergartengebäude und primär werktags nachmittags liegen, was
aber für Ehrenamtliche kaum leistbar ist. Jedoch können, wie schon
erprobt, Honorarkräfte eingesetzt werden, deren Finanzierung über
umgelegte Teilnehmergebühren mit sozialer Preisstaffelung gelingt.
Der Bezug zur kirchlichen Familienarbeit ist dadurch erkennbar, dass
die kirchlichen Mitarbeiter es sind, die die Bedarfe abfragen, sie mit
den Eltern eingehend diskutieren und Formen der Angebote mit ihnen
entwerfen, begleiten und weiterentwickeln. Dies hat in unserer Projektpraxis beispielsweise mit Capoeirakurs, Vor­lesepaten biblischer
Geschichten und Erntedankfest bereits begonnen.
Die Familienarbeits-Ehrenamtlichen benötigen gezielte Unterstützung, wie sie ihre Angebote ansetzen, gestalten, öffnen und dazu
einladen, wie sie den Generationswechsel bewältigen und ihre diakonisch-missionarische Ausrichtung neu definieren. Im Gruppengespräch äußern sie den Bedarf professioneller Unterstützung für den
Brückenbau zwischen den prägnant unterschiedlichen Lebenswelten.
Die doppelte Qualifikation des Berufsbildes Diakon/in, in längerfristigen Arbeitsaufträgen mit mindestens 50%-Deputat, erscheint als
passend, weil gesellschaftliche Trends die familiäre Belastung, Individualisierung, Profilierung und Selbst­inszenierung verstärken.
Auch im Bereich der Religion gibt es Berührungspunkte. Eltern des
Kindergartens suchen eine verlässliche Grunderfahrung ihrer Kinder
mit den christlichen Hauptfesten. Die Familien­arbeitsehrenamtlichen
wollen, dass andere kennenlernen, wie sie offen Glauben leben und
Gemeinschaft fördern. Des Weiteren liegen im Thema „Familienfreundlichkeit des Stadtteils“ gemeinsame Grundinteressen.
3. Aussichten und Anregungen
In der alltäglichen Praxis und in Gesprächen mit Verantwortlichen
wurde in unserem Projekt das Profil des Berufsbilds Diakon/in anschaulich, zwischen den angrenzenden Berufsbildern Erzieher/in
und Pfarrer/in. Tenor in der Projektgruppe ist zudem, dass sich die
Verknüpfung von Lebenswelten lohnt, weil es beidseits Bereicherung erbringt, jedoch „Brückenpersonal“ dafür nötig ist, das über
die Regelangebote hinaus sensibel an den Interessen und Mit­
wirkungsmöglichkeiten der Menschen ansetzt.
Unsere Projektgruppe arbeitet daran, über Einwerbung von Drittmitteln eine Verlängerung des Projektes über 2013 hinaus zu ermögli-
Inklusive Gemeinde und kirchliche Kindergartenarbeit
chen. Darin wird ein zentrales Ziel die verstärkte sozialdiakonische
Erstberatung von Familien sein, die sich mit akuten Fragestellungen
mitt­lerweile stark an die ErzieherInnen wenden. Diese sollen zukünftig dabei gezielt durch den Diakon entlastet werden, indem er Anfragen unmittelbar mit den Familien bearbeitet. Weitere Ziele sind Nachmittagsbetreuung mit inklusiver Ausrichtung und Bildungsinhalten,
der interre­ligiöse Dialog und eine familienfreundliche Gemeindeentwicklung der Kirchengemeinde als Teil des Gemeinwesens. Insgesamt entwickelt sich die Arbeit in Schritten inhaltlich in Rich­tung
eines Kinder- und Familienzentrums, allerdings noch ohne bauliche
Veränderungen.
Anhang : Zwei für das Projekt typische Situationen
Situation 1:
137
mende, suchende Familien zu begrüßen und das Gemeindehaus zu
zeigen. Während der Veranstaltung begleitete ich einzelne Familien,
zeigte Kindern neue Bastel­stände, motivierte JugendmitarbeiterInnen
an den Ständen so, dass sie noch weitere Kinder einbezogen, suchte
Gespräche mit Eltern. Und nach der Veranstaltung hielt ich Nachge­
spräche, z.B. mit den MitarbeiterInnen an der Kasse und mit Teammitgliedern über die Erfahrungen.
Situation 2:
Anfrage und Gewinnung der TeilnehmerInnen für das Gruppengespräch mit den Studieren­den im Rahmen der Evaluation. Es zeigte sich bei der Anfrage, wie unterschiedlich die Lebenswelten sind.
Während die Ehrenamtlichen der Familienarbeit per Telefonat und
Rundmail für das Mitmachen beim Gruppengespräch schnell und
recht einfach zu gewinnen waren, brauchte es bei dem angestrebten
Querschnitt der Kindergarteneltern einen beson­ders starken Einsatz.
Wie können für die kirchliche Familienarbeit neue Familien aus fremden Lebenswelten einge­laden werden? Das schildern wir an einem
Beispiel, wie wir zum tradierten Familienangebot „Osterwerkstatt“
gezielt Familien des Kindergartens eingeladen haben. In der Projektpraxis wurde erkannt, dass zahlreiche Hürden überwunden werden
müssen, damit neue Familien die kirchlichen Angebote wahrnehmen
können. Sie müssen die Angebote sprachlich ver­stehen, und ihr Sinn
muss sich ihnen erschließen. Das bedeutet, die Eltern fragen sich,
was das entsprechende Angebot konkret an Lernerfolg für ihre Kinder bringen kann? Sie müssen den Veranstaltungsort finden (und
am besten schon kennen) und sich den Aufwand dafür leisten können – finanziell, aber auch zeitlich für Fahrt und Betreuungsaufwand,
falls nicht alle Kinder der Familie am Angebot teilnehmen können. Sie
brauchen Zutrauen, dass ihren Kindern die Angebote auch gefallen,
sie dort zumindest nicht unangenehm auffallen werden. Und vor allem
brauchen sie eine Beziehung über mindestens eine bekannte Person.
Im Folgenden die Darstellung meiner Feldnotiz: Viele Eltern waren
schon allein von den Kommunikationsmitteln schwer zu erreichen,
kaum Festnetz-Telefonnummern, kurzfristig gewechselte Handynummern, keine Mailadressen vorhanden, an der Kindergartentür und
bei Hausbesuchen selten anwesend. Zusätzlich standen teil­weise
sprachliche Hürden im Weg, wenn ich mehr als Alltagsfragen mit
ihnen besprechen wollte, sie nämlich einlud auf ein ungewohntes
Gespräch in unbekannter Konstellation und auf einen gemeinsamen
Termin in vielen Wochen. Eine Kinderbetreuung musste organisiert
werden und das Zeitfenster für die zum Teil schichtenden und kinderreichen Eltern war enorm schwierig zu finden.
