Praxisberichte
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Praxisberichte
2 Impressum Impressum Herausgegeben von der Evangelischen Medienhaus GmbH | Augustenstraße 124 | 70197 Stuttgart Im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrates | Dezernat 2 | Stuttgart | Oktober 2013 Redaktion: Prof. Dr. Annette Noller (Evangelische Hochschule Ludwigsburg) Bestelladresse: Evangelischer Oberkirchenrat Projekt Diakonat – neu gedacht, neu gelebt | Gerokstraße 19 | 70184 Stuttgart Telefon: 0711 2149-445 | e-mail: [email protected] Inhalt 3 Inhalt Vorwort ...................................................................................................................... 5 Werner Baur Einleitung ................................................................................................................... 7 Annette Noller/Dieter Hödl Die Diakoninnen und Diakone des Projekts ........................................................................... 10 Gruppenbild November 2012 Projektberichte I. Langberichte 1 Tübingen: Diakonische Gemeindeentwicklung im Kirchenbezirk ............................................... 13 Peter Heilemann, Gudrun Keller-Fahlbusch, Joachim Pfeifer, Fritz Steinhilber 2 Schwenningen: Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen ...................... 27 Barbara Kuchel-Müller 3 Esslingen: Diakonische Jugendarbeit und Schule ................................................................ 41 Michael Pross 4 Bernhausen: Schule im Sozialraum: Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit ......... 53 Oliver Pum 5 Creglingen: Diakonische Schulsozialarbeit ........................................................................ 61 Elsbeth Loest 6 Reutlingen: Trauerdiakonat ........................................................................................... 71 Eva Glonnegger 7 Ulm: Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden ........................................................... 81 Barbara Eberle 8 Altensteig: Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege ........................................... 95 Gerd Gauß 9 Stuttgart: Diakonat auf der Messe ................................................................................. 103 Martin Heubach 10 Stuttgart: Verkündigung und jugendlich Milieus ............................................................... 113 Tobias Becker 4 Inhalt II. Kurzberichte: 11 Tuttlingen: Diakoniekaufhaus ..................................................................................... 123 Dennis Kramer 12 Welzheim: Jugendarbeit und Schule ............................................................................ 127 Nicole Heß 13 Reutlingen: Inklusive Gemeinde und kirchliche Kindergartenarbeit ....................................... 133 Achim Wurst 14 Ludwigsburg: Diakonische Gemeindeentwicklung: Vernetzte Einrichtungsdiakonie ..................... 139 Thomas Hofmann 15 Mühlacker: Diakonisches Profil im Bezirk ...................................................................... 145 Peter Feldtkeller, Michael Gutekunst Liste der Teilprojekte ................................................................................................... 151 alphabetisch mit Kurzbeschreibung Foto der Projektstelleninhaber und -inhaberinnen ................................................................ 154 bei der Abschlussveranstaltung des Projekts 2013 Vorwort 5 Vorwort „Geh hin und tu desgleichen…“ (Lk 10,37) „Geh hin und tu desgleichen…“ (Lk 10,37). Mit dieser Aufforderung Jesu endet die Erzählung vom barmherzigen Samariter im Lukasevangelium. Auf die theologische Frage eines Schriftgelehrten nach der Gottesund der Menschenliebe antwortet Jesus mit einer Erzählung. Der Menschensohn und Heiland vermittelt Gottes Gegenwart narrativ, in Gleichnissen und Geschichten aus der Alltagswelt seiner Zuhörerinnen und Zuhörer. Das erzählerische Geschehen selbst schafft eine besondere Form der Präsenz und Aufmerksamkeit, nimmt Erzähler und Hörende hinein in ein intensives Beziehungsgeschehen. Die mehr theoretische, theologische Frage, wer denn der Nächste sei, den man nach Gottes Gesetz lieben soll, beantwortet der Sohn Gottes mit der Geschichte zweier Menschen, die vor dem inneren Auge der Hörenden Gestalt annehmen: Der eine in seiner Hilfebedürftigkeit und der andere dadurch, dass er ohne Rücksicht auf religiöse Differenzen spontan und selbstlos hilft. Statt eines spannenden und geistreichen theologischen Diskurses oder abschweifender Gedanken, nutzt Jesus die erzählerisch geschaffene und doch konkret erlebte Präsenz des Samariters als Ermutigung und Aufforderung: „Geh hin und tu desgleichen!“ Generationen von Gläubigen haben sich von dieser schlichten und darin so großartigen Geschichte inspirieren, herausfordern und auffordern lassen. Diese Geschichte und die ihr folgende alltägliche Praxis der Nächstenliebe im Großen und Kleinen, durch Gemeinden, große diakonische Werke und Komplexeinrichtungen prägen das Gemeinwesen. Nächstenliebe hat immer ein Gesicht – mitten im Alltag, gestern, heute und morgen. Präsenz und Geistesgegenwart, das zeichnet diakonisches Denken und Handeln aus. Mit dieser Präsenz verweist diakonisches Handeln auf Gottes Gegenwart. Das Projekt der Württembergischen Landeskirche steht in der Tradition einer Glaubenspraxis, die das Evangelium in Wort und Tat bezeugt. Diakonisches Handeln geschieht heute in der professionellen Arbeit mit Generationen, in diversen kulturellen, religiösen und sozialen Lebenssituationen. Die Projektberichte aus dem Projekt ‚Diakonat – neu gedacht, neu gelebt’ dokumentieren Einblicke in eine vielfältige Praxis, in der die Menschenfreundlichkeit Gottes in der konkreten Begegnung mit Menschen erfahrbar wird. Sie berichten von Erkenntnissen, Wahrnehmungen und Beobachtungen aus einer fünfjährigen Praxiserprobungsphase (2008 – 2013), die von der Württembergischen Landeskirche in Auftrag gegeben wurde, um zukunftsweisende Wege im Diakonat zu initiieren und wissenschaftlich zu evaluieren. Herzlich gedankt sei den Diakoninnen und Diakonen der fünfzehn Teilprojekte für ihr großes Engagement während der Laufzeit von fünf Jahren, in der sie sich auf neue und ungewohnte Wege eingelassen haben und zum Gelingen des Projekts maßgeblich beigetragen haben. Die hier vorgelegten Projektberichte wurden von den Diakonen und Diakoninnen der Teilprojekte in Abstimmung mit ihren örtlichen Begleitgruppen verfasst und autorisiert. Prof. Dr. Annette Noller und Renate Kuffart von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg haben die Texte redigiert und korrigiert. Die Berichte dokumentieren die Arbeit, die interessanten und zugleich bewegenden Erfahrungen in den Teilprojekten anschaulich. Sie vermitteln einen faszinierenden Zugang zu der Vielfalt, den Chancen und gelegentlichen Grenzen der professionellen diakonischen Arbeit im Diakonat. Lassen Sie sich berühren und inspirieren von den Mut machenden Geschichten mitten aus dem Leben. „Helfen zum Leben“ ist möglich und hat viele Gesichter. Das Projekt ‚Diakonat – neu gedacht, neu gelebt’ hat über Württemberg hinaus Aufmerksamkeit erfahren. Die zukünftigen Herausforderungen an kirchliches Handeln in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft macht die Zusammenarbeit verschiedener Professionen und Dienste notwendig, um dem einen Auftrag, der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat, in der Nachfolge Christi nachzukommen. Werner Baur Oberkirchenrat 6 Einleitung 7 Einleitung Diakonat – neu gedacht, neu gelebt Das Projekt ‚Diakonat – neu gedacht, neu gelebt’ Projektkonzeption Nach fünfjähriger Laufzeit endet im Jahr 2013 das Projekt Diakonat, neu gedacht – neu gelebt’. Im Fokus des landeskirchlichen Projekts stehen fünfzehn Teilprojekte, die in Konzeption und Evaluation auf „die drei großen Herausforderungen an das Zusammenleben in Kommunen und Gemeinden (reagieren sollten, A.N.): die Alterung unserer Gesellschaft, die Globalisierung, die Zunahme sozialer Risiken und die damit einhergehende Verfestigung von Armut…“1 Die mit Diakonen und Diakoninnen zu besetzenden Projektstellen wurden öffentlich in der Landeskirche ausgeschrieben. Die Konzeption der Projekte wurde durch einige wenige Vorgaben strukturiert: alle Teilprojekte sollten sich an den sozialen Veränderungsprozessen im beginnenden 21. Jahrhundert orientieren und waren so zu gestalten, dass sie Antworten erwarten ließen auf zukünftige Herausforderungen in den verschiedenen Berufsfeldern und Berufsgruppen im Diakonat. Vorgegeben war eine Konzeption und Ausrichtung des Projekts an der doppelten Qualifikation2 von Diakoninnen und Diakonen. Die Dienstaufträge sollten im Sozialraum vernetzt formuliert sein und innovative Wege in Berufsfeldern im Diakonat erproben. Die Bereitschaft, wissenschaftliche Methoden zur Evaluation anzuwenden, wurde erwartet. Eine örtliche Begleitgruppe mit Vertreterinnen und Vertretern aus den vernetzten Handlungsfeldern des Projekts sollte die Arbeit vor Ort begleiten. 50% der Projektstelle wurden während einer Laufzeit von fünf Jahren von der Landeskirche finanziert. 50% der Personalkosten mussten aus den Teilprojekten selbst aufgebracht werden. 1 Oberkirchenrat Werner Baur im Flyer zur Ausschreibung des Projekts 2008, S. 3. Ausbildungsabschlüsse in erstens diakonisch, theologisch oder religionspädagogischer Professionalität und zweitens fachlich in einer Profession (bzw. gleichwertigen Kompetenzen) des Sozialwesens. 2 Die fünfzehn Teilprojekte Von den insgesamt fünfundsechzig Anträgen, die auf die Ausschreibung der Württembergischen Landeskirche hin im Jahr 2008 eingingen, konnten nur fünfzehn Anträge bewilligt werden. Die elaborierten Projektanträge zeigten vielfältige, in Kirche und Gemeinwesen vernetzte Projektideen, die man als kirchliche und gesellschaftliche Herausforderungen der Zukunft in den diversen Handlungsfeldern im Diakonat lesen kann. Bei der Auswahl der Projekte durch die zentrale, von der Landessynode eingesetzten Steuerungsgruppe3 spielten wissenschaftliche und fachliche Gesichtspunkte eine Rolle, aber auch die Mischung aus verschiedenen Handlungsfeldern und Berufsgruppen im Diakonat. Zahlreiche Projektanträge befassten sich mit sozialen Veränderungsprozessen, mit Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Armut, sozialen Lagen und Milieus. Ein beachtlicher Anteil der Anträge fokussierte auf die diakonisch-missionarischen Arbeit im Bereich Schule, Schulsozialarbeit, Schulseelsorge und kirchlicher Kinder- und Jugendarbeit. Diverse Varianten von Vernetzungen mit diakonischen Trägern, Kommunen, Schulen, Kreisdiakonien und diakonischen Bezirksstellen, Vereinen, CVJMs und Jugendwerken, Gewerbeverbänden und Dienstleistungsanbietern wurde in den Projektanträgen formuliert. Die schon in den Projektanträgen erkennbare Vernetzungsarbeit verdeutlicht die Breite und Vielfalt, in der der Diakonat im Gemeinwesen professionell kooperiert. Sie verdeutlicht, dass durch das diakonische Handeln der Raum der Kirche über die parochialen Strukturen hinaus in das Gemeinwesen hinein aufgespannt wird und das Evangelium durch Diakoninnen und Diakone mit Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen kommuniziert wird: in existenziellen Notlagen, in prekären Lebenssituationen, in diversen Milieus, im interreligiösen Dialog, an öffentlichen Schulen, in Vesperkirchen und in der Sozialberatung, unter Dienstleistenden im Arbeitsalltag und im sozialwirtschaftlichen Handlungsfeld eines Sozialkaufhauses, in öffentlichen Gesprächscafes, bei Informationsveranstaltungen, in seel3 Mitglieder der Steuerungsgruppe: Werner Baur, Helmut Dopffel, Dieter Hödl, Ellen Eidt, Carmen Rivuzumwami, Monika Jäger, Jürgen Kehrberger, Annette Noller, Claudia Schulz, Ute Schütz, Helga Benz-Röder, Frieder Grau, Albert Ebinger, Thomas Maier, Roland Beck, Dorothea Gabler, Harald Klingler. 8 Einleitung sorgerlichen Gesprächen in Krankheit und Trauer und in zahlreichen Andachten und gottesdienstlichen Angeboten. Die fünfzehn Teilprojekte nehmen aufgrund ihrer Vernetzungen jeweils mehrere Arbeitsfelder und Handlungsstrategien zugleich in den Blick. Sowohl in den Langberichten als auch in den Kurzberichten4 folgt die Darstellung dennoch einer nach Arbeitsschwerpunkten sortierenden Systematik: Den Beginn machen in den Lang- und Kurzberichten jeweils diejenigen Projekte, die schwerpunktmäßig sozialdiakonische Herausforderungen im Kontext von Armutsfragen und prekären Lebenslagen in den Blick nehmen. Sie werden gefolgt von Projekten, die schwerpunktmäßig an Schulen angesiedelt waren, eine dritte Gruppe von Projekten befasste sich schwerpunktmäßig mit seelsorgerlichen Fragestellungen im Zusammenhang von Pflege, Krankheit und Trauer5, diesen Projekten folgen Projekte, die Milieu überschreitend (z.B. im Bereich von Dienstleistung und Jugendarbeit) angelegt waren, den Abschluss bilden jeweils Projekte, die sich schwerpunktmäßig mit Fragen der diakonisch-missionarischen Gemeindeentwicklung befassen. Zur Konzeption der Praxisberichte Das wissenschaftliche Design des Projektes sah eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation während der fünfjährigen Laufzeit vor. Mit der wissenschaftlichen Begleitung wurde die Evangelische Hochschule Ludwigsburg (Prof. Dr. Annette Noller, Prof. Dr. Claudia Schulz und Dr. Thomas Fliege) in Kooperation mit dem Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg (Prof. Dr. Heinz Schmidt) beauftragt. Die fünfzehn Teilprojekte wurden in der fünfjährigen Laufzeit wissenschaftlich begleitet. In diesem Zusammenhang wurden Daten von Seiten der Wissenschaftler/innen erhoben: die Diakoninnen und Diakone sowie ihre Kooperationspartner/innen, Mitarbeitenden und Gesprächspartner/innen sowie Schüler/innen und Klient/innen im Projekt wurden befragt. Begleitend wurden zu ausgewählten Fragestellungen Interviews und Gruppendiskussionen geführt und ausgewertet. Die Projektstelleninhaber/innen wurden in Projekttagebüchern regelmäßig befragt. Eine Tagung zu theologischen Ämterfragen wurde im Kontext des Projektes in Kooperation mit der Württembergischen Landeskirche an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg durchgeführt. Die Beiträge dieser wissenschaftlichen Evaluation werden in einer Publikationsfolge des Kohlhammer Verlags veröffentlicht.6 Darin werden Fragen des diakonischen Amtes einerseits 4 Es konnte nicht von allen Projekten eine Langversion präsentiert werden, da das den Rahmen der Veröffentlichung gesprengt hätte. Das Projekt Trauerdiakonat z.B. ist hier zugeordnet, obwohl auch in diesem Projekt Fragen der Sozialberatung in prekären Lebenssituationen nach dem Tod eines Elternteils eine zentrale Rolle spielten. 6 Bisher sind dazu bereits erschienen: Noller, Annette/Eidt, Ellen/Schmidt, Heinz (Hg.) (2013): Diakonat – theologische und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf ein kirchliches Amt, Stuttgart. Etwa zeitgleich mit diesen Projektberichten wird erscheinen: Eidt, Ellen/Schulz, Claudia (Hg.) (2013): Evaluation im Diakonat. Sozialwissenschaftliche Vermessung diakonischer Praxis, Stuttgart. Zur Geschichte des Diakonats in Württemberg ist in der Publikationsfolge erschienen: Eidt, Ellen (2011): Der evangelische Diakonat. Entwicklungslinien in Kirche und Diakonie am Beispiel Württembergs, Stuttgart. 5 und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse zu Profession, Ausbildung und Praxis des Diakonats auf der Basis einer theologischen und sozialwissenschaftlichen Methodologie wissenschaftlich dargestellt. Die hier vorgelegten Projektberichte der Diakoninnen und Diakone orientieren sich in der Darstellung an bekannten Schritten von Projektarbeit und Projektevaluation. Die Projektstelleninhaber/innen und ihre Begleitgruppen wurden zu Beginn des Projekts gebeten, eine Sozialraumanalyse zu erstellen und Ziele für die Projektarbeit zu formulieren.7 Im Laufe des Projekts wurden von den Diakoninnen und Diakonen selbst Daten erhoben, indem sie punktuell Tiefenbohrungen vornahmen und dabei auch Methoden der Praxisforschung anwendeten. Vereinbart wurde, jeden Bericht mit einem alltagspraktischen Anhang unter dem Thema: ‚Ein typischer Tag, eine typische Situation’ zu schließen. Auf diese Weise wurden Beobachtungen und Wahrnehmungen der Projektstelleninhaber und -inhaberinnen, Einschätzungen von Kooperationspartner/innen, Aussagen von Betroffenen, Schüler/innen und Mitarbeitenden ebenso dokumentiert wie Zahlen, Daten und Fakten zur Frequentierung von Angeboten, Gesprächskontakten, Netzwerkkarten und vieles mehr. In den vorliegenden Darstellungen finden sich vielgestaltige Ansätze der Praxisevaluation, die nicht den Anspruch erheben, Realität auf wissenschaftlichem Niveau verallgemeinerbarer Daten abzubilden. Was die von den Diakoninnen und Diakonen verfassten Berichte aber bieten, ist ein lebendiger, in Teilen narrativer, häufig subjektiv wahrnehmender Einblick in die diakonische Praxis in unterschiedlichen Handlungsfeldern. In den Darstellungen werden der Reichtum und die Vielfalt des Diakonats erkennbar. In Fallbeispielen, Gruppenbefragungen, Gruppendiskussionen und Interviews wird die diakonische Arbeit in prekären Lebenssituationen, werden Alltagssorgen, individuelle Ressourcen und professionelle Lösungsstrategien in Gemeinde, Schule und Gemeinwesen erkennbar. Auch die Arbeitsweise, methodischen Wahrnehmungen und individuellen Interpretationen diakonischen Handelns aus der Perspektive der Projektstelleninhaber/innen werden dokumentiert. Dabei wird sichtbar, lesbar und nachvollziehbar, welche Herausforderungen, Chancen und auch Grenzen die Diakoninnen und Diakone in den verschiedenen Teilprojekten im diakonischen Handeln erkennen. Die Kompetenzen und Handlungsstrategien der Diakoninnen und Diakone im Projekt werden nachvollziehbar, ihre Fragen, professionellen Erkenntnisse, theologischen (Selbst-)deutungen, die professionelle und persönliche Beziehungs- und Begegnungsarbeit nachlesbar. Die Projektberichte sind ‚erzählte’ Theologie und Diakonie. Sie folgen im Duktus der narrativen Gestalt des Evangeliums unter Anwendung von Instrumentarien, die aus der Sozialforschung rezipiert und unter den Bedingungen alltäglicher Praxisherausforderungen von Diakoninnen und Diakonen in der Praxis angewandt und kommentiert wurden. Es sind eigene Beobachtungen aus der individuellen, diako- 7 Zur Reflexion der sozialwissenschaftlichen Arbeit der ProjektstelleninhaberInnen vgl. den Artikel von Thomas Fliege in: Eidt, Ellen/Schulz, Claudia (Hg.): Evaluation im Diakonat (s. Anm. 6). Einleitung nischen Arbeit. Sie regen dazu an, die Beobachtungen, Erkenntnisse und Fragen, die während der Projektlaufzeit aufgeworfen und erhoben wurden, wissenschaftlich weiter zu verfolgen und in weiteren Forschungen auf einer breiteren, methodologischen Basis zu vertiefen. Dank und Ausblick Die Zeit des Projekts war eine intensive und erkenntnisreiche Zeit für alle Beteiligten. Besonderer Dank gilt den Projektstelleninhaber/innen und ihren Begleitgruppen vor Ort. Sie haben mit großem Engagement diakonische und religionspädagogische Praxis gestaltet und sich dabei der schwierigen Aufgabe unterzogen, Daten und Beobachtungen für ihre eigene Auswertung zu erheben und sich selbst für die wissenschaftliche Evaluation befragen zu lassen. Projektarbeit erfordert ein hohes Maß an Selbstorganisation und Reflexion, das von den Diakonen und Diakoninnen mit großem Einsatz und professionellem Sachverstand erbracht wurde. Herzlich gedankt sei auch Thomas Fliege vom Institut für angewandte Forschung (IAF) der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg, der bei der Konzeption und Erarbeitung der Projektberichte beratend tätig war. Großer Dank gilt auch Renate Kuffart von der Evangelischen Hochschule, die bei der Redaktion der Berichte die Kommunikation mit den fünfzehn Projekten steuerte und in Form und Sprache hilfreich korrigierend zur Seite stand. Mit dem Projekt ‚Diakonat – neu gedacht, neu gelebt’ hat die Evangelische Landeskirche in Württemberg einen Reformprozess initiiert, der verdeutlicht, dass sich die Kommunikation des Evangeliums in Wort und Tat nicht nur im Raum von Kirchengemeinden, sondern auch darüber hinaus als eine gesellschaftliche Aufgabe in diversen Lebenssituationen in Gemeinwesen vollzieht. Das Reich Gottes ist zukünftige Verheißung der Gegenwart Christi und ereignet sich zugleich in der alltäglichen diakonischen Begegnungs- und Beziehungsarbeit in der Nachfolge Jesu. In den Berichten der Diakone und Diakoninnen wird sichtbar, wie dies auf eine professionelle und zugleich vom Glauben inspirierte Weise geschehen kann. Annette Noller (Evangelische Hochschule Ludwigsburg) Dieter Hödl (Dezernat 2, Evangelischer Oberkirchenrat) 9 10 Die Diakoninnen und Diakone des Projekts Die Diakoninnen und Diakone des Projekts Thomas Hofmann, Michael Pross, Achim Wurst, Barbara Eberle, Renate Haug, Nicole Heß, Peter Feldtkeller, Elsbeth Loest, Dennis Kramer, Fritz Steinhilber, Gerd Gauß, Gudrun Keller-Fahlbusch, Barbara Kuchel-Müller, Joachim Pfeiffer, Eva Glonegger, Peter Heilemann Nicht auf dem Bild sind: Oliver Pum, Martin Heubach, Tobias Becker und Michael Gutekunst Das Bild wurde aufgenommen bei einem Studientag in Ludwigsburg im November 2012 von Annette Noller. Langberichte I. Langberichte 11 12 13 „Diakonisch wahrnehmen und handeln – einladendes, gelebtes Evangelium“ Bericht 1: Tübingen Diakonische Gemeindeentwicklung im Kirchenbezirk Peter Heilemann, Gudrun Keller-Fahlbusch, Joachim Pfeifer, Fritz Steinhilber Projektort: Kirchenbezirk Tübingen Projektträger: Diakonisches Werk Tübingen Projektstelleninhaber/innen: Diakon Peter Heilemann, Diakonin Gudrun Keller-Fahlbusch, Diakon Joachim Pfeifer, Diakon Fritz Steinhilber in Kooperation mit Diakonin Renate Haug (Fachbereich Gemeindediakonat) und Diakon Host Haar (Geschäftsführer Diakonisches Werk Tübingen bis 31.7.2012) 14 Tübingen 1. Projektidee und Projektkonzeption Das Anliegen unseres Projektes war und ist, die Gemeinden in un serem Kirchenbezirk dabei zu unterstützen, ihre je eigene diakoni sche Wahrnehmung zu schärfen und Ideen und Angebote zu ent wickeln, um in Not geratenen Menschen bedürfnisorientiert vor Ort zu helfen. Konkret wollten wir dies erreichen, indem wir die Diakonie beauftragten in ihrer Aufgabe begleiten und unterstützen und zum anderen kleinere Projekte initiieren oder weiterentwickeln, in denen Menschen in Not wohnortnah Austausch und/oder Unterstützung erfahren. Um Sozialraumnähe zu ermöglichen, wurde in jedem der vier Dist rikte des Kirchenbezirks ein Gemeindediakon oder eine Gemeinde diakonin, der bzw. die dort bekannt und vernetzt ist, mit 25 Prozent seines bzw. ihres Dienstauftrags für dieses Projekt beauftragt. Träger des Projekts ist das Diakonische Werk Tübingen des Evangelischen Kirchenbezirks Tübingen. 2. Projektstartbedingungen und Projektentwicklung Von Anfang an war uns bewusst, dass das Projekt in den vier Distrik ten ganz unterschiedlich gestaltet werden musste: In zwei Distrikten gibt es ein großes städtisches Zentrum (Tübingen und Rottenburg), in den beiden anderen Distrikten gibt es mehrere größere und klei nere Gemeinden, die aber nicht so stark aufeinander bezogen sind. Um flächendeckend im ganzen Kirchenbezirk die Gemeinden in ihrer diakonischen Wahrnehmung zu stärken, wurden seit Projektbeginn die Diakoniebeauftragten für ihre Aufgabe geschult und begleitet.9 Dazu gab es vierteljährliche Treffen, je zwei in den Distrikten und je zwei im Kirchenbezirk. Dort wurden relevante diakonische Themen referiert, aktuelle Anliegen ausgetauscht und jedes Jahr eine andere diakonische Einrichtung besucht. Dabei stellte sich bald heraus, dass es sich bei den Diakoniebeauftragten um eine äußerst inhomogene Gruppe handelt in Hinsicht auf die Motivation für ihre Aufgabe, die Art ihres Engagements, ihrer Ansichten und Ziele und die Art und Weise, wie sie zu ihrer Aufgabe gekommen waren. Im Rückblick stellen wir fest, dass unsere anfängliche Konzeption hier bislang nicht genügend zielführend war und an die Erfordernisse angepasst werden muss (vgl. Kapitel 3.2, „Ausblick“). Die Arbeit mit den Diakoniebeauftrag ten jedoch halten wir weiterhin für eine sehr wichtige Aufgabe, da diese unseres Erachtens Schlüsselpersonen für diakonische Frage stellungen und Aufgaben sind.10 Einer der sichtbaren Erfolge des Projekts ist, dass viele Gemeinden die Frage, ob und wie die Bezahlung von Essen und Trinken bei Fes ten organisiert werden soll, diskutieren, oft auf Anregung der bzw. des Diakoniebeauftragten, und dass immer mehr Gemeinden hier auf solidarische Spendenkassen umschwenken und damit gute Erfah rungen machen. In den Zentren wird von den Projektdiakon/innen je eine 3-wöchige Vesperkirche mit verantwortet als jährliches Angebot für Teilhabeund Begegnungsmöglichkeit für Menschen mit den unterschiedlichs ten, teils sehr prekären Lebenssituationen. In einem der beiden Distrikte wurde darüber hinaus ein monatliches Vesperkirchencafé mit parallel dazu angebotener sozialdiakonischer Sprechstunde als Projektangebot initiiert. In den beiden anderen Distrikten wurde nach langer Anlaufphase zu Beginn des Jahres 2011 ein Begegnungskaffee und im Februar 2012 ein Mittagessen begonnen. Beide Angebote finden einmal monatlich statt und befinden sich noch in der Entwicklungsphase.8 8 Sozialdiakonisches Wahrnehmen und Handeln war in diesen Distrikten bei den dortigen Gemeinden unterschiedlich weit entwickelt. Dazu sind ohne ein Zentrum, auf welches die Gemeinden bezogen sind, Vernetzungen schwieriger zu gestalten und daher wenig entwickelt. Mehrere Kirchengemeinden im Distrikt Steinlachtal sind sehr groß, haben eine gute Infrastruktur und sind daher nicht auf andere Gemeinden bezogen, auch nur wenig auf das dortige Mittelzentrum Mössingen. Der Distrikt Unteres Neckartal ist geografisch so verstreut, dass ein Aufeinander-Bezogensein schon durch größere Entfernungen und Trennungen durch Hügel und Täler nur von wenigen Kirchengemeinden praktiziert wird (vgl. dazu die Sozialraumanalysen der Distrikte Steinlachtal und Unteres Neckartal, jeweils S. 1). 9 Vor dem Projekt wurden die Diakoniebeauftragten vom Geschäftsführer des Diakoni schen Werks Tübingen begleitet. Sie bekamen zu Beginn einer Legislaturperiode einen Ordner mit Informationen zum Amt einer/eines Diakoniebeauftragten samt persönlicher Einführung in ihre Aufgaben im Kirchenbezirk Tübingen. Außerdem fanden etwa zweimal im Jahr gemeinsame Treffen statt. 10 Vgl. Diakoniegesetz der Württembergischen Landeskirche, insbesondere § 2, in dem die diakonischen Aufgaben und mögliche diakonische Felder beschrieben werden und die Diakoniebeauftragten als Personen, die dafür mitverantwortlich sein können, explizit genannt werden. Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk 3. Vertiefte Einblicke 3.1 Begleitung von Diakoniebeauftragten Bezüglich der Diakoniebeauftragten wollten wir diese Ziele evaluieren: Die Diakoniebeauftragten der Kirchengemeinden haben ein klares Selbstverständnis von ihrer Rolle – sie können eigene Aufgaben benennen und sind durch Beratungen bzw. Weiterbildungen dafür qualifiziert. Die Diakoniebeauftragten bzw. Verantwortlichen in den Kirchengemeinden sind im Rahmen ihrer Zuständigkeitsbereiche informiert über Unterstützungsbedarfe von und Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen in Not. Dazu haben wir folgende Methoden ausgewählt: Gruppendiskussion11 mit acht Diakoniebeauftragten. Umfrage12 bei den Diakoniebeauftragten unseres Kirchenbezirks. Bei der Gruppendiskussion wurde von den oben genannten Zielen vor allem das eigene Selbstverständnis als Diakoniebeauftragte ausführlich diskutiert. Dabei waren die Äußerungen zum eigenen Selbstverständnis sehr unterschiedlich.13 Person 1: „… zumal ich im diakonischen Bereich als Diakoniebeauftragter Überblick haben kann.“ Person 2: „Das ist ja eher beängstigend. Also als ich angefangen habe, dachte ich, okay, ich gehe in den Gemeinderat … Diakonie, kann ich mir vorstellen und dann hat die, die das vorher gemacht hat, gesagt, da musst du halt ein paar Mal im Jahr da hin und dort hin, das ist nicht viel Arbeit und jetzt bin ich gerade erschrocken, wie viele Sitzungen es sind, wie viele Abende es sind und wo man sich überall einbringen könnte oder sollte und was da dahinter steckt, also da ist irgendetwas falsch gelaufen. Also für mich jetzt persönlich. Weil ich woanders drin stecke.“ Person 3: „Die Wichtigkeit war nicht bekannt.“ Person 2: „Nein, ich kann das überhaupt nicht leisten. Den wahnsinnigen Spagat zu schaf fen zwischen einerseits ein stückweit das Amt zu verwalten, sprich, wie die Diakonie funktioniert; und dann aber kreativ zu sein und zu überlegen, was könnte man machen ... Also Ideen habe ich immer massig, aber … wenn du Kirchengemeinderätin bist, dann hat man ja dazu noch zu viele andere Ämter.“ (….) 11 Am 9.4.2011 durchgeführt von 2 Studenten der EH in Ludwigsburg mit 8 Diakoniebeauftragten – alle Distrikte waren mit mindestens 1 Person vertreten – und einer Dauer von ca. 90 Minuten. 12 Hierbei handelte es sich um einen 6-seitigen Fragebogen mit 20 Fragen rund um das Thema Diakonie, Diakoniebeauftragte und diakonische Gemeinde, welcher im Januar 2012 versandt wurde. 13 Die folgenden Zitate stammen aus der Gruppendiskussion. 15 Person 4: „Unser Job, also ich sehe den Job so: Ich bin Diakoniebeauftragte – ich kann allen Gemeindemitgliedern beratend zur Seite stehen und die Fachleute und die Fachkräfte, die es überall gibt, da kann ich drauf hinweisen, das ist mein Job, so sehe ich ihn. Natürlich arbeite ich nicht nur theoretisch mit, ich arbeite auch praktisch mit, ja, im täglichen Leben. Aber das ist doch unser Job, wir sollen für die Gemeindeglieder da sein und ihnen sagen – hier, da gibt es die Diakonie, hast du Schulden, kannst du nicht mehr drüber hinwegsehen, geh doch da hin, schau, hier hast du die Adresse.“ Person 5: „Das habe ich nie so empfunden...“ Person 4: „Ja ich aber.“ Person 5: „Also rein praktisch gesehen natürlich klar, wenn man in so ein Gespräch kommt, aber nicht kraft Amtes.“ Es wurde deutlich, dass der Bedarf an Unterstützung und Begleitung zum einen in den vier Distrikten verschieden ausgeführt wird, und dass dazu auch die Bedarfe seitens der Diakoniebeauftragten sehr unterschiedlich sind. Person 1: „Aber wir hatten doch immer die Versammlung und da wurde doch auf alles hingewiesen. Wir haben hier die Frau K., das ist die Diakonin in Großstadt B, und die hat uns hier bestens versorgt. Hier, das ist unsere neueste Angelegenheit. Da ist der Flyer und da stehen aus den ganzen Ortschaften auch die ganzen Beratungen“ (stimmliches Durcheinander). Person 2: „Aber da unterscheidet sich Großstadt A mit Großstadt B. Das darf man jetzt nicht hier gleichsetzen. Also hier in Großstadt A waren zwar auch Treffen von Diakoniebeauftragten, aber da ging es sehr lang um die Vesperkirche. Die war und stand im Mittelpunkt. Und schon allein bis das in Gang kam und das alles in den Kirchengemeinden durchgesprochen war und dann schließlich eigentlich bis jetzt immer noch. Vesperkirche und alles andere haben wir immer wieder angesprochen, aber es ging nie weiter. Das war das Dilemma bei dem Ganzen, das hab ich auch heute wieder gehört und befürchtet, dass wir uns austauschen und damit hat es sich, und dann geht man wieder heim, aber dass man irgendwo jetzt in die Zukunft... schaut und konkrete Schritte und konkrete Vorstellungen formuliert und sagt, wir packen es an und schließen uns zusammen und machen ein Netzwerk nach dem (unverständlich) und helfen uns gegenseitig wie die Gemeinden, die allein da stehen, und verbinden das miteinander – da ist wirklich nichts geschehen.“ (…) 16 Tübingen 60 60 Person 3: „Ich sehe das schon als zentrales (unverständlich), die Treffen mit dem Kirchenbezirk, ich finde den Austausch einfach wichtig, dass man sieht, was auf 40Bezirksebene 40 läuft und das dann in seine Gemeinde trägt, beziehungs weise andersherum von seiner Gemeinde zu berichten und einzubringen und allein, dass der Kontakt besteht. 60 Und das sehe ich als Errungenschaft.“ Person 4: „Ich mein das bringt ja auch ein bisschen weg vom Ein20 20 zelkämpfer.“ 40 Mehrere stimmen zu. 47 47 Schaubild 1: Aus der Umfrage der Diakoniebeauftragten Frage 15.1: „Ich wurde zu Beginn meiner Tätigkeit ausführlich über meine Aufgaben informiert.“ 6060 14 14 4040 1647 16 4747 17 17 13 13 5 5 3 3 Die Äußerungen der Diakoniebeauftragten machen sehr deutlich, 1 1 1717 20 0 200 0 0 0 16 1617 20 16 14 1413 dass sie keine homogene Gruppe sind, sondern dass hier Einzel14 1313 0 0 kämpferInnen aus verschiedenen Orten miteinander sprechen und 5 5 5 3 3 1 1 1 03 0 0 0 und 0 0 0 trifft 0 0 trifft 0 0 weiß sich über ihre Erfahrungen austauschen. Verstärkt wird dies intrifft Äu0 weiß trifft voll voll und zu zu triffttrifft teilweise teilweise trifft trifft nicht nicht zu zu nicht nichtkeine kein A 0 0 0 ßerungen, die eine Begleitung bzw. ein Gegenüber vor Ort vermisganz ganz zutrifftzuvolltrifft zu nicht zutriffttrifft und vollvoll und trifft trifft zu zuteilweise trifft teilweise trifft zu nicht weiß zu zu nicht weiß nicht keine Angabe keine Angabe trifft undzu trifft trifft trifft teilweise nicht weiß nicht keine Angabe sen. ganz zu ganz zu zu zu zu zu ganz Person 1: „Ich wollte das auch mal bestärken, dass sich jahrelang sich niemand drum gekümmert hat. Also im Kirchengemeinderat, also während ich in der letzten Periode war und mich niemand eingeführt hat in diese meine Aufgabe; ich – niemand überhaupt gekräht hat danach, was macht denn die Diakoniebeauftragte. Es war oft eine Leerstelle gewesen, eine ganze Periode lang. Und eigentlich jetzt erst in der zweiten Periode, so seit zwei Jahren ungefähr bewegt sich in uns was oder überhaupt im letzten Jahr eigentlich überhaupt. Und ich hab immer wieder versucht zu kämpfen, zu strampeln, irgendwas einzubringen, aber ich hab kein Gegenüber gehabt – ich wusste auch nicht richtig, wo ich mich hinwenden soll und [2 sec. unverständlich] PfarrerIn ab und zu, aber sonst eigentlich waren wir allein gelassen, war ich allein gelassen.