So machten wir uns an daran, die Flyer für die Osterwerkstatt umzugestalten. Verzehr-Gutscheine für ein Getränk oder einen Kuchen
sollten die Attraktivität steigern. Zuvor wurde im Team über Gerechtigkeit gesprochen, und es erfolgte eine genaue Abstimmung mit den
Mitarbeitern an Kasse und Essensständen. Aus früheren Versuchen
wussten wir bereits, dass die Verteilung der Flyer in die Boxen der
Kindergartenkinder kaum wirksam ist. Deshalb verteilten wir die Flyer
persönlich an die Eltern eine Woche vor der Osterwerkstatt an einem
Tag von 7.30 bis 10 Uhr vor dem Kindergarten. Wir konnten dabei 80%
der Familien anspre­chen. Dabei sind manche Eltern in Zeitnot, andere
haben Fragen, typisch kirchliche Worte auf dem Flyer sind für viele
Eltern ohne Aussagekraft. Anschauliches hilft, zum Beispiel in­dem wir
ein Modell des Bastelobjekts zeigen, das bei der Osterwerkstatt entstehen soll. Vieles, was uns selbstverständlich erscheint, muss erklärt
werden. Wichtig für die Eltern sind die Fragen: Wer ist dabei: Bekannte,
Familien, ErzieherInnen, Diakon? Wo liegt die Kirche im Stadtteil?
Zudem besuchte ich einige der Gesprächsteilnehmer kurz vor dem
Gespräch erneut, um mich zu vergewissern, dass sie sich noch an
den Termin erinnerten, den sie mir vor kurzem freundlich zugesagt
hatten. Andere Familien blockierten die Einladung zum Gespräch
– laut Erzieherinnen betrachten sie alles, was vom Kindergarten
kommt, als Zusatzaufwand; sie wollen ausschließlich die BetreuungsDienstleistung. Oder sie haben angstbesetzte Vorbehalte gegenüber
allem, was auf sie wie eine Behörde wirkt (Kirche ist Institution), weil
sie bereits unangenehme Erfahrungen gemacht hatten, z.B. wenn sie
vom Jugendamt zum Gespräch gebeten wurden.
Am Sonntagnachmittag, als die Osterwerkstatt stattfand, hielt ich
mich eine halbe Stunde vor und eine Viertelstunde nach Veranstaltungsbeginn auf der Hauptstraße vor der Kirche auf, um ankom-
Selbst am Tag des Gesprächs war ich viele Stunden unterwegs, weil
Gesprächsteilnehmer kurzfristig erkrankten oder ein verletztes Kind
ins Krankenhaus bringen mussten und kein familiär-nachbarschaftliches Netzwerk kurzfristig einspringen konnte.
Auch massive Familienumwälzungen innerhalb kürzester Zeit oder
Wegzüge Alleinerziehender verhinderten die Einhaltung des Termins.
Oder eine Mutter kam eine halbe Stunde vor Ende des Gruppengesprächs abgehetzt an, mit einem Kind auf dem Arm und eines im
Kinderwagen und bot „mit etwas Verspätung“ äußerst freundlich ihr
Mitwirken an, was ich schweren Herzens ablehnen musste. Trotzdem
war ein breiter Querschnitt an Personen anwesend und nahm aktiv
am Gruppengespräch teil.
138
139
Diakonische Gemeinde gestalten
in Vernetzung mit Ortsgemeinden
Bericht 14: Ludwigsburg
Diakonische Gemeindeentwicklung: Vernetzte Einrichtungsdiakonie
Thomas Hofmann
Projektort:
Ludwigsburg
Projektträger:
Stiftung Karlshöhe Ludwigsburg
Projektstelleninhaber:
Diakon Thomas Hofmann
140 Ludwigsburg
1. Projektidee und Projektkonzeption
1.1 Thema und Aufgabe
Das Thema und die Aufgabe beschreibt im Grunde der Titel des Projektes: „Diako­nische Gemeinde gestalten in Vernetzung mit Ortsgemeinden“. Dieses beinhaltet, die annähernd analog einer Kirchgemeinde aufgestellten Strukturen der Karlshöhe aufzunehmen
und weiter zu entwickeln. Eine Form der Weiterentwicklung ist es,
den Fokus auf die Ver­netzung mit den jeweiligen Ortsgemeinden zu
richten: zum einen zur Friedenskirchgemein­de in Ludwigsburg, zu
der die Stiftung Karlshöhe parochial gehört, zum anderen auch auf
die Vernetzung der dezentral verorteten Außenstellen der Karlshöhe
(z.B. Kornwestheim, Benningen etc.) mit den dortigen Kirchengemeinden. Diese Aufgaben sollen explizit durch einen Diakon oder
eine Diakonin als Leiter/in wahrge­nommen werden. Es gilt auch,
Erfahrungen der Aufgabenstellung in Bezug auf die Spezialkompetenzen (Doppelqualifikation) des Diakons oder der Diakonin zu
erheben.
1.2 Auslöser und Projektidee
Vom tradierten Verständnis her definierte sich die Karlshöhe als „Anstaltsgemeinde“. Es gab einen ausformulierten Dienstauftrag für
einen Pfarrer/ eine Pfarrerin mit den klassischen Aufgaben Gottesdienste, Kasualien, Seelsorge, Unterricht. Zuletzt lag dieser Stellen­
anteil bei 10% (nur noch Gottesdienste und Seelsorge) und war an
den Bereich „diako­nische Bildung“ angegliedert.
Themen wie Inklusion, Dezentralisierung, „Leben im Ort“ haben die
Entwicklung der Karlshöhe in den vergangenen Jahren geprägt. Damit stellt sich auch die Frage nach einer Verbindung der dezentralen
Außenstellen der Karlshöhe zu ihren Kirchgemein­den. Welches Verständnis prägt hier das Verhältnis von Diakonie und Kirche?
Für die Karlshöhe in ihrer besonderen Verantwortung für Diakon/innen war die Frage interessant, inwiefern die speziellen Kompetenzen
eines Diakons bzw. einer Diakonin an der Schnittstelle zwischen Diakonie und Kirche Wirkung erzielen.
1.3 Projektträger, Arbeitsformen, Personal
Die Stiftung Karlshöhe Ludwigsburg ist Träger dieses Teilprojektes.
Wesentliche konkrete Arbeitsformen sind unter anderem:
unterstützende Vernetzung unter den Geschäftsbereichen in der
Gestaltung geistlicher Angebote (Gespräche, Koordinationskreis
geistlichen Lebens, etc.)
Vernetzung mit dem kirchlichen Umfeld (in beide Richtungen!).
Innerhalb der Organisation ist diese Stelle als Stabsstelle dem theologischen Vor­stand/Direktor zugeordnet und wird durch das eingesetzte Begleitgremium beraten.
2. Vertiefte Evaluation
2.1 Teilziel 1
Es gibt eine Verständigung darüber, was diakonische Gemeinde und diakonische Unternehmenskultur unter den Bedingungen der 5-Tage-Woche für Mitarbeitende und Bewohner/innen
bedeutet.
2.1.1 Methoden und Materialien
Zur Evaluation wurde eine Gruppendiskussion mit Mitgliedern des
Koordinationskrei­ses geistlichen Lebens (KGL) durch einen Kollegen
eines anderen Teilprojektes durchgeführt. Diese Gruppendiskussion
wurde aufgezeichnet, transkribiert und aus­gewertet.
2.1.2 Beobachtungen und Erkenntnisse
Die Gruppendiskussion zeigt unterschiedliche, mitunter widersprüchliche Facetten des Verständnisses von diakonischer Gemeinde auf – von einem zur Parochie ana­logen Verständnis über die
klassische „Anstaltsgemeinde“, einer Personal- oder Fachgemeinde
bis hin zur vollständigen Integration in die Ortsgemeinde Friedens­
kirche.
Diese Pluriformität erscheint somit als ein zentrales Merkmal der dia­
konischen Gemeinde in der Unterscheidung zur „normalen“ Ortsgemeinde.
Fr. O. beispielsweise bringt einen „pragmatischen Ansatz“ in die Diskussion ein; pragmatisch in dem Sinne, dass spirituelles Leben sich
unabhängig von Strukturen und Strukturdiskussionen entfaltet, also
sich ausschließlich an den Menschen orien­tiert:
regelmäßig stattfindende Gottesdienste (z. B. sogenannte diakonische Gottes­dienste, gestaltet durch die jeweiligen Geschäftsbereiche) und Andachten innerhalb der Karlshöhe und vor Ort
Fr. O: „… machen wir Gottesdienst oder machen wir keinen
Gottesdienst.“183
Seelsorge, Begleitung
183
Gruppendiskussion 12.01.2012, Zeile 464.
Diakonische Gemeindeentwicklung: Vernetzte Einrichtungsdiakonie
Das Thema, ob wir Gemeinde sind oder nicht, ist nur „unsere“ (bezogen auf KGL…) Fragestellung und interessiert die Menschen eigentlich nicht.
Im Altenheim finden ganz einfach Gottesdienste statt, und die Frage
nach Gemeinde stellt sich so gar nicht. Dies belegt folgende Äußerung:
Hr. P: „Das Gemeindeverständnis kommt von dem, was ich gestalte.“184
Das Schaubild kumuliert und systematisiert die Aspekte, Sichtweisen
und Zugänge aus der Gruppendiskussion:
141
2.2 Teilziel 2
Die Kontakte zur Friedenskirche sind strukturell und inhaltlich
verbessert.
2.2.1 Methoden und Materialien
Evaluiert wurde mit insgesamt drei Einzelinterviews, die mit verantwortlichen Perso­nen geführt wurden. Diese Interviews wurden durch
eine Studierende im Praktikum durchgeführt und anschließend ausgewertet. Ergänzend habe ich eine Datensamm­lung in Bezug auf relevante Aktivitäten erstellt (quantitativ).
Pragmatischer
Ansatz
Personalgemeinde
Dienstgruppe
der Ortsgemeinde
2.2.2 Beobachtungen und Erkenntnisse
Entwicklung
ermöglichen
und aufgreifen
Anmeldung, Beitritt
ggf. Kostenbeitrag
zur Gemeinde
Diakonische
Seite der
Ortsgemeinde
In den jeweiligen Interviews wird in besonderer Weise die Wichtigkeit
dieser Kontakte zur Friedenskirche betont. Hr. Z. benennt das exemplarisch wie folgt:
Diakonisches
Gemeinwesen
Diakonische Gemeinde Karlshöhe
Gottesdienst
als zentraler Ort
Karlshöhe als Stadtteil mit diakonischer
Prägung
Hr. Z: „Der Kontakt zu der Friedenskirchengemeinde und zu den
umliegenden Gemeinden ist mir sehr wichtig, aus grundsätzlichen Gründen: Diakonie und Kirche gehören zusammen, und
auch aus dem Grundgedanken der Inklusion, dass die Menschen,
die wir betreuen, nicht nur auf der Karlshöhe leben, sondern auch
Teil der sozialen und damit auch Teil der kirchlichen Gemeinschaft
sind.“185
„Anstaltsgemeinde“
Kommunitäres
Leben
Teilgemeinde
Diakonische Unternehmenskultur
Leben
miteinander teilen
und gestalten
Eine Predigtstätte
der „Südstadtgemeinde“
Leitorientierungen
mit Leben füllen
Als strukturelles Merkmal werden von den Interviewten die gemeinsamen Dienstbe­sprechungen als zentrales Instrument benannt.186
Hervorgehoben wird dort die positive Atmosphäre dieser Besprechung. Hr. Z. beschreibt das wie folgt:
Hr. Z: „Dann ist da immer eine sehr, sehr entspannte und offene
Atmosphäre. Wir sprechen Termine ab, wir überlegen Projekte,
wir stellen das Jahresfestmotto des kommenden Jahres vor. Also
das ist immer eine sehr, sehr konstruktive Atmosphäre. …. Herr
X. macht in der Regel beim Familiengottesdienst des Jahresfestes
mit, Frau Y. und Herr Z. machen gemeinsame Projekte und so
weiter, also das ist eine gute Atmosphäre.“187
Wie in kaum einem anderen Gemeinwesen leben auf dem Gelände
der Karlshöhe Menschen in unterschiedlichsten (auch spirituellen)
Prägungen und Lebenszusam­menhängen in unmittelbarer Nähe. Diese Vielfalt nimmt die diakonische Gemeinde entsprechend auf und
bildet sie entsprechend ab.
Von der Grundtendenz her wird man sagen können, dass „diakonische Gemeinde Karlshöhe“ sich zum einen vor allem implizit in der
diakonischen Unternehmenskultur konkretisiert, zum anderen in spirituellen Angeboten, die in direktem Bezug zum jeweiligen Arbeitsalltag stehen.
Die Datensammlung bezüglich des Kontakts zur Friedenskirchgemeinde spiegelt wider, dass im Zeitraum 2011/2012 eine Menge an
konkreten („zählbaren“) Aktionen initiiert und umgesetzt wurde.
Da ist neben den Dienstbesprechungen besonders die gemeinsam
gestaltete Gottesdienstkultur hervorzuheben: Teilnahme der Karlshöher an den Gottesdiensten der Friedenskirche und gemeinsame Gottesdienste (Kanzel­tausch am Gründonnerstag, Familiengottesdienst
185
Interview 05.10.2011.
186
Interview 25.09.2011.
184
Gruppendiskussion 12.01.2012, Zeile 480.
187
Interview 05.10.2011.
142 Ludwigsburg
zum Jahresfest und „diakonischer Gottesdienst“ in der Friedenskirche).188
Drei wesentliche Aspekte ergeben sich für die diakonische Gemeinde
Karlshöhe:
Der Kontakt konkretisierte sich außerdem in Projekten wie „Urlaub
ohne Koffer“ für Gemeindeglieder der Friedenskirche auf der Karlshöhe. Solche Projekte werden auch langfristig Wirkung zeigen.
In der Datensammlung werden neben den offen­sichtlichen und „großen“ Kooperationen auch eher banale Dinge wie das Ausleihen von
Abendmahlskelchen benannt. Hinter diesem scheinbar Banalen wird
deutlich, es gibt ein „Mehr“ an „aneinander denken“ und „aufeinander zugehen“. Dieses Auf­einanderzugehen vollzieht sich in großen
und auch kleinen Schritten.
Insgesamt kann man sagen, dass solche Vernetzungen sich nicht
von selbst erge­ben, bzw. wenn sie sich ergeben, sie eher kurzfristigen Charakter haben. Sie bedür­fen der gezielten Planung, Inszenierung und beharrlichen Durchführung. Hier konnte die Projektstelle
Zukunftsweisendes initiieren.