“ Weiterhin fällt auf, dass die Gemeinden und jeweiligen Themen vor Ort völlig unterschiedlich sind. Diakonie wird in großer Bandbreite beschrieben14 und wahrgenommen, und je nach Möglichkeiten und drängenden Bedarfen vor Ort werden ganz unterschiedliche Akzente gesetzt in der diakonischen Sichtweise und Arbeit vor Ort. Erschwerend kommt hinzu, dass einige Diakoniebeauftragte wenig bis keine Ahnung von der von ihnen übernommenen Aufgabe hatten. Es wurde ihnen nicht im Vorfeld erklärt, was auf sie zukommen werde; in einigen Kirchengemeinden war dazu vermutlich nur eine vage Vorstel lung vorhanden. Häufigkeit Häufigkeit ProzentProzent Prozent Häufigkeit Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent Die verschiedenen Äußerungen der Diakoniebeauftragten verstehen wir so, dass einige sich mit ihrer Aufgabe schwer tun, weil sie ganz verschieden betrachtet werden kann, da es sich um ein so weites Feld handelt: Diakoniebeauftragte können sich darum kümmern, dass diakonische Themen diskutiert und Schritte zu einem diakonischen Handeln unternommen werden. Oder sie initiieren diakonische Ange bote und engagieren sich dabei federführend, oder sie machen bei von anderen entwickelten Angeboten mit. Dabei beschäftigen sich Diakoniebeauftragte prioritär mit ganz unterschiedlichen Hilfen und Angeboten: für alte Menschen, für von Armut betroffene Menschen, für Menschen in Pflegeheimen, für Neuzugezogene und deren Anbin dung in der Gemeinde, für Menschen im mittleren Lebensalter, Besuchsdienst oder diakonische Gruppe15. Auf die oben genannten Ziele hin interpretieren wir die Äußerungen der Diakoniebeauftragten so, dass einige sich ihres Amtes und der Art ihrer Ausübung desselben sicher sind, aber bei einigen anderen an verschiedenen Stellen Unsicherheiten auftauchten, und es an einem dies gemeinsam zu bearbeitenden Gegenüber fehlt. Andererseits haben fast alle nach eigenem Befinden für drängende diakonische Fragen ein Gegenüber, von dem sie rasch eine Antwort erwarten können. 15 14 Vgl. Diakoniegesetz der Württembergischen Landeskirche, § 2, Abs. 2 Besuchsdienstgruppen mit unterschiedlichen Profilen, die die professionellen Hilfen für alte und kranke Menschen in der Kirchengemeinde ergänzen. Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk 17 0 60 Schaubild 2: Aus der Umfrage der Diakoniebeauftragten 47 47 Frage 15.6 „Wenn ich eine Frage in Bezug auf meine Aufgaben als Diakoniebeauftragte/Diakoniebeauftragter habe, dann weiß ich, wer mir weiterhelfen kann, und bekomme auch rasch eine Antwort.“ 0 40 60 0 20 40 6080 69 14 14 60 40 0 020 0 200 25 14 1413 1647 16 47 17 17 13 13 5 5 40 0 0 So sind sie bei folgenden Aufgaben mehrheitlich der Meinung, dass Diakoniebeauftragte dafür vorrangig zuständig sind16: 1617 16 13 1 1 17 Menschen mit Hilfebedarf an Fachleute vermitteln Ehrenamtliche für diakonische Aufgaben gewinnen die Kirchengemeinde für soziale Not sensibilisieren den Kontakt zu Selbsthilfegruppen pflegen diakonische Projekte in Gang setzen 33.1.1 3 Ausblick 0 0 0 0 Unsere Interpretation der Gruppendiskussion wie auch des Fragebogens macht uns deutlich, dass wir unser Angebot an Begleitung und 1 0 00 0 0 0 0 0 0 und 0 0 trifft 0 trifft triffttrifft voll voll und zu zu triffttrifft teilweise teilweise triffttrifft nicht nicht zu zu weiß weiß nicht nicht keine keine Angabe Angabe Unterstützung von Diakoniebeauftragten viel stärker an deren auch 0 00 ganz ganz zutrifftzuvolltrifft zu nicht zutriffttrifft und voll und trifft trifft zuzuteilweise trifft teilweise trifft zu nicht weiß zuzu nicht weiß nicht keine keine Angabe trifft voll undzu trifft trifft trifft teilweise nicht weiß nichtAngabe keine Angabe unterschiedlichen Bedarfe anpassen und es konzeptionell in Zusamganz zu ganz zuzu zu zuzu ganz menarbeit mit den Diakoniebeauftragten weiter entwickeln möchten. 20 3 58 5 14 5 3 8 1 3 3 Häufigkeit Häufigkeit ProzentProzent Prozent Häufigkeit Prozent Häufigkeit Häufigkeit Prozent Die beschriebenen Ergebnisse zeigen, dass wir dem Ziel näher gekommen sind, dass in allen Kirchengemeinden im Kirchenbezirk Tübingen sozial-diakonisches Bewusstsein nachhaltig verankert ist, ja, dass jede Gemeinde sich auch als diakonische Gemeinde sieht. Die Ergebnisse der Umfrage bestätigen im Großen und Ganzen die Äußerungen der Gruppendiskussion und machen deutlich, dass über die Hälfte der Diakoniebeauftragten trotz der wenig an der inhaltlichen Aufgabe orientierten Art und Weise, wie sie zu ihrem Amt kamen, ihr Amt inzwischen zum Großteil in ihrer je eigenen Weise gestalten. 0 60 Wir interpretieren einige Aussagen dahingehend, dass sich einige eine Begleitung wünschen, die konkret ihre Person samt Möglichkeiten und Grenzen wie auch die jeweilige Gemeinde im Blick hat. Mit einer solchen Begleitung könnte dieses Amt in der Gemeinde gestärkt und konkretisiert werden und der bzw. die Diakoniebeauftragte könnte seine bzw. ihre Aufgabe in unterschiedlicher und doch für Ort und Person passender Weise füllen. Es könnte sinnvoll sein, dem je eigenen Selbstverständnis der Diakoniebeauftragten die Möglichkeit zu geben, sich individuell und je nach Themen vor Ort zu entwickeln. Die Konkretion einer solchen Begleitung werden wir in nächster Zeit entwickeln. 47 47 Schaubild 3: Aus der Umfrage der Diakoniebeauftragten 0 40 Frage 15.7: „Ich habe als Diakoniebeauftragte/Diakoniebeauftragter viele Gestaltungsmöglichkeiten und kann eigene Ideen umsetzen.“ 60 60 60 1647 16 47 17 17 14 1442 13 1339 0 20 40 40 40 5 5 0 0 0 020 0 20020 14 5 3 16 1617 13 14 15 1413 1 1 17 6 5 3 3 0 0 0 0 8 3 3 3 3 2 1 1 1 0 0 und 0 0 1trifft 0 trifft 0 zu 0 0zu triffttrifft voll voll und zu zu triffttrifft teilweise teilweise triffttrifft nicht nicht weiß weiß nicht nichtkeine keine Angabe Angabe 0 0 0 ganz ganz zutrifftzuvolltrifft zu nicht zutrifftzutrifftnicht und vollvoll und trifft trifft zu zuteilweise trifft teilweise trifft weiß zu zu nicht weiß nicht keine Angabe keine Angabe trifft undzu trifft trifft trifft teilweise nicht weiß nicht keine Angabe ganz zu ganz zu zu ganz Häufigkeit Häufigkeit zu zu zu Prozent Prozent Häufigkeit Häufigkeit Prozent ProzentProzent Häufigkeit 16 Aus der Umfrage der Diakoniebeauftragten – Frage 16: „Wir nennen Ihnen hier verschiedene diakonische Aufgaben. Wer soll welche Aufgaben Ihrer Meinung nach im Idealfall hauptsächlich wahrnehmen? Bitte jeweils nur eine Möglichkeit auswählen.“ – Für verschiedene Aufgaben konnte die Verantwortung zugeordnet werden an Ehrenamtliche, Diakoniebeauftragte, SozialarbeiterInnen, DiakonInnen, PfarrerInnen. 18 Tübingen 3.2Vesperkirche Rottenburg, Café Vesperkirche und sozialdiakonische Sprechstunde Anhand der Vesperkirche Rottenburg und der monatlichen Angebote Café Vesperkirche mit sozialdiakonischer Sprechstunde wollten wir das Ziel evaluieren: Treff- und Austauschmöglichkeiten für Menschen in Not untereinander und mit anderen Interessierten sind geschaffen. Diese Angebote geben Raum zur Entfaltung von Selbsthilfepotenzialen der Betroffenen. Es wurden dafür fünf Interviews17 mit Besuchern und Besucherinnen und Mitarbeitenden der entstandenen Angebote durchgeführt. Zunächst möchten wir jedoch oben genannte Angebote mit ihren charakteristischen Merkmalen darstellen: 3.2.1 Vesperkirche Rottenburg In Rottenburg wurde 2012 die 5. Vesperkirche durchgeführt. Wegen der baulichen Gegebenheiten findet diese Vesperkirche im an die Kirche angrenzenden Gemeindehaus statt. Das in den ersten beiden Jahren entwickelte Konzept hat sich inzwischen bewährt. BesucherInnen werden an einen gedeckten Tisch geleitet und dort bedient. Auf den Tischen stehen Spendengläser mit einem Hinweis: „Wer wenig hat, gibt sein Weniges in die bereitgestellte Kasse – Andere geben mehr und unterstützen damit die Idee einer Solidarität untereinander.“ Insgesamt engagieren sich ca. 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese kommen aus der evangelischen und den katholischen Kirchengemeinden, aus dem ganzen Gemeinwesen sowie den umliegenden Orten. Es sind überwiegend Menschen, die im Ruhestand sind, aber auch Jüngere, sowie Schüler aus den verschiedenen ortsansässigen Schulen, Konfirmanden, Firmgruppen und in der Mehrheit Kirchen ferne18. Auffällig ist, dass sich immer mehr „verhaltensoriginelle“ Menschen melden, die manchmal einen speziellen Arbeitsplatz brauchen und ebenso eine intensivere Begleitung. Die wohltuende Atmosphäre der Vesperkirche ermutigt viele Menschen, hier mitzuarbeiten: Menschen aus der örtlichen Kontaktgruppe und Menschen mit psychischen Schwierigkeiten wie auch Menschen mit Handicaps konnten in Dienste eingebunden werden und/oder fanden als Besucher über die Zeit ein tagesstrukturierendes Programm. 17 Interview Rottenburg A, Interview Rottenburg B, Interview Rottenburg C, Interview 1, Interview 2. die Interviews A, B und C wurden von einer Kollegin des Kirchenbezirks Tübingen durchgeführt, die Interviews 1 und 2 von einer Praktikantin der EH Freiburg. Alle Interviews fanden im November 2011 im Gemeindehaus in Rottenburg statt. 18 Mit der Bezeichnung „Kirchenferne“ sind Menschen gemeint, die im kirchlichen Gemeindeleben nicht auftauchen, sei es, weil sie nicht Mitglied der Landeskirche sind, sei es, dass sie keinen sichtbaren Bezug zur Ortsgemeinde haben. Ebenso ist die Vesperkirche für viele einsame alte Menschen aus der Kommune und der Kirchengemeinde ein willkommener Treffpunkt. Die liebevolle und ästhetisch schöne Gestaltung der Räume und Tische wird von vielen Besuchern und Mitarbeitenden geschätzt. Dies zeigen erstaunte Äußerungen wie: „Was, ihr stellt uns auch noch brennende Kerzen und frische Blumen auf den Tisch.“19; Auch die schöne Atmosphäre und Stimmung der ganzen Tage wird immer wieder gelobt. Die Spendenfreudigkeit von täglich gespendeten Kuchen, Brot und Brötchen von einer Bäckerei, anderen Sachspenden wie Blumen, Saft, Süßigkeiten, Hygieneartikel und Geldspenden ist für die Kleinstadt Rottenburg ohne spezielles Fundraising sehr groß. Täglich gibt es auch die unterschiedlichste Life-Musik und eine Friseurin bietet nach Bedarf kostenlose Haarschnitte an. In Rottenburg ist es schon Tradition, die Vesperkirche am StartMontag mit einem eigenen Gottesdienst zu eröffnen. Hier entwickeln die Diakonin und ein Pfarrer bzw. eine Pfarrerin der Gemeinde das Thema der Predigt20, Liturgie und Ablauf und führen dies gemeinschaftlich durch. Täglich startet das Tagesteam in einer 30-minütigen Runde mit Kennenlernen und geistlichem Impuls, bevor die Arbeitsbereiche und Aufgaben angeschaut, evtl. nochmals erklärt und eingeteilt werden. Zur Mittagszeit gegen 12.30 Uhr unterbricht eine Glocke das Bedienen der Gäste für einen Mittagsimpuls. Dabei kam es an besonders turbulenten Tagen schon vor, dass dieser vergessen und dann von den Besuchern eingefordert wurde. Um die Kontakte zu den Gästen sowie Mitarbeitenden aufrecht zu halten, war eine dichte Anwesenheit der Diakonin in der Vesperkirche notwendig. Dies ist unerlässlich für ihre Bekanntheit und als vertrauensbildende Maßnahme die Grundlage für einen eventuellen Kontakt in der sozialdiakonischen Sprechstunde. Auch gibt es immer wieder Tagesleitungen in der Vesperkirche, die mit Ablauf und Haus nicht so vertraut sind und Unterstützung benötigen. Des Weiteren wird im Rahmen der Vesperkirche jährlich ein Themenabend21 für alle Besucherinnen und Besucher angeboten. Wichtig als Anerkennung ist auch der Dankeschönabend, an dem alle Mitarbeitenden verwöhnt werden sollen mit einem guten Abendessen, einem überraschenden Programmpunkt, einer Interaktion und einem Geschenk. Dieser Abend – gleichzeitig mit der Möglichkeit zur Rückmeldung und Informationen über den Abschluss – wird von 50 bis 75% der Mitarbeitenden besucht. Ebenso wird ein nett gestalteter Weihnachtsbrief mit Dank und den neuen Terminen an alle verschickt. 19 Äußerung eines Ehepaars, das sich erst im dritten Jahr traute, die Vesperkirche zu besuchen und hier zu essen. Seitdem kommen sie gerne und regelmäßig. 20 Themen und Texte: 2008: Dialogansprache zum Lied „Wenn das Brot, das wir teilen, zur Rose erblüht.“ 2010: „Da aßen alle, und alle wurden satt.“, Mk 6, 31-44. 2011: Alle um einen Tisch, mit einem Bild des Misereor Hungertuchs von 1996 „Hoffnung den Ausgegrenzten“. 2012: Die Werke der Barmherzigkeit. 21 Themen: 2009: „Armut“ – Podium mit Vertretern aus Kirche und Stadt. 2010: Vorstellung des Arbeitslosentreffs Tübingen. 2011: Informationen über die Schuldnerberatung Tübingen und den Pflegestützpunkt Rottenburg. Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk Dass die Vesperkirche ein Angebot ist, das einem vorhandenen Be darf entspricht, zeigen die hohen Gästezahlen, die während der Ves perkirche wie auch von Jahr zu Jahr insgesamt eher ansteigend sind, obwohl die Kapazitätsgrenzen schon erreicht sind: 350 Schaubild 4: Gästezahlen der Vesperkirche 2009-2012 300 350 350 350 350 350 250 300 300 300 300 300 200 250 250 250 250 250 150 200 200 200 200 200 100 150 150 150 150 150 50 100 100 100 100 100 0 50Tag 1. 50 50 50 50 0 0 1.00Tag 1.0Tag 1. 1. Tag Tag 1. Tag Besucher 2009 Besucher 2010 Besucher 2011 Besucher 2012 Besucher 2009 Besucher 2009 Besucher 2010 2009 Besucher 2009 2010 Besucher 2009 2010 Besucher 2011 2010 Besucher 2011 Besucher 2010 2011 2012 Besucher 2011 Besucher 2011 2012 Besucher 2012 Besucher 2012 Besucher 2012 19 oder nix vergessen – wir sind alle Menschen“. „Wir sind alle Menschen.“ „Alles gleich. Alle miteinander.“ Interview 2, Frau Z.: „Egal welche Nationalität er ist oder so. (lacht laut) Das ist toll. Und ich iiich… hach (sucht nach Worten) ich bedanke auch von der evan gelischen Kirche, wo die diese alles Essen und Trinken von den Mensch machen die. Ich wün sche für die anderen Länder wo die gar nichts hatten, hier auch, gibt es auch [wie] in Deutsch land, die haben gar nichts.“ 3.2.2 Café Vesperkirche in Rottenburg 3. Tag 5. Tag 7. Tag 9. Tag 11. Tag 13. Tag 15. Tag 17. Tag 19. Tag 21. Tag 23. Tag 3. Tag 3. Tag 3. 3. Tag Tag 3. Tag 5. Tag 5. Tag 5. 5. Tag Tag 5. Tag 7. Tag 7. Tag 7. 7. Tag Tag 7. Tag 9. Tag 9. Tag 9. 9. Tag Tag 9. Tag 11. Tag 11. Tag 11. 11. Tag Tag 11. Tag 13. Tag 13. Tag 13. 13. Tag Tag 13. Tag 15. Tag 15. Tag 15. 15. Tag Tag 15. Tag 17. Tag 17. Tag 17. 17. Tag Tag 17. Tag 19. Tag 19. Tag 19. 19. Tag Tag 19. Tag 21. Tag 21. Tag 21. 21. Tag Tag 21. Tag 23. Tag 23. Tag 23. 23. Tag Tag 23. Tag Die Gesamtgästezahlen beliefen sich im Jahr 2009 auf 3046, im Jahr 2010 auf 3498, im Jahr 2011 auf 3772 und im Jahr 2012 auf 3657. Insgesamt ist den Verantwortlichen eine „Begegnung auf Augenhöhe“ wichtig – das Gegenüber spüren zu lassen, dass er oder sie als ein von Gott geliebter Mensch gesehen und angenommen und als solcher behandelt wird. Schön sind die vielen fröhlichen Ge sichter, das Lächeln und das Lachen. Ein Schüler drückte es so aus: „Es ist als ob lauter Fremde unter Freunden sitzen.“ Dass dies auch bei Menschen ankommt, die eher am Rande der Gesellschaft stehen und keine Idee und Erfahrung des „Gesehen-Werdens“ ha ben, zeigte sich in allen Interviews; in zwei Gesprächen wurde dies 6 mal betont: Interview A, Frau X.:„Ja, das für mich, ich finde das ganz gut. Ja, alles isch eigentlich, viele wissen zu schätzen das, ja, manchmal sagt man, ja ah, erste Jahr habe ich mich geschämt. Ja, da sind viele Bettler gewesen und so, aber irgendwann mal akzeptiert man, das sind auch Menschen, die brauchen auch nur genau wie wir und dann wir sind eigentlich diese Tage gleich, ja. Ich hab so gar meine Rechtsanwältin gesehen (lacht), da bei Vesper,“ „also, also das ist eine gute Sache, ja, das ist eine schöne Sache, …“ Interview C, Frau Y.:„Allerwichtigste – Wichtigste, das ist, dass sie macht immer mit den ausländischen Frau en eine große Sammlung, also äh, so wie die Finger im Hand, sie will, dass wir – wie heißt man – wir sind alle da und dass die auslän dische Frau nicht auf dem Seite liegen lassen Die Vesperkirche wird weitergeführt mit dem monatlichen Café Ves perkirche, am jeweils letzten Freitag im Monat von 15.00 – 17.00 Uhr. Eingeladen sind alle, die nicht allein, sondern in bunter Tischgemein schaft einen Nachmittag verbringen wollen, alle, die sich mit Kaffee und Kuchen verwöhnen lassen wollen und alle, die einen Tischnach barn zum Plaudern oder Kennenlernen suchen, oder die sich ihre Nöte, Sorgen und Probleme einmal von der Seele reden wollen. An fänglich kamen zu den einzelnen monatlichen Treffen bis zu 35 Leute, inzwischen hat es sich bei 12 bis 20 eingependelt. Es hat sich auch hier ein kleiner Stamm von Verantwortlichen gebildet, der Kuchen mitbringt, den Raum herrichtet, Kaffee macht und als Gesprächs partner anwesend ist. Eine Mitarbeiterin hat es so ausgedrückt: „Ich werde mein Ohr und mein Herz und einen Kuchen mitbringen“. Eine bunte Mischung von alten Menschen, Behinderten, Bedürftigen und Interessierten besucht den Nachmittag. Beziehungen sind unterei nander gewachsen, die über das monatliche Café hinausgehen.22 Netzwerke untereinander bieten kleine Hilfen an, Menschen besu chen sich – man hat Freunde gefunden.23 3.2.3 Sozialdiakonische Sprechstunde Parallel zum Café Vesperkirche bietet die Diakonin als Anlaufstel le und Erstkontakt von 15.00 – 18.00 Uhr eine Sozialdiakonische Sprechstunde an, die aber meist nur zur Terminvereinbarung genutzt wird. Die verschiedenen Personen, die in der Sprechstunde waren, kannten die Diakonin als vertrauenswürdige Gesprächspartnerin aus anderen Zusammenhängen ihres Dienstes, überwiegend aus der Vesperkirche. Allein aufgrund von Bekanntmachung des Termins für die Sozialdiakonische Sprechstunde in Tageszeitung, kommunalem oder kirchlichem Mitteilungsblatt kam niemand. 22 Bsp.: Ein älteres Ehepaar wurde zu „Großeltern“, indem es ein alleinerziehendes Elternteil mit dem Kind regelmäßig zum Essen und zu Unternehmungen einlädt. 23 Bsp. Netzwerke: Menschen bieten über die Diakonin befristete bezahlte Arbeit an. Bedürftige Gäste der Vesperkirche freuen sich über den möglichen kleinen Extraverdienst. 20 Tübingen Die Sprechstunde wird inzwischen sehr gut angenommen. Das dafür vorgesehene Zeitbudget einzuhalten ist schwierig, da die Sprechstunde als Anlaufstelle für Menschen in Notsituationen eingerichtet wurde, und Notsituationen selten terminiert werden können. Die Erfahrung zeigt, dass viele Klienten erst im sogenannten letzten Moment kommen. Dann heißt es: das Problem rasch angehen, Zeitlimits einhalten, Widerspruch erheben, Verträge kündigen, Teilzahlungen aushandeln, nach Geldmitteln suchen, Anträge an den diakonischen Fond der Rottenburger Kirchengemeinde stellen. Daher ist es für die Menschen wichtig, die Diakonin zeitnah zu ihren drängenden Fragestellungen zu erreichen, notfalls auch ohne Terminabsprache, wenn die Diakonin in ihrem Büro anzutreffen ist. Interview B, Frau A.:„Immer, wenn was Problem immer, manchmal ao ohne Termin komme ich.“ (kichert) Interview C, Frau B.: „Also, die hilft sehr. Frau X. hilft uns sehr. Also wenigstens bei Anruf macht sie sehr, also sie ist sehr fleißig. Oder Bewerbung bei Arbeit macht sie auch gern. Also auch wenn sie äh, wenigste kein Zeit, dann sie organisiert sofort ein Termin wegen Gespräch und dann – das wird auch.“ Interview A, Frau C: „oder egal, wenn ich Probleme habe, wenn ich brauch manchmal nur anzurufen oder auf Kassette zu sprechen, sie ruft mich dann zurück und sie fragt mich, wie geht‘ s mir. Und wer macht das? Keine macht das außer Frau X., sie macht das und vieles. Ja, und das ist nix nur, dass sie uns hilft so. Sie ist auch ein Person, wo man bereit ist zum Verstehen und heutzutage kann man nur bei einem Therapeut machen und das war´s, solange bist da, ist gut und nachher später isch vergessen schon und bei Frau X. ist ganz anders – ich kann jederzeit sie anrufen oder komm´ vorbei, oder egal, ob sie hat keine Zeit, sie nimmt für uns 20 Minuten oder ½ Stunde, und das ist mit keim Geld bezahlbar, ja, ich persönlich weiß zu schätzen das, ja.“ Es kommen Menschen mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen, Problemen und Sorgen, manche kommen immer wieder. Die Fälle sind ganz unterschiedlich, meist geht es zunächst um akute Not situationen. Dauerbesucherin ist z.B. eine bosnische Person, die von Kindheits- und Kriegserlebnissen traumatisiert ist, und die regelmä ßig von Krisensituationen im Familienumfeld befallen wird. Weiterhin kommen Menschen mit psychischen Schwierigkeiten, Arbeitslose, Menschen mit teils akuten finanziellen Notlagen oder Problemen, oft z.B. nach Jahresabrechnungen. Vermehrt kommen auch ausländische MitbürgerInnen. Nicht nur die interviewten Mitarbeitenden hatten Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen im Blick. Manch einer der Bedürftigen nutzte die Ermutigung zur Selbsthilfe in der Beratung und das Umsetzen von nötigen Schritten zur Lösung von eigenen Problemen auch für andere, die sie neben sich im Blick hatten. So geben diese sozialdiakonischen Angebote Raum zur Entfaltung von Selbsthilfepotenzialen für sich und zum Teil darüber hinaus auch für andere. Interview C, Frau Y.: „Also ich wollte gerne zu Bürgermeister nochmal abgeben, vielleicht kriegt sie nochmal eine Hilfe von ihm. Das möchte ich mit Frau X. nochmal mit reden. …. Ne, eigentlich nicht. Ich möchte Leute auch helfen, nicht nur die/ der kleine Z. in meine Weg – ich möchte auch Mensch helfen Menschen, also so möchte ich machen weiter.“ 24 Wir stellen fest, dass das oben genannte Ziel erreicht wurde. Menschen begegnen einander in den verschiedenen Angeboten, allen voran die Vesperkirche mit in der Regel 150 bis 200 Gästen, die dort an Leib und Seele gestärkt und genährt werden. Darüber hinaus wird deutlich, dass die weiteren, das Jahr über stattfindenden Angebote alltagsunterstützende Wirkung bei vielen hilfesuchenden Menschen haben. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass Zielerreichung hier kein „Zustand“ ist, der erhalten werden kann, sondern der sich im sozialdiakonischen Bemühen und im Wissen um das Ziel immer wieder neu ereignet. 3.3 Vernetzung Vernetzung gibt es in unterschiedlichster Form. Warum sie für unsere Arbeit so wichtig ist, wollen wir an zwei Beispielen aus unserer Arbeit zeigen. Einmal die inhaltliche Vernetzung vom Wort Gottes in Wort und Tat am Beispiel eines Vesperkirchengottesdienstes, zum anderen die Vernetzung einer Diakonin mit unterschiedlichsten Personen und Institutionen, die eine gute Grundlage für die diakonische Arbeit bildet und an vielen Stellen die Hilfe unterstützt. 3.3.1 Gottesdienst in der Vesperkirche Tübingen Bei der Vesperkirche 2012 verantwortete ein Diakon einen der Vesperkirchengottes dienste: Klassische Gemeinde trifft sich mit Randständigen zum Gottesdienst, und Menschen mit unterschied- 24 Frau Y. setzte sich für ein algerisches Kind mit Tumor ein, sammelte Nachthemden für ein Frauenhaus im Ausland und erbat sich eine alte Kaffeemaschine ebenfalls für ein Frauenhaus. Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk lichstem Hintergrund kommen zu Wort.25 Das Projektumfeld bot diese Möglichkeit auf einmalige Weise. Die Liturgie wurde bereichert durch den Tübinger Figuralchor. Der Predigttext aus Jeremia 9, 22-23, der für diesen Sonntag vorgesehen war, bot das ohnehin angesagte Thema wunderbar an: Gott will, dass allen Menschen Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit widerfahren soll. Die Predigt entstand auf dem Hintergrund der Erfahrungen, die in der Vesperkirche gemacht werden. Es geht um politische Verhältnisse – soziale Gerechtigkeit, Moral, Anstand, Sicherung des sozialen Friedens – damals wie heute. Schließlich ging es – und geht es auch heute – darum, Schwierige und Arme soweit irgend möglich zu integrieren, niemanden fallen zu lassen und Reichtum einzusetzen, um Armut zu bekämpfen. Im Gottesdienst kamen unterschiedlichste Menschen, die sich in der Vesperkirche begegnen, zu Wort. Zuerst erzählte eine Person, Junkie, im mittleren Alter, Gast der Vesperkirche: „Also, mein Herz bubbert jetzt schon ganz schön –. Ich war vor zwei Jahren das erste Mal hier.26 Das war gut, auch dass ich was tun konnte. Ich hab die Zettel verteilt.27 Hier kann man einfach herkommen, sich hinhocken und mit anderen schwätzen. Ich fühl mich wohl hier und bin auch jeden Tag da. Es ist gar nicht so einfach, jetzt hier was zu sagen... Ich guck´ auch draußen mal bisschen danach, dass die Kippen nicht so rumliegen und die Bierdeckel – das kann ich beitragen, was halt möglich ist. Ich wollt auch beim Aufbau helfen, eigentlich, aber das schaffe ich dann kräftemäßig nicht. Ja, ich bin einfach gern da, jeden Tag.“ Nach dem Gottesdienst sagte dieselbe Person zu einer Mitarbeiterin des Leitungsteams der Vesperkirche ganz staunend und fast beschämt: „Stell dir vor, mir haben jetzt mindestens zehn Leute die Hand gegeben! Und die haben gesagt, dass ich gut gesprochen habe und haben sich bedankt.“ Eine ehrenamtlich mitarbeitende Person des Leitungsteams äußerte: „Wir haben zu Beginn des Gottesdienstes gesungen: ‚Gott ist gegenwärtig‘ – dieses Lied begleitet mich seit meiner Kindheit. Gott ist gegenwärtig – im Gottesdienst und in vielen Bereichen unseres Lebens; er ist gegenwärtig. Die Art der Gegenwart Gottes hier in der Vesperkirche hat mich zunächst überrascht. Er zeigt sich uns immer wieder und ist für alle Menschen da! 25 Schon im Projektantrag gab es einen Hinweis auf einen Gottesdienst, den Arbeitslose gestalteten zum Thema „Erntedank – wofür WIR danken“. Hier wurde versucht, betroffene Menschen, wie im Antrag beschrieben, zu aktivieren. Dort heißt es u.a., „dass Menschen, die an den Rand der Gesellschaft geraten sind, befähigt werden sollen, ihr Leben aktiv in die Hand zu nehmen und es zu gestalten“. Dies geschieht auch in Form von öffentlichem Auftreten, in dem ihre Situation dargelegt und reflektiert wird. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde verlangt das Eintreten der Gemeinde Jesu Christi in Wort und Tat für eine entsprechende politische und soziale Gestaltung des Gemeinwesens, in dem sie lebt. 26 Gemeint ist der Besuch der Vesperkirche. 27 Die Person hat im Vorfeld der Vesperkirche Einladungshandzettel an Plätzen verteilt, an denen sich Junkies, Obdachlose und alkoholabhängige Menschen aufhalten, da sie zu dieser Personengruppe gehört und unmittelbar Zugang hat. 21 Ein Gast sagte vor einigen Tagen zu mir: ‚Ich schäme mich so, wenn mich jemand am Tisch fragt: Was tust du denn? Warum bist du hier? Ich geb mir richtig Mühe, dass mich niemand [als bedürftig] erkennt!‘ Ich hab darauf geantwortet: ‚Und ich schäme mich dafür, dass du dich schämen musst!‘ Ich denke während der Vesperkirche oft an ein Lied, das wir früher in unserer Jugendgruppe gesungen haben: ‚Besser sind wir nicht, aber besser sind wir dran ... Jesus macht uns frei ... fängt neu mit uns an.‘ Es macht einfach Freude, genau davon hier etwas weiter zu geben! Gott ist gegenwärtig – das spürt man hier immer wieder!“ Eine weitere ehrenamtlich mitarbeitende Person, ca. 50 Jahre und wegen Erwerbsunfähigkeit verrentet, berichtete: „Es war vor 2 Jahren: die erste Vesperkirche in Tübingen, die erste Woche, am Donnerstag. Es gab eine süße Hauptspeise – das ist nicht jedermanns Geschmack – bis heute. Die Gäste meckern nicht, aber manche murren. Ich habe die Ehre, an einem Tisch zu servieren, an dem Menschen sitzen, die man wohl als „harte Junkies“ bezeichnen kann. Menschen, die ganz unten angekommen sind: verhärtet, sehr rauhe Umgangsformen, schmutzig, verhärmt – halt ganz unten. Ich serviere Grießbrei mit Kirschen. Meine Gäste haben Tränen in den Augen, sie schlucken schwer, haben einen dicken Kloß im Hals – nicht aus Ärger, sondern weil sie die Situation berührt. Beim Abservieren nimmt ein Gast meine Hand, hält sie über 10 Minuten und heult wie ein Schlosshund. Der Ausdruck in diesen Gesichtern – das ist für mich das Bild von Vesperkirche geworden. Ich hätte nie gedacht, was ein Teller Grießbrei mit Kirschen in einem Menschen auslösen kann. Und ich bin ins Nachdenken über diese Menschen gekommen: Ein Teller Grießbrei – etwas, was diese Menschen Jahre, ja nahezu Jahrzehnte nicht mehr bekommen haben. Für viele von ihnen vielleicht eine der wenigen positiven Erfahrungen ihrer Kindheit; eine freudlose Kindheit, der ein freudloses Erwachsenendasein folgt. Menschen, die 20mal und mehr am Tage irgendwo verjagt werden, weil sie die bür gerliche Idylle stören; die überdies 5mal von der Polizei ein Platz verbot bekommen. Die Würde – abgesprochen von den Bürgern und selbst abgegeben bei der nächsten Jagd nach der nächsten Droge. Und wenn sich diese Menschen an einen schön gedeckten Tisch setzen, freundlich von jemandem gefragt werden, ob sie zunächst eine Suppe möchten oder sofort das Hauptgericht. Und das alles ohne Bedingung – kein ‚sei erst so oder so, dann kriegst du auch – vielleicht – etwas‘. Menschen zu zeigen, welche Würde sie haben, welch würdige Behandlung ihnen zusteht – ist das wirklich ‚unpolitisch‘? Nur eines macht mich traurig: Warum ist die Vesperkirche etwas Besonderes? Hier gehen Menschen doch ‚nur‘ so miteinander um, wie es eigentlich immer und überall sein sollte.“ 22 Tübingen Aus den sehr persönlichen Beiträgen wird deutlich, dass die Vesperkirche als etwas Warmes, Wohltuendes erlebt wird, in der das Wohlbefinden des Einzelnen wie auch das Ermöglichen von Gemein schaft auf Zeit in einem atmosphärisch schön gestalteten Rahmen im Mittelpunkt stehen. So kann viel zwischenmenschliche Begegnung stattfinden wie auch eine Stärkung an Leib und Seele bei den Gästen, den ehrenamtlich Mitarbeitenden wie auch den Mitgliedern des Leitungsteams. Alle sind willkommen und werden so behandelt, dass sie sich wahrgenommen und sehr ernst genommen fühlen. Das Wie des Erlebens der Vesperkirche war so in diesem Gottesdienst präsent. Nach dem Gottesdienst wurden verschiedene BesucherInnen befragt nach ihren Erwartungen und Eindrücken: „Ich hatte keine Erwartungen an den Gottesdienst gehabt – ich war einfach nur neugierig, weil wir ja wussten vom Chor, dass es kein „alltäglicher“ Gottesdienst sein wird. Die Atmosphäre hat mir unheimlich gut gefallen. Das fand ich sehr beeindruckend. Es war spürbar, dass es bei der Vesperkirche ein besonderes Miteinander gibt zwischen den Mitarbeitenden, euch Hauptamtlichen und den Gästen. Ich habe mich sehr wohlgefühlt und freue mich, dass wir vom Chor die Vesperkirche mit unserem Gesang bereichern konnten.“ (Mitglied des Figuralchors) „Den Gottesdienst erlebte ich als stimmigen, ernsten und ermutigenden Gottesdienst. Die Sprache und das Auftreten von Diakon H. war für mich ansprechend, glaubwürdig und natürlich, nicht anbiedernd locker oder so. Das Besondere an dem Gottesdienst war der intensive Bezug zur Vesperkirche und die Einbeziehung der Menschen, die in der Vesperkirche sind. Es traten Menschen vor die Gemeinde, die ich sonst kaum oder nicht in einem Gottesdienst wahrnehme. Besonders berührt hat mich das Fürbittengebet, da es vieles aufnahm, was vorher angesprochen wurde“. (Person, die den Gottesdienst mitgestaltet hat – schriftlich auf Bitte) „Also, wenn der Mann das mit dem „gleich viel wert“ wirklich so gesagt hat, dann finde ich das phänomenal!“ (PfarrerIn im Ruhestand über ein Zitat aus der Predigt bezüglich eines Obdachlosen) Die Äußerungen zeigen, dass diese Menschen den Gottesdienst als etwas Gemeinschaftliches erlebten. Besonders beeindruckt hat die durch Liturgie, Predigt und verschiedene Beiträge des Gottesdienstes ermöglichte Begegnung mit Gefühlen, Erlebnissen und Ansichten von Menschen aus einem anderen sozialen Umfeld. So wurde kein Gefälle empfunden zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet, sozial schwach und gut situiert. Im Gegenteil, die Unterschiedlichkeit der Anwesenden und das im Rahmen dieses besonderen Gottesdienstes ermöglichte Erleben von Menschen, die im eigenen Lebensumfeld eher weniger vorkommen, wurde als Bereicherung erlebt. Daraus schließen wir, dass eine Kerngemeinde mit randständigeren Menschen in guter Weise gemeinsam Gottesdienst feiern kann. Des Weiteren gab eine ehrenamtlich mitarbeitende Person katholischen Glaubens, die in der evangelischen Gemeinde beheimatet ist, Rückmeldung zur Rolle des Diakons als Verantwortlicher eines Gottesdienstes: „Bin katholisch aufgewachsen, dachte, ein Diakon sei eine Stufe auf dem Weg zum Priesteramt. Heute sehe ich, dass Diakon zu sein einen eigenständigen Beruf mit einem eigenen Aufgabenfeld und besonderen Begegnungsmöglichkeiten darstellt. Ich erlebe H. seit 3 Jahren in der Vesperkirche. Die Texte, die Predigt und die besondere Gestaltung des Abendmahlsgottesdienstes haben mich sehr angesprochen und es hat mich sehr berührt, dass ein Junkie, der nach seinen eigenen Worten noch nie vor so vielen Leuten und nie in einem Kirchenraum gesprochen hatte, aus seinem Leben und von seinen Gefühlen hier erzählte. Auch die Hinführung und die Einbindung weiterer Betroffener in den Gottesdienst war natürlich. Die Gemeinschaft und die Mahlgemeinschaft aller in diesem Gottesdienst erlebte ich als etwas Selbstverständliches. So kann der Diakon arbeitsteilig zum Pfarrer heute die Aufgaben erfüllen, zu denen er in der Urkirche berufen wurde.“ Diese mitarbeitende Person erlebte den Diakon als einen kompetenten Liturgiker, der aufgrund seiner beruflichen Identifikation als Diakon teils intuitiv, teils wohlüberlegt sozialdiakonische Arbeit gut mit gottesdienstlicher Verantwortung zu verknüpfen weiß. In dieser Weise diakonisch tätig zu sein stellt seiner Ansicht nach eine direkte und positive Verbindung zur christlichen Lebens- und Arbeitsweise der Urkirche her. In seinen Augen werden so genuin christliche Aufgaben erfüllt. 3.3.2 Vernetzung im Distrikt Oberes Neckartal Kirchengemeinden und gemeindediakonische Angebote sind vernetzt mit solchen Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen im innerkirchlichen und außerkirchlichen Bereich, die im Sinne nachhaltig wirksamer Unterstützungsstrukturen für Menschen in Not relevant erscheinen Strukturelle Vernetzung ist eine wichtige Grundlage diakonischer Arbeit, insbesondere, wenn es um vielfältige Hilfen für Menschen in ganz unterschiedlichen Nöten geht. Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk 23 Wir zeigen dies am Beispiel der Diakonin im Oberen Neckartal. Vernetzungsskizze28 Diakoniebeauftragte und PfarrerInnen im Distrikt Ausländerbehörde Kommune Rathaus, Oberbürgermeister, Sekretärin Restgelder für Weihnachtszuwendungen Rathaus Pflegestützpunkt Bürgermentoren, Ehrenamt, Migration Demenz Oase Rathaus Unterschlupf Unterbringungen Büro für Soziales Evangelisches Diakonat Alkoholproblematik Ordnungsamt / Polizei Distrikt Oberes Neckartal Diakonisches Werk Tübingen Sozial- und Lebensberatung, Gesundheit; Alter, Pflege; Gemeindediakonat Kath. Kirchengemeinden St. Martin (Dom) + Diakon Morizles Kleiderkiste Rottenburger Tafel Secondhand für Kinder Mokka Hausaufgabenhilfe für Frauen mit Migrationshintergrund 28 Die Vernetzung wird aus Sicht der Diakonin dargestellt. Vielfältige weitere Beziehungen untereinander werden hier nicht berücksichtigt. Intro Gebrauchtwarenladen 24 Tübingen Seit Projektbeginn wurden viele Beziehungen zu Institutionen und Personen im kirchlichen und kommunalen Bereich geknüpft oder erweitert – Hilfesuchende profitieren erheblich davon; dies wird in Bezug über die sozialdiakonische Sprechstunde an vielen Stellen deutlich: Dort ist es sehr hilfreich für die Klientel, eine Person mit einem guten Stand in der Kirchengemeinde zu haben29, die auch im Gemeinwesen gut vernetzt ist. Die Vernetzung mit den Fachleuten vom Diakonischen Werk Tübingen unterstützt in fachlichen Fragen, genauso das Asylzentrum in Tübingen. Vor Ort ist für die praktische Arbeit insbesondere die Vernetzung mit dem katholischen Stadtdiakon, der Notunterkunft der OASE, den Sozialarbeiterinnen des Bürgerbüros für Soziales und dem Rathaus im Vordergrund. Als Geldgeber ist der Oberbürgermeister sehr wichtig.30 Die verschiedenen sozialen Angebote31 haben für die Besuchenden eine hohe Bedeutung. Interview A Frau S.: „Wir ältere Frauen haben keine kleine Kinder mehr, dass man sie setzen zusammen und dass man vielleicht ein-zwei Stunde miteinander reden, ja, dass man diese, äh, Treff – stattfinden kann. Ja. Das isch, ich weiß, bei der beispielweise, wo man Vesper haben, des sind so viele Frauen. Ich hab manchmal stundenlang gesetzen mit verschiedene Frauen, wo ich habe nie im Leben gesehen habe, und das hat mir gut getan. Mich besonders – ich bin sicher, dass viele Frauen finden so.“ Aus den Feldnotizen der Diakonin wird an einem weiteren Beispiel deutlich, dass beim Wohnungsverlust von Person W. mit den VernetzungspartnerInnen kurzfristig und erfolgreich eine gute Übergangslösung gefunden werden konnte: In Absprache mit Person M. von der „Oase“ konnte eine kleine Wohnung als Notunterkunft belegt werden. Ein leer stehendes Haus der kommunalen Gemeinde wurde besichtigt zur Unterstellung der Möbel und des Hausrats von Person W. Mit „trockenen Alkoholikern“ der Oase wurde die Ausräumung der gekündigten Wohnung geplant und vom diakonischen Werk in Tübingen wurde ein finanzieller Zuschuss für diese Helfer organisiert. Im kirchlichen Bereich hat sich der Kontakt in den Distrikt hinein gut entwickelt, zum einen bei regionalen Treffen in den einzelnen Gemeinden mit PfarrerInnen und Diakoniebeauftragten und zum anderen durch die Teilnahme an den PfarrerInnen-Dienstbesprechungen im Distrikt. Im kommunalen Bereich sind vielfältige Kontakte entstanden. So wurden die SozialberaterInnen der Stadt in die Vesperkir29 Es ist inzwischen Tradition geworden, dass von der Diakonin eingeladene Bedürftige sich die Erntedankgaben des Erntedankfestes teilen dürfen. 30 Seit mehreren Jahren werden die Kassenrestgelder des Oberbürgermeisters als Weihnachtzuwendungen an verschiedene Bedürftige nach Vorschlägen der Diakonin verschenkt. Das sind immer wieder überraschende Glücksmomente der Klienten, die sie immer wieder erzählen. In 2012 bekamen Asylbewerber Freikarten fürs Freibad. 31 Dazu gehört auch das von der Diakonin verantwortete Internationale Frauencafé, welches monatlich stattfindet. Es wird von 8-15 Frauen mit ganz unterschiedlichem Migrationshintergrund besucht. che 2012 eingeladen, um ihre Beratungen dort vor Ort zu machen. Zum einen waren die SozialarbeiterInnen sehr beeindruckt von der kirchlichen Arbeit, zum anderen äußerten sie: „Das, was wir hier von unseren, oft denselben Klientinnen und Klienten erfahren, erzählen sie uns auf dem Rathaus nicht“. Und ein weiterer Effekt – im vertrauten Milieu der Vesperkirche taten manche ihren ersten Schritt zu einer Hilfeanfrage. Für die gemeindediakonische Beratungsarbeit ist es äußerst hilfreich, die Menschen zu kennen, die die verschiedensten Hilfeleistungen anbieten. So können Hilfsbedürftige sehr gezielt weiterverwiesen werden, z.B. im Bereich für Familien mit Kindern zu „Mokka“ und den dortigen Angeboten für soziale Gruppenarbeit oder Hausaufga benbetreuung. Auch ist es wichtig zu wissen, dass „Morizles Kleiderkiste“ nicht einfach nur ein Secondhand-Laden ist, sondern auch Sprachkurse und Eltern-Kind-Aktivitäten anbietet. Kontakte zur Kleiderkammer der Oase oder zum Tafelladen, sowie zum Gebrauchtwarenladen Intro ermöglichen in akuten Krisen und Notfällen, schnell und unbürokratisch Hilfe zu bekommen. Für Ältere hat sich der Kontakt zum Pflegestützpunkt bewährt, der vorübergehende Pflege anbahnen konnte. Auch im Bereich der Migration gibt es durch eine gute Vernetzung positive Entwicklungen: Die Bekanntheit der Diakonin führte bei ihrem Klientel zu schnelleren Einreisegenehmigungen von Seiten der Ausländerbehörde. Auf Anregen der Diakonin ließen sich Migrantinnen zur Ausbildung als Bürgermentorin ermutigen, was wiederum zur Folge hat, dass die Stadt verstärkt in der Migrationsarbeit aktiv wird. So werden Migrantinnen selbstbewusster und gehen ohne Berührungsängste und unabhängig von ihrer Religion in Kirche und Gemeindehaus ein und aus. Jährlich finden zwei Treffen mit den Diakoniebeauftragten des Distrikts Oberes Neckartal in Rottenburg statt neben den beiden Gesamttreffen in Tübingen. Die Distriktstreffen mit 4 - 6 (von 11) Diako niebeauftragten sind klein, aber sehr anregend. Ideen und Möglichkeiten werden untereinander ausgetauscht und es wird einander Mut für die Aufgabe gemacht. Wir machten auch die gute Erfahrung, dass manche Ideen geradezu ansteckend wirken. Viele Menschen aus dem Distrikt sind an der Vesperkirche beteiligt. Die Kontakte und das Wissen voneinander verstärken sich. In den lokalen Gemeindebriefen vor Weihnachten kann das Projekt „Diakonisch wahrnehmen und handeln“ mit unterschiedlichen Aspekten oder Anliegen veröffentlicht werden. Die Erarbeitung des Flyers „Wir sind für Sie da!“32 mit Hilfsangeboten im Distrikt für Menschen in Not wurde in einigen Distriktskirchengemeinden dem Gemeindebrief beigelegt. Diese Flyer dienen auch den Diakoniebeauftragten zur eigenen Information wie auch zum Weitergeben. 32 Ein solcher Flyer wurde von allen Projektleitungen für den eigenen Distrikt erstellt und verteilt. Diakonische Gemeindearbeit im Kirchenbezirk Insgesamt wird deutlich, dass die hier gelebte Vernetzung in vielfältiger Weise mit Leben erfüllt wird und den Hilfesuchenden zugute kommt. 4. Aussichten und Dank Das landeskirchliche Projekt „Diakonat – neu gedacht, neu gelebt“, bei uns als Projekt „Diakonisch wahrnehmen und handeln – einladendes, gelebtes Evangelium“ ausgeführt, hat uns weiter geführt auf dem Weg, diakonisches Wahrnehmen und Handeln Bestandteil des Gemeindelebens werden zu lassen. Diesen Weg möchten wir auch in Zukunft weitergehen. Wir haben dabei festgestellt: Dies braucht mehr Zeit als gedacht, und wir müssen bereit sein, unsere anfänglichen Vorstellungen den im Laufe der Zeit erkannten Wünschen unserer Ehrenamtlichen anzupassen. Beziehungen müssen wachsen. Vertrauen zu Menschen in unterschiedlichsten Nöten muss aufgebaut werden, damit Schamgrenzen überwunden werden können und Menschen sich in ihrem So-Sein und Gewordensein angenommen fühlen, dass sie spüren, dass gerade sie willkommen sind. Gemeinden auf diesem Weg zu begleiten und für Menschen in Not Anlaufstation wie auch Schlüsselperson für konkrete Unterstützungsbedarfe zu sein ist eine auf Diakone und ihr Kompetenzprofil zugeschnittene Aufgabe. Dieser Aufgabe kommen wir als Diakoninnen und Diakone gerne nach und hoffen, dass Rahmenbedingungen weiterhin so festgelegt werden, dass wir sie auch in Zukunft ausführen können. An dieser Stelle danken wir daher allen, die dieses landeskirchliche Projekt initiiert und ermöglicht haben wie auch den Verantwortlichen unseres Kirchenbezirks, die es unterstützt und mitgetragen haben. Anhang 1:Alle sind eingeladen! Beim Gespräch verweilen und das Essen teilen. Seit Februar 2012 gibt es im evangelischen Gemeindehaus in Dußlingen unter dem obengenannten Motto einen monatlichen Mittagstisch. Der Kirchengemeinderat unterstützt das Angebot – es wurde vorab einstimmig beschlossen und das Gemeindehaus wie auch 300.- € dafür zur Verfügung gestellt. In gegenseitiger Übereinstim mung wird kein Essensgeld verlangt, es stehen am Ausgang lediglich Spendenkässchen. Von Beginn an wurde der Mittagstisch von der Bevölkerung angenommen. Zum ersten Mal kamen gleich 25 fröhliche Mittagesser, die sich beim Essen begegnen konnten. Im Schnitt kommen in der Zwischenzeit 35 bis 40 Esser zum Mittagessen. Von Anfang an waren Mütter mit ihren Kindern genauso dabei wie die Menschen aus einer Einrichtung der Behindertenhilfe. Diese Menschen sind insbesondere über die Begegnung und die Gespräche dankbar, sind sie doch sonst im Dorf nur 25 wenig integriert. Hier bekommen sie die Möglichkeit, mit anderen aus dem Dorf zusammenzukommen und sich so bekannt zu machen. In der Zwischenzeit haben sich auch die Kinderkrippe mit ihren Erzieherinnen und Menschen aus dem betreuten Wohnen dazugesellt. Besonders auffallend ist die Tatsache, dass diejenigen Menschen, für die dieses Angebot ursprünglich gedacht war, nämlich Menschen mit einem prekären und meist auch mit einem Migrationshintergrund sich jetzt auch trauen und nicht nur beim Essen dabei sind, sondern sich nachher auch gerne beim Aufräumen einreihen und so mit den MitarbeiterInnen ins Gespräch kommen. Eine Begegnung macht mir persönlich sehr große Freude: Es ist eine Person, die im betreuten Wohnen lebt und kein Essen verpasst. Es ist erstaunlich, wie bewegt so ein Leben sein kann – die Person war beruflich in der ganzen Welt eingesetzt. Weil sie mehrere Sprachen spricht, bildete die Person andere in Sprachen fort. Natürlich finde ich es auch wichtig, mit dieser Person in ihrer Muttersprache zu reden, weil es sonst keine Möglichkeit für diesen Menschen gibt seine Sprach-Kenntnisse anzuwenden. Schön ist auch, dass beim letzten Essen ein Mann kam, der vor einem Jahr sehr schnell seine Frau verlor. Trotz seiner eigentlich nahen Anbindung an die Kirchengemeinde brauchte es ein Jahr, bis er wieder Kontakt suchte und ihn beim Essen fand. Er wurde von den Müttern mit ihren Kindern gleich in Beschlag genommen und freute sich sichtlich darüber. Wichtig zu erwähnen ist auch, dass eine finanzielle Solidarität selbstverständlich geworden ist. Denn es kommen Menschen aus Dußlingen und darüber hinaus, die das Essen durch ihren freiwilligen Beitrag stützen und tragen. Im Februar feiern wir dann das einjährige Jubiläum. Die vier ehrenamtlichen MitarbeiterInnen freuen sich schon jetzt, an diesem Tag etwas Besonderes zu kochen. Diakon Fritz Steinhilber Anhang 2: Ein Diakon berichtet von Begegnung und Begleitung im Rahmen des Projekts Es begann so: Im Lehrerzimmer in der großen Pause erfuhr ich von einem überaus schwierigen Kind. Es mache Probleme, wie sie an dieser Schule in Jahrzehnten nicht erlebt wurden. Schon bald nach der Einschulung 2011 fing es an: Das Kind lief im Klassenzimmer umher, nahm anderen Kindern ihre Mäppchen weg, trat und schlug Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Lehrerin mit Händen und Füßen. Immer wieder musste die Rektorin zu Hilfe geholt werden. Im August 2012 kam das Kind dann nach Mariaberg zur Beobachtung und Therapie. Dort wurde es im Dezember wieder entlassen. Jetzt muss es regelmäßig Medikamente nehmen und darf am Unterricht nur beschränkt teilnehmen, von der 1. bis zur 4. Stunde. 26 Tübingen Ich besuche die Familie in unregelmäßigen Abständen seit Dezember 2011. Man zeigte mir beim letzten Besuch das Schreiben vom Oberschulamt. Es wird angestrebt, dass das Kind eine Schulbegleitung bekommt, doch bis zur Umsetzung dauert es, und dies geht zu Lasten des Kindes und der Familie. „Ich habe hier gearbeitet und es hat sehr viel Spaß gemacht. Nun komme ich öfter zum Essen und finde es immer noch gut. Danke. Seit Advent 2011 kommt ein Elternteil der Familie ins BegegnungsKaffee. Dessen Deutschkenntnisse sind seither wesentlich besser geworden. Die Familie lebt von Hartz IV, und die Person kann immer noch nur auf Abruf in einer Pizzeria etwas dazu verdienen. Leider hat der andere Elternteil eine angebotene Arbeit nicht angenommen. Nach meinem Eindruck möchte dieser Elternteil bislang noch keiner geregelten Arbeit nachgehen, um den Großvater in einem Altenheim im Heimatland besuchen zu können. Außerdem machte dieser Elternteil den Hauptschulabschluss nach und bevorzugt daher derzeit kurzfristige kleinere Erwerbseinsätze. Mehrmals äußerte die Person mir gegenüber, dass es ihr zunächst wichtig sei, dass der andere Elternteil eine geregelte Arbeit habe, um später eine Rente zu bekommen. In der Familie gibt es zwei Kinder: ein Kleinkind aus der jetzigen zweiten Ehe und das erwähnte Grundschulkind. Über den Bürgermeister bekam ich Geschenkgutscheine für Kinder in bedürftigen Familien. Beim Begegnungs-Kaffee im Advent half ich dem Elternteil beim Ausfüllen der beiden Geschenkgutscheine. Bis dahin hatte die Person das kleine Kind immer dabei gehabt, was nicht immer einfach war. Beim letzten Begegnungs-Kaffee hatte ich nun den Eindruck, dass die Person entspannter sein konnte, weil das jüngere Kind nun im Kindergarten ist. Die Person konnte so länger mit einer Mitarbeiterin sprechen und ihr Herz ausschütten. Diakon Joachim Pfeifer „Es ist so schön, eine (kleine) große runde warme menschliche Insel am Tag zu haben, Gesellschaft und Gespräch, gemeinsames Essen, Menschen, die mich – so freundlich und zugeneigt – versorgen… endlich mal wenigstens 3 Wochen im Jahr, wo ich frei von der Sorge ums tägliche Mittagessen bin; einfach herkommen, so (erschöpft) wie ich bin und menschliche Nahrung empfangen, aufnehmen wie ein trockener Ackerboden den lange ersehnten, lange vermissten Regen…und wieder hinausziehen, um mit dieser Kraft selber zu sorgen, zu versorgen, weiterzugeben… Vergelt’s Euch allen Gott! Voller Dankbarkeit für Euren Einsatz!“ Anhang 3: Einträge aus dem Vesperkirchen-Gästebuch in Tübingen „Dank von Herzen! In das Bild dieser, einer Menschenfamilie, tauche ich immer gerne ein – und komm‘ als ganzer Mensch genährt wieder „an die Oberfläche“ … trage das Bild, so weit wie mir möglich, unter die Menschen auch nach „draußen“, auf dass es Kreise ziehe. Freue mich aufs nächste Jahr!“ „Herzlichen Dank für die gute Gastfreundschaft. Mal sehen, ob es nächstes Jahr genauso gut wird. (Besser geht es ja nicht).“ Literaturverzeichnis: Diakoniegesetz der Württembergischen Landeskirche. Verfügbar unter: http://www.diakonie-wuerttemberg.de/fileadmin/Medien/ pdf/Diakoniegesetz.pdf (15.01.2013). Sozialraumanalysen der Distrikte Steinlachtal und Unteres Neckartal (2009). 27 „Eine Chance für Kinder“– Hilfe für Familien mit Kindern in Armutslagen und prekären Situationen Bericht 2: Schwenningen Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen Barbara Kuchel-Müller Projektort: Schwenningen Projektträger: Evangelische Kirchengemeinde / Diakonie Schwenningen Projektstelleninhaberin: Diakonin Barbara Kuchel-Müller 28 Schwenningen 1. Die Projektidee In der Vesperkirchenarbeit der evangelischen Kirchengemeinde Schwenningen fällt auf, dass insbesondere das Angebot der 4-wöchigen Vesperkirche vermehrt auch von Familien mit Kindern genutzt wird. Durch die andere diakonische Arbeit der Gemeinde, wie zum Beispiel der diakonischen Beratungsstelle und auch des Diakonieladens, wird dieser Eindruck vielfältig bestätigt. So entstand 2008 der Wunsch nach einem speziellen Angebot der Diakonie für Familien mit Kindern in Armut und prekären Situationen. Durch die Veränderung und das Anwachsen der gesellschaftlichen Herausforderung braucht es eine besondere zukunftsweisende Wahrnehmung des diakonisch-missionarischen Auftrages der Kirche. Die bisher vorherrschende Komm-Struktur von Diakonie und Kirche/Kirchengemeinde soll dabei durch eine gezielte und von der Kirchengemeinde Schwenningen und ihrer Diakonie bereits gemeinsam begonnenen Geh-Struktur ergänzt und weiter entwickelt werden. Die Mission im Projekt besteht darin, dass besonders Familien mit Kindern, die in Armut und prekären Verhältnissen leben, nicht nur eingeladen werden, kirchliche und diakonische Angebote zu nutzen, sondern dass sie gezielt aufgesucht werden und eine Begegnung dort stattfindet, wo sie leben und zu Hause sind. In diesem Rahmen werden die besonderen Bedingungen geschaffen, die eine wirkliche „Leib- und Seelsorge“, die ja Diakonie im Eigentlichen ausmacht, ermöglichen. Hier setzt das Projekt direkt bei Johann Hinrich Wichern an, der in seiner berühmten Stehgreifrede genau dieses einforderte: Wir müssen hingehen, nicht warten, bis sie von selbst kommen.33 Bei dem Projekt verbessert die Kirchengemeinde und die Diakonie nicht ihre Event-Kultur, um im Wettbewerb anderer Anbieter zu bestehen, sondern sucht gezielt Menschen auf, die das Evangelium mit seiner Option für die Armen (Mt.25) im Blick hat. Das Projekt greift damit die vielfältigen Erfahrungen vieler Institutionen auf, dass Familien mit Kindern durch Angebote präventiver, beratender oder alltagsbezogener Art nicht oder kaum erreicht werden, obwohl gerade sie es sind, die diese Angebote am meisten benötigen. Oft ist der Zugang eben mühsam und mit hohen Hürden behaftet oder in dem Dschungel der vielfältigen Informationen nicht transparent, als dass hier wirklich eine Hilfe gegeben ist. Das Projekt setzt auch die in den Begegnungen mit den Menschen in der Schwenninger Vesperkirche vorliegenden Erfahrungen fort, dass die Menschen den Raum und die Nähe der Kirchengemeinde suchen, wenn besonders Begegnung auf gleicher Augenhöhe und im gegenseitigen Respekt der unterschiedlichen Lebensformen erfolgt und nicht notwendigerweise eine Anpassung eingefordert wird. Hierbei sollen nicht das Auffüllen oder Beseitigen eines Defizits vorherrschend sein, sondern auch die vorhandenen Ressourcen der Familien in den Blick genommen werden. Dies hat ganz viel mit Ermutigung und Würde zu tun, was dem oftmals vorhandenen Gefühl von Scham, Resignation und Wertlosigkeit in den Familien entgegenwirkt. 33 Wichern [1848] 1962. Dabei stehen weder die aufsuchende Diakonin, noch die Eltern oder die Kinder unter der Anforderung der Rechtfertigung oder der erzwungenen Veränderung. Gemeinsamkeiten, Belastungen, Benachteiligungen und Schwierigkeiten wahrzunehmen und auch gemeinsam nach Lösungen zu suchen und Lösungswege zu beschreiten ist das Ergebnis eines fortlaufenden, vertrauensvollen und begleitenden Prozesses. 1.1 Das Konzept und die Umsetzung des Projekts Im Projekt ist angedacht, eine präventive und niederschwellige Arbeit zu initiieren. Aus diesen Überlegungen heraus entwickelten sich 4 Säulen, die den Rahmen des Projekts bilden: Die Institutionalisierung von einer niederschwelligen Beratungsstruktur an evangelischen Kindertageseinrichtungen im Sinne einer Erziehungsberatung, Lebensberatung, Seelsorge und sozial-rechtlichen Beratung. Dabei sollen Möglichkeiten einer Weiterentwicklung (exemplarisch) zu einem Familienbildungszentrum überprüft und angedacht werden. Die aufsuchende Gehstruktur in Form von Hausbesuchen und das Aufbauen einer vertrauensvollen Beziehung mit den Familien durch die Diakonin. Das Aufbauen einer ehrenamtlichen und unterstützenden Arbeit in Form eines Familienpatenmodells. Das Knüpfen von tragbaren sozialen und helfenden Netzen unter Einbeziehung der vorhandenen Hilfesysteme. Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Kirchengemeinde für das Thema. Im Projekt ist die Diakonin direkt und vor Ort in den Familien im Einsatz. Dabei wird großes Gewicht auf die Gehstruktur im Gegensatz zu einer Kommstruktur gelegt, die in den gängigen Hilfesystemen sowohl der Kommune als auch der Kirche üblich ist. Die Diakonin, die durch die regelmäßigen Besuche eine Vertrauensbeziehung zu den Familien aufbaut, unterstützt diese bei den Zugängen zu vorhandenen Hilfesystemen, durch beratende Gespräche, durch Begleitung und Information. Dabei sollen tragfähige Hilfsnetzwerke aufgebaut werden. Eine Unterstützung ist auch im Bereich der Seelsorge erwünscht. Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen Dabei nimmt sie die rechtlichen, sozialen und religiösen Dimensionen in den Blick. Eine besondere Herausforderung des Projekts ist, den frühen Zugang zu Familien zu finden, die durch die Lücken im Hilfesystem fallen, über Informationen nicht verfügen, oder sich selbst nicht aufmachen, Hilfe zu suchen. Die Kontaktaufnahme und die Unterstützung der Familien wird durch eine enge Zusammenarbeit mit den kirchlichen Kindergärten unterstützt, in denen besonders Familien aus der Zielgruppe präsent sind. Diese Kindergärten wurden zu Beginn des Projekts durch die Sozialraumanalyse ermittelt. Eine regelmäßige Präsenz der Diakonin in den Kindergärten ist dabei von Vorteil. Des Weiteren wird unter der Begleitung und Schulung durch die Diakonin eine ehrenamtliche Arbeit initiiert, in der ehrenamtliche Paten und Patinnen in den Familien zum Einsatz kommen. Dies soll vor allem die vielfältige Arbeit der Diakonin unterstützen, aber auch dazu beitragen, Grenzen zwischen den Milieus zu überwinden und gegenseitiges Verständnis sowie das Entdecken der eigenen Ressourcen, die in den Familien noch vorhanden sind, zu fördern. Auch soll hierbei eine Resilienzstärkung der Kinder stattfinden. Die Arbeit des Projekts, sowie die daraus resultierenden Erfahrungen sollen sowohl der evangelischen Kirchengemeinde für ihr diakonisches Selbstverständnis, als auch der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um einen Sensibilisierungsprozess für das Thema zu befördern. Es geht ebenfalls darum, den Inhalt des diakonisch-missionarischen Auftrages der Kirche neu zu untersuchen und zu überprüfen, wie in diesem Auftrag die Familien am Rande der Gesellschaft erreicht werden können. 1.2 Weichenstellungen im Verlauf des Projekts Nach einer kurzen Zeit der Arbeit im Projekt wurde schnell deutlich, dass es einen anderen Blick auf die Zielgruppe geben musste. Zuerst war angedacht, besonders die Kinder in einer Familie zu unterstützen, ihre Resilienz zu fördern und ihnen aktive Hilfe für eine Chancengleichheit zukommen zu lassen. Ebenso lag der Fokus auf der Problematik der Armut. Es stellte sich aber heraus, dass diese enge Sichtweise so nicht realistisch war. Die Familien entpuppten sich nicht als reine Armutsfamilien, sondern die Probleme, sicherlich auch oft durch Armut ausgelöst, waren vielschichtig und betrafen alle Familienmitglieder in ihrer Existenz, ihrer Entwicklung und in ihren Beziehungsgeflechten. Es handelte sich in fast allen Fällen folgerichtig um sogenannte Multiproblemfamilien. Insofern musste also die gesamte Familie mit einem ganzheitlichen Ansatz in den Blick genommen werden: die Kinder, wie ihre Eltern und andere wichtige soziale Kontakte, die in den Familien eine Rolle spielten. Der präventive Ansatz, sich Familien auszusuchen, deren Kinder noch klein (unter 12) waren und den Zugang besonders in den Kindergärten zu finden, war richtig. Doch erwies sich die Anwesenheit 29 der Diakonin in den Einrichtungen nicht als notwendig. Die Familien nahmen dieses Angebot nicht wahr. Der Kontakt erfolgte von daher immer über die ErzieherInnen, die das Angebot eines Hausbesuches durch die Diakonin machten. Dieses Angebot wurde von den Problemfamilien gerne angenommen. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den ErzieherInnen und der Diakonin war von Anfang an wichtig. Die Initiierung einer ehrenamtlichen Arbeit in den Familien war von Anfang an ein großes Anliegen im Projekt. Es gelang sehr schnell, Paten zu finden, die hoch motiviert waren. Auch der Rahmen für diesen Ansatz im Projekt stimmte. Das Interesse in der Fachöffentlichkeit an diesem Teil des Projekts war ebenfalls hoch. Nach 1,5 Jahren der Durchführung musste allerdings gesagt werden, dass trotz großen Engagements und Einsatzes, sowohl von Seiten der Projektleitung, also auch der Paten und Familien dieser Ansatz gescheitert ist. Die Gründe dafür sind hauptsächlich in der dynamischen und teilweise dramatischen Entwicklung in den Familiensituationen zu sehen, die zu einer Überforderung für alle Beteiligten wurden. Vertrauen kann nur wachsen, wenn Beziehungen auch auf längere Sicht bestehen und belastbar sind. Das ist bei einem ehrenamtlichen Einsatz leider in den wenigsten Fällen gegeben. Bei den älteren Paten und Patinnen war schnell eine Überforderung durch die belastenden Familiensituationen gegeben, bei den jüngeren Patinnen war der eigene Lebensentwurf (Scheidung, neuer Job, Schwangerschaft, mehrere Aufgaben) ein Hindernis, eine Beziehung auf längere Sicht zu pflegen. Dabei muss abgewogen werden, was schwerer wiegt: die durchaus gelungene mögliche Resilienzstärkung der Kinder und der Familie, sowie der Aufbau von sozialen Kontakten auch über die Milieugrenzen hinweg, oder der manchmal schmerzhafte Abbruch der Beziehungen, der neue Frustrationen mit sich bringt. Die Projektleitung entschied sich daher, diesen doch sehr wichtigen und interessanten Ansatz im Projekt zu beenden. 2. Vertiefte Evaluation 2.1Ziele des Projekts im normativen und strategischen Bereich: Teilziel 1 Das übergeordnete normative Hauptziel lautet: Orientiert an den Maßstäben des Reiches Gottes sind in der evangelischen Kirchengemeinde Schwenningen die Lebenssituationen von Familien mit Kindern, die in Armut oder prekären Situationen leben, dahingehend verändert, dass sie an Leib und Seele Anteil haben an der heilenden Zuwendung Gottes. 30 Schwenningen Ausgehend von diesem normativen Ziel wurde das strategische Ziel zur Evaluation ausgewählt: Die Diakonin hat die individuellen Lebenssituationen besonders bedürftiger Familien in ihren sozialen, rechtlichen und religiösen Dimensionen mit ihren Bedürfnissen und Chancen wahrgenommen und mit den Familien angemessene Formen der Hilfe innerhalb eines funktionierenden Netzwerkes gefunden. Für die vertiefte Evaluation des Projektes wurden folgende soziographische Daten erhoben: Tabellen mit Fallzahlen, exemplarische Falldokumentationen, aufgezeichnete Verbatims, Feldnotizen, Gruppeninterviews mit Patinnen und einzelne Interviews mit den betroffenen Familien. handelt, sondern um sogenannte „Multiproblem-Familien“ mit vielschichtigen Beziehungsgeflechten und Problematiken. Insofern sind die Familien im weitesten Sinne „arm“, und nicht nur im materiellen Sinn. Manche der Familien im Projekt sind bereits durch einige vergebliche Hilfsansätze von Institutionen enttäuscht oder gelten bereits als „hilferesistent“. „Mir könnte alles Mögliche passieren, wenn ich nicht zufällig vom Projekt gehört hätte…“ „…ich bin in Depressionen hereingefallen, (Suizidgefährdung, Anm.), nicht mehr wissen einfach wo Hilfe, – ja auf der Straße liegen vielleicht. Wär ja mit mir auch der Fall gewesen, fast. Also, mit ich und meine Kinder und mein kranker Mann. Haben wir jetzt aber alles (mit Hilfe des Projekts Anm.) klein bekommen.“35 „Mh, finanzielle Probleme. Ich hatte auch damals kein Geld gekriegt, glaub ich. Familiär. Also ich hab die Rollladen einfach unten gehabt und hab mit keinem Kontakt gehabt. Das war ganz schlimm.“ 36 2.1.1 Zahlen und Fakten34 Im Verlauf des Projekts konnten bis Oktober 2011 25 Familien (neu 7/2012: ca.30 Familien) mit insgesamt 59 Kindern (neu 7/2012 über 70 Kinder) betreut werden. Davon waren 14 Kinder in der Altersgruppe 0 – 3, 20 Kinder in der Altersgruppe 4-6, 15 Kinder in der Altersgruppe 7-12, 10 Kinder waren 13 Jahre und älter. Davon waren 16 Familien Ein-Eltern-Familien, bei 2 weiteren stand die Trennung bevor. Dies ist insofern interessant, da die zuvor im Projekt erstellte Sozialraumanalyse aufzeigt, dass in Schwenningen doppelt so viele Familien (37,6%) wie im Bundesdurchschnitt (16,8%) mit einem alleinerziehenden Elternteil leben. Diese Gruppe ist laut anderer Studien besonders häufig von Armut betroffen. 15 Familien hatten Migrationshintergrund, 2 Familien hatten Asyl beantragt. 7 Familien davon waren muslimischer Religion, 11 davon christlich, bei den anderen war keine Religion bekannt. Froma Walsh37 hat die Lebenssituation von „armen“ oder prekären Familien mit der eines Lastkraftwagens verglichen. Dieser LKW fährt in einem gefährlichen Gebirge, aber dem Fahrer ist nicht klar, ob die Bremsen noch in Ordnung sind. Jede Steigung, jede gefährliche Kurve, jeder Abgrund kann zur Gefahr werden, da nicht klar ist, wie und ob die Bremsen funktionieren werden. So wird jede neue Situation und Herausforderung zur potentiellen und existenziellen Gefahr. Es kann sein, dass danach nur noch alles Schrott ist. So kann jede Veränderung in diesen Familien zu erheblichen Einschnitten, Strukturveränderungen und Umbrüchen führen. Ihre Armut begrenzt erheblich ihre sozialen und psychischen Möglichkeiten, Veränderungen als Chancen und Neubeginn zu nutzen.38 In den meisten Fällen macht Veränderung auch schiere Angst. Es braucht viel Mut und Vertrauen, neue Schritte zu gehen. Dabei muss aber auch gesehen werden, dass in den Familien nicht nur Defizite vorherrschen, sondern auch Ressourcen, die neu entdeckt und gestärkt werden müssen. So ist es für den „Unterstützenden“ ein grober Fehler, wenn er nach einer Studie von Beck39 drei Aspekte nicht beachtet: 20 Familien bekamen Leistungen nach dem SGB XII (Sozialgeld, Hartz-IV) 1. das Unterschätzen von Stärken, 2. das Überbetonen von jedem Fehler, 2.1.2 D er vertiefte Blick auf die Zielgruppe und die stabilisierenden Maßnahmen Wie schon am Anfang erwähnt, ist der Blick auf die Zielgruppe dahingehend verändert, dass es sich nicht nur um reine Armutsfamilien 34 Stand der Erhebung 10/ 2011. 3. die Entwicklung einer Katastrophenstimmung. 35 Familie X, Interview mit ausländischer Mutter, 2 Kinder, Mann verunglückt, Zeilen 160 u.161,166-169. 36 Interview mit Familie Y.,. Migrationshintergrund, 2 Kinder, psychisch erkrankt, alleinerziehend, Zeile 25-29. 37 Vgl. Walsh 1998. 38 Vgl. Conen 2002, S. 41. 39 Vgl. Beck et al. 1987. Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen Interessant ist dazu eine wissenschaftliche Studie40, die Armutshaushalte wie folgt typisiert: Die verwalteten Armen leben seit Jahren in einer prekären Lebenslage und haben einen engen Kontakt zu Behörden und Institutionen, ohne die sie ihren Alltag kaum noch bewältigen können. Die erschöpften Einzelkämpfer/innen sind Alleinerziehende oder Familien, die trotz Erwerbsarbeit in Armut leben. Diese Haushalte stehen unter der dauernden Belastung, ihren Alltag mit unzureichenden materiellen Mitteln meistern zu müssen. Die ambivalenten JongleurInnen geraten durch risikobehaftetes Handeln immer wieder in Notlagen. (Hier finde ich vor allem viele Borderline-Mütter.) Die vernetzten Aktiven sind selbstbewusste, aktive Menschen, die in soziale Netzwerke eingebunden sind und wissen, wo und wie sie für ihre Lebenssituation Hilfe und Unterstützung finden können.41 Die vielschichtige Problematik in den Familien erfordert auch eine sehr individuelle Hilfe und verschiedene Maßnahmen zur Stabilisierung und Unterstützung. Wobei wieder ausdrücklich zu betonen ist, dass auch die Eltern der Familie deutlich gestützt werden müssen, wenn Kindern nachhaltig geholfen werden soll. Es ist nicht ausreichend, die Kinder nur durch Angebote zu stützen, die außerhalb der Familie angesiedelt sind. Geht es den Eltern besser, geht es auch den Kindern besser. Stabilisierende Maßnahmen: Bei 16 Familien wurden durch das Nutzen eines Hilfenetzwerkes zusätzliche Hilfen und Träger eingeschaltet. Vermittlung an psych. Behandlung Vermittlung an Jugendamt und sozialpädagogische Betreuung Beratung: Psychosoziale Beratung Seelsorgerliche Beratung Rechtliche und sozialrechtliche Beratung Vermittlung an medizinische Behandlung 25 Familien 23 Familien 26 Familie 7 Eltern Aus der Tabelle geht aber hervor, dass es nur bei 5 Familien gelungen ist, diese auch in eine psychologische Behandlung zu vermitteln. Das ist ein Ergebnis innerhalb der Arbeit des Projekts, dass besonders bei psychosomatischen Krankheitsbildern, die anscheinend in der Zielgruppe gehäuft auftreten, oft dringender Handlungsbedarf besteht, der nicht abgedeckt werden kann. Dies gilt für die Kinder in den Familien mit deutlich psychosomatischen Verhaltens-Auffälligkeiten gleichermaßen. Das gehäufte Auftreten von Depressionen und anderen psychosomatischen Erkrankungen, wie Burn-Out Problematik, Borderline-Persönlichkeiten, posttraumatische Belastungsstörungen, u.a., stellen eine große Herausforderung für die Diakonin und die Arbeit des Projekts dar. Es wäre hierbei interessant, zu untersuchen, ob die prekären Milieus diese Krankheitsbilder befördern, ob es eher die Trennungssituationen der alleinerziehenden Mütter sind, oder ob diese Krankheitsbilder mit zur prekären Situation beitragen. 2.1.3 Die Gehstruktur und der Kairos-Moment im Projekt Auszüge aus Interviews mit den betroffenen Familien: „Und genauso find ich des ganz toll, das, äh – das wenigstens z.B. einmal in der Woche, also, das sie einfach kommen zu Hause und – die Leute einfach – ähm ,zu Hause ankucken, wie, wie die Lage ist, z.B. manche Leute können des ja auch nicht erzählen, oder von sich aus sagen, dass einem dreckig geht, oder am Telefon klingt des halt viel anderster wie, wie wenn sie halt persönlich dorthin gehen und diese Leute, bzw. diese Familie ankucken, überhaupt. Wie ist die Wohnsituation, das sagt ja schon alles aus. Wenn Sie sich noch erinnern können, wo Sie zum ersten Mal bei mir waren, da sah es schon (Lachen) katastrophal aus.“42 „Ja, wenn ich bin äh – zu viele traurig, weinen, beten: Mein Gott bitte Hilfe! – und dann, kommt Frau von Diakonie –, klingeln meine Tür. Und das ist bei mir, äh – sehr gut, warum die Frau sagt, äh – was brauchen Hilfe? – Kann ich machen.“43 42 Aus dem Interview mit Familie X., Zeile 173 – 180. Aus dem Interview mit Familie E. Christen aus einem muslimischen Land, 4 Kinder, unsicherer Aufenthaltsstatus, abgelehntes Asylverfahren, dadurch Arbeitsverbot, Zeile 29-32. 43 40 Vgl. Meier-Graewe 2011. Vgl. Meier-Graewe 2011. 41 5 Familien Aus den gesammelten Daten geht hervor, dass bei 8 Familien eine Depression oder andersgeartete psychische Erkrankung, besonders bei alleinerziehenden Müttern in Trennungssituationen eine Rolle spielt. Hilfsmaßnahmen, die zu einer Stabilität in den Familien geführt haben: 17 Familien 14 Familien 5 Familien 11 Familien 10 Familien 10 Familien 5 Eltern Es fällt auf, dass der Bedarf an Beratung und Information in den Familien besonders hoch ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob dies eine psychosoziale, rechtliche oder religiöse Fragestellung ist. In allen Bereichen ist der Beratungsbedarf gleich häufig. Bei 11 Familien musste zwischen den Familien und den Ämtern vermittelt werden. Finanzen: Existenzsicherung Finanzielle Zuwendungen aus Stiftungen Vermittlung an Schuldnerberatung Verbesserung der finanziellen Struktur Vermittlung an diakonische Beratungsstelle Vermittlung und Begleitung bei Ämtern 31 32 Schwenningen „Jetzt komm ich ja zu ihnen nach Hause. Ist das eine Hilfe für Sie, oder eher ein Druck?