3. Metareflexion: Aussichten und Anregungen
Kirche ist Diakonie und Diakonie ist Kirche.189 Diese These impliziert
die Frage, wie kann Diakonie kirchlicher und Kirche diakonischer werden. Eine wichtige Facette in der Bearbeitung dieser Frage stellt dieses
Projekt dar. Hier wird in einem weiten Sin­ne das „Evangelium kommuniziert“ und auf unterschiedlichste Art konkretisiert.
Die Binnensicht der Projektphase nimmt Themen wie Rituale, Seelsorge, Gottes­dienste, Auseinandersetzung mit Themen des christlichen
Glaubens auf. Diese Sicht nimmt auch ernst, dass bei Mitarbeitenden
Leben und Arbeiten in aller Regel an ver­schiedenen Orten stattfinden.
Es nimmt auch auf, dass am Ort diakonischer Arbeit Mitmenschen
(unsere Klienten/innen, Bewohner/innen etc.) leben, die für die The­
men ihres Lebens einen Anspruch auf Angebote der Auseinandersetzung, Zuwen­dung, Sinnstiftung, Gemeinschaft … haben – und nicht
ausschließlich auf Angebote von Pflege, Beratung und pädagogischen
Maßnahmen.
Diakonische Gemeinde gestalten unter den Bedingungen der 5-TageWoche bedeu­tet, dass Mitarbeitende sich für diese Zeit darauf einlassen, dass sie für begrenzte Zeit zu begrenzten Themen spirituelle
Angebote und Erfahrungen von Gemeinschaft machen – für die Klienten, für sich selbst und vor allem auch gemeinsam mit Klienten/innen. Das schließt nicht aus, dass sie sich in ihren privaten, familialen
Kon­texten in ihren Heimat- und Wohnortgemeinden bewegen.
Präsenz:
Die Akteure/innen und Protagonisten (dies meint u.a. den/die Leiter/in) die­ser Gemeinde sollen als Teil dieses Sozialraumes präsent, erlebbar und ansprechbar sein. Dies meint Präsenz auf dem
Gelände, aber auch Ver­netzung in das kirchliche und soziale Umfeld.
Sozialräumliche Orientierung:
Die Karlshöhe versteht sich selbst als wichtigen Sozialraum,
nämlich als „inklusives diakonisches Gemeinwesen“. Dabei wird
Leben – auch spirituelles Leben – miteinander gestaltet und erweitert bzw. ergänzt durch offene Angebote (bspw. Sportgruppen) und Möglichkeit der Begegnung. Dies geschieht aber nicht
isoliert, sondern die Karlshöhe versteht sich auch als Teil des größeren Sozialraums Ludwigsburg.
Impulse setzen, Leben ermöglichen und Zugänge schaffen:
Damit ist das Selbstverständnis der Leitung der diakonischen
Gemeinde beschrieben. Er/sie regt an, setzt Impulse, stellt Fragen, führt Gespräche, übernimmt Andach­ten und Gottesdienste,
kümmert sich aber auch pragmatisch um alltägliche Dinge wie
den Mesnerdienst. Dies hat unmittelbar positive Auswirkung auf
die eigene Präsenz und Akzeptanz. Zugänge schaffen heißt auch,
das Netzwerk der Karlshöhe für das kirchliche Umfeld und für
Außenstehende zugänglich und nutzbar zu machen. In diesem
Zusammenhang ist auch eine Angebots­liste der Dienstleistungen
der Karlshöhe entstanden.
Anhang: Datensammlung Kontakte, Kooperation,
Zusammenarbeit Karlshöhe – Friedenskirche
Vesperkirche
▶ Mitgestalten des „Wortes zur Mitte des Tages“
▶ Bereitstellung und Organisation von Equipment
und Unterstützung Auf- und Abbau
▶ 2013 Übernahme der Versorgung durch die
Zentralküche der Karls­höhe
Dienstbesprechung:
▶ Es finden zwei Treffen jährlich zwischen den PfarrerInnen
der Friedens­kirche und Pfarrern und Diakon (diak. Gemeinde) zu aktuellen Themen statt
„Urlaub ohne Koffer“
▶ Ein Angebot für Ältere fand vier Tage lang in den Räumen
der Karls­höhe statt
188
189
Vgl. Datensammlung Kontakte, Kooperation, Zusammenarbeit Karlshöhe –
Friedenskirche, Juli 2012.
Vgl. Diakoniewerk Karlshöhe Ludwigsburg, Kinder- und Jugendhilfe 2008,
Kap. F1.3, S. 2.
„Offene Tage Lauchbühl“
▶ wurde als Angebote speziell für Karlshöhe und
Friedens­kirche konzipiert
Diakonische Gemeindeentwicklung: Vernetzte Einrichtungsdiakonie
Gottesdienste
▶ Kanzeltausch: der Abendmahlsgottesdienst am Gründonners tag wird gemeinsam gestaltet (Hr. Grau oder Hr. Merz
übernehmen den Predigtdienst in der Friedenskirche)
▶ Familiengottesdienst zum Jahresfest fand in Kooperation
zwischen Team Kinderkirche, Pfarrerin Bohner und mir statt.
▶ Ein diakonischer Gottesdienst des Hauses auf der Warth
fand Anfang Juli in Zusammenarbeit mit Pfrin. Vogt statt.
▶ Ein Traugottesdienst fand mit Fr. Vogt in der Kirche der
Karlshöhe statt.
Literaturverzeichnis
„Gottes Festspiele“
▶ eine Veranstaltung des Kirchenbezirkes findet unter
Beteiligung der Karlshöhe (Workshop und Gottesdienst)
statt (verortet in der Friedenskirche).
Interview 5.10.2011, Transkript.
Kantorei
▶ Jubiläumskonzert und Empfang fand in der Friedenskirche
statt.
Pfarrerin Bohner vertritt die Friedenskirche im Begleitgremium
zum Projekt
Für Fachfragen (hier Jugendhilfe) stand ich einmal zum
Gespräch zur Verfügung
Nutzung der Karlshöher Abendmahlskelche für den Nachteulengottesdienst (wir haben ganz viele und die Friedenskirche
brauchte ganz viele)
Gezielte Einladung zu den Gottesdiensten und Veranstaltung
der Friedens­kirche. An ausgewählten Sonntagen wurde
ein Fahrdienst angeboten und genutzt.
Eine Einladung an den Kirchgemeinderat der Friedenskirche
zur Sitzung auf der Karlshöhe wurde ausgesprochen.
143
Datensammlung Kontakte, Kooperation, Zusammenarbeit
Karlshöhe – Friedens­kirche, Juli 2012.
Diakoniewerk Karlshöhe Ludwigsburg, Kinder- und Jugendhilfe
(2008): Organisationsmanagement-Handbuch. Leitorientierungen
der Jugendhilfe Karlshöhe.
Interview 29.09.2011, Transkript.
Gruppendiskussion 12.01. 2012, Transkript.
144
145
„Gemeinsam können wir mehr“
Das diakonische Profil im Kirchenbezirk Mühlacker stärken
Bericht 15: Mühlacker
Diakonisches Profil im Bezirk
Peter Feldtkeller, Michael Gutekunst
Projektort:
Mühlacker
Projektträger:
Evangelischer Kirchenbezirk Mühlacker
Projektstelleninhaber:
Diakon Michael Gutekunst, Diakon Peter Feldtkeller
146 Mühlacker
1. Projektidee und Projektkonzeption
Auf einer Bezirkssynode formulierten die Gemeinden des Evangelischen Kirchenbezirks Mühlacker zwei Anliegen: in verstärktem Maße
zu kooperieren und den diakonischen Bereich zu stärken. Dazu zeitnah wurde von der Evangelischen Landeskirche in Württemberg das
Projekt „Diakonat – neu gedacht und neu gelebt“ aufgelegt, bei dem
sich der Kirchenbezirk bewarb, um den begonnenen Prozess weiterführen zu können.
Das Anliegen des Projektes war es, im Kirchenbezirk Mühlacker das
diakonisch-missionarische Profil zu stärken und weiterzuentwickeln.
Der diakonisch-missionarische Auftrag sollte dahingehend verwirklicht werden, dass Menschen vor Ort in ihren jeweiligen Lebensumständen evangelische Kirche erleben, die sie wahrnimmt „so wie sie
sind, dort, wo sie sind, und mit ihren Bedürfnissen“ (Entnommen aus
dem Antrag an die Landeskirche). Aus dieser Wahrnehmung heraus
erfolgt Zuwendung und Begleitung in stimmiger, angemessener und
redlicher Weise.
Um dieses Ziel zu erreichen wurde die so genannte „Servicestelle“ mit
Diakon Peter Feldtkeller (50% Stellenumfang) im Bereich Gemeindearbeit und mit Diakon Michael Gutekunst (50% Stellenumfang) im
Bereich Öffentlichkeitsarbeit geschaffen. Beide unterstützten sich mit
ihrem Fachwissen gegenseitig. Sie vernetzten sich innerhalb des Kirchenbezirks mit Diakoninnen und Diakonen sowie im diakonischen
Bereich Tätigen. Aufgabe dieses Kompetenzteams war die inhaltlich
fachliche Begleitung und Mitwirkung bei Gemeindeprojekten der Servicestelle.
Gesteuert wurde die Servicestelle von einer Steuerungsgruppe, die
aus Personen des KBAs und Vertretern der Kirchengemeinden gebildet wurde. Die Bezirkssynode, die Pfarrerschaft und die Kirchengemeinden wurden regelmäßig über Entwicklungen und Angebote
informiert und um Rückmeldung gebeten.
Um einerseits die Zusammenarbeit der Kirchengemeinden zu fördern
und gleichzeitig mit der Servicestelle möglichst viele Gemeinden erreichen zu können, sollten die Kirchengemeinden mit anderen Gemeinden eine Projektkooperation eingehen. Zu Beginn des Projekts
konnten interessierte Gemeinden einen Antrag an die Steuerungsgruppe stellen, in dem das Anliegen, Kooperationspartner, Dauer,
Ziele und Kosten beschrieben wurden. Die Servicestelle erarbeitete
mit den vor Ort agierenden Projektgruppen die Projekte bis zur Antragsstellung. Im Kompetenzteam und in der Steuerungsgruppe wurden diese beraten und schließlich von Letzteren beschlossen.
Im Verlauf zeigte es sich, dass es schwierig war, einige Hürden
zu nehmen:
Die Antragsstellung war (zu) arbeitsintensiv.
Eine andere Gemeinde zu finden, die das gleiche Thema
bearbeitete, gelang kaum.
Ziele zu formulieren war schwierig, weil die gemeindlichen
Projektgruppen auf der Maßnahmenebene arbeiteten.
Im Prozessverlauf wurde das Antragsverfahren wesentlich vereinfacht,
die Kriterien reduziert um es den Gemeinden einfacher zu machen.
2. Entwicklungen und Erfahrungen
Die Servicestelle arbeitete in zwei Bereichen, die im Folgenden separat dargestellt werden. Zunächst geht es um verschiedene Entwicklungen im Laufe des Projektzeitraums und anschließend um die
gemachten Erfahrungen. Im Laufe des Projektes wurde evaluiert,
inwieweit Hauptamtliche und Ehrenamtliche motiviert und befähigt
waren, ihren diakonisch-missionarischen Auftrag zu erkennen und
umzusetzen.
Als Ziel wurde formuliert:
Die Haupt- und Ehrenamtlichen im Kirchenbezirk Mühlacker
sind motiviert und befähigt, den diakonischen Auftrag vor Ort
zu erkennen und umzusetzen.
Es wurden bis zur Hälfte der Projektlaufzeit Daten erhoben und anschließend ausgewertet. In der gebotenen Kürze werden hier die Resultate wiedergegeben.
2.1 Gemeindearbeit
Zu Beginn des Projekts forderten zwei Distrikte und eine Gesamtkirchengemeinde vor allem im Bereich Jugendarbeit die Unterstützung
bei der Servicestelle an. Es ging um Vernetzung von Jugendarbeit,
Findung neuer Jugendmitarbeitenden, Kontakt zu über 20-jährigen,
Etablierung eines Jugendgottesdienstes und Schaffung einer Hausaufgabenbegleitung. Um die Nachhaltigkeit zu gewährleisten, war es
immer wichtig, Menschen vor Ort als Akteure und Akteurinnen zu
gewinnen. Diakon Peter Feldtkeller beriet und begleitete den Prozess;
ein Jugendreferent wurde eingebunden, um die Mitarbeitenden gut
zu unterstützen.
2.1.1 Erkenntnisse dieser Phase
Die konkrete Begleitung eines Angebots durch einen Hauptamtlichen wurde positiv bewertet. Allerdings war dies nicht automatisch
ein Erfolgsgarant eines Angebots. Ziele waren in den gemeindlichen Begleitgremien schwer zu formulieren oder zu bearbeiten.
Die Begriffe „Missionarisch“ und „Diakonisch“ wurden nicht einheitlich definiert. Unter diakonisch konnten sich manche Ehrenamtliche wenig vorstellen. Bei einem Jugendgottesdienstteam
Diakonisches Profil im Kirchenbezirk
war aber zu erkennen, dass sie diakonisch arbeiteten, ohne dies
selber so zu formulieren.
In der Mitte der Projektzeit wurde mit Hilfe des Kompetenzteams das
Angebot an die Gemeinden gemacht, die Arbeit mit Ehrenamtlichen
zu stärken. Zwei Gemeinden nahmen dieses Angebot an und bearbeiteten unabhängig voneinander beide das Thema „Stärkung der
vorhandenen Mitarbeiterschaft“.
Nach Beendigung der ersten Projekte entstand ein Werbeflyer, der
die Angebote der Servicestelle darstellte. Weiter wurde die Pfarrerschaft immer wieder in ihren Dienstbesprechungen informiert,
die Servicestelle bei den Sekretärinnen vorgestellt und die Gemeindeforen von Gemeindediakon Peter Feldtkeller besucht. Dadurch
entstanden vereinzelt Anfragen. Doch bis zum Ende waren diese
eher verhalten.
Fast am Ende des Projektes sind innerhalb des Kirchenbezirks durch
die Servicestelle einige regelmäßig stattfindende diakonisch-missionarische Angebote entstanden, wie z.B. Jugendgottesdienste oder
Hausaufgabenbegleitung.
Eine FSJ-Stelle wurde geschaffen und ein Aktivspielhaus ins Leben
gerufen. Es konnten in einer Gesamtkirchengemeinde einige junge
Erwachsene neu erreicht werden.