“ Frau Y: „Druck nie, des isch Hilfe. Hilfe, eigentlich ne. Des isch wie: Aha, die Mutter kommt jetzt, die klingelt und kommt jetzt rein. Die hilft mir jetzt, oder sagt mir, was ich jetzt machen muss. Also, des ist kein Druck, sondern (ihr fällt kein Wort ein) – Druck, nie.“ D: „Eher wie ein Schutzraum?“ Frau Y.: „Ja, ja, ein Schutzraum.“44 Erst wenn die Reihenfolge und die Wichtigkeit der einzelnen Schritte geklärt sind, wird mit der Familie besprochen, wie man vorgehen kann. Durch die aufsuchende Arbeit finden also verschiedene Aspekte Berücksichtigung, die in anderen Kommstrukturen innerhalb der gängigen Hilfesysteme so nicht gegeben sind: Bisherige Erfahrungen der Familien mit Helfersystemen hinterlassen oftmals ein Gefühl der Unterlegenheit. Es handelt sich um fremdes Territorium, Verbalisierungsanforderungen und die Konfrontation mit einer Vielzahl von Helfern, die auch noch ständig wechseln (z.B. Jobcenter und Arge) in den jeweiligen Ämtern und Hilfeträgern. Auszug aus der Feldnotiz: Familie XY: Regelmäßige Hausbesuche bei Fam. XY. (alleinerziehend nach dramatischer Trennung, drei Kinder) sind mir sehr wichtig, da sich Frau XY. mittlerweile in einem äußerst instabilen Zustand befindet, sie ist auf 50 kg abgemagert, zittert und weint häufig. Psychisch ist sie mittlerweile so unter Druck, dass sie nicht mehr unterscheiden kann, wer es nun gut oder schlecht mit ihr meint. Sie ist sehr misstrauisch und ängstlich, ihre Wohnung wird immer mehr zur Flucht- und Trutzburg. Bei meinem Hausbesuch fällt auf, dass die Jalousien an den Fenstern heruntergelassen sind. Sie öffnet nach meinem Klingeln die Tür nur einen Spalt weit und lässt mich herein. Sie ist froh, dass ich da bin… Diese und viele andere Beispiele (siehe Falldokumentationen 1-6) zeigen deutlich auf, dass gerade durch die Gehstruktur und die regelmäßigen persönlichen Hausbesuche durch die Diakonin eine wichtige Lücke im Hilfesystem geschlossen werden konnte. So werden die Hausbesuche von den Familienmitgliedern als hilfreich erlebt, besonders, wenn nach der Kennenlernphase Vertrauen wachsen konnte. Die Bezeichnungen wie „Freundin“, „Mutter“, „Familiencoach“, oder arabisch: „chaleh“ (Tante, ältere Ratgeberin, die eine wichtige Rolle zum Schutz innerhalb des Familienclans hat) zeigen, dass auch Gefühle wie „Geborgenheit“ und „Ermutigung“ sowie eine gewisses Empfinden von „Sicherheit und Schutz“ bei den Familien mitspielen. Das ist ein großer Vorteil, wenn man wirklich zu neuen Schritten ermutigen will und Dinge zum Besseren ändern. Auch spielt in dieser Form ganz stark die positive Bestärkung der Familien und das gemeinsame Entdecken der vorhandenen Ressourcen und Stärken der Familie eine Rolle. Bei den Hausbesuchen gelingt es viel besser, die Problematiken innerhalb der Familien wahrzunehmen und in ihrer Wichtigkeit einzuschätzen. So ist eine Familie in einer prekären Situation oft sehr überfordert und unfähig, die eigenen Probleme und Bedarfe richtig zu benennen, zu reflektieren und einzusortieren. Ebenso fehlt die Information, wo die richtigen Hilfen zu finden sind und welche Angebote genutzt werden können. Das gilt nicht nur im materiellen und finanziellen Bereich, sondern auch im Bereich der Rollen innerhalb der Familie, des Erziehungsstils, der Ehebeziehung und der physischen und psychischen Gesundheit, u. a. Dieser Prozess kann bei den persönlichen Besuchen der Diakonin zusammen mit der Familie angestoßen und erarbeitet werden, dabei sind alle Familienmitglieder mit einbezogen. Es gibt große Scheu und Probleme dieser Familien, diese Institutionen aufzusuchen. Manchmal sind die Hürden einfach zu groß. Das Ausfüllen einer Vielzahl von unverständlichen Bögen und das Einfordern von Bescheinigungen und Nachweisen kann leicht zur Schikane werden. Familien äußern Gefühle wie: Resignation, Hoffnungslosigkeit, Abwehr, Depression und Ängste. Beim Hausbesuch kann die Diakonin die Familie beobachten und umgekehrt genauso. Man kann mögliche Handlungsalternativen vor Ort ausprobieren. Die Wertschätzung und Achtung gegenüber den Lebensumständen der Familie können vor Ort sichtbar werden, ganz besonders, wenn man Anteil nimmt an den Dingen, die passieren, an Neuerungen in der Wohnung, beim Teilnehmen an einer Mahlzeit, Kaffee, usw. Es geschieht automatisch auch eine Wertschätzung gegenüber den anderen Familienmitgliedern, besonders, falls vorhanden, auch Väter.45 Immer wieder wird im Projekt deutlich, dass durch die besondere Form der Arbeit der Diakonin im Projekt, durch die Gehstruktur und dem niederschwelligen Ansatz sowie durch die Vertrauensbeziehung, die zwischen der Diakonin und den Familien wachsen kann, ein Moment eintritt, der mit dem griechischen Wort „kairos“ am besten umschrieben wird. Auszüge aus der Falldokumentation 2: Fam. M: Frau M. wird demnächst eine ambulante psychiatrische Tagesklinik besuchen. Ihr Allgemeinzustand ist mittlerweile bedenklich. Die Angst, dass ihr Mann dann ihr die Kinder wegnehmen könnte, konnte ich zerstreuen. Die Betreuung durch das Projekt in dieser Familie ist weiterhin sehr intensiv und wird auch benötigt, vor allem, da Frau M. durch ihr Misstrauen und ihre Angst mittlerweile fast unfähig ist, zu unterscheiden, wer nun Freund oder Feind ist. Das wird ihr auch oft 44 Aus dem Interview mit Familie Y., alleinerziehend nach Trennung, psychisch erkrankt, Migrationshintergrund 2 Kinder, Zeile 66-71. 45 Vgl. Conen 2002, S. 47-48. Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen zur Hürde, da sie in der Öffentlichkeit sehr aggressiv und bockig wirkt. Ihre hysterische und laute Art stößt die Leute ab, besonders, wenn auf der anderen Seite auch der Ehemann öffentlich auf der Bildfläche erscheint, der einen ganz gegenteiligen Eindruck macht. Durch meine Hausbesuche erlebe ich aber als Einzige, das er in Wirklichkeit stalkt und droht, wenn er meint, es bekomme keiner mit. Das kleine Mädchen der Familie weist eine sehr depressive und zurückgezogene Verhaltensstörung auf, der dreijährige Junge ist aggressiv, spuckt und beißt. Auch bei dem anderen Kind besteht Behandlungsbedarf. Auf Anfrage erklärt die Mutter, dass den Kindern während des Unfalls von den Verwandten erklärt wurde, der Vater sei tot, und sie seien von Allah verflucht. Die Familie beschäftigt mehrere Anwälte, hat Ärger mit der zuständigen Versicherung, die eine sehr lückenhafte Informationspolitik betreibt. Es besteht außerdem eine Räumungsklage. Des Weiteren soll der kranke Ehemann ins Heimatland abgeschoben werden, da sein Aufenthalt ausläuft. Während meines Hausbesuches erscheint die Polizei mit Gerichtsvollzieher, um den Mann zu verhaften, er hatte es versäumt, eine eidesstattliche Erklärung abzugeben. Auch in diesem Fall erlebe ich, dass die Ämter, sowie auch die Anwälte nicht die Hilfe bringen, die erhofft wird. Frau M. erleidet geradezu die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit. In diesem Fall ist leider meine Vermutung, dass ohne das Projekt (kairos!) diese Geschichte eine sehr dramatische Wendung für die Mutter und die Kinder genommen hätte. Ich hatte ihre Drohung, Schluss zu machen, durchaus ernst genommen. Ich frage mich, wer sonst meine Rolle in diesem Fall hätte übernehmen können. Ich erlebe mich in diesem Fall besonders in meiner Berufung als Diakonin: ein Anwalt für die zu sein, die chancenlos sind, ungerecht behandelt werden und durch alle Lücken fallen, und Antworten aus dem Evangelium bereit zu haben, wenn die Fragen in seelsorgerliche Richtung gehen. Ich möchte hinzufügen, dass die oben geschilderte Situation der Mutter und ihr Erleben eigentlich typisch ist für die Familien, die ich betreue. Es handelt sich in den meisten Fällen um alleinerziehende Mütter, die versuchen, sich und ihre Kinder in einem Zusammenspiel aus Unterhalt, Hartz-IV-Geld oder anderen Hilfen über Wasser zu halten. Zu den existenziellen Sorgen gesellen sich dann alsbald auch andere Probleme. Viele dieser Mütter, und dadurch bedingt auch ihre Kinder, befinden sich in seelischen Ausnahmesituationen, ähnlich diesem Fall. Auszüge aus der Falldokumentation 1: Fam. X: Fam. X. hat Migrationshintergrund (muslimisches Land). Drei Kinder im Alter von 2- 9 Jahren. Der Vater verunglückte bei der Arbeit, stürzte auf den Kopf und ist seitdem ein Pflegefall. Die Mutter spricht fließend Deutsch, ist gelernte Pflegerin und versucht nun, den Ehemann zu versorgen, ist aber insgesamt durch die Geschehnisse sehr belastet und überfordert. Als sich die Diakonin der Familie annimmt, der Kontakt entstand durch die Eigeninitiative (Flyer) der Familie, stellt sich die Situation als völlig chaotisch dar. Eine ausreichende Therapie und Behandlung für den Mann ist nicht vorhanden. Niemand fühlt sich zuständig. Er befindet sich in der völlig chaotischen Wohnung mit einem offenen Schädel-Hirn-Trauma. Auf Anfrage berichtet die junge Ehefrau, dass er nach der Erstversorgung im Krankenhaus an der weit entfernten Unfallstelle, bei der man ihm die zertrümmerte Schädeldecke entfernte, in eine Reha-Klinik geschickt wurde. Dort blieb er aber nicht lange, da er kein Wort Deutsch verstand und desorientiert war. Ohne seine Frau war er nicht zu beruhigen. Diese konnte aber einen Aufenthalt in der Klinik weit ab vom Wohnort nicht finanzieren, hatte selber die Arbeit verloren und noch keinen Antrag auf Hartz-IV gestellt. Bei meinem ersten Hausbesuch äußert sie ihre totale Überforderung und spricht von Suizid. Sie hatte den Überblick komplett verloren. Sie ist an allen Stellen abgewiesen worden und gescheitert. 33 Meine Aufgabe ist zuerst, die Lage zu stabilisieren. (Anmerkung der Diakonin: nach einer Begleitung von ca. 2 Jahren im Projekt geht es der Familie heute wieder besser. Der Mann wird ein Pflegefall bleiben, aber er bekommt Therapie, der finanzielle Rahmen ist gesichert, die Kinder wurden heilpädagogisch betreut und in einer Ganztageskita aufgenommen. Die Schuldenregulierung läuft, der Ehemann bekommt Rente und hat einen gesicherten Aufenthalt. Die Diakonin kümmert sich weiter um die Familie, aber nicht mehr so intensiv. Die Diakonin blieb allerdings während der gesamten Zeit die erste Ansprechpartnerin und Brücke zu den verschiedenen Hilfenetzwerken, die mit Hilfe des Projekts eingeschaltet wurden.) Diese Auszüge aus den Falldokumentationen und auch die anderen Falldokumentationen sowie die Feldnotizen und Interviews zeigen, dass für nicht wenige der Familien eine ausweglose Situation die Folge gewesen wäre, wenn nicht „zufällig“ das Projekt: „Eine Chance für Kinder-Hilfe für Familien in prekären Lagen“ vor Ort gewesen wäre. Es zeigt unter anderem, dass die gängigen Hilfesysteme Lücken haben und oftmals durch die hohen Hürden nicht erreichbar sind. Ebenso können, wie schon gesagt, manche Familien nicht mehr die Kraft aufbringen, diese Hürden zu überwinden. Zu groß ist das Empfinden von Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit. Auch fehlt es ihnen an Kompetenz, ihre Lage selbst einzuschätzen und sich dann an die „richtigen“ Stellen zu wenden. Ich bin überzeugt, dass ohne die besondere Hilfe des Projekts die eine oder andere Entwicklung in den Familien einen dramatischen Verlauf genommen hätte. Beachtenswert ist dazu auch die häufiger auftretende Aussage, mit allem „ein Ende machen zu wollen“. 2.1.4 D er ganzheitliche Ansatz und das diakonisch-missionarische Handeln Aus dem Verbatim 146: FE1: „Kommen Sie rein. Wollen Sie Tee mit mir trinken.“ (Frau 46 Die Gedächtnisprotokolle der Gespräche (Verbatims) wurden von der Diakonin jeweils direkt im Anschluss an die Gespräche notiert 34 Schwenningen E. bereitet ihren ausländischen Tee. Sie spricht leider noch sehr schlecht Deutsch, versteht aber immer mehr, und wir können uns einigermaßen verständigen. Ich nehme regelmäßig an, wenn ich von Frau E. zum Teetrinken und Essen eingeladen werde. Wenn sie die Gastgeberin ist, hellt sich ihr depressives Gemüt auf, und sie fühlt sich in ihrem Element.) D2: (nimmt das kleine Kind auf den Schoß und gibt ihm den Kakao zu trinken). „Gerne möchte ich mit Ihnen eine Tasse Tee trinken. Sie wissen doch, dass ich Ihren Tee sehr gerne mag. Ich habe gute Nachrichten. Sie haben doch erzählt, dass Ihr Sohn in der Realschule nicht mit ins Schullandheim kann, weil das zu teuer ist und die Realschule keine Sozialkasse hat. Ich habe bei einer Stiftung für sie einen Antrag gestellt und das ganze Geld für das Schullandheim bekommen. Nun kann sie doch mitfahren.“ FE2:. „Oh ja, ich freue mich. Er wird sich auch freuen. War schon sehr traurig. Er ist so gut in der Schule.“ (Frau E. nimmt den nicht unerheblichen Betrag an sich) „Du bist die Diakonin Barbara. Du weißt von der heiligen Barbara? Ich habe viel gebetet zur heiligen Barbara. Als ich mit Sahra Barbara schwanger war, und mein Mann musste in unser Land zurück (wurde abgeschoben), der Arzt hat gesagt – es ist nicht gut mit dem Kind, – ich hatte große Schmerzen und viel Angst – ich bete und bete, zur heiligen Barbara und dann – alles ist gut. Kind ist gesund. Ich bin gesund. Mann ist zurück. (Frau E. teilt mir gerne ihre Glaubenserfahrungen mit. Auch da erlebt sie sich als Christin, der mit einer anderen Christin über den Glauben spricht. Sie ist in dieser Rolle nicht der Hilfeempfänger und abgelehnte Asylant, der bei jeder Kleinigkeit beim Ausländeramt um Hilfe bitten muss. Ich erlebe sie in diesen Gesprächen als stark und auch ein bisschen stolz über ihre Erfahrungen und ihr Wissen. So teilte sie mir unter anderem auch einmal mit, dass sie im Herkunftsland Kinder in biblischer Lehre unterwiesen hat.) FE3: (Sie streicht dem Kleinkind über das Haar.) „Sie ist etwas Besonderes. Will nur Barbara genannt werden.“ Frau E. bringt mir ein mit Tesafilm zusammengeklebtes Bild der heiligen Barbara. Ich bestaune es. (Verbatim) Es ist ein grundlegender Gedanke im Evangelium, dass ein Mensch nicht nur auf seine Defizite reduziert wird, sondern immer ein Mensch ist aus Leib, Seele und Geist. Trotz Schwachheit, Schuld, Versagen oder ein Leben am Rand der Gesellschaft, sieht ihn Gott als Menschen, den er wert achtet und liebt. Jesus, der Archetypus des Diakons nahm sich besonders derer an, die an den Rand gedrängt waren oder Probleme hatten. Er sah sie immer im Ganzen. Er begegnete ihnen mit Liebe, Anteilnahme, Würde und Wertschätzung. Besonders als DiakonInnen sind wir zu dem gleichen Handeln aufgerufen. Kein höher, schneller, weiter, sondern: Lass dir genügen. Es ist gut so. Es reicht. Du brauchst nicht nach den Sternen zu greifen, und du musst dich nicht ständig überfordern. Du musst nichts beweisen, und du darfst mit dir selbst gnädig umgehen, denn Gott ist gnädig zu dir. Durch Gottes Gnade und Liebe bist du, was du bist. Was heißt das für das diakonische Handeln und den ganzheitlichen Ansatz? Nach der Botschaft des Evangeliums sollten wir in jedem Menschen diesen unendlichen Wert entdecken, den Christus auch in ihm sieht. Menschen sind eben keine Motoren, auch wir nicht, bei denen nur die Stellschraube justiert werden muss, um die Leistung zu optimieren. Wir sind alle Menschen eben aus Leib, Seele und Geist, mit Sehnsüchten und Sorgen, mit Leidenschaften und Begabungen, aber auch mit Schwächen. Und weil niemand von uns allein auf seinen Körper, allein auf seinen Beruf, allein auf seinen Hartz-IV-Antrag oder auf seine Krankheit reduziert werden will und darf, ist es im diakonischen Handeln an und mit den Menschen eine Verpflichtung, die Ganzheitlichkeit eines jeden Menschen wahr- und ernst zu nehmen. Daher gilt der Leitspruch: Menschen sollen ganzheitlich unterstützt, in der Eigenverantwortung gestärkt und ihnen soll Hilfe zur Selbsthilfe gegeben werden.47 Auszüge aus der Feldnotiz Nr. 5 Familie I. (zeitnah notiertes Gespräch ) Kontextinformation: Ich besuche Familie I., nachdem ich einen Anruf bekommen habe. Die Familie Ist eine Patchworkfamilie. Beide Eltern leben von Hartz-IV. Sie haben 4 Kinder im Alter von 1,5 - 10 Jahren. Das 7-jährige Kind ist schwer erkrankt. Der älteste Sohn wurde von der Mutter mit in die Ehe gebracht. Für den Vater ist es die X. Ehe. Die Familie hat Migrationshintergrund. Aktuelle Beobachtung: Der Vater (er ist heute allein zuhause mit dem jüngsten Kind) erzählt mir die Situation, als er die jetzige Ehe-Frau kennenlernte. Immer wieder betont er, dass er ihr nur helfen wollte, da sie psychisch krank war, alleinerziehend und völlig überfordert. Dabei entstand eine Beziehung. Er verließ für sie eine andere Ehefrau. Eigentlich wollte er sich wieder trennen, da die Frau noch andere Männerbekanntschaften pflegte, aber da war sie schon schwanger. Nun meint er, dass sie ihm nur auf der Nase herumtanzt und die Kinder nicht gut versorgt, wenn er nicht aufpasst. Er müsse den ganzen Haushalt machen, während sie ihrer Computersucht nachgeht und mit fremden Männern chattet. Er meint, dass dies wohl die gerechte Strafe für ihn sei, von „dem da oben“. Mein Kommentar zu der Beobachtung: Herr I. sieht die Dinge sicherlich etwas einseitig. Er ist auch sehr viel älter als seine Frau und hat andere Vorstellungen vom Alltag einer Familie und der Frauenrolle. Herr I. ist beileibe kein religiöser Mensch. Ich vermute, er hat seit Jahrzehnten keinen Gottesdienst mehr besucht. Trotzdem frage ich ihn gezielt, ob er Schuld empfindet, seine vorigen Ehefrauen verlassen zu haben. Ebenso frage ich ihn, ob er denn jetzt bereit sei, nach vorne zu schauen und die neue Familie zu akzeptieren. 47 Vgl. Diakonie Schwenningen, Beratungsstelle 2011, S. 6. Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen Er kommt mir vor wie ein Tiger im Käfig, völlig verzweifelt. Er kann nicht ausbrechen, obwohl er sich auch diesmal gerne verdünnisieren würde. Er hat Angst vor den Konsequenzen. Er will die Kinder aber auch nicht mitnehmen bei einer Trennung, er fühlt sich zu alt und äußert ständig, dass er wohl bald sterben werde. Ich wundere mich, dass er plötzlich fragt, ob dies alles eine Strafe Gottes sei. Das verneine ich, obwohl ich ihm recht gebe, dass er Schuld auf sich geladen hat. Ich sage ihm, dass die Umstände seiner Ehe eine logische Konsequenz für sein eigenes Handeln sind. Aber dass es nun darum geht, sich den Realitäten zu stellen, um mit Hilfe von außen nun Schritte in die richtige Richtung zu gehen. Dabei darf er aber auch um die Hilfe und die Barmherzigkeit Gottes bitten. Ich erinnere ihn auch an die Bitte im Vater unser – Vergib mir meine Schuld. Er erzählt, dass er dieses Gebet als Kind in der Sprache seines Heimatlandes gelernt hat. Bereichen mitbringen und umfassende Kenntnis über die regionalen möglichen Hilfsangebote und Netzwerkpartner besitzen. Im Projekt war in diesem Fall besonders die Zusammenarbeit mit der diakonischen Beratungsstelle wichtig und auch die gründliche Erarbeitung einer Sozialraumanalyse, die bereits im Vorfeld einen Überblick und erste Kontakte zu möglichen Netzwerkpartnern ermöglichte. Als Beispiel für die Vielschichtigkeit der Problematik und die vorherrschende Ratlosigkeit der Familien, folgender Auszug aus einer kürzlich eingetroffenen E-Mail einer Familie: „Als ich gestern im Rathaus etwas zu erledigen hatte entdeckte ich Ihren Flyer und möchte mich einmal an Sie wenden. Unsere Situation ist sehr schwierig und offensichtlich kompliziert. Im April diesen Jahres zog ich mit meinem Mann und meinem Enkelkind, welches bei mir wie meine eigene Tochter auf wächst hier her. Mein Mann hatte schon eine Weile gesundheitliche Probleme und war deshalb auch in Behandlung als wir hierher zogen. Er bekam ein Angebot von einer Firma dort gleich anfangen zu können sobald wir hierher gezogen wären. Wir versuchten eine preiswerte Wohnung zu finden jedoch ohne Erfolg .Unsere jetzige Vermieterin bot uns hier eine Wohnung an die angeblich tadellos in Ordnung sei, was jedoch eine Lüge war. Nichts desto trotz wir sind hier gezogen und waren sicher das die Wohnung vom Gehalt finanzierbar wäre. Die Arge erkennt diese Miete leider aber nicht an. Bei der Arbeitsstelle ging schnell alles in die Brüche denn mein Mann hatte mehr Leistung und Können versprochen wie er bieten konnte. Einen Antrag auf Hartz 4 haben wir dann umgehend gestellt, jedoch wurde das Kind (6 J.) nicht mit angerechnet weder bei der Miete noch bei der Regelleistung. Ein Anwalt ging in Widerspruch und bis heute erfolgte keine Rückmeldung. Der Anwalt tut nichts mehr. (Anm.d. Projekts: Pflegekinder werden nicht zur Bedarfsgemeinschaft gerechnet.) Ich bekomme lediglich das Kindergeld für S. und die finanzielle Situation ist alles andere als toll. Die Vermieterin hat die Wohnung nun gekündigt da zum einen die ARGE nur 373 € anerkennt statt 700 € und zum anderen wohl die Miete auch auf ein falsches Konto überwiesen hat. Telefonische Rückfragen bei der ARGE bringen nur so viel, dass man sich angeblich sofort um diesen Fall kümmert und innerhalb 2 Tagen zurück ruft. Es kommt jedoch weder ein Anruf noch ein Schreiben. Außerdem möchte ich mich trennen. Mein Enkelkind ist behindert. Für mich wäre es wichtig Unterstützung zu bekommen damit alles seine geordneten Weg geht und sich die finanzielle Situation normalisiert. Wichtig wäre mir auch einen Ratgeber zu haben. Ich weiß nicht mehr weiter.“48 Aus diesen zwei ausgewählten Beispielen wird besonders deutlich, dass es eben nicht nur um ein schlichtes Bedienen der Defizite geht, die sicherlich eine große Rolle spielen, sondern dass gerade der Diakon bzw. die Diakonin auch für ganz andere Dimensionen Ansprechpartner ist. Die Gefühle von Wertlosigkeit, Sinnlosigkeit, Angst, Schuld und Versagen und fehlende Hoffnung spielen in hohem Maße in die verschiedenen Problematiken herein. So ist zum Beispiel gerade bei dem ausländischen alten Vater seine eigene ungelöste Schuldfrage ein Anlass, besonders das Stiefkind als den Sündenbock für die familiäre Misere zu identifizieren und zu beschuldigen, was bei dem Kind zu starken Verhaltensauffälligkeiten führt. Es würde also niemals reichen, sich bei der Familie nur darum zu kümmern, dass die Schulden geregelt werden, dass zusätzliches Geld aufgetrieben wird für das 7-jährige kranke Kind, das eine gefährliche seltene Krankheit hat, und deshalb vom Jobcenter keinen Mehrbedarf für die Spezialernährung bekommt, da eine solch seltene Krankheit nicht auf der Liste für den krankheitsbedingten Mehrbedarf auftaucht!, oder sich um eine heilpädagogische Behandlung für die Kinder zu bemühen. Ich denke, hier wird deutlich, warum die Notwendigkeit für den ganzheitlichen Ansatz besteht und wie wir auch in unserem missionarisch-diakonischen Handeln, besonders auch mit der Botschaft des Evangeliums, dem „ganzen“ und oft verwundeten Menschen etwas von dem Heil Gottes vermitteln können. 2.1.5 „Lotsen-Funktion“ der Diakonin und Netzwerkarbeit Die Haupt-Arbeit der Diakonin im Projekt ähnelt in den meisten Familien der eines Lotsen, der durch den dichten Nebel der Probleme, Bedarfe und Hilfeträger, die sich manchmal zuständig fühlen und manchmal auch eben nicht, führt. Dieses Bild umschreibt am besten die Situation, die sich zu Beginn der Arbeit in den Familien bietet. Die Familien empfinden ihre Situation oft verzweifelt, hoffnungslos und verworren in jeder Beziehung. Sie wünschen sich einen Lotsen durch den „Nebel“. So stammt dieses Bild selbst von einer betreuten Familie, die diese Arbeit der Diakonin so für sich beschrieb. Die Voraussetzung dieser Lotsenarbeit bildet aber in jedem Fall eine Zeit des Kennenlernens und Vertrauens seitens der Familie. Der Diakon bzw. die Diakonin muss dabei viel Kompetenz in fast allen Beratungs- 35 Nach dem ersten Kennenlernen der Familie kann nun analysiert werden, was am dringendsten ist, z.B. die Stabilisierung des finanziellen Rahmens, das Nachhaken bei den Ämtern, eine seelsorgerliche und beratende Begleitung in der Erziehung des Enkelkindes oder der Trennungsphase. Auch kann die Großmutter bei den Ämtern unterstützt werden, durch Begleitung oder Anrufe. Mittlerweile ist auch das Jobcenter zur Zusammenarbeit mit dem Projekt gerne bereit und in nicht wenigen Fällen kooperativ. 48 Anonymisiertes E-Mail im Originalton 36 Schwenningen Zugänge zu den Familien Durch die Dauer des Projekts von mittlerweile vier Jahren ist mit den meisten Netzwerkpartnern, allen voran die diakonische Beratungsstelle mit Schuldnerberatung, Kindergärten und Schulen, das Jugendamt, das Landratsamt, das Bürgeramt, die psychiatrische Klinik für Kinder, Heilpädagogen, diverse Ärzte und nicht zuletzt das Jobcenter (früher Arge) und anderen eine kooperative Zusammenarbeit möglich. Grund dafür ist der gewachsene Bekanntheitsgrad des Projekts und die guten Ergebnisse der gemeinsamen Zusammenarbeit im Netzwerk, die für die Familien erreicht werden konnten. Diese Netzwerke für die Familien nutzen zu können ist ein großer Vorteil für das Projekt, und es ist bedauerlich, dass diese Netzwerke für die Familien nicht in dem Maße mehr genutzt werden können, wenn das Projekt enden wird, da die Zusammenarbeit auch auf dem gewachsenem Vertrauen der Netzwerkpartner zur Diakonin basiert. Schaubild 1: Zugänge zu den beratenden Familien Zugänge zu den Familien Zugänge zu den Familien Zugänge zu den Familien Zugänge zuzu den Familien Zugänge den Familien Zugänge zu den Familien Zugänge zu den Familien über Kindergärten über Kindergärten über über Kindergärten diak. Ber. Stelle über Kindergärten über diak. Ber. Stelle über diak. Ber. Stelle Familie selbst über Kindergärten über Kindergärten über diak. Ber. Stelle Familie selbst über Kirchengem. Kindergärten über diak. Ber. Stelle über diak. Ber. Stelle Familie selbst Familie selbst Kirchengem. über Kindergärten Sozialstation über diak. Ber. Stelle Familie selbst Familie selbst über Kirchengem. über Sozialstation diak. Ber. Stelle über Vesperkirche Familie selbst über Kirchengem. über Kirchengem. über Kirchengem. über Sozialstation über Vesperkirche Familie selbst über Kirchengem. über Sozialstation über über Sozialstation Vesperkirche über Kirchengem. über Sozialstation über Vesperkirche über Sozialstation über Vesperkirche über über Sozialstation Vesperkirche über Vesperkirche über Vesperkirche 2.1.6 Neue Formen der Zugänge und die Kindergartenarbeit Am Anfang des Projekts wurde die Befürchtung geäußert, dass der Ansatz, den Zugang über die Kindergärten zu suchen, eine zusätzliche Belastung für die ohnehin überforderten ErzieherInnen darstelle, die bereits mit einer Vielzahl von Aufgaben betraut sind. Es wurden aber nach den anfänglichen Gesprächen mit der Diakonin, bei denen das Konzept vorgestellt wurde, diese Befürchtungen bei Seite gelegt. Im Gegenteil erlebten die ErzieherInnen im Verlauf des Projekts die Möglichkeit, die Diakonin einschalten zu können, als Entlastung. Besonders die LeiterInnen der drei ausgewählten Kindergärten, die bei der Sozialraumanalyse als Einrichtungen mit einem verstärkten Besuch von Familien mit Problemen identifiziert wurden, waren oftmals mit den Recherchen und der Suche nach Hilfsangeboten für Familien in prekären Lagen beschäftigt und nicht selten überfordert, da ja die Aufgabe einer Kindergartenleitung diese Arbeit gar nicht umfasst. Obwohl anfänglich eine regelmäßige Anwesenheit der Diakonin in den Einrichtungen angestrebt und auch durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass die Familien dieses Angebot nicht nutzten. So entstanden die Kontakte in allen Fällen über die ErzieherInnen, die den Familien das Angebot eines Besuches der Diakonin machten. Diese Angebote nahmen die Familien gerne wahr, da sie auch den ErzieherInnen Vertrauen schenkten. Sobald die Diakonin einen Hausbesuch machte, konnte die Arbeit in den Familien beginnen, wobei oftmals auch eine Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Kindergarten nach wie vor wichtig blieb. Im Endergebnis bedeutet dies, dass der präventive Ansatz über die Kindergärten sich als richtig erwiesen hat und für die Arbeit in den Kindergärten bereichernd und ergänzend war. Im Verlauf des Projektes erarbeitete die Diakonin ein Konzept für die Einbindung der Projektarbeit in ein mögliches Familienbildungszentrum als Zukunftsmodell auch für die Kindergärten der evangelischen Kirchengemeinde. Zugänge zu den Familien kamen aber auch über die diakonische Beratungsstelle, über den Flyer und zunehmend über die Familien selbst, über private Kontaktpersonen z.B. aus der Kirchengemeinde u. a. (siehe Abbildung). 2.2 Das Familienpatenmodell: Teilziel 2 Zielsetzung Familienpatinnen und -paten unterstützen die Familien mit entsprechendem Hilfebedarf und werden als Brückenbauer in die Gemeinde wahrgenommen. Die Diakonin hat Familienpatinnen und -paten gewonnen, qualifiziert und in geeignete Familien vermittelt, sowie deren Arbeit supervisorisch begleitet. Nach einer anfänglichen Werbungszeit über die Zeitung und das Gemeindeblatt und das persönliche Ansprechen von verschiedenen Personen, wurden relativ schnell 8 Patinnen für das Projekt gewonnen. In regelmäßigen Schulungen wurden die Patinnen auf ihre Aufgabe vorbereitet, allerdings sollte auch der Einsatz in den Familien nicht zu lange auf sich warten lassen, da sonst die hohe Motivation der Patinnen nicht mehr vorhanden gewesen wäre. Im Grunde war es ein sich entwickelnder, begleitender Prozess. Auch während der Einsätze in den Familien gab es regelmäßige gemeinsame Treffen. Alle Patinnen waren meines Erachtens sehr gut geeignet, teilweise hatten sie auch einen professionellen pädagogischen Hintergrund. 4 Patinnen waren über 60 Jahre alt, 4 zwischen 30 und 50. Alle Patinnen waren selber Mütter. Nur eine Patin war zusätzlich ehrenamtlich in der Kirchengemeinde tätig. Mit allen Patinnen wurden intensive Gespräche geführt über die Art der Aufgabe und die Motivation. Dabei wurde auch der Rahmen des FPM (Familienpatenmodell) besonders besprochen: Paten sind nicht preiswerte Babysitter, Putzhilfen, oder Familiencoaches in Form einer Super-Nanny. Jede Patin bekommt nur eine Familie für einen Einsatz. Es geht um eine Unterstützung auf Zeit, um Beziehung und besonders um die Resilienzstärkung der Kinder in den Familien. Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe und um Begegnung auf Augenhöhe. Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen Es geht auch um das „Experiment“, ob eine Begegnung und der Kontakt zwischen verschiedenen Milieus funktioniert. Die Paten werden 1 mal pro Monat auf Patentreffen geschult. Dabei werden auch die Einsätze reflektiert und besprochen, auch im kollegialen Kreis. Jede Patin erhält 28 Euro monatlich als Unkostenpauschale und ist über das Ehrenamt in der Kirchengemeinde versichert. Jede Patin im Einsatz steht im regen Kontakt mit der Diakonin. Die Erstbesuche finden immer mit der Diakonin statt, und es werden im gemeinsamen Gespräch mit den Familien die Möglichkeiten einer Begleitung der Patin und ihre Aufgaben genau besprochen. 2.2.1 E rgebnisse nach einem Jahr Einsatz der Patinnen in den Familien Die Schulungen verliefen gut. Sie waren auch von den Themen ausgewogen und angemessen. Es gab bei jedem Patentreffen, das mit einer Andacht eingeleitet wurde, ausreichende Möglichkeit über die eigenen Erlebnisse in den Familien zu berichten und auch den Rat oder die Meinung der anderen einzuholen. Diese Möglichkeit wurde gut genutzt, und es fand echte kollegiale Beratung und Austausch statt. „Also ich war bei einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern. Die Mutter ist depressiv, nimmt auch Tabletten, die beiden Kinder sind adipös, der Junge noch mehr wie das Mädchen und…als ich das erste Mal hin kam, ja wusste ich gar nicht so recht, wie ich an die Familie ran kommen soll, und dann hab ich mich ins Wohnzimmer gesetzt und die haben mit mir geplaudert, die Tochter war sehr neugierig und irgendwann hat sie dann gesagt, also sie sind jetzt Familientherapeutin und dann sag ich nein, nein ich bin hier Laie und ich bin eigentlich für euch da ... und dann sagt sie, also gut, ich möchte abnehmen ich schaff es nicht alleine, ich möchte das machen und ich habe ihr dann Adipositasprogramm besorgt, über meine Kinderärztin, und alles in die Wege geleitet und sie hat dann irgendwann gesagt, nein sie will das nicht, weil es wäre so gewesen, dass die drei Mal in der Woche dahin gemusst hätte…. Bei dieser Familie ist das Problem, dass die alle sehr, sehr faul sind, also ist wirklich, die Mutter schläft sehr viel, ich vermute auch durch die Medikamente…“49 37 stimmung. Wenn dann aber gutgemeinte Angebote und Anschübe der Paten abgelehnt werden, führt das zu Enttäuschungen und Frustrationen. Obwohl den Paten dies auch vermittelt wurde, waren sie doch darauf nicht vorbereitet und litten an diesen Erfahrungen. Es ist eine grundsätzliche Frage, ob die passive Haltung vieler Eltern im Projekt einer psychischen Erkrankung geschuldet ist, ob die prekären Milieus diese Erkrankungen befördern, was meine Meinung ist, oder ob diese Erkrankungen die prekäre Situation befördern, was ich auch oft beobachtet habe. Sicherlich ist aber auch eine gewisse milieutypische Verhaltensweise hier zu sehen, besonders bei Familien die sich schon seit Generationen im prekären Milieu befinden. Eine bessere Sensibilisierung der Patinnen in diesem Bereich könnte sicherlich ihren Blick für diese Verhaltensweisen schärfen ohne den Ruf nach den „Profis“ zu fördern. Es war schwierig, auch bei einer intensiven Begleitung durch die Projektleitung und die Diakonin, die Eigendynamik, die die Arbeit in den Familien mit sich brachte, vorherzusehen und zu managen. Dies war eigentlich nicht möglich, und hier zeigten sich im Besonderen die Grenzen und Gefahren im FPM. Die Situation in den Familien ist niemals ein Status Quo, sondern ständig im Fluss. So kann eine Problematik in der Familie anfänglich nicht so prekär erscheinen, dies aber schnell dramatisch werden, sobald sich etwas ändert. „…also, da hat sie ihn ganz wüst zurückgerufen und er soll sich wieder in seine Ecke sitzen und auch die große Tochter, die 5-jährige, war dann immer Opfer ihrer Aggressionen, und das hat mich also so mitgenommen. Der ganze Tag war voll von irgendwelchen aggressiven Situationen, und das hat mich so geschockt, dass ich gesagt hab, ich kann nicht mehr zu dieser Familie gehen. Da muss was anderes passieren, da muss professionelle Hilfe her, das geht nicht, ich kann nicht als Laie, als Familienpatin, mit gutem Gewissen, ich krieg das nicht in den Griff, geht nicht.“51 „…ich denk halt, wen man den Kindern, also wenn man was für die Kinder machen wollte, dann müsste man ihr die Kinder wegnehmen eigentlich. Es geht ja schon seit der Grundschule so. Das Mädchen kümmert sich um den Bruder, die Mutter bewegt sich kein bisschen.