Im Bereich des Ehrenamts haben Gemeinden neue Formen der Mitarbeitendenbegleitung etabliert.
Beispiel 1: wie diakonisch-missionarische Begleitung in der Praxis
auch auf unkonventionelle Weise aussehen kann
„Ich hab da mal ’ne Idee“
„Es ist 22:30 – das Telefon klingelt. Ich werde unruhig – wer ruft
so spät an? Es müsste was passiert sein. Meine Frau nimmt ab,
ruft mich, nennt mir den Namen eines ehrenamtlichen Mitarbeiters und ich gehe spontan von einem akuten Seelsorgegespräch
aus. Doch es kommt anders.
Der Mitarbeitende möchte mit mir über eine neue Jugendarbeitsidee reden: Geschichte-Erlebnis-Wochen in und um sein Haus und
die evangelische Kirche als Träger. Das Letzte macht meine Rolle
deutlich. Er braucht mich, den er schon von einer früheren Aktion
her kennt, als Vermittler zur Kirchengemeinde und zum Pfarrer.
Ich vereinbare also einen Termin mit dem Pfarrer, es gibt ein
Treffen zu dritt und es entstehen mit der Zeit vier durchgehende
Kinderbibelwochen mit Erlebnisprogramm. Während der Vorbereitung und der Durchführung wird spürbar, daß in der Zusammenarbeit zwischen diesem ehrenamtlichen Mitarbeiter und der
Kirchengemeinde einiges geklärt werden muss.
Daraus wird ein Projekt, in dem ich im Laufe von ca. zwei Jahren
die Kirchengemeinde – konkret den Kirchengemeinderat – und
147
den ehrenamtlichen Mitarbeiter zueinander bringen soll. Es geht
um Einhalten von Absprachen und rechtlichen Vorgaben, Klärung
der Finanzen, Gespräche mit Nachbarn, Finden von Ehrenamtlichen und einem geeigneten Grundstück, usw.
Die Vereinbarung ist unterschrieben und in der Praxis wird nun
ein ständiges Aktivspielhaus erprobt.
Die Kirchengemeinde gewinnt dadurch ein unübliches Kinderangebot, das auch sonst nicht erreichte Milieus ansprechen kann.
Der Mitarbeiter erhält Raum für sein Engagement, kann sich im
Ehrenamt mit seinen Gaben und Ressourcen einbringen und
nimmt aktiv in einer Gemeinde teil.“
2.2 Öffentlichkeitsarbeit
Öffentlichkeitsarbeit hatte die Aufgabe im Rahmen des Projekts,
das Kommunikationsmanagement zu gestalten. Im Rahmen der gemeindlichen Projekte wurden kommunikative Maßnahmen in Bezug
auf die jeweils relevanten Dialoggruppen und deren Mediennutzungsgewohnheiten und -interessen umgesetzt.
Dazu gehörten erstens Flyer, Plakate, Pressemeldungen und -gespräche. Es wurden besondere öffentliche Aktionen wie Besuche bei Jungen Erwachsenen mit Einladung zu einem Brunch
oder einer „Herbstlounge“ auf einem zentralen Platz mit Musik,
Feuer und gepflegten Getränken entwickelt. Die Ergebnisse und
Entwicklungen in den gemeindlichen Projekten wurden allen Gemeinden des Bezirks durch Informationen auf Synoden und bezirklichen Besprechungen, im Bezirksjournal und online auf der
Bezirkshomepage zur Verfügung gestellt.
Das zweite Anliegen war die öffentliche Darstellung der Vernetzung der Gemeinden als Kirche in der Region.
Das dritte Anliegen war es, die Gemeinden in ihrer eigenen Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen und zuzurüsten. Dies geschah
durch Beratung, Konzeption, Zuarbeit und bezirksweiten Schulungen, u.a. mit dem Evangelischen Medienhaus Stuttgart in Form von
„Medientagen“. Im Projektverlauf gesellte sich der Bereich „Medienarbeit“ im Sinne von „Orientierung in Medienwelten“ dazu.
Themenabende zu gesellschaftlichen medialen Prozessen und medienpädagogisches Wissen und Können ergänzten die Angebote
der Öffentlichkeitsarbeit hilfreich.
Im Feld Öffentlichkeitsarbeit wurden zu Beginn des Projekts die kommunikativen Grundlagen (u.a. Corporate Design, Bezirkshomepage,
Medienkontakte) auf Bezirksebene entwickelt, umgesetzt und in
einen Regelbetrieb übernommen. Dies war auch sinnvoll und notwendig, um kommunikative Grundlagen zu legen, auf welche die PRArbeit in den Gemeindeprojekten aufbauen konnte.
148 Mühlacker
Als interne Kommunikationsinstrumente wurden unter anderem ein
thematisch ausgerichtetes Bezirksjournal und ein Bezirksthema etabliert. Letzteres griff über einen Zeitraum von zwei Jahren die Themen
„Arm und Reich in einer Welt“ und „Gemeinsam Glauben Leben“ auf.
Dies geschah in Form von Vorträgen, Ausstellungen und Kampagnen
wie dem „Gottesdienstpilgern“. Ab der Hälfte des Projektzeitraums
nahmen die Anfragen der Kirchengemeinden für ihre Öffentlichkeitsarbeit vor Ort (Konzeption, Gemeindebrief, Homepage, Fundraising,
Events) an die Servicestelle zu.
Es zeigte sich, dass das Bezirksthema von den Gemeinden zwar mitgetragen wurde, aber eine Ausgestaltung und aktive Mitwirkung nur
schwer möglich war. Gründe hierfür waren: eigene Schwerpunkte
und Notwendigkeiten, alltägliche Arbeit und dauernde Anforderungen an Ehren- und Hauptamtliche. Daher lag die Umsetzung des Themas bei den Bezirkswerken und wurde durch die Öffentlichkeitsarbeit
koordiniert.
Das Bezirksjournal richtete sich an Verantwortliche auf Gemeindeebene. Es informierte über modellhafte Entwicklungen und vorhandene Angebote in anderen Gemeinden und im Kirchenbezirk.
Es wurde genutzt um Informationen aus der Kirchenbezirksleitung
transparent darzustellen. Somit konnten Themen grundsätzlich
breiter und zeitlich längerfristiger, als es mit digitalen Medien möglich ist, kommuniziert werden. Die Verteilung des Bezirksjournals
an die Gemeinde- und Gruppenleitenden ist bisher suboptimal gelöst. Es wurden noch nicht alle Adressaten durch dieses Journals
erreicht.
Insgesamt zeigte sich auf Grund der Medienpräsenz in der Presse,
den Zugriffszahlen auf der Homepage und der Inanspruchnahme
durch die Gemeinden, dass Öffentlichkeitsarbeit als sinnvoll und notwendig erkannt wurde.
Wie Öffentlichkeitsarbeit in der Praxis aussah, soll der folgende Bericht illustrieren:
Beispiel 2: „Mach mal ’nen Flyer“
„Ping“ signalisiert der Posteingang die Zustellung einer Mail.
In dieser ergeht die Bitte, doch mal einen Flyer zu machen mit
den beigefügten Informationen, um auf die anstehende Renovierungsmaßnahme und die notwendigen Gelder hinzuweisen.
Danke und Gruß.
Meine Reaktion: Rückruf beim Absender der Mail, um zu klären,
an wen sich dieser Flyer konkret richtet, wie er diese Zielgruppe/n
erreicht, welches Budget zur Verfügung steht und bis wann dieser
fertig sein muß. Aus diesen Fragen entspinnt sich ein Gespräch,
bei dem dann am Ende unter anderem ein Flyer steht – mit veränderten Informationen.
Im Verlauf der Gespräche haben wir uns miteinander überlegt, für
wen die Renovierung dieses kirchlichen Gebäudes aus welchen
für ihn relevanten Gründen interessant sein könnte, welche In-
formationen er möchte, welche Wortwahl und Bildsprache angemessen ist, welche Zahlungsweisen für den potentiellen Spender
am einfachsten sind und ob diese für die Gemeinde administrativ
leistbar und rechtlich so zulässig sind.
Am Ende war der Flyer Teil einer kleinen Kommunikationsstrategie, die stufenweise Informationen über mehre Informationsmittel bereitstellte bzw. die aufeinander verwiesen, um die unterschiedlichen Anspruchsgruppen möglichst entsprechend ihrer
Mediennutzungsgewohnheiten zu erreichen. Es entstanden unter
Einbindung von Ehrenamtlichen und der Beratung durch Finanzverantwortliche – neben dem Flyer, der in der Weihnachtszeit in
den Gottesdiensten verteilt wurde und auf die Homepage mit
Filmclip zur Renovierung verwies – entsprechende Meldungen
für die kirchlichen Nachrichten.
Auf der Gemeinde-Homepage wurde kurz und prägnant im selben
Sprachstil und Bildern wie bei den Printmedien über die Renovierung informiert mit der Möglichkeit, mehr Informationen über
eine Verlinkung abzurufen. Ebenso wurden Pressemeldungen
und Hinweise auf die für die Renovierung stattfindenden Veranstaltungen veröffentlicht.
Beim Filmclip geben Gemeindeglieder Auskunft warum ihnen
diese Renovierung am Herzen liegt. So wurden auch sie als Botschafter dieser Sache eingebunden und stehen für ihre Kirchengemeinde und diese Maßnahme.
3. Ertrag und Schlussfolgerungen
Der Austausch im Kompetenzteam war sehr befruchtend und sollte weitergeführt werden. Verschiedene Kompetenzen und Sichtweisen können so für alle Beteiligten gewinnbringend vernetzt
werden.
Die Bezeichnung „Servicestelle“ war nicht zielfördernd und wird
daher aufgegeben. Die inhaltliche Arbeit der bisherigen Servicestelle wird weitergeführt mit gleicher Personalstärke.
Die Schwierigkeit einiger Kirchengemeinderäte in einem Gruppengespräch die Begriffe „diakonisch“ und „missionarisch“ einem Ziel
zuzuordnen, nötigt uns an dieser Stelle zu neuem nachdenken.
Diakonie und Mission gehören zum Wesen der Kirche; dies ist
allgemein unumstritten. Auf der Maßnahmenebene, d.h. bei konkreten Aktionen vor Ort lässt sich mit diesen Begriffen sehr viel
leichter arbeiten.
Durch die gewollt weite Definition (siehe Seite 9) von „missionarisch-diakonisch“ konnten theoretisch viele verschiedene Themenfelder bearbeitet werden. Möglicherweise hat dies dazu geführt,
dass das Angebot der Servicestelle im Bereich Gemeindearbeit für
Kirchengemeinden nicht konkret genug war und deshalb wenig in
Anspruch genommen wurde.
Diakonisches Profil im Kirchenbezirk
In den Kirchengemeinden kann nicht alles Know-how vorhanden
sein, um den diakonisch-missionarischen Auftrag umsetzen zu
können. Deshalb kann Fachpersonal von außen hilfreich sein, das
sich auf die Ressourcen und Gegebenheiten vor Ort (Quantität
und Qualität der Mitarbeitenden, Raum, Traditionen, usw.) einlässt und sich darum bemüht, die Menschen vor Ort für den diakonisch-missionarischen Dienst zu begeistern und zu befähigen.
Öffentlichkeitsarbeit ist nicht nur wichtig für praktische Aufgaben
wie Flyer- oder Gemeindebriefgestaltung, sondern auch für das
Kommunikationsmanagement. Gemeint ist die interne und externe Informationsvermittlung, welche stimmig für den jeweiligen
Absender und Adressat erfolgt: Wer braucht wann welche Informationen in welcher Art und Weise und welche Resultate bzw.
Reaktionen löst das jeweilige Vorgehen aus. Dies ist u.a. durch
die Instrumente Homepage oder Bezirksjournal und Pressearbeit
bezirksweit umgesetzt, müsste aber noch mehr in die Gemeinden
getragen werden. Der Beratungsaspekt ist noch ausbaubar.
4. Fakt-O-Gramm
Der Evangelische Kirchenbezirk Mühlacker umfasst 27 Kirchengemeinden. Die Servicestelle erreichte 18 Gemeinden mit sieben
Projekten. Darüber hinaus erhielten weitere sechs Gemeinden allein in der Öffentlichkeitsarbeit Unterstützung.
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Bis Dezember 2012 wurde mit ca. 50 Ehrenamtlichen und
15 Hauptamtlichen im Bereich Gemeindearbeit intensiv
zusammengearbeitet.
Durch den Bereich Öffentlichkeitsarbeit wurden bis
Dezember 2012 ca. 450 Personen (Haupt- und Ehrenamt,
thematisch Interessierte) in Schulungen und thematischen
Veranstaltungen erreicht.
Diese große Gesamtzahl war auch möglich durch die Medientage
im 1. Quartal 2012 in Kooperation mit dem Evangelischen Medienhaus.
Regulär führt die Öffentlichkeitsarbeit ein bis zwei Schulungen
pro Jahr für Mitarbeitende im Kirchenbezirk durch, die von insgesamt ca. 15 – 20 Personen wahrgenommen werden.
Die Bezirkshomepage wurde seit Online-Stellung am 1.10.2008
monatlich ca. 1.500-mal aufgerufen. Dies ist für ein Onlineangebot dieses Zuschnitts (Kontaktinformationen, aktuelle Informationen, Grundlagen) eine sehr gute Zahl.
Von 2010 bis 2012 wurden pro Monat durchschnittlich 30 Pressemeldungen (ohne Veranstaltungshinweise) zu kirchlichen Themen in der regionalen Presse abgedruckt.
Anhang: Schaubild diakonisch-missionarischer Auftrag im Kirchenbezirk Mühlacker
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Liste der Teilprojekte
Liste der Teilprojekte
Altensteig
Sozialdiakonie und Seelsorge am Krankenbett
DIAKONIESTATION: DIAKONISCHE PROFILIERUNG IN DER PFLEGE
Bernhausen
Diakonisch-missionarisches Handeln im Gemeinwesen.