“52 Es war schwierig, den Patinnen zu vermitteln, dass Menschen in prekären Situationen oftmals auch Probleme mit dem Antrieb haben. Resignation und Depressionen sind oft die vorherrschende Grund- Die Paten äußerten teilweise den Wunsch, man möge doch Ämter oder andere professionelle Hilfen einschalten. Sehr schnell wurde der Ruf nach dem Jugendamt laut oder auch nach Ämtern, die die Eltern zwingen sollten, anders und besser mit den Kindern umzugehen. Sicherlich dem eigenen Gefühl der Hilflosigkeit geschuldet, war dies bei den Patinnen ein verständlicher, wenn auch unrealistischer Wunsch. Gerade diese „Ämter und Gewalten“ waren für die Familien oft mit hohen Hürden behaftet. Auch arbeiten die „Ämter“ in den meisten Fällen nicht mit Zwang, sondern sind auf die Kooperation der Familien angewiesen. Gerade dieser Umstand zeichnet die Wichtigkeit der Projektarbeit aus, da es durch die Arbeit der Diakonin gelingen konnte, Misstrauen und Ängste der Familien gegenüber Ämtern abzubauen, so dass eine Zusammenarbeit möglich wurde. 49 51 „Im ersten Moment waren sie begeistert, und irgendwann haben sie bemerkt, es ist anstrengend, ich muss ja was tun und so, und dann haben sie abgeblockt.“50 Gruppeninterview mit Patinnen, Zeile 122- 138. Gruppeninterview mit Patinnen, Zeile 147-149. 50 Gruppeninterview mit Patinnen, Zeile 61-68. Gruppeninterview mit Patinnen, Zeile 171 – 174. 52 38 Schwenningen Die Problematiken innerhalb der Familien sind nicht nur finanzieller oder materieller Art, oder mit einem kleinen Justieren der Stellschraube zu beheben. Sondern die Probleme sind vielschichtig und undurchschaubar. Das überforderte die Patinnen, die ihrerseits klar definierte und überschaubare Aufgaben brauchten. Obwohl diese Aufgaben anfänglich auch mit den Familien so besprochen wurden, lief das in der Praxis schnell aus dem Ruder, was allerdings bei beiden Parteien begründet lag. Weitere Aufgaben wurden unbeabsichtigt oder auch eigenmächtig in Angriff genommen oder von den Familien eingefordert. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass es besser gewesen wäre, die Einsätze von vornherein zeitlich zu begrenzen, um eine Überforderung zu verhindern. Hierbei stellt sich aber dann die Frage, inwieweit dann ein Beziehungsaufbau zu den Familien Sinn macht. Beziehungsabbrüche aus Überforderung zogen Frustrationen nach sich. Felddokumentation 1: Die Tochter schließt sich eng an Frau H. an. Sie erfährt zum ersten Mal auch Wertschätzung für ihre Leistungen in Deutsch und auch in ihren Ordnungsstrukturen. Frau H. nimmt die Kinder und teilweise auch die Mutter mit zu Sport- und Kulturveranstaltungen. Die Kinder, besonders das Mädchen, lernen durch Frau H., die eine sehr feine Art hat, dass Konflikte nicht zuerst mit eskalierender Aggression ausgetragen werden müssen, sondern dass man sich auch verbal ausdrücken kann. Es gelingt Frau H., dass die Mutter nicht eifersüchtig wird. Im Gegenteil wird deutlich, dass diese froh ist, Verantwortung auf andere Schultern zu legen. Sie versinkt aber immer mehr in einer Internetspielsucht, Konflikte verdrängt sie. Besonders die Tochter wird ihr immer fremder, sie hat Angst, dass diese „etwas Besseres“ sein möchte. Die beiden Teenager haben sich einer rechtsradikalen Clique angeschlossen, was von der Mutter begrüßt wird. Die Patin beendet den Einsatz, möchte aber zur Tochter ein freundschaftliches Verhältnis aufrechterhalten. Die Information wurde ans Jugendamt weitergeleitet.53 Der Pateneinsatz war im Hinblick auf die Resilienzstärkung der Kinder sehr wertvoll. Die Kinder konnten im Umgang mit den Paten, die sich mit ihnen beschäftigten, kennenlernen, wie z.B. Konflikte anders gelöst werden, Aufgaben mit mehr Energie angepackt werden können, Wertschätzung erfahren wird für Leistungen, die im Familienverbund nicht gewürdigt wurden, u. a. Dies konnten die Patinnen sehr speziell leisten, auf eine andere Art als professionelle Hilfen oder auch die Diakonin, die mit anderen Aufgaben beschäftigt war. Die Schwierigkeit für die Patinnen lag allerdings darin, dass dieser Effekt oder „Erfolg“ nicht gleich messbar oder erfahrbar war. Aber es gilt zu bedenken: Erneute Beziehungsabbrüche durch scheiternde Patenschaften stellen hier zugleich auch eine enormes Gefährdungspotenzial für diese Kinder dar! Felddokumentation 2: Leider stellte sich der Umzug als Überforderung heraus. Die Patin war sehr verärgert, besonders über die Untätigkeit und Gleich53 Vgl. fortlaufende Felddokumentation im Patenmodell. gültigkeit der Mutter in der Familie, die, für sie üblich, sich zurücknahm und anderen das Feld überließ. Dies ist ein für sie übliches Verhaltensmuster, das gepaart mit dem Gefühl von erlebter Ungerechtigkeit zu einem sehr unreifen und bockigen Verhalten führt. Außerdem war entgegen den Absprachen nichts vorbereitet und beide Wohnungen in einem fürchterlichen Chaos. Durch diesen Umzug kam es zu enormen Unstimmigkeiten zwischen der Patin und der Mutter, was auf beiden Seiten zu schlimmen Anschuldigungen führte. Mit beiden Parteien wurde intensiv gesprochen. Die Patin äußerte den Satz: „Die Mutter ist das Übel in der ganzen Familie!“ Der Pateneinsatz wurde von der Diakonin abgebrochen.54 In den wenigsten Fällen gelang es, dass sich die Diakonin mehr aus den Familien herauslöste. Eine enge Begleitung der Pateneinsätze war erforderlich. So wurde die Diakonin nicht entlastet, sondern zeitlich noch mehr gebunden. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass nun Aussagen, die zwischen drei Parteien getätigt wurden, verschieden gefüllt und wiedergegeben wurden, es so zu Missverständnissen kam und von der Diakonin zusätzlich Übersetzungsarbeit geleistet werden musste. Die Einsätze in den Familien machten auch Angst und hinterließen ein Gefühl von Rat- und Hilflosigkeit bei den Patinnen. Durch den Einsatz, speziell in einem Ehrenamt, fühlten sich Patinnen nicht bis zum Letzten verantwortlich. Ein Ehrenamt gibt sich leichter auf, als eine bezahlte Anstellung. Dies stellt aber die Nachhaltigkeit des Projekts und der entstandenen Beziehungen in Frage. Familien zu finden, die nur „wenig Probleme“ haben und somit besser für einen Pateneinsatz geeignet sind, ist schwierig, da sich die Dinge schnell ändern, und Familien mit genügend Ressourcen und nur wenig Problemen gar keine fremden Paten wollen. Sie suchen sich ihre Sozialkontakte selber. Es war zu beobachten, dass die Patinnen bei ihren Einsätzen dazugelernt haben. Sie wurden sensibler im Blick auf die Problematiken der Familien. Auch konnte ich beobachten, dass die Patinnen von ihren Familien in fast allen Fällen immer mit Achtung und Wertschätzung sprachen. Die typische Mittelstands-Einstellung und -Abgrenzung zum anderen Milieu der Patinnen war nach den Einsätzen weitgehend verändert. Manche Erfahrung wurde aber auch als beunruhigend verbucht. Nach 1,5 Jahren hatten alle Patinnen auf ihren Wunsch hin die Arbeit beendet. Die älteren Patinnen fühlten sich durch die Belastung überfordert, auch im Blick auf ihr Alter. Sie konnten doch nicht mehr so viel Flexibilität aufbringen. Die jüngeren Patinnen waren mit ihren persönlichen Ressourcen für diese Arbeit besser gerüstet. Allerdings gab es auch bei ihnen Frustrationen und Überforderungen. Die Gründe für die Aufgabe der Arbeit lagen allerdings im persönlichen Bereich, da bei den jüngeren Frauen sich die eigenen Lebensumstände schnell änderten, die ein so intensives Ehrenamt nicht mehr möglich machten. 54 Aus der fortlaufenden Felddokumentation des Patenmodells. Diakonische Arbeit mit Familien in Armut und prekären Situationen Abschließend bleibt die Erkenntnis, dass solche Einsätze bei prekären Familien und in grenzwertigen Situationen bei allem guten Willen und hoher Motivation nicht unbedingt für ehrenamtliche Kräfte geeignet ist. Es gibt Aufgabengebiete, für die es die Professionalität braucht und in diesem Fall auch den besonders geschulten Blick des Diakons bzw. der Diakonin. 4. Ausblick und Anregung Die besondere aufsuchende Gehstruktur der Diakonin und die Projektkonzeption ist eine wichtige und unverzichtbare Ergänzung zu der vorherrschenden Kommstruktur in den gängigen Hilfesystemen. Aber wichtig ist zu betonen, dass hier allenfalls von einer Ergänzung und nicht einer Ersetzung gesprochen wird. Mit der speziellen Gehstruktur und der daraus folgenden Möglichkeiten der Hilfe in den Familien ist ein besonderer diakonischer Ansatz gegeben, der eher in der dichten und umfassenden Arbeit besteht und nicht in den Fallzahlen. Hier ist auch die Grenze des besonderen Ansatzes zu sehen. So ist eine Fallzahl von ca. 35 Familien, die aktuell im Projekt betreut werden, bereits grenzwertig zu sehen. Durch DiakonInnen in dieser besonderen Arbeit, die die sozialen, rechtlichen und religiösen Dimensionen in den Blick nehmen können, wird in dieser Arbeit besonders der Auftrag der Kirche zur Diakonie erfüllt. Einerseits werden gerade die aufgesucht, die sich am „Rande der Gesellschaft“ bewegen und von selber nicht den Zugang zu den Hilfen finden, andererseits haben DiakakonInnen durch den speziellen Dienstauftrag den Rücken frei, umfassend auf die Probleme und die Menschen einzugehen. DiakonInnen können hier wirklich ganz besonders zum Auge und zur Hand der Kirchengemeinde werden und die Botschaft des Evangeliums weitergeben, die sich meines Erachtens immer an die individuelle Person in ihren ganz individuellen Lebensumständen richtet und diese dort abholt. Es kommt dadurch wirklich ein Stück weit zu einem Anteilnehmen der Familien an der heilenden Zuwendung Gottes. Es wäre hilfreich, solch eine Diakonats-Stelle z.B. in den diakonischen Beratungsstellen, in den Kindergärten, oder besser noch in den Familienbildungszentren zu verorten. Durch die länger andauernde Projektzeit konnte besonders intensiv der Kontakt zu den bestehenden Hilfesystemen aufgenommen werden, auch dadurch, dass die Arbeit der Diakonin im Laufe der Zeit von der Öffentlichkeit und der Fachöffentlichkeit bemerkt und geschätzt wurde (s.a. Presseberichte). Das so entstandene Hilfsnetzwerk konnte so intensiv genutzt werden und kam den Familien direkt zu Gute. Die Arbeit der Kirche/ Diakonie wurde positiv bemerkt und wertgeschätzt. Es ist sicherlich eine grundsätzliche Überlegung wert, ob eine Kirche es „sich leisten“ kann und will, diese dem Auftrag des Evangeliums entsprechende diakonisch-missionarische Arbeit zu tragen. 39 Anhang: Ein Tag aus dem Projekttagebuch Beginn 7.00 Weiter PT Tagebuch. Klären der Fahrtkosten. Gespräch mit Frau L. diesbezüglich. Mail an den Regionalkonvent zur Absage, habe einfach keine Zeit. Ausdrucken des PT 2010 und abheften. Auto zur Reparatur-Terminabsprache gebracht, die Bremsen funktionieren nicht mehr. Ich bekomme einen Termin für Freitag. Es soll 600 Euro kosten. Der Wagen braucht eine völlig neue Bremsanlage durch den hohen Verschleiß. Habe nun innerhalb von 3 Jahren 90000 km draufgefahren. Danach Hausbesuch bei XY2 Dort sitzt auch Fam. Y3, mit mehreren Kindern, die meine neue Familie sind. Frau Y3 Ist psychisch sehr angeschlagen, wie auch ihre Kinder. Der größere Junge braucht Psychotherapie. Die Mutter auch, findet aber keinen Arzt. Ich schlage ihr die psychologische Beratungsstelle vor und mache ihr dort auch einen Termin. Desgleichen für Frau XY2. Außerdem rate ich Frau Y3 zu einer Mutter-Kind-Kur, und leite auch dort die ersten Schritte in die Wege. Frau XY2 vertraut mir das kaputte Notebook an, das Kleinkind war mal wieder am Werk. Werde es S. geben, vielleicht kann der was retten. Frau Y3 ist gerade in Trennung, weil ihr Mann sie mit einer anderen Frau betrogen hat. Diese wurde in der Affäre schwanger, von der Familie im Ausland zu einer Abtreibung gezwungen, wurde aber erneut schwanger und dieses Kind wurde auch geboren. Herr Y3 bezahlt für seine ehelichen Kinder keinen Unterhalt, und kümmert sich auch nicht. Er hat außerdem noch weitere Kinder mit anderen Frauen. Sehr verworren. Verheiratet ist er nur mit Frau Y3, aber er ist wohl irgendwo abgetaucht. Vielleicht in seinem Heimatland? Frau XY2 ist mittlerweile eifersüchtig, weil sie meint, dass Frau Y3 ihr zu viel von meiner Zeit stiehlt, die doch eigentlich ihr zusteht. Werde mich auf diese Doppelhausbesuche nicht mehr einlassen. Bin ziemlich fertig. Schreibe noch einen Brief an Frau XYZ5 Liebe Frau XYZ5 Ich bin gerade dabei, mit dem AA das Gespräch zu suchen, direkt mit dem Chef der Agentur, da Sie nachweislich zu wenig AlG II bekommen. Die 95 Euro pro Kind Wohngeld bekommen Sie nach unserer Anfrage auf dem zuständigen Amt nicht, das lief schon im Oktober aus. Das Amt behauptet, Sie hätten sich ja nicht mehr gemeldet. Durch die neuen ALG II Regelungen wird erst in ca. 1-2 Wochen geklärt, ob das in Zukunft weiter mit dem Kinderwohngeld geht, oder ob insgesamt ein neues Prozedere für alle Familien erfunden wird. Im Moment kann also keiner sagen, welches Amt in Zukunft für welche Zahlung zuständig ist. So muss das AA zumindest diesen fehlenden Betrag neu berechnen und darf ihn nicht als Einkommen dazu addieren. Sie haben ja in Wirklichkeit auch kein Geld erhalten. Ich denke in 1-2 Tagen ist sicher, ob Sie dann eine direkte Nachzahlung bekommen werden, die ihnen erst mal über die Runden hilft. Das wäre dann 40 Schwenningen kein geliehenes Geld, sondern Geld, das ihnen wirklich zusteht, und das fühlt sich doch besser an, oder? Bitte haben sie noch etwas Geduld, ich kümmere mich mit Hochdruck. Ansonsten werde ich in den nächsten Tagen nach Ihnen schauen und eventuell noch eine Hilfe für Sie finden, die die nächsten Tage mit über die Runden hilft. Liebe Grüße (Anscheinend bekommen noch mehr alleinerziehende Mütter das Problem, dass die Ämter gerade nicht einig darüber werden, wer nun für die anteiligen Mieten der Kinder zuständig ist, habe gerade einige Familien mit diesem Problem.) Gespräch mit D. wegen einer Kur für Frau Y3. Gespräch mit einem Anwalt für Familienrecht wegen Familie XYZ4. Er setzt ein Schriftstück auf. Termin abgemacht. Dienstende Literaturverzeichnis Beck, A. T./ Rush, A. J./ Shaw, B. F./ Emery, B. (Hrsg.) (1987): Cognitive therapy of depression. New York. Conen, M.-L. (Hrsg.) (2002): Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden, Heidelberg. Diakonie Schwenningen, Beratungsstelle (2011): Jahresbericht. Verfügbar unter: http://www.gemeinde.schwenningen.elk-wue.de/ fileadmin/mediapool/gemeinden/KG_schwenningen/DiakonieBeratungsstelle/11Jahresbericht.pdf (15.02.2013). Meier-Gräwe, U. (2011): Armutsprävention von Kindern und Familien im Sozialraum: eine strategische Aufgabe zur Verringerung von Bildungsarmut, in: Wittmann, S./Rauschenbach, T./Leu, H. R. (Hrsg.): Kinder in Deutschland: eine Bilanz empirischer Studien, München, S. 106-123. Wichern, J.H. (1962): Rede Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag [1848], in: Ders., Sämtliche Werke I, hg.v. P. Meinhold, Berlin/ Hamburg, S. 155-165. Walsh, F. (1998): Strengthening family resilience, New York. 41 Diakonische Jugendarbeit als Mitgestalter der Schule Bericht 3: Esslingen Diakonische Jugendarbeit und Schule Michael Proß Projektort: Esslingen Projektträger: Evangelischer Kirchenbezirk Esslingen Projektstelleninhaber: Diakon Michael Proß 42 Esslingen 1. Einleitung und Gesamtschau Seit Jahren ist zu beobachten, wie Schulen in Baden-Württemberg verstärkt zum bestimmenden Lebensraum für Kinder und Jugendliche werden.55 Die Umwandlung in Ganztagesschulen sowie die Einführung des achtjährigen Gymnasiums sind jedoch nicht nur die Schüler betreffende Umstellungen, sie sind vielmehr ein gesellschaftlicher Prozess. Bis zum Jahr 2015 sollen in Baden-Württemberg 40% der Schulen explizite Ganztagesschulen sein. Schülerinnen und Schüler verbringen dann ungefähr acht Zeitstunden im schulischen Kontext. Das Zeitfenster für die Freizeitgestaltung wird kleiner. Schon jetzt ist ein Trend erkennbar, Freizeitangebote in den Raum der Schule zu verlegen, um Kindern und Jugendlichen weiterhin den Zugang zu Freizeitangeboten zu ermöglichen. Vereine und Verbände sind hierbei gefordert, sich für diese veränderte Situation neue Konzepte zu überlegen. Durch die Verlagerung von Zeiten hin in die Schule ändert sich auch der zeitliche Anteil für die Familie als einem weiteren wesentlichen Sozialisierungsbestandteil. Eltern müssen sich hierbei auch überlegen, wann und wie qualitative Zeit mit den Kindern verbracht werden kann. Neben der Umstellung hin zu Ganztagesschulen wurden in den letzten Jahren mehrere schulische Entwicklungen in Gang gesetzt,56 die nach und nach auch außerhalb der Schule sichtbar werden: Schulen geben sich selbst ein Profil. Schulen sollen verstärkt Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen vermitteln. dass sich kirchliche Jugendarbeit der Herausforderung stellen muss, neue Wege zu beschreiten, wo bisher bewährte Zeitfenster und Gestaltungsfreiräume Jugendlicher teilweise nicht mehr zur Verfügung stehen. dass die Möglichkeit besteht, qualitätsvolle, an der ganzheitlichen Bildung junger Menschen orientierte und verlässliche Angebote in das System der Ganztagesschule einzubringen, die auf dem christlichen Menschenbild basieren, die Persönlichkeit stärken und jungen Menschen Orientierung geben. Aufgrund der oben genannten Entwicklungen ist der Ansatzpunkt des Esslinger Projekts „Diakonische Jugendarbeit als Mitgestalter der Schule“, einen diakonisch motivierten Beitrag zur ganzheitlichen Bildung von Schülerinnen und Schülern im Lebensraum Schule zu leisten. In dem großen Feld von möglichen diakonischen Beiträgen verständigten sich die Projektverantwortlichen in Esslingen darauf, einzelnen Schulen im gesamten Kirchenbezirk Esslingen Projekte kirchlicher Jugendbildungsarbeit anzubieten. Primär im außerunterrichtlichen Angebot wollen wir den Lebensraum Schule mit persönlichkeits- und gemeinschaftsfördernden Elementen einer christlich orientierten Arbeit füllen. Soziales Lernen und Persönlichkeitsentwicklung sind unserer Meinung nach Stärken außerschulischer und verbandlicher Bildungsarbeit. Daher wollen wir die resilienzfördernden Charakteristika kirchlicher Jugendarbeit in den Lebensraum Schule transferieren, um jungen Menschen bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und -reifung und zu helfen und sie zu inspirieren, Verantwortung für sich, für andere und für die Gesellschaft zu übernehmen. Schulen nehmen eine ganzheitliche Bildung in den Fokus. So kann festgestellt werden, dass im System Schule in den letzten Jahren viele wegweisende Veränderungsprozesse in Gang gesetzt wurden, denen es nun gilt, sie gesellschaftlich aufzunehmen und einzupassen. Wie andere Systeme müssen sich auch Kirche und kirchliche Jugendarbeit diesen neuen Rahmenbedingungen und den damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen. Es ist unabdingbar, dass kirchliche Arbeit auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert und sich zum Wohle von Kindern und Jugendlichen einbringt. In diesen Prozessen kann kirchliche Jugendarbeit ein kompetenter Partner sein, da soziales Lernen und Persönlichkeitsentwicklung explizite Stärken außerschulischer und verbandlicher Bildungsarbeit sind. In der Erweiterung des Bildungs- und Lernspektrums ist eine große Chance zu sehen, die Erziehung und Bildungssituation für die junge Generation nachhaltig zu verbessern. Als Konsequenz oben erwähnter Entwicklung ist zu sagen: dass die Schulen und ihre Träger Unterstützung gesellschaftlicher Teilsysteme – damit auch der Kirchen – brauchen. 55 Vgl. Rauschenbach 2010, S. X. Vgl. Hentig 2004, S. 7-20. 56 In der Ausgestaltung der Angebote war uns wichtig, dass zur Persönlichkeitsentwicklung und Lebensentfaltung ein „notenfreier Raum“ benötigt wird. Unsere Angebote sollen sich diesbezüglich von den schulischen Fächern unterscheiden. Den Projektpartnern vor Ort war die Verknüpfung der Projekte mit der bestehenden kirchlichen Jugendarbeit ein wesentliches Anliegen. Mit Hilfe des Projekts sollte ausprobiert werden, ob Schulkooperationsmaßnahmen sich zukünftig zu einem weiteren Standbein evangelischer Jugendarbeit entwickeln könnte. Der Evangelische Kirchenbezirk Esslingen ist der Anstellungsträger. Die Dienst- und Fachaufsicht liegt beim Schuldekan. Ein Fachbeirat, bestehend aus Vertretern aus dem Evangelischen Jugendwerk Esslingen und dem CVJM Esslingen, dem Jugendpfarrer und dem Schuldekan, begleitet die Arbeit. Insgesamt handelt es sich um 150% Stellenanteile im Feld Evangelische Jugendarbeit und Schule. 100% nimmt die Projektstelle „Diakonat neu gedacht, neu gelebt“ ein. Jeweils 25% bringen das eje, Evangelisches Jugendwerk Bezirk Esslingen, und der CVJM Esslingen aus bestehenden Stellenanteilen in die Arbeit mit Schulen ein. Als Unterziele für das erste Projektjahr war die Kontaktaufnahme mit Schulen sowie örtlicher Jugendarbeit und Kirchengemeinden vorgesehen. Es sollten Strategien für die Vernetzung von Schulen Diakonische Jugendarbeit und Schule und örtlicher Jugendarbeit entwickelt werden. Im zweiten Jahr sollten Bildungsangebote entwickelt und implementiert, sowie das Gesamtkonzept weiter entwickelt werden. Relativ schnell kristallisierten sich zwei Bildungsangebote heraus, die bei mehreren Schulen auf offene Türen trafen: zum einen ein zweitägiger Kompetenz-Check zur Berufsorientierung, der eingehend die Fähigkeiten und Stärken der Teilnehmer analysiert und ihnen passende Berufsfelder aufzeigt, zum anderen die Ausbildung von älteren Schülern zu sogenannten JuniorJugendbegleitern57, die im schulischen oder verbandlichen Umfeld die gewonnenen pädagogischen Kenntnisse in der Betreuung von Kindern einbringen können. Da die Inhalte der Jugendbegleiterausbildung denen der Schülermentorenprogramme (SMP) sehr ähnlich sind, konnte schon im ersten Projektjahr ein erstes Kooperationsprogramm gestartet werden. Bei vielen Punkten wurde während des Projekts die Zielerreichung früher als angenommen erreicht. Lediglich bei der Vernetzung mit örtlicher Jugendarbeit in der Breite des Kirchenbezirks blieben wir hinter den Erwartungen zurück. Es hat sich als schwierig herausgestellt, zu den benötigten Zeiten qualifizierte Ehrenamtliche zu gewinnen, die in die Programme mit einsteigen können. In der vorliegenden Evaluation wurden neben Schulleitern kooperierender Schulen ausschließlich Teilnehmer verschiedener Jugendbegleiterausbildungen befragt, um Ergebnisse vergleichbar zu machen. Daher sei zu Beginn noch etwas eingehender auf das Konzept der Jugendbegleiterausbildung eingegangen: Jugendbegleiter sind Menschen, die außerunterrichtliche Bildungsund Betreuungsangebote an Schulen durchführen. Primär waren von der Landesregierung 2006 Erwachsene im Blickpunkt des Programms. Da sich aber nicht in dem benötigten Maß Erwachsene für diese Art des bürgerschaftlichen Engagements finden ließen, wurde das Programm auf Jugendliche ausgedehnt. 43 gendbegleiterausbildung viele Faktoren für eine Kooperation gegeben zu sein. Auch war es im Esslinger Projekt möglich, Schülerinnen und Schüler zu erreichen, die bislang wenig oder keine Vorerfahrungen mit kirchlicher Jugendarbeit hatten. Viele Teilnehmer profitierten von den Erfahrungen, die sie während der Kooperationsprogramme machen konnten. 2 Vertiefte Evaluation Ausgehend von unserem normativen Ziel „Evangelische Jugendarbeit leistet einen diakonisch motivierten Beitrag zur ganzheitlichen Bildung von Schülerinnen und Schülern im Lebensraum Schule.“ wollten wir uns bei der Evaluation darauf beschränken, die Zielerreichung unseres ersten strategischen Ziels „Evangelische Jugendarbeit ist als Träger von Angeboten zur ganzheitlichen Bildung von Schülerinnen und Schülern in deren Lebensraum bekannt. Sie werden von Schulen, Schülerinnen und Schülern gerne in Anspruch genommen.“ zu untersuchen. Das strategische Ziel haben wir in folgende vier Unterziele zerlegt, die den Leitfaden für die vorliegende Evaluation bilden: Angebote der Evangelischen Jugendarbeit im Feld Schule sind bei Rektoren und Schülern bekannt und werden gerne in Anspruch genommen. In unserer 40 Stunden umfassenden Ausbildung erhalten die Teilnehmer, die meist zwischen 13 und 15 Jahren alt sind, eine kompakte Schulung zu wesentlichen pädagogischen Themen, die die Teilnehmer in die Lage versetzen sollen, unter Anleitung Angebote für Kinder durchzuführen. Themen wie Aufsichtspflicht, Spielpädagogik, Gruppenpädagogik usw. werden behandelt. Evangelische Jugendarbeit begegnet einer breiten sozialen Schicht der Teilnehmer, darunter viele, die bisher noch an keinem kirchlichen Angebot teilnehmen. Wesentlicher Bestandteil ist auch ein Praktikum, in dem die Teilnehmer die in der Theorie gelernten Inhalte praktisch anwenden können. Als Träger der Jugendbegleiterausbildung stellen wir den Teilnehmern unter anderem auch Stellen im kirchlichen Umfeld vor. Jugendliche gelangen durch diakonische Arbeit an Schulen in weitere kirchliche Angebote. Aufgrund der Projekterfahrungen in Esslingen kann gesagt werden, dass momentan in vielen Schulen offene Türen für Kooperationen mit der Evangelischen Kirche vorhanden sind. Manchen Schulleitern ist es wichtig, dass die Kooperationsprogramme so konzipiert sind, dass die Schulen ihre weltanschauliche Neutralität weiter wahren können. Bei vielen anderen Rektoren scheinen vor allem bei der Ju57 Näheres zum Thema Jugendbegleiter unter www.jugendbegleiter.de Wo verorten Jugendliche „Glaube“ und welche Rolle spielen Angebote der Evangelischen Jugendarbeit darin? 2.1 Ausarbeitung Teilziel 1: Bekanntheit und Inanspruchnahme der Angebote Angebote der Evangelischen Jugendarbeit im Feld Schule sind bei Rektoren und Schülern bekannt und werden gerne in Anspruch genommen 44 Esslingen Um das Teilziel 1 zu evaluieren wurden folgende Methoden angewandt: Zwei Gruppendiskussionen mit Schülern, die an einem Programm teilgenommen haben. Bei den beiden Gruppen handelt es sich um Schülerinnen und Schüler zweier unterschiedlicher Schulformen im Alter von 13 bis 15 Jahren. Eine Gruppendiskussion wurde mit sechs, die zweite mit sieben Teilnehmern geführt. Der Leitfaden für die Diskussionen wurde vom Projektstelleninhaber erstellt. Die Durchführung wurde von externen Personen vorgenommen, die den Teilnehmern vorher nicht bekannt waren. Wesentlich ist noch zu erwähnen, dass die Schülerinnen und Schüler bei einer Kooperation freiwillig am Programm teilgenommen haben58, wohingegen sich die zweite Kooperation auf eine komplette Klasse erstreckte, deren Schüler somit am Programm teilnehmen mussten59. Ein Gruppeninterview mit Rektoren60, deren Schule bei Programmen kooperierte. Es handelt sich bei den teilnehmenden Rektoren um Rektoren zweier Schulformen. Der Projektstelleninhaber erstellte den Interview-Leitfaden, eine externe Person führte das Interview durch. A: „Ja, eben, ich wär auch nicht.“ [kurzer Exkurs] A: „Und halt ein Aushang oder ein Plakat .. ist mittlerweile echt das Problem, weil es zehntausend Aushänge und Plakate. Man erreicht darüber einfach auch kein Schwein mehr.“ In einer zweiten Befragung64 kommt die Teilnehmerin bei der abschließenden Frage, ob es noch etwas zu sagen gibt oder was er sich von Kirche und CVJM wünscht, zu folgender Aussage: C: „Ich finde, die einzelnen Gruppen sollten mehr Werbung machen … So an Schulen oder so. Weil wenn ich jetzt in der Schule erzähle, ja kommt doch mal in den CVJM oder in TenSing, dann fragen die mich, gucken die mich doof an und fragen, ja was ist denn das? Ok, früher wusste ich auch, was CVJM ist, aber man könnte ja heutzutage schon ein bisschen Werbung machen dafür. Also meine Meinung.“ (Z. 105ff.) Ein weiterer Gesprächsauszug der Jugendbefragung65 ab Zeile 248 dreht sich ebenfalls um die Bekanntheit christlicher Angebote. Die Lösung, die in der Diskussion entwickelt wird, schlägt ein Programmheft mit vor: Zwei Befragungen mit Jugendlichen61, die an Programmen teilgenommen haben. Sie wurden vom Projektstelleninhaber durchgeführt, einmal mit einem Teilnehmer, das andere Interview mit zwei Teilnehmenden. A: „Ich find das CVJM muss man sich seine Angebote relativ zusammen suchen.“ B: „Ja.“ A: „Also wenn man mal so rein und rein kommt kriegt man ja viel mit und dann kriegt man auch viele coole Aktionen mit, aber es gibt einiges wovon ich denk, hey das würde Anderen auch Spaß machen, wenn sie das mal wissen würden. (2) Ähm.“ Interv.: „Zum Beispiel?“ A: „Einfach die Freizeiten, die ich beim CVJM einfach geil finde. Ähm .. aber auch so Jugendbegleitergrundkurs. Gut da ist man durch die Schulen gegangen, das fand ich echt was ziemlich Cooles. Da kommt dann der nächste Punkt mit rein, dass halt einfach .. der CVJM, weil er so christlich ist, halt was total doofes ist. Weil Glauben ist ja eh scheiße. Ähm .. ja aber ich find es eigentlich die Angebote werden zu wenig genutzt.“ A: „Ja. Das nur ein Programmheft für Jugendliche so ganz klar irgendwas drin steht das wär gar nicht schlecht. Das dann irgendwo ausliegt.“ Feldnotizen des Projektstelleninhabers62. 2.1.1 Aussagen zum Thema Werbung In einer Befragung mit zwei Jugendlichen63 diskutieren die Teilnehmer über die Frage, welche Angebote es für Jugendliche in ihrer Stadt bräuchte, und wie diese inhaltlich und äußerlich gestaltet sein müssten. Manche Jugendeinrichtungen werden als positiv, andere als negativ empfunden beschrieben. Sie entwickeln den Gedanken eines großen Jugendzentrums, das vielerlei Interessen bedienen kann. In diesem Zusammenhang kommt es auch zu folgendem Wortwechsel ab Zeile 306: B: „Und so ein Zentrum, das vielleicht nicht nur unter diesem christlichen Aspekt läuft. Soll dann halt mehr ansprechen.“ A: „Ha, ich fand es gut, dieses ähm, durch die Klassen gehen. Das ist eine tolle Kommunikationsart, mit der man hier diesen Jugendbegleiter ...“ B: „Ja, da sind auch viele dazu gekommen. Ich wär sonst auch nicht dazu gekommen.“ 58 60 61 62 63 59 Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung und 2011_12_22 Jugendbefragung Vgl. Feldnotizen Michael Proß Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung Aus den Feldnotizen des Stelleninhabers66 lässt sich beobachten, dass sich eine Schule im direkten Bezug auf einen Zeitungsartikel am Vortag gemeldet hat. Daraus hat sich eine jahrelange Kooperation ergeben. Einige Kooperationen entstanden durch die Vermittlung des Schuldekans, der Großteil der Kooperationen ist auf die Initiative des Stelleninhabers zurück zu führen, der auf die Schulen aktiv zugegangen ist. In einigen Gesprächen waren Schulleiter bei Kooperationen mit der Evangelischen Kirche skeptisch und wollten bei der Art des Kooperationsprogramms ihre weltanschauliche Neutralität gewahrt halten. Ebenso aus Feldnotizen kann der Stelleninhaber berichten, 64 Vgl. 2011_12_22 Jugendbefragung Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung 66 Vgl. Feldnotizen Michael Proß 65 Diakonische Jugendarbeit und Schule dass fast alle Schulen, die bei einem Programm kooperiert haben, diese Kooperation auch im nächsten Jahr wünschen. Gestützt wird diese Feldnotiz durch folgendes Zitat eines Rektors67: Z. 32, X: „Ich weiß aber gar nicht genau, ähm, jetzt der vierte oder fünfte Durchgang. Mir kommt es auf jeden Fall schon so vor wie, wenn’s .. ja schon eine gewisse Tradition hat.“ (Anmerkung: Es lief zu der Zeit gerade der dritte Durchgang) 2.1.2 A ussagen zur Motivation zur Teilnahme an Kooperationen In einer Gruppendiskussion69 wurden die Teilnehmer nach ihren Erwartungen und nach ihrer Motivation zur Teilnahme gefragt: J: „Also am Anfang habe ich eigentlich mitgemacht, weil jemand gesagt hat, es ist gut für die Bewerbung. Aber dann nach einer Zeit hat es mir auch ziemlich Spaß gemacht. Also ich hätte nicht gedacht, dass es so gut wird.“ K: „Ich habe auch immer gedacht, das wird voll langweilig und was will ich da. Und das habe ich eigentlich nur für den Zeugnis gemacht und so dass es drinnen steht. Aber dann hat es mir auch übelst gefallen und es hat mir auch Spaß gemacht und ich habe ja auch was dazu gelernt.“ (Z. 233) Im ihrem Interview68 kommen die Schulleiter nach ca. 22 Min. (ab Zeile 301) zu der Frage, mit welchen Interessen sich die Kirche auf die Schule zu bewegt: Z: „Wobei die die evangelische Kirche sicher Interesse hat, dass sie jetzt gerade hier Mitarbeiter in diesen Bereich schickt, ja. Also ich mein, das kostet ja auch Zeit, kostet Geld und es sollte ja eigentlich für die Kirche auch irgendwas bringen. Oder ist es nur so aus Spaß an der Freude, oder? Ja, ich denke äh die Kirche, sagen wir es doch offen, hat Probleme Kinder und Jugendliche in die Kirche rein zu kriegen und wo gibt’s die, die gibt’s in der Schule, ja, also. Da kann man sie ansprechen.“ Interv.: [...] Z: „Ja, ja gut, find ich auch legitim, ja. Also, ich mein in anderen Bereichen mach sagt man des dann offener. Wenn man eine Tennis AG mit einem Tennisclub macht (unverständlich) der macht das, weil die dann nachher in Verein eintreten sollen, ja. Da kann man das offen sagen. Ich mein in der Kirche, wenn ich jetzt muslimische Kinder dabei sind, dann kann das Ziel nicht jetzt so vordergründig sein, ja. Sondern eher indirekt vielleicht, äh erreicht werden.“ Interv.: [...] Z: „Von daher wär’ es ja ein richtiger Weg der Kirche, ja raus zu gehen in Bereiche, die zunächst einmal nicht kirchlich geprägt sind.“ Laut den Aussagen der Teilnehmer haben Jugendliche heute keinen automatischen Zugang zu den Werbekanälen der Evangelischen Jugendarbeit. Da sie die kirchlichen Angebote positiv erlebt haben, wünschen sie sich eine bessere Werbung. Die Möglichkeit, über Schulkooperationen gezielt bei Schülern zu werben, unterstützen sie in hohem Maß. Laut Schüleraussagen scheint es möglich, über Schulkooperationen neue Zielgruppen anzusprechen. Bei der Kooperation mit Schulen besteht die größte Herausforderung darin, den Erstkontakt zur Schule herzustellen und erstmalig Kooperationen durchzuführen. Schulen verlängern bei guten Erfahrungen gerne die Kooperation. Rektoren stellen sich sehr wohl die Frage, aus welcher Motivation heraus die Kirche ihr Engagement an Schulen betreibt. Auch wenn es beim vorliegenden Interview nicht eindeutig scheint, ob es sich für Kirche nicht schickt, Mitgliederwerbung zu betreiben, oder ob Kirche in diesem Aspekt nicht immer vollständig ehrlich auftritt, so lässt sich feststellen, dass Kirche ihren diakonischen Einsatz für Schüler an Schulen klar kommunizieren sollte. 67 Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview 68 Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview 45 Zu einem späteren Zeitpunkt, ab Zeile 495, wird in der gleichen Diskussion in Zusammenhang nach der Frage des Trägers ein weiterer Motivationsgrund genannt: K: „Der (Anmerkung: der Projektstelleninhaber bei der Werbeaktion im Unterricht) hat uns ja auch etwas – also gefragt, wer das machen will, hatten die ja gesagt, das ist ein kirchliches Angebot und hat dann ein paar kleine Details gesagt, dass es während der Schulzeit so ist und dann (unverständliches Gemurmel) kein Unterricht, kein Mathe, kein Deutsch, gehen wir doch Jugendbegleiter machen.