Sozialraum- und gemeindebezogene Vernetzung von Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit mit kirchlichen
und kommunalen Hilfesystemen
SCHULE IM SOZIALRAUM: SCHULSOZIALARBEIT, STREETWORK
UND GEMEINDEJUGENDARBEIT
Creglingen
Diakonische Schulsozialarbeit – seelsorgerliches und kirchliches
Handeln an der Schule
DIAKONISCHE SCHULSOZIALARBEIT
Esslingen
Diakonische Jugendarbeit als Mitgestalter der Schule
DIAKONISCHE JUGENDARBEIT UND SCHULE
Ludwigsburg
Diakonische Gemeinde gestalten in Vernetzung
mit Ortsgemeinden
DIAKONISCHE GEMEINDEENTWICKLUNG:
VERNETZTE EINRICHTUNGSDIAKONIE
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In alphabetischer Reihenfolge nach Projektorten,
mit Kurzbeschreibung
Durch ein Qualifizierungsangebot für Pflegekräfte hinsichtlich der
geistlichen Kompetenzen in Verbindung mit dem Angebot einer nachgehenden Seelsorge und Sozialberatung, sowie durch den Aufbau
einer ambulanten Hospizgruppe wird die christliche Profilierung einer Diakoniestation vertieft und eine Verbesserung der Situation von
Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen angestrebt
Durch Beziehungsarbeit im Gemeinwesen entstehen diakonisch-missionarische Netzwerke für Schülerinnen und Schülern in ihren verschiedenen Lebensräumen, dabei werden diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleitet und in sozialen Fragen beraten und unterstützt.
Kinder und Jugendliche erfahren in ihrer persönlichen und sozialen
Entwicklung, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer in ihrer erzieherischen Arbeit am Lebensort Schule diakonisch und kirchlich profilierte
Unterstützung und Begleitung.
Kirche und christliche Jugendarbeit nehmen Schule als Lebensraum
von Schülerinnen und Schülern wahr und gestalten ihn aktiv mit, durch
Angebote zur Persönlichkeitsstärkung und zum sozialen Lernen.
Die Formen geistlichen Lebens im Kontext einer diakonischen Einrichtung werden weiterentwickelt und die Kooperation der Einrichtungsgemeinde mit dem örtlichen Kirchebezirk wird intensiviert.
152 Liste der Teilprojekte
Mühlacker
„Gemeinsam können wir mehr“.
Das diakonische Profil im Kirchenbezirk stärken
DIAKONISCHES PROFIL IM KIRCHENBEZIRK
Reutlingen
Gastfreundliche Gemeinde für Familien
INKLUSIVE GEMEINDE UND KIRCHLICHE KINDERGARTENARBEIT
Reutlingen
Trauerwege gehen mit Familien
TRAUERDIAKONAT
Schwenningen
„Eine Chance für Kinder“ – Hilfe für Familien mit Kindern
in Armutslagen und prekären Situationen
DIAKONISCHE ARBEIT MIT FAMILIEN IN ARMUT UND
PREKÄREN SITUATIONEN
Stuttgart
Brückenschlag – Milieuübergreifende Glaubensvermittlung
VERKÜNDIGUNG UND JUGENDLICHE MILIEUS
Stuttgart
Kirchliche Dienste auf der Messe Stuttgart
DIAKONAT AUF DER MESSE
Die gemeindeorientierte diakonische Arbeit im Kirchenbezirk wird mit
den Schwerpunkten Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit so intensiviert und neu organisiert, dass für Menschen evangelische Kirche in
ihrer Lebenswelt erfahrbar wird.
Ausgehend von einem Kindergarten sollen in einer Kirchengemeinde
Lebensräume geschaffen werden, in denen Familien mit unterschiedlicher religiöser und sozialer Herkunft Akzeptanz finden, zum Glauben
eingeladen werden, Beteiligungsmöglichkeiten und soziale Unterstützung finden und zum interreligiösen Dialog eingeladen werden.
Familien, in denen ein Familienmitglied verstorben ist, werden seelsorgerlich und beratend begleitet. Ausgehend von der Anstellung bei
einem diakonischen Träger wird ein funktionierendes Netzwerk in
Kirche, Vereinen und Kommune zur Trauerbegleitung für Menschen
aller Generationen aufgebaut.
Benachteiligte Kinder und ihre Eltern werden in ihrem unmittelbaren
Lebensumfeld durch professionelle Beratungsangebote, ehrenamtliche Begleitung und sozialraumorientierte Angebote unterstützt und
gestärkt.
Dieses Projekt will an unterschiedlichen Orten durch eine Initialveranstaltung zu milieuübergreifender Jugendarbeit einladen und junge
Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten mit dem Evangelium erreichen und in Kirchengemeinden beheimaten.
Diakonisch-missionarische Präsenz auf der Messe wird mit Hilfe
eines Ehrenamtlichennetzwerkes, durch geistliche und seelsorgerliche Angebote aufgebaut.
Liste der Teilprojekte
Tübingen
Diakonisch wahrnehmen und handeln –
einladendes gelebtes Evangelium
DIAKONISCHE GEMEINDEENTWICKLUNG IM KIRCHENBEZIRK
Tuttlingen
Menschen entdecken – gemeindediakonisch handeln:
Diakonieladen Kaufkultur
DIAKONIEKAUFHAUS
Ulm
„Vergesst die Vergessenden nicht“
HERAUSFORDERUNG DEMENZ IN KIRCHENGEMEINDEN
Welzheim
Vernetzung von kirchlicher Jugendarbeit und Schule vor Ort
JUGENDARBEIT UND SCHULE
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Gemeinden werden darin unterstützt, Menschen, die an den Rand der
Gesellschaft geraten sind, wahrzunehmen und mit ihnen nach Auswegen aus der Not zu suchen. Diakoniebeauftragte werden im Bezirk
geschult und Modelle eines inklusiven Gemeindelebens gestaltet.
Rund um den Aufbau eines Sozialkaufhauses gruppieren sich Initiativen diakonischer Ehrenamtlichenarbeit und diakonischer Gemeindeund Gemeinwesenarbeit, in denen Kirchengemeinden und diakonische
Bezirksstelle im Sozialraum vernetzt werden und diakonische Modelle diakonischer Sozialwirtschaft und der Finanzierung von Arbeit in
Kooperation mit Kommunen und Gewerbeverein erprobt werden.
Für Menschen mit demenziellen Erkrankungen und ihre pflegenden
Angehörigen werden in Demenzcafes, Beratungsangeboten, in der
Seelsorge und in Gottesdiensten „Räume der Barmherzigkeit“ eröffnet, in denen sie seelsorgerliche Begleitung, soziale Unterstützung
und Beratung erfahren.
Die kirchliche Jugendarbeit des örtlichen CVJMs engagiert sich im
Bereich der Schulen. Über die personelle Verknüpfung durch die Diakonin werden Jugendarbeit und Schule vernetzt. V.a. kirchenferne
Jugendliche erfahren Begleitung, Entwicklung von Stärken, die Möglichkeit Mitgestalter in ihrem Umfeld zu werden und erhalten darin
Anteil an der Kommunikation des Evangeliums.
154 Präsentation der Projekte
Präsentation der Projekte
bei der Abschlussveranstaltung
„Diakonat – für die Kirche der Zukunft“
am 27.04.13 in Böblingen
Im Vordergrund: Oliver Pum
Im Vordergrund: Thomas Hofmann
Im Vordergrund: Elsbeth Loest
Im Vordergrund: Michael Gutekunst, Tobias Becker (mit
Mikrofon), Michael Feldtkeller
Alle Photos wurden zur Verfügung gestellt von Prof. Dr. Thomas Zippert.