“ L: „Ja, ich denke, deswegen haben das auch alle gemacht. Wäre es in der Freizeit, dann würden es nicht so viele Leute machen, denke ich mal. (…) Aber danach hat es sich ja verändert.“ M: „Es war ja aber auch so wie Unterricht, halt nur auf eine andere Art. Eine andere Perspektive. Aber sonst“ K: „Also ich würde es persönlich jedem empfehlen, so was zu machen. Lernt man was – ziemlich viel Neues.“ Ebenso drückt es ein Schüler in einer anderen Gruppendiskussion70 aus: Z. 702, G: „Ich glaub die meisten (…) gehen zu solchen Aktivitäten eigentlich auch nur, damit sie halt keine Schule haben.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang ein kurzer Abschnitt71 zuvor (ab Zeile 677), bei dem die Meinungen darüber auseinander gehen, ob man ein solches Programm auch freiwillig besucht hätte: Interv.: „Ihr musstet die Jugendbegleiterausbildung ja machen. Das war ihr durftet es euch ja nicht aussuchen.“ F: „Ja eben, des war des Problem.“ Interv.: „Des war´s Problem. Hättest nicht gemacht, wenn du`s“ F:„Nein, ich würd´s auch nicht“ E:„Nich?“ D: „Ja, Schule oder oder Jugendbegleiterausbildung?“ 69 Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion 71 Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion 70 46 Esslingen E: „Ich glaub ich hätt´s gemacht.“ F: „Wenn du zuhause bleiben dürftest, wärst du lieber zu Hause geblieben oder wärst du da hin gegangen?“ E: „Ich hätt es gemacht.“ G: „Ich wär da hin gegangen.“ D: „Ich auch.“ H: „Du Gangster.“ An anderer Stelle73, als das Gespräch wieder auf die verlässliche Organisation der Kooperation geht, verdeutlicht X dies mit einer weiteren Aussage: Für die Schüler standen zu Beginn Faktoren wie Unterrichtsausfall und Nützlichkeit für die Bewerbung im Vordergrund. Die Möglichkeit, bei Schulkooperationen teilweise Unterrichtszeit für die Programme zu benutzen, öffnete den Zugang zu einer größeren Zielgruppe. Während des Kurses kamen dann auch andere Faktoren zum Tragen, so dass viele Teilnehmer dem Programm am Ende positiv gegenüber standen. Für die Kirche als Kooperationspartner der Schule sind in diesem Zusammenhang Aussagen zu bedenken, dass Schulleitungen bei der Auswahl von Kooperationen oftmals sehr pragmatisch vorgehen: 2.1.3 F aktoren, die aus Rektoren-Sicht für Kooperationen vorliegen sollen Relativ zu Beginn (ab Zeile 104) kommen die Schulleitenden72 bei der Frage, was sie von Erfahrungen bei der Kooperation mit Kirche beschreiben können, auf das Thema Verlässlichkeit: Y: „Ich denk, für mich war das Wichtigste, dass die Verabredungen, die man getroffen hat, wirklich absolut zuverlässig und im vollen Umfang durchgeführt werden. [5] Einmal abgesprochen – funktioniert.“ Interv.: „Ja. Schön.“ Y: „Braucht man sich nicht mehr groß drum kümmern.“ Interv.: „Ja. Können Sie da zustimmen?“ X: „Ja, das kann ich bestätigen. Also das ist unheimlich wichtig eben auch im Schulbereich wenn man solche Sachen macht gerade zwischen vielen Kooperationspartnern die Kirche ist ja nur einer davon. Und wenn man dann dauernd irgendwie nachhaken muss und das funktioniert nicht richtig dann äh macht das keinen Spaß.“ Interv.: „Ja.“ X: „Kann ich unterstreichen und möchte es auch ergänzen auf die angenehme Art des Kontakts. Die Beziehung stimmt. Würd man so sagen. Ähm und muss es auch noch ergänzen mit einem weiteren Projekt, dass ich zum einen vergessen hab. Wir haben ja noch den Kompetenzcheck im Rahmen der Berufsorientierung. Und auch hier ist ähm ne klarere Absprache und dann läuft`s.“ Interv.: „Ja.“ X: „Und ich kann mich auch hundert prozentig drauf verlassen, wenn der Weigel (Anmerk.: Der Hausmeister) den Herrn Proß und seine Mitarbeiter sozusagen ja vermietet sind äh dann hat es Hand und Fuß und brauch ich nicht mehr darüber nachdenken oder danach gucken. Und das ist sehr angenehm.“ 72 Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview X: „Herr Proß hat auf seiner zeitlichen Agenda, wann er mich anruft. (…) und das ist für uns, für mich auf jeden Fall, eine unheimliche Erleichterung.“ (Z. 439) X: „Wenn ich an Angebote im Schulalltag bedenke, dann dank ich mir meine Schüler und dann denke ich, welche Person kann das machen – und nicht welche Institution steht da dahinter.“ (Z. 278) Und wenig später: X: „Also für uns immer wichtig, viele sag ich mal, Personen mit in die Schule zu bekommen, also Externe oder Experten, dass unsere Schüler ein umfangreiches Bild bekommen von dem, was außerhalb der Schule ist. Dass unsere Schüler auch unterschiedliche Personen und deren Wertvorstellungen kennen lernen.“ (Z. 343) Bei Schulen hat im Zusammenhang mit Kooperationen immer Verlässlichkeit die oberste Priorität. Die Verlässlichkeit lässt sich aber nicht aufgrund der Organisation des Kooperationspartners ableiten, sondern ist personal gebunden. Auf die Frage, was bei Kooperationen mit der Evangelischen Kirche auf keinen Fall passieren dürfte, äußerte sich Schulleiter Z wie folgt: Z: „Ja gut, es dürfte auf keinen Fall passieren, dass eben die muslimischen Kinder völlig vor den Kopf gestoßen werden, ja, oder dass eben der Missionsgedanke vielleicht zu sehr einfach in den Vordergrund gerückt wird.“ (Z. 368) Rektor Y hatte dieses Thema bereits früher im Gespräch ähnlich eingebracht, als es um mögliche Kooperationsfelder zwischen Kirche und Schule ging: Y: „Also es gäbe sicherlich Felder, wo man Kooperationen auch lebt, man lebt sie auch, indem man Schulgottesdienste macht und solche Dinge. Aber es gibt schon auch andere Verknüpfungspunkte, aber das sind dann doch wieder Angebote eher für spezielle Gruppen. Jetzt hier hat man ja ein Angebot, wo eigentlich alle dran teilnehmen – ohne Ansehen der Person sozusagen oder seines Hintergrundes. Und ich denk, das ist eine ganz wichtige DingSache, denke ich, dass man wirklich alle an dieser Ausbildung teilnehmen können, die Interesse haben und nicht jetzt sortiert wird in evangelisch und katholisch und muslimisch oder sonst irgendwas.“ (Z. 290) 73 Vgl. 2011_10_25 Gruppeninterview Diakonische Jugendarbeit und Schule Schulleiter wünschen sich Kooperationsprogramme, die für alle Schüler offen stehen, und die nicht aufgrund ihrer ideologischen Prägung Schüler ausschließen. Ohne es letztendlich durch Originalzitate belegen zu können, scheint es den Rektoren lieber, wenn sich Schüler aufgrund von Interessen für Angebote und Kooperationen entscheiden, als wenn religiöse Herkunft über die Teilnahme entscheidet. aber schon die überwiegende Mehrzahl und ich habe dann wirklich eine positive Auswirkung auf die Klassengemeinschaft gespürt. Ja, der Umgang miteinander, auch dadurch dass sie da zusammen auf dem Wochenende in Asch waren, hat dazu beigetragen dass sie einfach besser und angenehmer miteinander umgegangen sind. Also des war jetzt der positive Effekt für die Schule. Die anderen sind ja schon genannt worden: Stärkung der Persönlichkeit und so weiter. Aber das war jetzt für uns ganz äh, ganz angenehm.“ An einer Stelle unterhalten sich die Rektoren darüber, wie sie das konkrete Kooperationsprojekt „Jugendbegleiterausbildung“ bewerten: Z: „Ich mein, letztendlich profitieren die Schüler ja zunächst mal von der Ausbildung selber, von diesem halben Jahr. In ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Man kann auch sagen, das ist ok, wenn das dabei bleibt und sie sich dann noch in der Schule noch in ein paar Projekten einbringen, dann hat man sein Ziel erreicht.“ (Z. 185) In einer zweiten Gesprächssequenz über dasselbe Thema am Ende des Interviews (ab Zeile 381) äußern sich die Schulleitenden wie folgt: Y: „Ich denk, da ist der Erfahrungsraum noch ein bisschen trotz allem kurz. Vor allem wenn man die Schüler ja auch noch kurz nach dieser Ausbildung haben, also ich kann mich jetzt erinnern an einen Schüler der letztes Jahr die Schule verlassen hat, nach der Klasse neun. Ich denk, der hat der ist in seiner Persönlichkeit, der kommt aus schwierigen sozialen Verhältnissen, durch diese Ausbildung ganz gut gestärkt worden, so dass er jetzt in eine problemlos in eine Berufsausbildung wechseln konnte uns sogar sich unter zwei verschiedenen Ausbildungsbereichen sogar noch wählen konnte. Also ich denk das ist so und ich denk der hat soviel Stärke entwickelt, dass er sich auch durchboxen kann, wie man das so schön des einfach ausdrückt. Ich denk auch, andere die einfach jetzt sehen wir haben jetzt Möglichkeiten zu sagen, wenn uns das Angebot der Schule nicht passt, im Bereich Mittagszeit oder so was selber auf Ideen Ideen zu entwickeln und und auch diese Dinge wenn sie praktikabel sind auch um zusetzen.“ X: „Mir fallen auch zwei Stichwörter ein und das ist Begegnungen mit Menschen, die die dort machen und dann äh Belehrungssituationen.“ (3) Interv.: „Wollen Sie da noch bisschen was dazu sagen?“ X: Also, im Hinblick zum Beispiel, wenn sie unsere Schüler egal ob sie im Kindergarten ihr Praktikum machen oder dann im Altenheim für jemanden zuständig sind oder hier für älteren Senior in im Ortsteil hier sich bewähren müssen, alleine ohne die den Freundeskreis dabei zu haben sich mit einem Menschen auseinander zu setzen, sich mit der Situation auseinander zu setzten, die man vielleicht so noch nicht erfahren hat und dann nachher das Gefühl zu haben, ich habe mich gut bewährt auch die positiven Rückmeldungen von den jeweiligen Personen zu bekommen. Ich glaub des ist ganz wichtig für unsere Schüler.“ Z: „Ja, bei uns kamen ja die Schüler alle aus einem gleich – aus der gleichen Klasse, es hat zwar nicht die ganze Klasse mitgemacht 47 Die Schulleitenden haben den konkreten Nutzen der Kooperation für ihre Schüler und für die Schule als Ganzes im Blick. Mit der Jugendbegleiterausbildung scheinen viele Faktoren für die Schulleiter zu passen, weshalb sie großes Interesse an einer Zusammenarbeit in diesem Bereich zeigen. 2.2 Ausarbeitung Teilziel 2: Erreichte Teilnehmer und Teilnehmerinnen Evangelische Jugendarbeit begegnet einer breiten sozialen Schicht der Teilnehmer, darunter viele, die bisher noch an keinem kirchlichen Angebot teilnehmen. Um das Teilziel 2 zu evaluieren wurde folgende Methode angewandt: Bei Kooperationsprogrammen (Jugendbegleiterausbildungen und Kompetenzchecks) wurden in den Jahren 2010 und 2011 insgesamt n=176 Teilnehmer per Fragebogen befragt.74 Zum besseren Verständnis der Datenlage muss hinzugefügt werden, dass unter den Realschülern 55 Teilnehmer sind (entspricht 62,5% der Realschüler), die aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit beim Kooperationsprogramm teilnehmen mussten und dies vielleicht nicht freiwillig gewählt hätten, wie es bei Haupt- bzw. Werkrealschulen und Gymnasien der Fall war. 2.2.1 Auswertung Fragebogen Schulart HS und WRS 25,6% RS50,0% Gymnasium 24,4% Im Gegensatz zu den Schülerzahlen der unterschiedlichen Schulformen in Esslingen (Verteilung grob: 25% HS und WRS, 25% RS, 50% Gymn.) ist bei unseren Kooperationen die Realschule überdurchschnittlich stark vertreten. Dies liegt unter anderem an der sehr guten Verknüpfung unserer Kooperationen mit dem TOP 74 Vgl. Gesammelte Sozialdaten 48 Esslingen SE75 in Klasse 8. Leider liegen uns für Esslingen keine Vergleichsdaten bezüglich Schulform der Jugendgruppen-Teilnehmer vor. Religionszugehörigkeit evangelisch 48,3% katholisch 25,0% Muslime 13,6% Ohne 7,4% 5,7% Sonstige Isoliert betrachtet beträgt der Anteil der Evangelischen am Gymnasium 60,5%, der Anteil der Muslime an der HWRS 17,8%. Es war in unseren Auswertungen nicht feststellbar, dass ein besonders hoher Teil an konfessionslosen Gymnasiasten unsere Angebote besucht hätte. Wenn die Fragebogen von den Teilnehmern ehrlich ausgefüllt wurden, so zeigen sie, dass durch die Schulkooperationen ein hoher Anteil an Schülern erreicht wurde, die mit kirchlicher Jugendarbeit zuvor noch keine Kontakte hatten. Nicht nur Christen oder Mitglieder bestehender Jugendarbeit besuchen die Schulkooperationen. Auch der Anteil der Teilnehmer mit Migrationshintergrund oder mit muslimischem Glauben zeigt, dass eine breite soziale Schicht angesprochen werden konnte. 2.3 Ausarbeitung Teilziel 3: Verortung von Glauben Wo verorten Jugendliche „Glaube“ und welche Rolle spielen Angebote der Evangelischen Jugendarbeit darin? Migrationshintergrund 36,9% haben Migrationshintergrund (1. oder 2. Generation) Vereinszugehörigkeit 16,5% gehen nicht in einen Verein oder eine regelmäßige Gruppe (HWRS 26,7%; RS 14,8%; Gymn. 9,3%) Um Daten im Rahmen des Teilziels 3 zu erheben wurden folgende Methoden angewandt: Zwei Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern76, die an einem Programm teilgenommen haben. Es handelt sich um dieselbe Gruppendiskussion wie unter Punkt 2.1. In den Gesprächsleitfäden wurden diesbezüglich Fragen eingebaut. 14,8% besuchten schon vor ihrer Teilnahme am Kooperationsprogramm regelmäßig kirchliche Angebote (HWRS 11,1%; RS 9,1%; Gymn. 30,2%) Vorerfahrungen mit kirchlichen Gruppen (in Kirchengemeinden, CVJM, Evang. Jugendwerk) wie z.B. Kinderkirche, Jungschar, Waldheim, Freizeit: 33,0% haben davor schon kirchliche Angebote besucht (der Konfirmanden-Unterricht wurde in diesem Zusammenhang nicht als kirchliches Angebot erfasst, da uns hierbei der Freiwilligkeitsgrad beeinträchtigt schien): HWRS 35,6%; RS 25,0%; Gymn. 46,5%, (Bemerkung: bei RS sind einige Projekte für ganze Klasse verpflichtend gewesen.) 67% hatten mit kirchlicher Jugendarbeit davor noch keinen Kontakt. Zwei Befragungen mit Jugendlichen77, die an einem unserer Programme teilgenommen haben. Im Rahmen der Interviews wurden diesen Jugendlichen eine Landkarte und farbige Nadeln zur Verfügung gestellt, um ihren Lebensraum zu kennzeichnen (Nadelmethode). Als Einstieg in die Befragung78 wurde die sogenannte Nadelmethode verwendet. Den Jugendlichen wurde ein Stadtplan vorgelegt, in den sie Nadeln an die Orte stecken mussten, an denen sie ihre Freizeit verbringen. Das Interesse lag daran, anhand der Nadelmethode festzustellen, ob auch Kirche bzw. kirchliche Jugendarbeit bei der Freizeitgestaltung genannt wird und somit im Blickfeld der Jugendlichen ist. Glaube Für 29,2% spielt der Glaube an Gott eine Rolle in ihrem Leben. Betrachtet man nur die Nennungen der muslimischen Schüler, so ist der Anteil höher (64%). Interessant ist, dass von denen, bei denen der Glaube an Gott in ihrem Leben eine Rolle spielt, nur 47% monatlich oder mehrmals im Monat ein Gotteshaus besuchen. Glaube und Besuch eines Gotteshauses scheinen nur zu gewissen Graden zu korrelieren. Fasst man auf die Frage „Spielt der Glaube an Gott eine Rolle in deinem Leben“ die Antworten „Ja“ und „ein bisschen“ zusammen, so steigt der Wert auf 52,7%. 75 Themenorientiertes Projekt Soziales Engagement Es wurden folgende Orte als Plätze, an denen die Jugendlichen ihre Freizeit verbringen, benannt: Freunde, Kino, Cafés o.ä., Parks, Theater, Bücherei, Sportorte, Orte für Musik und Band, AG‘s in der Schule sowie vereinzelt kirchliche Einrichtungen. Im Anschluss an die Nadelmethode wurde den Jugendlichen in der Befragung 2011_12_21 die erste Frage gestellt, an welchen Orten etwas für Jugendliche angeboten wird. Neben den Jugendhäusern und den Sportvereinen fiel auch das Stichwort Kirche, das mit Teeniekreisen/Jugendgruppen, Ministrantenstunden und Konfi-Gruppen näher spezifiziert wurde. 76 Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion und 2011_07_22 Gruppendiskussion Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung und 2011_12_22 Jugendbefragung 78 Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung und 2011_12_22 Jugendbefragung 77 Diakonische Jugendarbeit und Schule Auf die zweite Frage, an welchen Orten man etwas über Glauben erfahren kann, schließt ab Zeile 95 folgender Dialog an: B: „Oh an ganz schön vielen.“ A: „In den Kirchen.“ B: „Also in den Kirchen, jetzt mal ganz vorne angefangen. Dann natürlich beim CVJM, BDKJ, in den Jugendtreffs auch. Das kommt halt drauf welcher jetzt angeboten wird oder in Anspruch nimmt. Jetzt bei der Öffnungszeit zum Beispiel weniger, als in irgendeiner Gruppe. Äh das Pfadfinder, das ganze“ A: „Ist ja auch CVJM.“ B: „Genau. Auch CVJM. Ähm.“ A: „An den ganzen privaten B:„Ja christlichen (unverständlich)“ A: Gebetsrunden. Mitarbeiterkreisen. Und so weiter ja. Die sind ja über die ganze Stadt verstreut.“ B: „Ja. Ich denk so am meisten hab ich jetzt zum Beispiel bei den ganzen Mitarbeiterschulungen Erfahrungen gemacht.“ A: „Ja.“ B: „Also Jugendbegleiter, Jugendleiter.“ A: „Die (unverständlich) gibt es noch. Aber ist ja auch praktisch eine Kirche.“ B: „Ja Sportvereine jetzt überhaupt nicht.“ A: „Selten. Selten. Ja, das stimmt. Ähm bei Freunden.“ B: „Ja, da haben wir uns ja ganz gut arrangiert.“ A: „Ja. Ja.“ Interv: „Ok und so Freunde, die Christen sind und da irgendwie über Glaubensthemen reden.“ B: „Ja“ [eine kurze Passage wird übersprungen] A: „Von irgendwelchen Menschen in der inneren Brücke (Anmerk.: Fußgängerzone), die einem was über Glauben erzählen wollen.“ B: „Ach so ja, die Tollen.“ A: „Ja oder von Leuten, die bei einem an der Tür klingeln und dir was über den Glauben erzählen wollen.“ B: (lachen) A: „Ist halt nicht so positiv. Aber das gibt es auch.“ Die beiden Jugendlichen vermitteln im Interview ein sehr detailliertes Bild davon, wo Glaube erfahrbar ist. Neben Kirche und kirchlicher Jugendarbeit wird auch der Austausch mit christlichen Freunden benannt. Aber auch Gruppierungen wie wahrscheinlich Mormonen oder Zeugen Jehovas wurden wahrgenommen, aber nicht als positiv empfunden. Bestimmt haben ihre Aussagen mit ihren eigenen Erlebnissen zu tun, die unter Punkt 2.4. eingehender beleuchtet werden. In einer anderen Gruppendiskussion79 wurde die Frage nach der kirchlichen Trägerschaft des Kooperationsprogramms mit einem anderen Tenor besprochen: J: „Ja, also, ich fand das eigentlich jetzt nicht schlimm, dass das jetzt kirchlich war, weil ich meine, das Gemeindehaus hat ja nicht so viel mit Kirche zu tun. – Also ich meine, in dem Sinn hin schon, 79 Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion 49 aber irgendwie jetzt – wären wir zum Beispiel jetzt in irgendeine Kirche gegangen, hätten da dann Unterricht gemacht oder so, dann wäre das natürlich wieder was anderes gewesen – auch von der Stimmung her.“ (Z. 430) [eine Passage heraus gekürzt] K: „Hätte ich gewusst, dass es das was Kirchliches – hätte ich persönlich gedacht, ja dann werden wir viel mit der Bibel machen und so was. Aber da haben wir nichts gemacht.“ (Z. 452) Viele Teilnehmer verbinden die Jugendbegleiterausbildung nicht direkt mit Kirche, weil sie keine explizit christlichen Inhalte vermittelt. Für diese Teilnehmer ist es Horizont erweiternd, dass Evangelische Jugendarbeit auch anders sein kann. Zudem lernen manche Jugendliche kirchliche Räumlichkeiten erstmals kennen:80 Interv.: „Ihr habt ja schon vorher gesagt, das hat im CVJM im Lutherbau stattgefunden. Habt ihr vorher damit schon was zu tun gehabt?“ (Leute reden durcheinander): „Ne“, „Ja“, „Nein“ I: „Ich wusste nicht, dass es existiert.“ (Leute reden durcheinander) L: „Also wir beide, wir waren da halt schon mal auf so einer Freizeit vom CVJM.“ M: „Also, wir beide waren 2009 im Sommer-Camp und 2010 und sonst ich hatte auch mal was früher im CVJM, weil ich da Pfadi habe und – ja – halt auch jetzt von – also von früher her noch, war ich da halt auch beim CVJM und deswegen. J: „Also, ich wusste gar nicht, was das war. Weil ich habe es noch nie gehört gehabt.“ M: (leise und ironisch) „Ich wusste gar nicht, dass es existiert.“ I und J: (protestierend) „Wusste ich auch nicht.“ (Gelächter) M: „Hey, das ist so ein großes Gebäude.“ (lachen) J: „Nein, ich wusste es echt nicht.“ I: „Ich bin da tausendmal vorbeigelaufen und dachte, da wohnen bestimmt Leute oder so was.“ (Z. 457) 2.4 Ausarbeitung Teilziel 4: Teilnehmer von Schulkooperationen finden weitere kirchliche Angebote Jugendliche gelangen durch diakonische Arbeit an Schulen in weitere kirchliche Angebote. Um das Teilziel 4 zu evaluieren wurden folgende Methoden angewandt: Zwei Befragungen mit Jugendlichen81, die an Programmen teilgenommen haben. Sie wurden vom Projektstelleninhaber durchge80 81 Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung und 2011_12_22 Jugendbefragung 50 Esslingen führt, einmal mit einem Teilnehmer, das andere Interview mit zwei Teilnehmern. O: „Also, (lacht), also auch zu helfen und ich möchte es auch weiter machen und ja, also auch in der Kirche zu helfen.“ P: „Ja, ich könnte mir schon vorstellen, noch weiter zu machen. Ja, weil es Spaß macht und ja.“ Feldnotizen des Projektstelleninhabers82. Zitate aus einem Radiobeitrag83, den das Evangelische Medienhaus bei einem unserer Kooperationsprogramme aufgenommen hat. Der Aspekt der Anwendung der erlernten Kompetenzen ist in einer anderen Gruppendiskussion86 einer Teilnehmerin so wichtig, dass sie ihn mehrmals einbringt. Ein Mal in folgender Form: In der Vorstellungsrunde einer Gruppendiskussion84 sollen die Teilnehmer sagen, wo sie ihr Praktikum gemacht haben (ab Zeile 82): F: „Es hat auch Spaß gemacht. Wir müssen ja so also mit den Leuten müssen wir uns gut verstehen. Also nicht das wir das die was wollen und wir sagen nein, das geht nicht. Dass wir denen immer was Gutes bringen und nichts Verschimmeltes.“ E: „Es gab verschiedene Abende so, Disko, was bei uns ausgefallen ist. Oder, was gab´s noch, Kinoabend. Es gab verschiedene Sachen also es war nicht immer nur das Gleiche. Wir mussten ja an einem Abend mussten wir das selber planen. Und ja da haben wir auch haben wir ja den ... Kinoabend gemacht. Und mussten dann des selber also überlegen was für Cocktails wir verkaufen, was wir zum Essen anbieten. Wir mussten des dann einkaufen … und das Geld haben wir dann später zurückbekommen. Das war auch ne gute Erfahrung für mich.“ Interv.: „Cool. Und würdet ihr sagen, ihr habt schon was gelernt?“ F: „Ja, auf jeden Fall.“ Interv.: „Cool. Wo habt ihr anderen des Praktikum gemacht?“ G: „Ja, ich hab mein ... Praktikum im Kinderferienprogramm in A-Stadt beim Jugendhaus A gemacht. Da waren noch halt da gab`s zwei Vorbereitungstermine, wo wir besprochen haben, was wir machen und das haben auch ausprobiert. Und dann haben wir eben halt, dann gab´s halt zwei Tage wo wir die Kinder betreut haben. Haben mit denen Spiele gespielt, gebastelt und so ... ja, war schön.“ H: „Äh, ich hab mein Praktikum im Jugendhaus B in B-Stadt gemacht und äh da haben wir halt mit den Kindern äh beim Kidstreff gespielt und die es war halt ne gute Erfahrung so mit den äh wie mit den Kindern umgeht, dass die nicht anfangen zu weinen oder wenn was passiert.“ D: „Ähm ich hab im Jugendhaus B auch in B-Stadt gemacht. Also ich hatte Thekendienst und da hab ich auch gelernt, wie man Sachen verkauft und besser mit den Menschen umzugehen und ich durfte auch mithelfen beim Malen und so an der Wand. Und es hat schon Spaß gemacht.“ I: „Und was mir sehr gefallen hat ist, dass wir jetzt diese Zertifikat bekommen haben und weil wir ja nächstes Jahr Ganztagsschule haben, können wir jetzt mit Kindern etwas unternehmen. Wie zum Beispiel ich und meine Freundin wollen jetzt eine Tanzgruppe aufmachen. So mit ganz kleinen Kindern und dafür haben wir jetzt ja die Erlaubnis und das können wir da machen und das ist schön.“ (Z. 210) Die Ausbildung zum Jugendbegleiter scheint Jugendlichen einen Anstoß zur Mitarbeit zu geben. Durch den Praktika-Bezug kommt dadurch auch die Evangelische Jugendarbeit in den Blick. Ein Teilnehmer berichtet im Interview87 über seine Motivation, im Anschluss an die Jugendbegleiterausbildung weitere kirchliche Angebote zu besuchen: A: „Bei mir ist es ne ganz klare Geschichte. Meine Mutter hat eine Kollegin. Und ähm die ist im CVJM. Und dann gab es Jugendgruppe A und die Kollegin hat diesen Pfeil mitgebracht, meine Mutter war hellauf begeistert und meinte, diese Jugendgruppe A ist genau das Richtige für mich. Und obwohl ich erst sehr skeptisch war, weil ich als äh nicht Gläubiger, mit Christen nicht so doll. Hab mich irgendwie von meiner Mutter dahin beschwatzen lassen, und dann wurde ich von einem Hans (Anm.: ein Mitarbeiter) davon überzeugt, dass ich das unbedingt machen muss und dann hab ich mit Jugendgruppe A angefangen. Hab es zwar bald wieder aufgegeben, aber bin dann irgendwie in Jugendbegleiter. In Jugendbegleiter bin ich gegangen, weil jemand in meine Klasse gekommen ist und das erzählt hat, dass es den gibt. Und dann am Ende (unverständlich) Dann dachte ich, hey coole Sache. Dann kann ich es jetzt schon ein bisschen, dachte ok dann geh ich da mal hin. Jo und dann zieht es einen da so rein. Stück für Stück.“ (Z. 180) Bei einem anderen Interview88 berichtet die Teilnehmerin ihre Geschichte: Die Praktika in der Jugendarbeit haben den Teilnehmern in der Regel Freude gemacht und ihnen Einblicke in die kirchliche Arbeit gegeben. Es hat sich daher bewährt, Praktika u.a. in der kirchlichen Jugendarbeit als festen Bestandteil der Jugendbegleiterausbildung zu verankern. Auf die Fragen einer Radioreporterin85 äußerte sich eine andere Gruppe (ab Sek. 28): 82 84 85 83 Vgl. Feldnotizen Michael Proß Vgl. 2011_11_10 Ausschnitt aus Rohschnitt Radiobeitrag Vgl. 2011_07_21 Gruppendiskussion Vgl. 2011_11_10 Ausschnitt aus Rohschnitt Radiobeitrag C: „Also ich bin nur hingegangen wegen Mitarbeiter X. Ganz ehrlich. Und er hat ja auch viel Werbung gemacht (…) Ich bin eigentlich nur hingegangen, weil eine Freundin mitgekommen ist. Alleine wär ich auch nicht hingegangen (…) Und ja (…) es hat Spaß gemacht und ... richtiges Familiengefühl da. Richtige Gemeinschaft. … Deswegen bin ich auch dabei geblieben ... Und hab noch paar Freunde mitgebracht.“ (Z. 86) 86 Vgl. 2011_07_22 Gruppendiskussion Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung 88 Vgl. 2011_12_22 Jugendbefragung 87 Diakonische Jugendarbeit und Schule Durch unterschiedliche Erlebnisse oder auch durch entstandene Beziehungen – sei es zu Gruppenteilnehmern oder Mitarbeitern – wagen Jugendliche den Schritt in weitere kirchliche Angebote, die auch explizit christliche Themen beinhalten können89: B: „Und dann war es für mich zum Beispiel auch eine gute Hilfe im Glauben zum Beispiel. Ich hatte das Glück, irgendwie da schon auf sehr angenehme Weise irgendwie reinzukommen, und das hat mich dann auch unterstützt und vor allem dann der Jugendleiterkurs (Anm. Grundkurs CVJM). Und dann war es irgendwie dieses Lechzen nach mehr.“ (Z. 206) 3. Metareflexion Der beim Esslinger Projekt „Diakonische Jugendarbeit als Mitgestalter der Schule“ praktizierte Ansatz, mit Schulen Projekte kirchlicher Jugendbildungsarbeit durchzuführen, in denen die Schülerinnen und Schüler in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden, hat sich als erfolgversprechend erwiesen. Es ist gelungen, dauerhafte Kooperationen mit Schulen einzugehen. Trotz der im Projekt zur Verfügung stehenden Ressourcen konnten aus Kapazitätsgründen nicht alle in Frage kommenden Kooperationen durchgeführt werden. Durch die bezirksweite Ausrichtung stehen dem Projekt auch viele Schulen zur Verfügung. Durch unsere kirchliche Jugendbildungsarbeit kann Kirche dem System Schule Inhalte und Erfahrungen geben, die es in dieser Form an der Schule nicht gibt. Bedingt ist dies unter anderem durch die Qualifikation der Diakone, die sich von der eines Lehrers unterscheidet. Aufgrund der ausgewerteten Daten ist davon auszugehen, dass in den durchgeführten Projekten Schülerinnen und Schüler erreicht wurden, die zuvor mit kirchlicher Jugendarbeit noch keinen Kontakt hatten. Es war durch die Programme möglich, Beziehungen zu den Teilnehmern aufzubauen. Im Zusammenhang mit der grundsätzlichen demographischen Entwicklung und dem seit Jahren anhaltenden Rückgang der Bevölkerung mit Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche, könnte den Kooperationen im schulischen Bereich eine zukunftsweisende Bedeutung zukommen. Durch ihren Charakter eignet sich die Jugendbegleiterausbildung in hohem Maße dazu, Teilnehmern Einblicke in die kirchliche Jugendarbeit zu vermitteln. Vor allem die Praktika dienen dazu. Jedoch benötigt es kirchliche Praktikumsplätze, d.h. vielfältige Jugendarbeit vor Ort, um diese Verknüpfung überhaupt erst herstellen zu können. Die von den Schulen geforderte und benötigte Verlässlichkeit scheint in dem für Schulkooperationen benötigten Zeitfenster hauptsächlich durch angestellte kirchliche Mitarbeiter leistbar zu sein. Dadurch stellt sich jedoch sowohl auf kirchlicher wie auch auf schulischer Seite die Frage nach der Finanzierbarkeit. Die im Esslinger Projekt 89 Vgl. 2011_12_21 Jugendbefragung 51 praktizierte bezirksweite Ausrichtung bietet Chancen, die koordinierenden Aufgaben hauptamtlich abzudecken und die konkrete Durchführung vor Ort mit Ehrenamtlichen zu unterstützen. Jedoch sind wir im Bereich der Mitarbeitergewinnung hinter unseren Zielerwartungen zurück geblieben. Es stellt sich als herausfordernd heraus, im schulischen Kontext ausdrücklich als Kirche erkannt zu werden. Auch die Durchführung von Programmen in kirchlichen Räumen bietet dafür noch keine automatische Gewähr. Die Durchführung von Programmen mit explizit christlichen Inhalten scheint bei Schulleitern auf Skepsis zu stoßen. Ein offenes Programm, das allen Schülern die Teilnahme ermöglicht, wird von Rektoren sehr begrüßt, stellt aber die Herausforderung, trotzdem christliches Profil zu zeigen. Der im Projekt gewählte Weg scheint diesbezüglich eine gute Balance gefunden zu haben, da er Schülerinnen und Schüler nicht grundsätzlich abschreckt, interessierten Teilnehmern jedoch auch die Möglichkeit zu weiteren Schritten in anderen kirchlichen Programmen eröffnet. Anhang: Ausgewählte Situation zur Beschreibung des christlichen Profils in Schulkooperationen Da es Rektoren oftmals wichtig ist, dass möglichst alle ihre Schüler an Kooperationen teilnehmen können und nicht aus Glaubensgründen beispielsweise muslimische Schüler ausgeschlossen werden (siehe Zitate dazu unter Punkt 2.1.3), so haben wir uns entschieden, dass die Jugendbegleiterausbildung pädagogische Grundlagen vermitteln soll, die jedoch von unserem christlichen Wertesystem durchdrungen sind. Die ausgewählte Begebenheit zeigt exemplarisch die Herausforderung, in sich ereignenden Situationen transzendent sprachfähig zu sein. Einen unserer Schulungstage für Jugendbegleiter einer Hauptschule führten wir in einem Gemeindehaus durch. In diesem Raum hing ein Bild von Martin Luther an der Wand. Während unseres Kurses fragte ein Schüler: „Wer ist das auf dem Bild dort an der Wand?“ Ich gab die Frage an die Gruppe zurück: „Weiß es jemand von euch?“ Und schon bald war sich die Gruppe sicher, dass es sich um Martin Luther handelte. Nun fragte ich die Gruppe: „Kann mir jemand von euch sagen, was Martin Luther gemacht hat?“ Es meldete sich Mehmet, ein 14jähriger muslimischer Junge: „Der hat doch die Bibel geschrieben, oder nicht?“ Ich lobte ihn für sein Wissen und fragte in der Gruppe weiter nach, ob jemand diese Antwort noch präzisieren könne. Es antwortete Bernd: „Wir hatten doch da mal so was im Konfi-Unterricht. Wie war das nochmals? Der hat glaube ich die Bibel übersetzt.“ Daraufhin konnte ich in ein paar wenigen einfachen Sätzen über die Entdeckungen Luthers zur Rechtfertigung erzählen, und was dies für mich als Christ bedeutet. Bei einer anderen Gelegenheit saßen wir in einer Pause vor dem CVJM und ein Teilnehmer betrachtete das Mosaik auf dem Boden 52 Esslingen und fragte: „Was heißt denn CVJM?“ Ich antwortete: „Christlicher Verein Junger Menschen“. Seine prompte Rückfrage lautete: „Und wird da auch gebetet?“ Daraufhin konnte ich in einem kurzen Statement sagen, wie es im CVJM mit dem Beten gehalten wird und was ich so wertvoll am Beten finde. Literaturverzeichnis Hentig, H. von (2004): Einführung in den Bildungsplan 2004, in: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg: Bildungsplan. Realschule. Verfügbar unter: http://www.bildung- staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsplaene/Realschule/Realschule_Bildungsplan_Gesamt.pdf (06.01.2013). Rauschenbach, T. u.a. (2010): Lage und Zukunft der Kinder- und Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Eine Expertise, Dortmund u.a. Weitere Quellen aus Tonbandaufnahmen: 2011_07_21 Gruppendiskussion 2011_07_22 Gruppendiskussion 2011_10_25 Gruppeninterview 2011_11_10 Ausschnitt aus Rohschnitt Radiointerview 2011_12_21 Jugendbefragung 2011_12_22 Jugendbefragung Darüber hinaus: Feldnotizen des Projektstelleninhabers Michael Proß Gesammelte Sozialdaten als Excel-Datei 53 Diakonisch-missionarisches Handeln im Gemeinwesen Sozialraum- und gemeindebezogene Vernetzung von Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugend- arbeit mit kirchlichen und kommunalen Hilfesystemen Bericht 4: Bernhausen Schule im Sozialraum: Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit Oliver Pum Projektort: Filderstadt-Bonlanden Projektträger: Evangelischer Kirchenbezirk Bernhausen Projektstelleninhaber: Diakon Oliver Pum 54 Bernhausen 1. Projektidee und Projektkonzeption Soziale Benachteiligung macht auch vor Kindern und Jugendlichen nicht halt. Im Dezember 2009 bezogen nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit in Baden-Württemberg rund 161.000 Kinder und Jugendliche Transferleistungen nach dem SGB II und lebten damit an der Armutsgrenze. Das entspricht einem Anteil von 8,3% der Jugendlichen in diesem Alter oder etwa jedem zwölften Jugendlichen.90 Nach Einschätzung des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) sind „…in Baden-Württemberg Alleinerziehende, kinderreiche Familien mit drei und mehr Kindern und ausländische Familien besonders stark von Armut betroffen.“91 Das bedeutet nicht nur, dass die betroffenen Jugendlichen wenig eigenes Geld zur Verfügung haben. Mit Armut gehen auch „erhöhte Risiken und Beeinträchtigungen in den Dimensionen der körperlichen Entwicklung und Gesundheit, der Teilhabe an Bildung, des Erwerbs sozialer Kompetenzen jenseits des eigenen engen Milieus, der Optionen vielseitiger kultureller Entwicklung und Freizeitgestaltung sowie der Chancen auf eine stabile Persönlichkeitsentwicklung mit der Ausbildung eines positiven Selbstwertgefühls einher.“92 Der KVJS sieht einen Ansatzpunkt, hier Abhilfe zu schaffen, in „Angeboten zur zielgerichteten Förderung und Bildung von Kindern und Jugendlichen aus sozial belasteten Verhältnissen, die eingebettet in die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendarbeit Lernfelder und Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten erschließen…“93. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den Ganztagsschulen zu. Das Staatsministerium Baden-Württemberg sieht den Ausbau der Ganztagsschulen „als einen vielversprechenden Weg, um den nach wie vor bestehenden Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen aufzubrechen, indem wichtige Zielgruppen über Ganztagsschulen besser als bisher erreicht werden können.“94 Erklärtes Ziel ist es, dass bis zum Jahr 2015 40% aller Schulen in Baden-Württemberg zu Ganztagsschulen ausgebaut werden. Dies war auch der Ansatzpunkt für den Evangelischen Kirchenbezirk Bernhausen, der im Stadtteil Filderstadt-Bonlanden exemplarisch erproben wollte, „wie eine Kirche der Zukunft für benachteiligte Jugendliche im Gemeinwesen sozialraumbezogen tragfähige Netzwerke aufbauen kann, die die Jugendlichen und ihre Familien dabei unterstützen, den Herausforderungen des Lebens zu begegnen.“95 Seit dem Jahr 2006 ist der Evangelische Kirchenbezirk Träger der Schulsozialarbeit an der Werkrealschule im Bildungszentrum Seefälle (WRS Seefälle) im Stadtteil Filderstadt-Bonlanden sowie seit 2008 an drei weiteren Schulen in Filderstadt. Daneben gibt es langjährige Erfahrungen in sozialraumorientierter Jugendsozialarbeit: seit 1998 betreibt der Ev. Kirchenbezirk aufsuchende Jugendarbeit/Streetwork im Auftrag der Stadt Filderstadt. 90 92 93 94 95 91 Zahlen nach: KVJS 2010, S. 131 KVJS 2010, S. 130-132 KVJS 2010, S. 131 KVJS 2010, S. 132 KVJS 2010, S. 126 Aus dem Grundsatzbeschluss des Kirchenbezirksausschusses (KBA) des Evangelischen Kirchenbezirks Bernhausen vom 19.02.2008. Konkreter Auslöser für das Projekt waren Erfahrungen aus der Einzelfallhilfe an der WRS Seefälle. Es fiel auf, dass vielen Schülerinnen und Schülern – insbesondere in benachteiligten und prekären Lebenslagen96 – Hilfsangebote im Sozialraum – wie z.B. die Psychologische Beratungsstelle der Diakonie – unbekannt waren. Auch fehlte ihnen der Zugang zu Freizeitangeboten der kirchlichen Jugendarbeit, in denen der KVJS ein wichtiges Lernfeld und eine Form der Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten sieht. Daraus entstand die Idee, beziehungsorientiert über die Person eines Diakons/einer Diakonin Brücken zwischen Schule, aufsuchender Jugendarbeit/Streetwork, Hilfsangeboten im Sozialraum sowie Angeboten der Ev. Kirchengemeinde Bonlanden und des CVJM Bonlanden e.V. zu bauen. Die Projektstelle umfasste 50% Schulsozialarbeit an der WRS Seefälle sowie 50% Projektarbeit mit dem Schwerpunkt „Aufbau von Netzwerken zu Hilfesystemen im Sozialraum sowie Vernetzung mit Angeboten der Kirchengemeinde und des CVJM“. In das Projekt mit eingeflossen sind die Ressourcen einer zweiten Stelle, die 50% Schulsozialarbeit an der WRS Seefälle, 20% aufsuchende Jugendarbeit/Streetwork sowie 30% Gemeindejugendarbeit umfasste. Anstellungsträger für beide Stellen war der Evangelische Kirchenbezirk Bernhausen. Die Dienstaufsicht war teilweise an den Leitenden Diakon delegiert, die Fachaufsicht an den Vorsitzenden des CVJM Bonlanden e.V.. Die Arbeit wurde von einem örtlichen Begleitgremium begleitet. In diesem waren der Evangelische Kirchenbezirk Bernhausen, die Stadt Filderstadt, die WRS Seefälle, der Verein zur Förderung der Ev. Jugendarbeit, die Ev. Kirchengemeinde Bonlanden sowie der CVJM Bonlanden e.V. als Projektpartner vertreten. Ausgehend von der Aufgabe, beziehungsorientiert Netzwerke zwischen Schulsozialarbeit, Streetwork- und Gemeindejugendarbeit sowie kommunalen und kirchlichen Hilfesystemen im Sozialraum für sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Familien zu bauen, stand zu Beginn des Projekts das Kennenlernen der verschiedenen Einrichtungen im Sozialraum sowie der Jugendlichen im Vordergrund. Danach ging es darum, bestehende Hürden abzubauen. Ein Meilenstein waren hierbei Verbesserungen beim Mensaessen (Salate für 1,50 €; Möglichkeit, mitgebrachtes Essen in einer Mikrowelle aufzuwärmen; bezuschusstes Essen für 1,- € für sozial Benachteiligte, später teilweise abgelöst durch die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes). Auch die persönlichen Kontakte zu verschiedenen Hilfsangeboten im Sozialraum (Psychologische Beratungsstelle, Flexible Erziehungshilfestelle etc.) erwiesen sich im Projektverlauf als wertvoll. Die Begleitung der Schülermentoren ermöglichte den Jugendlichen echte Beteiligung, das Ballspielangebot eines Mitarbeiters aus dem CVJM an der Ganztagesschule sowie das neu eingeführte Jugendkonzept „FiSch!“ des CVJM machten eine niederschwellige Begegnung zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus möglich. 96 Zur Begriffsbestimmung vgl. Bundesministerium 2005, S.186. Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit 2. Vertiefte Evaluation Ausgehend vom normativen Ziel: „Es gibt für sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Familien im Stadtteil Filderstadt-Bonlanden tragfähige Netzwerke zwischen Schule, Streetwork, kirchlicher Jugendarbeit, Kirchengemeinde, Diakonischen Einrichtungen im Kirchenbezirk sowie kommunalen Hilfesystemen“ haben wir für die Evaluation die beiden strategischen Ziele ausgewählt, die die meisten Erkenntnisse im Rahmen der Evaluation versprachen: Zugangsbarrieren zu den Hilfesystemen sind für Jugendliche in benachteiligten und prekären Lebenslagen und ihre Familien abgebaut. Die Kirchengemeinde hat ein Bewusstsein für Jugendliche in benachteiligten und prekären Lebenslagen und ihre Familien. Durch die Auswahl dieser beiden Ziele werden auch die vom KVJS vorgeschlagenen Maßnahmen „Zielgerichtete Förderung“97 und „Einbettung in die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendarbeit als Lernfelder“98 abgebildet. Für die Evaluation war insbesondere der Begriff „sozial benachteiligte Jugendliche“ näher zu bestimmen. Der Zwölfte Kinder und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend benennt als Faktoren für soziale Benachteiligung und Armut von Jugendlichen insbesondere finanzielle Armut, ökonomische Benachteiligung, alleinerziehendes Elternteil, Migration aus süd- bzw. osteuropäischen Staaten sowie Nicht-EU-Ländern, niederes schulisches Bildungsniveau der Eltern sowie geringer Zugang zu außerschulischem Bildungserwerb.99 Für die Evaluation des Projekts wurden zwei Gruppendiskussionen – einmal mit Mitarbeitenden aus Kirchengemeinde und CVJM, einmal mit Eltern von Schülerinnen und Schülern der Werkrealschule – sowie die Feldnotizen des Projektstelleninhabers herangezogen100. Der Fokus lag dabei auf den unterschiedlichen Perspektiven der Menschen in Kirchengemeinde, CVJM und Schule. 97 KVJS 2010, S. 132 KVJS 2010, S. 132 99 Vgl. Bundesministerium 2005, S. 186 und 189. 100 Die Gruppendiskussion mit den Mitarbeitenden wurde vom Projektstelleninhaber selbst durchgeführt. Die Gruppendiskussion mit den Eltern wurde von einer Kollegin aus der Schulsozialarbeit durchgeführt, der die Beteiligten vorher nicht bekannt waren. 98 55 2.1 Zugangsbarrieren zu den Hilfesystemen sind für Jugendliche in benachteiligten und prekären Lebenslagen und ihre Familien abgebaut Dass es für sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Familien Zugangsbarrieren zu Leistungen gibt, die ihnen grundlegend zustehen, wurde unter anderem in der Gruppendiskussion mit den Werkrealschuleltern deutlich. Eine Mutter und ein Vater schildern dies in einer Gesprächspassage, in der es um Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket geht, sehr plastisch101: Frau M.:„Die Idee ist ja vielleicht ganz gut. Aber es ist viel zu kompliziert.“ Herr T.: „Ja. Kompliziert. Wenn [der Schulsozialarbeiter/Diakon] net geholfen hätt, ich hätt aufgegeben. Ich mein. Ich blick da einfach net durch. Mit dene Formulare. Hier ein Kreuzle. Dort keins. Oder erst später. Des ist doch ein Käse.“ Frau M.:„Des mit den Formularen geht schon, finde ich. Aber es ist halt alles zu umständlich. Für alles gibt es eigene Gutscheine. Ausflüge muss man gleich am Schuljahresanfang beantragen. Klassenfahrten nicht. Mal muss man den Gutschein im Sekretariat abgeben. Mal beim Lehrer. Dann wieder bei der Stadt. Wie soll ich da arbeiten gehen? Zum Schluss beantragt man dann halt einfach gar nix. Das ist am einfachsten. Und die Wohngeldstelle muss nix bezahlen.“ Herr T.: „So geht`s mir au. Man lässt`s halt irgendwann. Und schaut, wie man halt so klar kommt. Oder auch net.“ Herr T. hat seine Erfahrungen mit dem Jobcenter gemacht, Frau M. die ihren mit der Wohngeldstelle in ihrem Wohnort. Es scheint also kein singuläres Problem zu sein. Zwei Dinge werden daran deutlich: zum einen sind für alle Betroffenen die Wege zu lang. Selbst für Kleinigkeiten („ein paar Stifte“) muss man mehrere Stellen anlaufen. Dazu kommt, dass die Einrichtungen oft nur zu bestimmten Zeiten geöffnet haben und die Betroffenen teilweise auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, für die wiederum Kosten entstehen. Zum anderen sind zumindest für manche Klienten die Formulare unklar („ich blick da nicht durch“) und die Abläufe erscheinen nicht immer logisch („Ausflüge muss man gleich am Schuljahresanfang beantragen, Klassenfahrten nicht“). Die Konsequenz aus diesen Hindernissen wird klar benannt: Resignation („ich hätte aufgegeben“, „zum Schluss beantragt man einfach gar nichts“ oder „man lässt es halt irgendwann“). Im Rahmen des Projektes wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um Zugangsbarrieren für sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Familien abzubauen. In einem ersten Schritt wurde eine Übersicht über die im Sozialraum vorhandenen Hilfsangebote erstellt. Diese wurde auch den anderen Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern zugänglich gemacht. Danach wurden über Besuche in den Einrichtungen persönliche Kontakte zu den dort beschäftigten Menschen hergestellt. Dies war sehr zeitaufwändig, hat sich aber ge101 Zitate aus Gruppendiskussion 1: Eltern von Schülerinnen und Schülern 56 Bernhausen lohnt. So war es möglich, einen genauen Einblick in die Arbeitsweise und die Arbeitsaufträge der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort zu bekommen. In der Einzelfallhilfe konnte so zielgerichteter vermittelt werden, teilweise konnten den Jugendlichen oder ihren Eltern – z.B. in Bezug auf die Psychologische Beratungsstelle – Ängste genommen werden, da genau beschrieben werden konnte, was sie dort erwartet. Auch von den Eltern wird die Vermittlung durch die Schulsozialarbeiter/Diakone in passende Unterstützungsangebote positiv wahrgenommen. Ebenso hat die konkrete persönliche Beratung durch den Schulsozialarbeiter/Diakon für viele Eltern einen hohen Stellenwert. Wichtig scheint hier – wie bei den Jugendlichen auch – die Tatsache zu sein, dass man einen niederschwelligen Zugang zur Beratung hat. Seit dem Schuljahr 2010/2011 hat der Projektstelleninhaber im Rahmen des Projekts die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabegesetzes an der WRS Seefälle übernommen. Wie oben schon beschrieben, sind hier die Zugangsbarrieren für die Betroffenen deutlich zu spüren. Neben der konkreten Unterstützung bei der Antragsstellung ist es bei manchen Klienten auch nötig, dafür zu sorgen, dass sie sich um ihre Angelegenheiten auch selbst kümmern. Die Unterstützung schließt gegebenenfalls auch zeitlich befristete finanzielle Unterstützungen ein, die über einen Spendentopf realisiert werden können. Positiv wird erlebt, dass unbürokratisch geholfen wird. Der Spendentopf wird – neben Geldern die über den Förderverein der Schule eingeworben werden und Spenden von Firmen – unter anderem aus Spenden von Gemeindegliedern zweier Kirchengemeinden gespeist. Über den Spendentopf reden in der Gruppendiskussion auch Frau M., Frau W., Herr B. und Herr T.. Die Ausgangsfrage war, ob es für sie eine Bedeutung hat, dass die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter als Diakoninnen und Diakone bei der Kirche angestellt sind102: Frau M.: „[Der Schulsozialarbeiter] hat mal gesagt, dass das Geld fürs Mensaessen auch von der Kirche kommt. Also des wo nicht von der Wohngeldstelle kommt. So für so Fälle wie uns. Da werden dann in der Kirche halt so Spenden gesammelt. Und des Geld ist dann fürs Mensaessen. Oder fürs Schullandheim.“ Herr T.: „Des find ich gut.“ Frau M.:„Ich find das auch toll. Und eine Zeit lang haben wir des echt gut brauchen können. Für mich hat das also schon eine Bedeutung.“ Frau W.: „Ja gut. So gesehen schon. Ich find des ja auch gut. Aber ob des Geld jetzt von der Kirche kommt oder von der Caritas ist mir eigentlich egal. Ich finds gut, dass es den [Schulsozialarbeiter] gibt und die Schulsozialarbeit und die Ganztagesschule. [Die Schulsozialarbeiter] machen ihr Geschäft gut. Und des find ich super. Ich weiß, wenn`s ein Problem mit dem Flori gibt, dann kann ich zum [Schulsozialarbeiter] gehen. Und wenn der bei der Kirche arbeitet, soll’s mir recht sein. Da hab ich überhaupt kein Problem damit.“ 102 Zitate aus Gruppendiskussion 1: Eltern von Schülerinnen und Schülern. Herr B.: „Ich finde gut, dass Kirche macht. In unser Gemeinde wir auch sammeln Spenden für Menschen wo Not. Gibt immer die brauche. Wir nicht viel. Aber gibt Mensch wo noch mehr weniger. Ich gern helfe, wenn kann. Und gut für Vicky. Gefallen in Gemeinde Freitag. Und Konfirmation. Matthias und Hannah auch mache Konfirmation in „Stadtteil C.“ wenn alt.“ Frau W. hatte zuvor angedeutet, dass sie keinen Bezug zur Kirche hat und nichts damit anfangen kann. Alle Beteiligten bewerten es – als persönlich Betroffene, auch wenn Frau M. inzwischen keine Unterstützung mehr haben möchte – positiv, dass über die Kirchengemeinden Geld für das Mensaessen eingeworben wird und dadurch unbürokratische Hilfe möglich ist. Herr B., der selbst Leistungsempfänger ist und wenig eigene Ressourcen hat („wir nicht viel“) findet es wichtig, anderen zu helfen, die noch weniger haben. Ob dies aus seiner Glaubensüberzeugung kommt – er besucht mit seiner Familie eine Freie Gemeinde in Stuttgart – oder weil er selbst Unterstützung erfahren hat, wird nicht deutlich. Bei Frau M. ist dagegen deutlich ihre Dankbarkeit für die Unterstützung zu spüren, die sie erfahren hat. Der KVJS hatte die Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten als einen wesentlichen Faktor für die Verbesserung der Lebensumstände von sozial benachteiligten Jugendlichen benannt. An der WRS Seefälle geschieht dies im Rahmen des Ganztagesangebots unter anderem durch Angebote verschiedener Partner. Die regulären Angebote dieser Partner (Volkshochschule, Kunstschule, Musikschule,…) könnten sich die meisten Jugendlichen – auch mit Bildungsgutschein – nicht leisten. Auch die Schulsozialarbeiter/Diakone sind mit eigenen Angeboten vertreten (Sportangebot, Klettern, Schülermentoren). Die Schülerinnen und Schüler haben großen Spaß an den Angeboten und erzählen das auch ihren Eltern. Neben dem Spaß können sie sich in Dingen ausprobieren, zu denen sie sonst keine Gelegenheit hätten. Sie haben Erfolgserlebnisse („Stolz war sie“, berichtet ein Vater) und bekommen positives Feedback zuhause („und der Papa auch“, sagt derselbe Vater). Gemeinschaftserlebnisse (mit den Freunden Fußball spielen) werden von den Jugendlichen insgesamt höher bewertet als vermeintlich coole Angebote (Internetcafé). 2.2 Die Kirchengemeinde hat ein Bewusstsein für Jugendliche in benachteiligten und prekären Lebenslagen und ihre Familien Um das Bewusstsein für sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Familien in der Evangelsichen Kirchengemeinde Bonlanden zu wecken, gab es verschiedene Anläufe. Seit Dezember 2009 wurden regelmäßig Gebetsbriefe an verschiedene Menschen in der Kirchengemeinde verschickt. Es wurden – anonymisiert – verschiedene Jugendliche mit ihrer jeweiligen Problemlage vorgestellt, mit der Bit- Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit te, für sie zu beten. Eine direkte Resonanz auf diese Gebetsbriefe gab es nicht. In der Gruppendiskussion mit den Ehrenamtlichen aus Kirchengemeinde und CVJM wurde aber deutlich, dass es durchaus Menschen in der Gemeinde gibt, die für Jugendliche beten. Dies wurde von den an der Diskussion beteiligten Jugendlichen als sehr schön und wertvoll empfunden. Ob nur für Jugendliche aus der Gemeinde und für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebetet wird oder auch für die in den Gebetsbriefen genannten Jugendlichen konnte nicht ermittelt werden. In der Diskussion mit den Eltern der Werkrealschülerinnen und -schüler wurde bereits der Spendentopf für das bezuschusste Mensaessen angesprochen. Dort wurde deutlich, dass das Engagement der Kirche für sozial benachteiligte Jugendliche sehr positiv bewertet wurde. Um diesen Spendentopf einzurichten, hat der Projektstelleninhaber im Februar 2011 einen Antrag in einem Kirchengemeinderat einer Kirchengemeinde im Projektumfeld gestellt, mit der Bitte, das Opfer eines Sonntagsgottesdienstes für diesen Spendentopf zur Verfügung zu stellen und für regelmäßige Spender für das Mensaessen für sozial benachteiligte Jugendliche zu werben. Die Reaktionen waren folgende103: KGR: „Brauchen die es wirklich? Wie ist gewährleistet, dass da keiner dabei ist, der es nicht nötig hat?“ KGR: „Sie könnten doch auch nach Hause zum Mittagessen. Also meine Mutter hat immer gekocht und das ist ja viel besser…“ KGR: „Die können doch auch etwas dafür tun. Sie sollen in unsere Gruppen kommen. Sie sollen sonntags nach dem Gottesdienst Mittagessen oder Kuchen verkaufen.“ KGR: „Wir könnten eine Patenschaft übernehmen, aber dann wollen wir auch den Namen des Kindes.“ (Einwand meinerseits: Würde des Kindes und der Eltern…, Schulleitung weiß nichts davon…) „Die sollen sich nicht so anstellen.“ KGR: „Habt ihr schon Firmen angefragt? Und die Kirchengemeinde in „Stadtteil D.“? Es kommen ja auch Schüler von da.“ KGR: „Nur wenn die Kirchengemeinde in „Stadtteil D.“ mitmacht, machen wir auch mit.“ KGR: „Wie viele Kinder sind es? Wenn man den Betrag durch 3 (Förderverein der Schule, Kirchengemeinde „Stadtteil D.“ und Kirchengemeinde „Stadtteil C.“) teilt, dann kommt xy raus.“ Als Denkstrukturen lassen sich beobachten: Leistungsdenken („die können doch auch etwas dafür tun“), Marginalisierung („wo ist das Problem: sie sollen halt zuhause essen; sie sollen sich halt nicht so anstellen“), Abwälzen („wer könnte sonst noch helfen?“ = „dann sind wir raus…“), Pragmatismus („wie viele Kinder? – Aufteilen“). Zu diesem Zeitpunkt kann festgestellt werden: Ziel größtenteils nicht erreicht. Wenige Tage später ein Lichtblick: eine Kirchengemeinderätin richtet einen Dauerauftrag ein und überweist seither jeden Monat 20,- €. Außerdem motiviert sie andere, dies auch zu tun. Die Entwicklung von Empathie für sozial benachteiligte Jugendliche scheint eher individuell möglich zu sein. Trotz intensivem Werben ist es nicht 103 Die folgenden Zitate stammen aus der Gruppendiskussion 2: Mitarbeitende aus Kirchengemeinde und CVJM. 57 gelungen, mit Sachinformationen den Kirchengemeinderat als gesamtes Gremium von der Sinnhaftigkeit des Antrags zu überzeugen. Bei Einzelpersonen scheint dies einfacher zu sein. Ein „Bewusstsein der Gemeinde“ besteht aus dem Bewusstsein, den Haltungen und Erfahrungen vieler Einzelner. Diese gilt es zu gewinnen. Mit dem FiSch!-Konzept wurde in der Evangelischen. Kirchengemeinde und im CVJM im April 2010 eine neue Form der Jugendarbeit installiert, die für die Jugendlichen verlässlich, aber unverbindlich einen niederschwelligen Zugang zu Kirchengemeinde und CVJM ermöglichen sollte. Die Jugendlichen sollten sich beteiligen können. Eine Trennung zwischen Teilnehmenden und Mitarbeitenden sollte es nicht geben. Zielgruppe waren einerseits die Konfirmanden, explizit aber auch Jugendliche „von außen“, die sonst nicht den Weg ins Gemeindehaus finden. Das Konzept scheint anzukommen, wöchentlich 30-60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind für Bonlanden eine große Zahl. Zumindest für einen Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist dabei das selber Kochen (= beteiligt sein) ein wichtiger Punkt, weshalb sie kommen. Da machen sie sogar Dinge, die ansonsten undenkbar wären („ich koche daheim nie“). Neben dem Kochen wird auch das gemeinsame Essen als wichtiger Erfolgsfaktor benannt. Gemeinschaft, Leute treffen, die man sonst nicht sieht werden positiv bewertet. Die Anziehungskraft ist bei einer Teilnehmerin der Gruppendiskussion so groß, dass sie sogar versucht zu kommen, wenn sie eigentlich keine Zeit dafür hat. Wie sieht es aber mit dem niederschwelligen Zugang für Menschen von außen aus? Mit FiSch! werden zwar zahlenmäßig viele Jugendliche erreicht, überwiegend sind es aber dennoch Insider, die in irgendeiner Art und Weise zu Kirchengemeinde oder CVJM dazugehören. Ein Teilnehmer mutmaßt, dass es daran liegen könnte, dass es eben doch ein spezielles Angebot der Kirche ist. Er schlägt vor, ein Begrüßungsteam zu installieren, das Neue begrüßt, schränkt aber gleich wieder ein, dass das ja auch anstrengend sein kann. Wenn Jugendliche kommen, die anders sind als die üblichen Besucher, fallen sie auf. An einem Abend schimpfen mehrere Besucher über „Hauptschüler“: „Die benehmen sich alle voll daneben, die sind alle gestört!“ Mögliche Gründe für das von den „Neuen“ gezeigte Verhalten (Unsicherheit, wahrgenommen werden wollen,…) werden nicht gesehen. Verständnis und Empathie wuchsen immer dort, wo es echte persönliche Begegnung gab, wo man sich nicht in der Gruppe verstecken konnte. Zwei Gymnasiastinnen haben den Diakon einmal mit der Klettergruppe der Werkrealschule zum Felsklettern begleitet. Hinterher haben sie gegenüber der Kollegin geäußert: L.: „Es war richtig gut. Weil die Schüler merken konnten, dass Gymnasiasten auch nicht anders sind. Und ich die Hauptschüler kennen lernen konnte“.104 Den größten Schritt auf die Werkrealschüler zu hat T. gemacht, der ein Mal in der Woche ein Ballspielangebot an der Ganztagesschule 104 Bernhausen_Feldnotizen_Auswahl, S. 2, 02.08.2011 58 Bernhausen angeboten hat und dadurch regelmäßig in Kontakt mit Jugendlichen aus einem anderen Milieu gekommen ist105: T: „Na ja, so würd ich des net sagen. Ist halt was andres. Ich find beides gut. Ich würd glaub net die Jungschar sein lassen wegen dem GTS-Angebot (= Ganztagsangebot). Wenn ich nur eins machen könnt, würd ich glaub trotzdem eher Jungschar machen. Macht halt Spaß und mir ist des au wichtig. Aber GTS macht au Spaß. Und gibt noch Geld dazu. Eigentlich ist des so optimal. Dass ich beides machen kann. Ich freu mich auch immer drauf. Meistens. Und viele seh ich au auf der Straße. Die schreien dann halt von irgendwo: „Hey Tobi!“ Und dann schwätzen wir halt. Des ist schon cool. Ich mein, ansonsten hätt ich mit denen ja nix zu tun. Des wären halt irgendwelche Kinder. Aber wenn man sich kennt und jede Woche sieht dann ist des schon was anderes. Dann kennt man sich halt.“ M.: „T.s neue Freunde.“ T.: „Irgendwie schon. Jetzt net so richtig. Weil die sind ja viel jünger. Aber ich mach da keinen Unterschied mehr zwischen denen und meinen Jungscharlern. Die gehörn genauso dazu. Halt anders. Und es ist ja auch cool, nicht immer mit den gleichen Leuten rumzuhängen.“ Auch hier ist zu sehen, dass persönliche Begegnung den Blick verändert und Brücken baut. 3. Metareflexion Durch das Projekt „Diakonisch-missionarisches Handeln im Gemeinwesen“ ist es gelungen, sozial benachteiligten Jugendlichen und ihren Familien Zugänge zu Hilfen und Leistungen zu ermöglichen, die ihnen sonst nur schwer zugänglich gewesen wären. Insbesondere in Bezug auf Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket sowie beim vergünstigten Mensaessen konnten spürbare Verbesserungen erreicht werden. Auch wenn es sehr aufwändig war, hat es sich gelohnt, persönliche Kontakte zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Hilfsangebote aufzubauen und deren Arbeitsweise kennenzulernen. Dadurch war es möglich, passgenauer zu vermitteln. Von den Klienten wurde positiv bewertet, dass der Zugang zu den Angeboten der Schulsozialarbeit niederschwellig war und dass versucht wurde, unbürokratisch und konstruktiv zu helfen. Auch hier war der intensive persönliche Kontakt zu den Jugendlichen und Eltern ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Als wichtige Ressource stellte sich hier die enge Zusammenarbeit mit den Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern heraus, die bei vielen Eltern der WRS Seefälle ein großes Vertrauen genießen. 105 Die folgenden Zitate stammen aus der Gruppendiskussion 2: Mitarbeitende aus Kirchengemeinde und CVJM Wichtig für sozial benachteiligte Jugendliche ist die Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten. Die breite Angebotspalette hochwertiger Freizeitangebote an der WRS Seefälle ermöglicht diese Teilhabe. Auch die Schulsozialarbeit kann sich hier einbringen, insbesondere mit Angeboten, die Jugendlichen Beteiligung und Erfolgserlebnisse ermöglichen. Im Rahmen des Projekts war es möglich, die Schülermentorinnen und Schülermentoren intensiv zu begleiten und die Grundlagen für ein auf die Bedürfnisse von Werkrealschulen zugeschnittenes Konzept der Mentorenausbildung zu erarbeiten. Kirche wurde von den Schülerinnen und Schülern und insbesondere von den Eltern dort positiv wahrgenommen, wo sie sozial benachteiligte Jugendliche und ihren Familien konkret unterstützt hat. Dies steht teilweise im Gegensatz zu den Erwartungen, die bei manchen Verantwortlichen in der Kirchengemeinde vorhanden sind. Das Bewusstsein hier nachhaltig zu verändern wird sicher noch ein längerer Prozess sein. In der Evaluation haben sich Hinweise ergeben, dass dies wohl am ehesten zu erreichen ist, wenn es gelingt, einzelne Gemeindeglieder zu einem Perspektivwechsel zu bewegen. Dieser scheint dort zu gelingen, wo sich Menschen auf den Weg machen und echte Begegnung über Milieugrenzen hinweg suchen. Das FiSch!-Konzept hat die Jugendarbeit in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonlanden und im CVJM Bonlanden e.V. neu belebt. Das Angebot wird von Jugendlichen gut angenommen. Der größte Teil der Besucher ist aber weiterhin dem Bildungsbürgertum zuzurechnen. Indem Diakone „Wanderer zwischen den Welten“ sind und Jugendliche vom einen Milieu ins andere mitnehmen und umgekehrt, kann es gelingen, dass immer wieder Begegnung geschieht und sich so langfristig mehr Verständnis füreinander entwickelt. Dies erfordert immer wieder Toleranz von allen Beteiligten. Kirchlich sozialisierte Jugendliche können lernen, Jugendliche zu ertragen, die beim Lobpreis oder der Andacht rein und raus gehen möchten, kirchenferne Jugendliche können lernen, die Ausdrucksformen junger Christen zu respektieren und eventuell gemeinsam neue Formen zu entwickeln. Als kirchlicher Mitarbeiter an der Schule zu sein – oder als Diakon in der „Welt“ – wurde von niemandem negativ bewertet. Schlimmstenfalls wurde die Tatsache, dass wir als Diakone beim Evangelischen . Kirchenbezirk angestellt sind, gleichgültig aufgenommen – auch von Kirchendistanzierten. In der Regel waren die Reaktionen aber positiv. Es wurde wahrgenommen, dass sich Kirche ins Gemeinwesen einbringt, sich kümmert und Gesellschaft mit gestalten möchte. Anhang: Ein typischer Tag im Projekt Um 9 Uhr beginnt die Präsenzzeit im Büro der Schulsozialarbeit, das zentral im Ganztagsgebäude der Werkrealschule Seefälle liegt. Dieses Gebäude enthält neben einigen Fachräumen (Lehrküche, Computerraum) auch ein Internetcafé, ein Spielezimmer, einen Gruppenraum und die Mensa. Die ersten Mails sind schnell beantwortet und auf dem Anrufbeantworter sind zwei Anrufe. Die Rückrufe müssen war- Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit ten, denn es hat geläutet und Jessica, Lavah und Mergime106 sind gleich zu Beginn der ersten großen Pause um 9.15 Uhr ins Büro gekommen und wollen wissen, wie es mir geht und sie erzählen, dass die ersten zwei Stunden bei Frau Meyer ziemlich langweilig waren und Tobi den Florian geärgert hat und deshalb vor die Tür gestellt wurde. Außerdem hätten sie sich Briefchen geschrieben und Frau Meyer hätte es nicht gemerkt. Yasin kommt herein und möchte das vergünstigte Mittagessen buchen. Außerdem bringt er den neuen Bildungsgutschein vorbei, den ihm sein Vater mitgegeben hat. Nach der Pause steht eine Klassenkonferenz mit den Lehrerinnen und Lehrern der Klasse 5b an. Johanna kommt seit mehreren Wochen nur sehr unregelmäßig in den Unterricht. Die Mutter ist verzweifelt. Sie schafft es einfach nicht, ihre Tochter aus dem Bett zu bringen. Dies war wohl schon in der Grundschule so und die Mutter dachte, an der neuen Schule hätte sie es gepackt – aber jetzt fällt Johanna wieder in alte Muster zurück. Die Familiensituation ist schwierig. Zum leiblichen Vater gibt es keinen Kontakt. Mit dem neuen Freund der Mutter hat Johanna ständig Stress. Es wird vereinbart, dass ich ein Gespräch mit Johanna führe und parallel dazu Kontakt zum Sozialen Dienst aufnehme. In der zweiten großen Pause bin ich im Lehrerzimmer und führe kurze Informationsgespräche mit verschiedenen Lehrerinnen und Lehrern über einzelne Schüler. Danach habe ich mit Timo aus der 7a unseren wöchentlichen Termin: wir spielen eine Runde Basketball auf dem Sportplatz und unterhalten uns über sein Verhalten im Unterricht. Er ist stolz, denn er fliegt jetzt deutlich seltener raus als früher. Und gestern wurde er vom Musiklehrer, Herrn Müller, der ihn eigentlich jede Woche rausschmeißt, weil er stört, sogar gelobt. Kurz vor 13 Uhr gehe ich zum Mittagessen in die Mensa, um fertig zu sein, bevor der große Ansturm kommt. Herr Jahn, der Schulleiter, ist auch beim Essen und wir nutzen die Zeit, um noch einige Dinge zu besprechen. Dann kommen auch schon die ersten Schüler, die Bälle für die Mittagspause ausleihen wollen. Die Schülermentoren holen die Spielekiste ab und die Schülerfirma braucht den Schlüssel für den Schülerkiosk. Es reicht noch für eine Runde Tischkicker mit Marina, Ioanna und Serkan, bevor um 13.45 Uhr Vanessa und Martin kommen, die im Auftrag des Sozialen Dienstes eine Soziale Gruppe an der Schule anbieten. Sie informieren mich über zwei Elterngespräche, die sie letzte Woche hatten, dann muss ich auch schon los, denn in der Sporthalle wartet meine Klettergruppe, die ich im Rahmen des Ganztagsangebots anbiete. Bei den ganzen Einzelfällen ist es auch gut, mit einer regelmäßigen Gruppe arbeiten zu können. Nachdem um 15.30 Uhr das Material aufgeräumt ist und die Schülerinnen und Schüler nach Hause dürfen, mache ich noch eine kurze Streetworkrunde: es reicht für den Spielplatz am Festplatz, die Halfpipe und den Vorplatz des REWE-Marktes. Doch heute Mittag ist nicht viel los, dafür höre ich, dass am Samstagabend wohl eine 106 Die Namen der Schuler und Schulerinnen, Lehrer und Lehrerinnen wurden zur Anonymisierung verändert. 59 größere Party auf einem Spielplatz geplant ist – dann werde ich wohl da noch mal losgehen. Am Abend ist FiSch!, der Jugendabend des CVJM. Glücklicherweise haben sich genügend Jugendliche und Erwachsene gefunden, die etwas vorbereitet haben – ich habe daher heute keine Andacht und auch sonst keinen Programmpunkt, so dass ich viel Zeit für Beziehungsarbeit habe. Lavah und Karina aus der Werkrealschule haben sich getraut und sind zum ersten Mal vorbeigekommen. Sie freuen sich, mich zu sehen und wir unterhalten uns ein wenig. Nach der Andacht und der kurzen Inforunde sind sie plötzlich weg. Die Angebote (heute gibt es Indiaca im Gemeindehausgarten, Geldbeutel aus Filz und Brettspiele – außerdem trifft sich das Jugendgottesdienstteam zur Vorbereitung) scheinen sie nicht zu interessieren. Aber beim Abendessen um 21 Uhr sind sie plötzlich wieder da. Und sie sitzen sogar bei ein Paar Jungs, die Karina aus dem Konfiunterricht kennt. Mal sehen, ob sie nächste Woche wieder da sind… Literaturverzeichnis Bundesagentur für Arbeit (2009): Personen in Bedarfsgemeinschaften und Bevölkerung in ausgewählten Altersgruppen. Baden-Württemberg. Zitiert bei: KVJS 2010. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2005): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. München. Kommunalverband Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) (Hrsg.) (2010): Kinder- und Jugendhilfe im demografischen Wandel – Herausforderungen und Perspektiven der Unterstützung von jungen Menschen und deren Familien in Baden-Württemberg – Berichterstattung 2010. Spiegel, Jürgen: Jugendstudie für Filderstadt 2007. Die Studie steht als Download auf der Homepage der Stadt Filderstadt unter http://www.filderstadt.de/servlet/PB/show/1237071_l1/ Jugendstudie.pdf zur Verfügung Weitere Quellen: Bernhausen_Gruppendiskussion_Eltern vom 24.11.2011. Bernhausen_Gruppendiskussion_Ehrenamtliche vom 24.02.2012. Bernhausen_Feldnotizen_Auswahl (Juli bis Oktober 2011) Pum, Oliver: „Diakonat – neu gedacht, neu gelebt“ Teilprojekt 15: Ev. Kirchenbezirk Bernhausen/Filderstadt-Bonlanden. Sozialraumanalyse. Filderstadt 2009. 60 61 Diakonische Schulsozialarbeit – seelsorgerliches und kirchliches Handeln an der Schule Bericht 5: Creglingen Diakonische Schulsozialarbeit Elsbeth Loest Projektort: Creglingen Anstellungsträger: Stadt Creglingen Projektstelleninhaberin: Diakonin Elsbeth Loest 62 Creglingen 1. Diakonische Schulsozialarbeit Diakonische Schulsozialarbeit orientiert sich am normativen Ziel: Kinder und Jugendliche erfahren in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer in ihrer erzieherischen Arbeit am Lebensort Schule diakonisch und kirchlich profilierte Unterstützung und Begleitung. 1.1Rahmenbedingungen Anstellungsträger des Projektes „Diakonische Schulsozialarbeit“ ist die Stadt Creglingen, wobei die Finanzierung der Stelle von verschiedenen Organisationen getragen wird (Projektgelder des Oberkirchenrats, des Kirchenbezirks, der Kirchengemeinden des Bezirks, des Landkreises, der Kommune und örtlicher Vereine bzw. landeskirchlicher Gemeinschaft). Als Anstellungsträgerin hat die Stadt die Dienstaufsicht, wobei die Fachaufsicht bei der Evangelischen Landeskirche liegt. 1.2Projektidee Im Projekt „Diakonische Schulsozialarbeit“ sollte die bereits bestehende Schulsozialarbeit personell breiter aufgestellt werden; weiter stand das Anliegen im Mittelpunkt Kirche und Schule zu verzahnen. Damit verbunden die Idee, im Rahmen der Ganztagesbetreuung kirchliche Gruppenarbeit am Lebensort Schule anzubieten. 2. Kernaufgaben der Diakonischen Schulsozialarbeit In der Stellenausschreibung für das Projekt wurde die Stelle folgendermaßen beschrieben: „Das Aufgabengebiet umfasst neben der Schulseelsorge und der kirchlichen Jugendarbeit auch die Einzelfallberatung, die Elternarbeit, die sozialpädagogische Gruppenarbeit, die Zusammenarbeit mit Jugend- und Arbeitsämtern sowie die Kooperation mit den Kirchengemeinden, den Beratungsstellen der Diakonie und der Caritas.“ Diese Stelle wurde als „Ergänzung zur bereits bestehenden Schulsozialarbeit“ geschaffen und arbeitet mit ihr eng in den verschiedenen Arbeitsfeldern zusammen. Dabei ist die Schulseelsorge das eigene, spezifische Arbeitsfeld, um dieses wird es in der Evaluation vorrangig gehen. 2.1 Zur Situation vor Ort Im September 2008 wurde die Projektstelle besetzt; krankheitsbedingt war die Stelle jedoch über einen längeren Zeitraum verwaist. Manche Anfänge der Arbeit, z.B. die „Atempause“ (Schülerkreis mit Lied und geistlichem Impuls), führten die Pfarrer weiter. Im September 2010 wurde die Stelle dann neu besetzt. Bei Dienstantritt waren die Ziele bereits ausgearbeitet, konnten von der Stelleninhaberin aber eigenständig gestaltet und gewichtet werden. Schon in der Einarbeitungsphase zeigte sich, dass die Schulsozialarbeit dringend Ergänzung benötigte, da die Fülle der Aufgaben und Anforderungen das Pensum einer Stelle überschritten. Deshalb war es nötig, dass die Diakonin zeitnah verschiedene Aufgaben übernahm. Diese Anforderungen machten es schwierig, Zeit für die eigentliche Entwicklung des Projektes zu finden. Häufig war es ein Agieren im vorgegebenen Raum; es galt, Situationen zu erfassen und möglichst schnell und professionell zu handeln. Diese Situation schlägt sich in der folgenden Evaluation nieder, da der zeitlich verkürzte Rahmen Grenzen vorgibt. Für manche Arbeit hätte es einfach noch mehr Zeit gebraucht, um Dinge zu entwickeln und reifen zu lassen. Im Schuljahr 2011/2012 erteilte die Diakonin außerdem 4 Stunden Religionsunterricht, der nicht direkt zum Dienstauftrag gehörte und anstellungsrechtlich über die Evangelische Landeskirche geregelt war. Der Unterricht gehörte aber wesensmäßig zur diakonischen Schulsozialarbeit. Die zunächst geplante kirchliche Jugendarbeit war einer der Punkte, die aufgrund der Situation nicht angegangen werden konnte, wobei die Stelleninhaberin an Konfirmandenfreizeiten unterstützend teilnahm, diese aber nicht wesentlich gestaltete. Für das Schuljahr 2012/2013 soll der Punkt „Kirchliche Jugendarbeit“ neu angegangen werden, die Planungen dafür laufen schon. Diakonische Schulsozialarbeit 2.2 Schulseelsorge als Kernaufgabe der Diakonischen Schulsozialarbeit Schulseelsorge geschieht in impliziter Weise, das heißt, sie ist im Agieren der Diakonin vorhanden, egal, um welchen Arbeitsbereich es sich handelt. Schulseelsorge, die als „sozio-religiöse Unterstützungsarbeit“107 geschieht, den Menschen mit seinem Gewordensein und aktuellen Problemen ernst nimmt, zum Wegbegleiter wird und den Raum für religiöse Reflexion öffnet, aber ergebnisoffen handelt. Sie versteht sich nicht als Case-Management sondern als Präsenzarbeit.108 Deshalb will diakonische Schulsozialarbeit Anlaufstelle für alle am Lebensort Schule eingebundenen Personen sein und Unterstützung und Begleitung bieten. Sie konkretisiert sich in Gesprächen in Krisenzeiten, in Ritualen, die das Schulleben begleiten, in der kollegialen Beratung und in Zweiergesprächen, die in Alltagssituationen stattfinden, aber auch in der Abgeschlossenheit eines speziell dafür eingerichteten Raumes. Sie kann aber auch im Religionsunterricht geschehen, in Fragen, die die Schüler während des Unterrichtsgesprächs stellen, oder auch in Tür- und Angelsituationen, die auf eine Unterrichtsstunde Bezug nehmen. Des Weiteren geschieht Schulseelsorge in ihrer expliziten Form in der Mitgestaltung von Gottesdiensten, der Atempause und Impulsen zum Kirchenjahr an zentralen Orten der Schule.109 3.Auswertung Diakonische Schulsozialarbeit orientiert sich an folgenden strategischen Zielen: 1. Es besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Diakonischer Schulsozialarbeit, SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern. 2. Die diakonische Schulsozialarbeit ist integraler Bestandteil des Creglinger Schullebens und eingebunden in ein örtliches und regionales Netzwerk zur Unterstützung von Familien. 3. Am Creglinger Schulzentrum besteht ein umfassendes schulsozialarbeiterisches Angebot, das von kommunaler und diakonischer Schulsozialarbeit gemeinsam verantwortet und von SchülerInnen, Eltern und Lehrerinnen sowie im Rahmen zivilgesellschaftlichen Engagements mitgestaltet wird. 4. Diakonische Schulsozialarbeit in Creglingen zeichnet sich dadurch aus, dass situationsorientierte, christliche Impulse und Angebote christlicher Lebensdeutung integraler Bestandteil ihrer gesamten Arbeit sind und dadurch, dass sie „Kirche an der Schule“ gestaltet. Die folgende Auswertung greift 2 dieser Ziele auf. 107 Benedict 2008, S. 136. Benedict 2008, S. 136. 109 Vgl. hierzu insgesamt Pädagogisch-Theologisches Zentrum der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (Hrsg.) 2010 108 63 3.1 Vertrauensverhältnis (Feldnotizen) Zunächst steht das oben aufgeführte erste strategische Ziel im Mittelpunkt, dieses gliedert sich in folgende Teilziele auf: 1. Der Diakon/die Diakonin ist verlässlich zu bestimmten Zeiten an festgelegten Orten in offenen Angeboten für Schülerinnen und Schüler ansprechbar, und diese suchen aktiv den Kontakt oder lassen sich ansprechen 2. Der Diakon/die Diakonin ist verlässlich zu bestimmten Zeiten im Lehrerzimmer und bei Lehrerkonferenzen anwesend und ansprechbar, wird von Lehrerinnen und Lehrern in angemessener Art und Weise informiert und einbezogen und erhält angemessene Unterstützung bei dieser Arbeit. 3. Der Diakon/die Diakonin ist bei Elternabenden, Elternsprechtagen und Schulveranstaltungen nach Bedarf anwesend, ist für Eltern ansprechbar und wird von diesen bei entsprechendem Bedarf kontaktiert oder kann Eltern mit positiver Resonanz ansprechen. Erste Priorität bei Dienstantritt hatte – neben dem Kennenlernen der Arbeit und der Aufgabe, sich einen Überblick zu verschaffen – der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses. Vertrauen ist unabdingbare Grundlage für gelingende soziale und diakonische Arbeit, das Maß des Vertrauens kann entscheidend die Annahme der Arbeit beeinflussen. Deshalb soll das Gegenüber in partnerschaftlicher Weise und in möglichst verständnisvoller und offener Kommunikation wahrgenommen und ernst genommen werden und somit Wertschätzung erfahren. Ein gezieltes „sich dem anderen Zuwenden“ und der Versuch, sich in die jeweilige Situation einzufühlen, sind in diesem Prozess genauso wesentlich wie die Präsenz im Alltag und die offensive Kontaktaufnahme. Auch die Verschwiegenheit der Diakonin ist gerade für das Gegenüber – das oft in schwierigen Lebensumständen lebt – ein wesentlicher Faktor für gelingendes Vertrauen. Es geht sowohl um den Aufbau von personalem Vertrauen als auch um Kompetenzvertrauen. Letzteres wird zunächst als Teil des Berufs vorausgesetzt, muss sich aber im konkreten Alltagsgeschehen bestätigen. Die Diakonin soll deshalb ihrerseits wahrgenommen werden als Mensch, der ansprechbar ist, der zuhört, der schweigen kann und sich möglichst kompetent der jeweiligen Situation annimmt. In offenen Angeboten (Pausentreff, Begleitung der Schülermentoren, Film-AG und eines Projektunterrichts zum Thema Sexualität in Klasse 8 Hauptschule, Teilnahme an Konfirmandenfreizeiten) wurde Kontakt aufgenommen, die Schüler konnten die Diakonin kennenlernen, Alltagssituationen erleben (mit Schülern im Catchraum, Streitigkeiten, Spiele während des Pausentreffs) und auch Fragen stellen. Auch die alltäglichen Tür- und Angelbegegnungen (Wie geht es Dir heute? Schreibt ihr heute eine Arbeit? Wie war das Wochenende? etc.) sind wesentliche Elemente dieses Prozesses. Teil dieses Geschehens bil- 64 Creglingen dete ein recht regelmäßiger Besuch von zwei Jugendlichen im Büro der Diakonin. Sie kamen oft nur um hereinzuschauen, ein wenig zu erzählen, sich selbst bei der Diakonin ins Gedächtnis zu rufen. Die seelsorgerliche Arbeit der Diakonin wird im Folgenden anhand von zwei Fällen exemplarisch verdeutlicht: durchschaubar werden zu lassen, ihre Gründe offenzulegen und somit den Jugendlichen auch in dieser Handlung bewusst einzubeziehen und das Vertrauen in ihn selbst zu bestärken, so dass er es schaffen kann, diese negative Rolle zu überwinden. Fallbeispiel 2: Gespräche in einer Lebenskrise Fallbeispiel 1: Schülermobbing Eine Person des Lehrkörpers, die durch eine Lebenskrise geht, bittet um ein persönliches Gespräch. Die bisherige Beziehung war von kurzen Begegnungen im Lehrerzimmer geprägt. Im Büro sitzend wird zunächst mehrmals betont: „Du darfst es aber niemand sagen…“ Bald wird deutlich, dass hier therapeutische Beratung nötig ist, und so wird mit Einverständnis der Person der Kontakt mit einer Beratungsstelle aufgenommen. Die Beratung dort läuft, die betroffene Person bittet in einer weiteren Begegnung ausdrücklich darum, dass sie weiter zu Gesprächen kommen möchte, da die Person den „Eindruck hat, dass das mehr bringt. Hier fühle ich mich wohler.“ (Feldnotizen) Diese Bitte wird gerne aufgenommen, verbunden mit dem klaren Hinweis, dass die Diakonin keine Therapeutin ist. Es werden regelmäßig Termine wahrgenommen, in denen gezielt die Probleme angesprochen und reflektiert werden. Die Person bestimmt selbst, welche Problembereiche sie ansprechen möchte. Am Ende des ersten Dienstjahres kam einer dieser Jugendlichen alleine, um auf ein Problem aufmerksam zu machen: „Frau Loest Sie sind ja ganz nett, aber ich finde nicht gut, dass Sie nichts dagegen getan haben, dass Simone (Name geändert) gemobbt wurde.“ (0riginalton aus Feldnotizen) Nach den Sommerferien wurden Gespräche zur Intervention des Mobbings geführt, und dabei wurde deutlich, dass genau jener Schüler, der mir vor den Ferien die Ansage des Problems gemacht hatte, der Initiator des Mobbings war. Zunächst zeigte er sich gesprächsbereit, und die Situation beruhigte sich. Er kam öfters ins Büro, um von sich und seiner Lebenssituation zu erzählen, fragte um Rat in einer Situation, wie er eine Beziehung gestalten könne. Im Verlauf der Begleitung gab es mehrere Gespräche, die für ihn unangenehm waren, da er als Urheber des Mobbings angesprochen wurde. (Feldnotizen) Die Beziehung zu oben beschriebenem Jugendlichen durchlief verschiedene Stadien. Da war zunächst der sporadische Besuch im Büro, mal sehen, wer diese Diakonin ist, wie sie „drauf ist“. Auch provokative Fragen hatten in diesem Zusammenhang ihren Raum. Eine weitere Stufe wäre dort zu sehen, wo er alleine kommt und ein Problem zur Sprache bringt, das zunächst betrachtet noch nichts mit ihm selber zu tun hat. Er äußert Kritik an der Diakonin, die doch für solche Fälle zuständig ist, ohne zu fragen, ob ihr die Information schon bekannt war. Zunächst ist dies als Anfangsvertrauen zu interpretieren. Auch die angedeutete Kritik bedarf des Vertrauens, dass der Andere zuhört, es nicht gleich von sich weist und die Beziehung damit nicht beendet ist. Vielleicht steht auch die Frage im Raum, inwieweit es möglich ist, sich auseinanderzusetzen. Im Verlauf der Monate bringt er sich selber als Mensch mit seinen Problemen zur Sprache. Auch sehr persönliche Gefühle und Ängste werden formuliert. Genauso war der Email-Kontakt mit dem Jugendlichen ein Meilenstein. Da konnte er – auf Distanz hin – deutlich machen, dass er die Rolle des „Mobbers“ gerne los wäre. Durch die Beziehung, das Vertrauen zur Diakonin gestärkt, kann er sich mit seiner Lebenssituation auseinandersetzen, was aber noch nicht als Lösung für seine Schwierigkeiten gedeutet werden kann. Eine professionelle Herausforderung für die Zukunft ist das nicht gelöste Problem des Mobbings. Der Jugendliche ist sich sehr bewusst, dass er mit Konsequenzen von Seiten der Schule zur rechnen hat, als Schulsozialarbeiterin ist die Diakonin Teil der Schule. Um Vertrauen zu erhalten, ist es wichtig, in diesen Schwierigkeiten das Handeln und somit auch die Konsequenzen Nach einiger Zeit kam die Person und sagte: „Du ich muss dir unbedingt etwas erzählen…“ (Feldnotizen) Sie nahm dann Bezug auf das letzte Gespräch, in dem wir eine für sie große Herausforderung durchgegangen waren, und sie daran gearbeitet hatte und eine Ermutigung in dieser Hinsicht erlebt hatte. Hier ist zunächst die Ebene des personalen Vertrauens im Mittelpunkt. „Hier fühle ich mich wohler...“ – „Ich muss erzählen...“ Von der Begegnung im Schulhaus vertieft sich im persönlichen Gespräch das Vertrauen, und es können ganz persönliche Dinge angesprochen werden. Es braucht nicht mehr die Vergewisserung der Geheimhaltung. Auch das Kommen und Reden ohne Terminabsprache ist ein Indikator dafür, dass das Vertrauen eine tiefere Schicht erreicht hat. Innere, sehr persönliche Prozesse können offen angesprochen werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Vertrauen ein Kennenlernen in Alltagssituationen braucht, welches als Anfangsvertrauen bezeichnet werden kann. Ob dieses Vertrauen wächst, hängt von den oben ausgeführten Faktoren ab. In der Einzelfallhilfe, den Elterngesprächen und der Beratung von LehrerInnen braucht es im Alltag die Weiterarbeit an diesem Vertrauen, um seelsorgerliche Begleitung zu ermöglichen und gleichzeitig dem Gegenüber über das Problem hinaus zur Gewissheit zu verhelfen, die eigene Lebenssituation eigenständig meistern zu können. Dieses Meistern kann auch die Gewissheit beinhalten, dass das Leben trotz seiner Widrigkeiten in Gottes Hand geborgen ist.110 Durch die Präsenz der Diakonin an der Schule wird ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, das eine seelsorgerliche Unterstützung und Begleitung in Krisensituationen ermöglicht. 110 vgl. hierzu insgesamt Böhme 2010 und Petermann 1985. Diakonische Schulsozialarbeit 3.2 Diakonische Schulsozialarbeit – Gestaltung von Kirche an der Schule Das aufgeführte strategische Ziel Diakonische Schulsozialarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass situationsorientierte, christliche Impulse und Angebote christlicher Lebensdeutung integraler Bestandteil ihrer gesamten Arbeit sind und dadurch, dass sie Kirche an der Schule gestaltet. gliedert sich in folgende Teilziele: Im Rahmen offener Angebote, im Rahmen der sozialpädagogischen Gruppenarbeit und in verschiedenen Veranstaltungen des Schullebens gestaltet der Diakon/die Diakonin christliche Impulse. Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern nehmen seelsorgerliche Begleitung in Anspruch. Angebote christlicher Jugendarbeit finden in der Schule statt. 65 und wurde von dort weggeholt. „Wir brauchen Sie dringend….“ Wenige Minuten später saß die Diakonin in der Schulklasse, in der die meisten der Freunde des Toten waren. Manche weinten haltlos, andere saßen stumm da. Die Klassenlehrerin war sehr betroffen, da der Tote vor wenigen Jahren ihr Schüler gewesen war. Andere Schüler hatten das Klassenzimmer verlassen, da sie keine Beziehung zu dem Toten gehabt hatten. Behutsames Fragen und Hören gestaltete die ersten Minuten. Fragen und Impulse wie: „Wer möchte etwas sagen, erzählen, mitteilen, fragen …. In solchen Momenten fällt es uns sehr schwer, etwas zu sagen. Es ist so schwer….“ Die Schüler sprachen über das Unfassbare: „Vor wenigen Tagen waren wir noch gemeinsam beim Jugendlager …. Er war immer fröhlich …… Er hatte so gute Ideen…. War so ein toller Kumpel….“ Die SchülerInnen drückten spontan, oft unter Tränen aus, was sie bewegte, zwischendurch war es auch ganz still. Nach ca. 45 Minuten waren sie an einem Punkt angekommen, dass sie sich ein wenig beruhigt hatten, das Unfassbare stand im Raum, sie schauten mich an: „was nun?“ Vorsichtig versuchte ich die Fragen und Kommentare der SchülerInnen zusammenzufassen und stellte die Frage in den Raum, ob es ihnen helfen würde, wenn ich ein Gebet spräche. Allgemeines Nicken, aber auch SchülerInnen, die vernehmlich „Ja“ sagten, ermutigten mich, dies zu tun, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass man gerne den Raum verlassen könne, wenn man nicht am Gebet teilnehmen möchte. Stellvertretend für alle sprach ich ein Gebet. Dann gingen alle in die Pause. Der Tod eines ehemaligen Schülers, dessen Schwester und einige Freunde noch an der Schule sind, soll im Folgenden als exemplarisches Beispiel dafür beschrieben und ausgewertet werden. Am nächsten Tag war Schulanfangsgottesdienst, der kurzfristig umgestellt worden war. Später ging ich noch einmal in die Klasse, fragte nach, was sie brauchten, wie wir gemeinsam weitergehen sollten. Die Frage nach einem Ort des Erinnerns kam zur Sprache, auch wurde geäußert, dass genügend gesprochen sei. Sie wollten nicht mehr sprechen. Dann wurde gemeinsam über einen Ort des Erinnerns gesprochen. Wo sollte er sein und wie gestaltet werden. Die Schüler wollten, dass es in einem Raum sein sollte, nicht irgendwo im Schulhaus, wo alle vorbei laufen. Es war der Wunsch nach Diskretion, nach „Privatsphäre“. So entschieden wir uns gemeinsam für den neu eingerichteten Seelsorgeraum, der noch nicht offiziell benutzt worden war. (Dies war sozusagen die „Einweihung“.) Nur die engsten Freunde wollten daran mitarbeiten. Die Schwester des Toten war sehr zurückhaltend und wollte nicht daran teilnehmen, vermutlich ging ihr das im Lebensraum Schule zu nahe. Die Schüler machten sich an die Arbeit, suchten ein Bild ihres Freundes, kauften Kerzen und besprachen ihre Ideen; auch Briefe an die Familie des Toten wurden geschrieben. Meine Beobachtung: Es war die Möglichkeit etwas für den Freund zu tun, so etwas Letztes, über das er sich vielleicht gefreut hätte. Als alles „fertig“ war, saßen wir gemeinsam, es war sehr still, wohltuend still und der Wunsch, noch einmal zu beten, stand im Raum. Zunächst kommen Feldnotizen zur Sprache: Über das Mobiltelefon erfuhren die Schüler am 2. Schultag des Schuljahres vom Tod ihres Freundes. Die Schwester des Verunglückten war an diesem Tag nicht in der Schule. Es herrschte große Aufregung, die Diakonin war bei einer Einschulungsfeier Danach war die Sache „abgeschlossen“. Ab und zu gingen Schüler und Lehrer in den Raum, für sich alleine, erst nach ca. vier Wochen fragte ich die Schüler und Schülerinnen, ob sie den Raum so belassen möchten, oder ob das wieder weggenommen werden sollte. Sie wollten, dass die Diakonin „aufräumt“. Nach einiger Das Kirchenjahr ist im Schulleben durch entsprechende Gottesdienste und Veranstaltungen lebendig. Im folgenden Abschnitt werde ich vor allem auf die Teilziele 1 und 2 eingehen. Sie werden unter dem Begriff Schulseelsorge besprochen, und es wird der Frage nachgegangen, wie sie sich im Alltag gestalten lässt. Die für mich wesentlichen Grundlagen zum Thema habe ich in 2.2 aufgeführt. 3.2.1 Umgang mit Trauer an der Schule Diesem Abschnitt liegen Feldnotizen zu einem Todesfall in der Schule zugrunde und die Auswertung einer Gruppendiskussion. Fallbeispiel 3: Tod eines Schülers 66 Creglingen Zeit bekam die Diakonin von der Klassenlehrerin eine Karte: „.. das Leben geht weiter….. Danke für….“ Einige der SchülerInnen dieser Klasse nahmen an einer Gruppendiskussion zur Auswertung der Arbeit des Schuldiakonats teil. Die Gruppendiskussionen führte Diakonin Ellen Eidt von der Projektgeschäftsstelle, ausgewertet wurden sie gemeinsam mit KollegInnen und von der Diakonin selbst. Im folgenden Abschnitt einige Auszüge, wie die SchülerInnen den Trauerprozess nach etwa 2 Monaten bewerteten: Schüler 1: „Ne, also.. wir haben schon recht viel mit ihr erlebt. Weil halt Anfang des Jahres halt auch ein Vorfall war. Wo sie sozusagen einfach helfen musste und da sein musste für manche. Und Sie widmet sich halt den Problemen zu, die wo halt Probleme haben, wo einfach nicht zurechtkommen mit anderen Schülern und so. Denen widmet sie sich halt zu.“ (Zeile 1026 – 1028) Es folgte in der Diskussion ein kurzer Einschub, in welchem es um die Person der Diakonin und der Schulsozialarbeiterin ging, dann kam eine andere Schülerin noch einmal auf den Trauerprozess zu sprechen: Schülerin: „ ... und die Frau Loest ist halt … die löst den Fall also. Es gibt den Spruch „Loest löst den Fall“ und ja irgendwie so war das (lacht) find ich witzig. Ja. Ich weiß nicht… die Frau Loest ist einfach speziell, aber wenn man sie wirklich braucht, dann ist sie wirklich goldwert… Eigentlich… sozusagen… also jetzt am Anfang vom Jahr der Raum hier der war einfach perfekt. Fand ich. Und…. Ja… genau.“ (Zeile 1049 – 1055) Auch in einer Gruppendiskussion mit Lehrern wurde der Umgang mit Trauer thematisiert, folgender Auszug dazu (Namen wurden geändert): LehrerIn A:„Ja also ich fand es auch ganz … gut, dass die Frau Loest, wir hatten ja eigentlich dann einen Gottesdienst geplant gehabt, das war wenige Tage vor dem… nach dem Tod dieses Bruders der Schülerin. Aber es war auch so, dass sehr viele Schüler diesen Jungen sehr gut kannten also in der Klasse. Das hat jetzt nicht nur das Mädchen betroffen, sondern eigentlich die ganze Klasse war da … sehr betroffen. Und da hat die Frau L. … dann den Gottesdienst umgestaltet. Sie hat nun ganz kurzfristig einen Gottesdienst, der mit Band und mit lustig – netten Liedern gedacht war … den nun umzugestalten in einen Trauergottesdienst … war nicht ganz leicht. Und es war dann doch auch so … sagen wir mal ...sachlich und traurig und gut, dass auch das Mädchen da teilnehmen konnte. Und da denke ich, ist es schon wichtig dass man so den … Pfarrer auch unterstützt in so einer Sache. .. Wenn so kurzfristig die Sachen, schwere Probleme auftreten. … (Zeilen 163 – 177) LehrerIn A:„...Und da denke ich ist Schulseelsorge natürlich Gold wert.“ (Zeile 480) An anderer Stelle der Diskussion wird das Thema noch einmal angesprochen: LehrerIn B:„Oder gerade dieser Pausentreff ... auch, wo auch die Frau L. erzählt, dass sie ins Gespräch kommt eben mit Schülern auch Einzelgespräche oder mal mit zwei drei Schülern und einfach Dinge des Alltags besprechen … das ist ja schon Seelsorge. (Zeile 494 – 498) LehrerIn C:„Ja.“ LehrerIn A „Ja, oder ich muss sagen, ich bin damals … wie gesagt als die Frau M. da von der Brücke gestürzt ist. Da bin ich ... die wussten das alle schon, ich noch nicht als ich rein kam ja. Und da ist mir auch … da wusste ich nichts … ...da ist mit nichts eingefallen… …Situation, eigentlich noch schlimmer in dem, das ein Kind war, ja, das da zu Tode gekommen ist. Und da war es auch so, dass die … dass ich gesagt hab du ich habe das gerade mitbekommen zur Mathelehrerin, ich weiß nicht ob die das schon wissen, ja, die Klasse. … Und dann kam die gleich runter und sagt ich kann da kein Mathe machen, die sitzen da alle auf dem Boden und heulen, ja. Habe ich gesagt ja ich gehe hoch aber wie gesagt ich wusste da auch … auch jetzt nicht so richtig …“ LehrerIn D „Was und wie“ LehrerIn A „Was und wie, ja. ... Zumal ich da natürlich auch ich hatte wie gesagt den auch vier oder fünf Jahre ja, auch als Klassenlehrer und alles. Ich war natürlich auch …betroffen. Und da denke ich, ist es schön … nicht schön aber wichtig, dass jemand die passenden Wörter findet ein Gebet spricht oder ... ja einfach Trost kann…man wahrscheinlich nicht spenden in so einer Situation. Aber auf jeden Fall .. überhaupt was sagen kann. … Und da war sowohl die X., die Mathelehrerin wie ich doch recht froh, dass dann jemand da war. Und auch in den nächsten Tagen … dass man da so eine Begleitung hatte bis zur Beerdigung. Und fand das also immer auch …sehr tröstlich, wenn dann noch mal gefragt wurde, wie macht das Mädchen das und ich konnte dann auch nochmals austauschen und die Sache ist jetzt so, dass das Mädchen einen Weg gefunden hat. … Also es gibt immer noch so Situationen, jetzt beim erste Hilfekurs bei der Mund zu Mund Beatmung also wie es so war bei dem Kind da geht sie raus aber das sei ihr auch zugestanden ja. ... Also. Ansonsten denke ich schon, dass das ... also auch mit Hilfe dieser … dieses gemeinsame darüber Reden und …Beten oder so, dass das viel geholfen hat weil ich hätte das nicht gekonnt. Aber ich denk Diakonische Schulsozialarbeit natürlich andererseits sind das diese Ausnahmesituationen … und also mir ist zweimal habe ich so jetzt das ich in die Klasse komme und … also da war es so, aber das sind ja auch bald 30 Jahren und nicht so oft, ja.“ (Auszüge aus den Zeilen 502 – 552) Die Gruppendiskussion mit den Schülerinnen und Schülern wurde gemeinsam mit anderen Diakonen ausgewertet und ich beziehe mich wesentlich auf ihre Aussagen. In beiden Diskussionen kam der Trauerfall zur Sprache, ohne dass er von Seiten des Interviewers explizit angesprochen worden war. Der Schüler bezeichnet ihn als „Vorfall“, er wollte – obwohl er zu den engen Freunden des Verstorbenen gehörte – nicht in den Gesprächen dabei sein, dankte aber im persönlichen Gespräch für die Frage nach seinem Ergehen. Er spricht die Arbeit der Diakonin in diesem Zusammenhang im Rahmen des „Helfens“ an. Als Schüler will er nicht zu denen gehören, die ein Problem haben, auch nicht im Zusammenhang des Trauerfalls, aber er spricht ihn an und macht damit deutlich, dass sie für dieses Problem zuständig ist. Die Schülerin ihrerseits geht ein Stück weiter, sie geht über das Helfen hinaus und bewertet „goldwert… wenn man sie braucht ist sie da….“ Diese Situation wurde für die Schüler zu einer wichtigen und wertvollen (goldwerten) Erfahrung, dass in dieser schwierigen Lebenssituation einer da war, der sie ein Stückchen begleitete. Eine Person des Lehrerkörpers gebrauchte den gleichen Ausdruck in der Diskussion der LehrerInnen, was wiederum ausdrückt, wie wichtig im schulischen Zusammenhang die Trauerarbeit ist. Auch der Raum wurde als „perfekt“ erlebt. Im Vorfeld hatten die Schüler deutlich gemacht, dass der Raum nicht „öffentlich“ sein sollte, also nicht im Flur oder Foyer der Schule, sondern etwas abgeschiedener, stiller…. Dieses „perfekt“ bezieht sich meines Erachtens darauf, und ich denke, dass hier wesentlich zum Ausdruck kommt, dass sie ihre Trauer in einer gewissen Stille und einem geschützten Raum leben wollten. Die Schülerin schloss ihre Ausführungen mit einem finalen Satz, hinterher war es still, Pause. Es war, als müsste man dem nichts mehr hinzufügen. Sozusagen: Problem gelöst, wie vorher ironisch angedeutet, aber eben doch in einer emotionalen Tiefe, die wesentlich für sie war. In der Diskussion der LehrerInnen kamen ähnliche Aspekte der Trauerbegleitung zur Sprache111: LehrerIn A drückt die Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit der LehrerInnen aus, mit solchen Situationen umzugehen und gleichzeitig die Dankbarkeit, dass in diesem Moment jemand da war, der unterstützend (auch für die Pfarrer) arbeitete. Mit Worten wie „sachlich, traurig und gut“ beschreibt die Person, wie sie die Trauerarbeit erlebte. Auch, dass solche Probleme unerwartet, plötzlich auftreten, wird thematisiert. Es war für die Schülerinnen und Schüler hilfreich, aber auch für die LehrerInnen (fügt LehrerIn B an). 111 Die folgenden Zitate stammen aus der Gruppendiskussion mit den Lehrern und Lehrerinnen. 67 Im zweiten Teil der LehrerInnendiskussion wird noch einmal die Hilflosigkeit thematisiert. „Mir ist nichts eingefallen…“ Diese Sprachlosigkeit und Ohnmacht angesichts Todes, die Frage was man tun oder sagen kann, kommt sehr deutlich zum Ausdruck. Die erlebte Begleitung wird für den Lehrer zu einem Stück Alltagshilfe und Alltagsbewältigung. Es sind Ausnahmesituationen, die nicht die Regel des Schulalltags sind, aber wenn sie eintreten, wird Hilfe gebraucht und geschätzt. Gerade in solchen Grenzsituationen des Lebens brauchen Menschen Begleitung und Unterstützung, aber auch jemanden, der ein Stück weiter sieht und in dieser Situation die geistliche, seelsorgerliche Dimension zur Sprache bringt. Ich denke, dass dies der Grund für die Aussage von LehrerIn D ist: LehrerIn D: „….Gottesdienst so aussagekräftig… Diakonie eine kirchliche Sache, dass von der Seite aus auch eine gewisse Konsequenz vorhanden sein muss…“ Sie argumentiert meines Erachtens getreu dem Motto: Wo Kirche drauf steht, muss auch Kirche drin sein. Auf die Auswertung des Gottesdienstes möchte ich hier bewusst verzichten, da der Pfarrer, der für den Schulgottesdienst verantwortlich war, diesen ausgearbeitet hat. Im Gottesdienst selber war die Diakonin dann wieder beteiligt. 3.2.2 Ö ffnen religiöser Räume in der Einzelfallhilfe (Feldnotizen) Fallbeispiel 4: Mobbing einer Schülerin Eine Schülerin, die über längere Zeit hinweg in ihrer Klasse massivem Mobbing ausgesetzt war, wurde von der Diakonin im Rahmen der Einzelfallhilfe begleitet. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Feldnotizen. Der Klassenlehrer informierte die Diakonin über die Situation, dass Simone (Name geändert) gemobbt würde und jetzt schon mehrere Tage krank sei und die Vermutung bestehen würde, dass ihr Kranksein Folge des Mobbings sei. Sie habe wohl auch per Facebook geäußert, dass sie nicht mehr in die Schule wolle. Ein Hausbesuch vermittelte Eindrücke über das Leben und Umfeld der Schülerin. Als Gesprächsöffner wurde die Sorge der Schule über die aktuelle Situation zum Ausdruck gebracht, dass wir mitbekommen hätten, dass es ihr nicht gut gehe. Im Gespräch wurde deutlich, dass die Mutter der Schülerin nicht über das Ergehen ihrer Tochter in der Schule Bescheid wusste. Simone lag in eine Wolldecke gewickelt auf dem Sofa, ihr Gesichtsausdruck wirkte verschlossen, in sich gekehrt, sie wollte nicht sprechen, keine Antworten auf vorsichtig gestellte Fragen geben. Wir vereinbarten, dass sie der Mutter erzählen solle und mit ihr besprechen, was sie (Simone) weitergeben möchte. 68 Creglingen Am nächsten Tag informierte die Mutter die Diakonin über die Situation und nannte auch die Täter. Es folgten viele Gespräche mit Simone, auch eine Intervention in der Schulklasse. Es wurde deutlich, dass die Schülerin eine Langzeitbetreuung und auch professionelle Hilfe brauchte, welche dann auch gesucht und in Anspruch genommen wurde. Simone wollte den Kontakt zur Diakonin weiterhin halten, um im Alltag über ihr Ergehen sprechen zu können. Immer wieder, wenn sie versagt hatte, stellte sie die Frage: „Sind Sie jetzt böse auf mich?“ Ein Ausdruck starker Verunsicherung, ob Menschen trotz ihrer Fehler zu ihr stehen, wurde hier deutlich. Unter dem Eindruck, dass das Selbstwertgefühl Simones stark erschüttert ist, sagte die Diakonin während eines Gesprächs: „Du bist wertvoll.“ Erstauntes Aufblicken als Reaktion Simones und dann eine freudig überraschte Antwort: „Das hat mir F. (Freundin des Bruders) auch schon gesagt.“ In der Rückschau war dies ein Punkt, an dem Simone sich weiter öffnen konnte. Warum? Wertvoll sein vor Gott kam zur Sprache. Zu Beginn des Interviews steht für den Elternteil die Frage im Mittelpunkt, wie die Kinder die „schwierige Familiensituation“ verarbeiten können, bzw. wie man die „Kinder auffangen“ könnte. Person K. bezieht schnell ihre eigene Erlebnisebene mit ein. Es war wie das Öffnen einer Tür, diese Wertschätzung ihrer Person half mit, dass sie sich öffnen konnte. Hier wurde deutlich, dass Seelsorge und Beratung oft dann am besten gelingen, wenn wir es am wenigsten erwarten, denn es kamen Grundfragen des Selbstwerts und der Annahme zur Sprache, seelsorgerliche Fragen also, die in einem oft langen Prozess der Begleitung bedürfen. Person K: „Ne eigentlich nicht, mir war’s egal… tat es gut, dass mir da jemand… gegenübersitzt, der wo neutral ist und zuhört.“ (Zeilen 103 – 106) Einige Zeit später trafen wir uns zufällig im Umfeld überregionaler kirchlicher Arbeit wieder. Ihre Schwester hatte sie mitgebracht. In Folge dieser Begegnungen wurde dann auch thematisiert, was man in den Ferien machen kann, und Simone konnte sich dazu entschließen, an einer Jugendfreizeit teilzunehmen. Sie hatte junge Menschen aus einem anderem Umfeld kennengelernt und gefragt: „Was ist hier anders? Warum lacht mich hier keiner aus?“ Eine Frage, die nicht direkt beantwortet wurde, sondern in die Beobachtung der Jugendlichen gestellt blieb. Die Begleitung dieser Jugendlichen ist ein Beispiel dafür, wie Seelsorge und Beratung ineinander greifen, die oben genannte sozio-religiöse Unterstützungsarbeit, die sich im Alltag der Schule vollzieht und über pures Case-Management hinausgeht, die Offenheit von beiden Seiten, auch über den schulischen Alltag hinaus Begleitung zu ermöglichen, gleichzeitig aber auch in neue Strukturen hinein verhelfen will und damit wiederum die Möglichkeit schafft, dass Hilfesuchende wieder „entlassen“ werden können. 3.2.3 Beratung (Elternarbeit) Im Zusammenhang einer Einzelfallhilfe wurden verschiedene Gespräche mit einem Elternteil der Kinder geführt. Eine schwierige Lebenssituation war der Grund für die Begleitung der Kinder. Anhand des Einzelinterviews soll ein weiterer Blick auf die Schulseelsorge getan werden. Person K: „Ich hab sie als sehr beruhigend empfunden…“ (Zeilen 7 – 11) Ein weiterer Eckpunkt des Interviews wird von Person K. so formuliert: Person K: „Wir haben immer wieder mal über mich gesprochen, wie ich das empfinde, nicht nur rein, wie gehen die Kinder damit um, sondern wie … komme ich damit klar.“ (Zeile 48 – 51) Auf die Frage der Interviewerin, ob es eine Rolle spielte, dass die Beraterin Diakonin ist, antwortete Person K.: Auf weitere Nachfrage, ob der Person irgendwo das Stichwort „Schulseelsorge“ schon einmal begegnet sei, oder ob die Arbeit einfach ein Schulsozialarbeiter hätte tun können, antwortete Person K: Person K: „Ja, ich denke… als Diakonin einen anderen… einen anderen Blick auf die Dinge hat. Mag schon sein.“ (Zeilen 112 – 114) Der letzte zu evaluierende Eckpunkt des Interviews zielt letztlich wieder in diese Richtung: Person K: „Also, in Bezug auf Frau Loest, als wir uns mal in der Schulsozialarbeit nicht erreicht hatten, da hat sie mir dann gesagt, wenn es mal klemmt oder so, kann ich sie jederzeit anrufen, auch privat, sie hat immer ein Ohr …. … wenn ich mal jemanden bräuchte… Oder mal abends… um einfach mal zu reden. Hilft ja manchmal schon recht viel. Das Angebot ist da und das ist nicht selbstverständlich.“ (Zeilen 230 – 237) Im weiteren Interview erklärt Person K., dass ihr Gottvertrauen erschüttert ist, dass das Angebot eines unterstützenden Gebetes für sie keine Relevanz hat. (Zeile 280 – 284) Person K. lenkt selber den Blick auf sich, wie sie mit der Situation klarkommt, dass sie jemand braucht, der zuhört, der neutral ist. Das erlebt die Person als hilfreich, auch wenn sie sich noch anderweitige Hilfe gesucht hat. Mit dem Begriff der Schulseelsorge kann sie zunächst gar nichts anfangen, ist ihr nicht geläufig, sie hat die Begleitung nicht bewusst als seelsorgerlich erlebt, formuliert dann aber den Begriff „einen anderen Blick“. Person K. kann das im weiteren Interview nicht konkretisieren, aber es schwingt etwas mit, dass hier die Beratung noch etwas anderes beinhaltet, das sie aber nicht fassen Diakonische Schulsozialarbeit kann. Persönlich hat sie augenblicklich keinen Zugang zum christlichen Glauben, kann sich nicht darauf einlassen, erlebt diese von der Diakonin intendierte Seelsorge in der Beratung als „Begleitung auf dem Weg“ und „Tut es weiterhin. Es ist gut zu wissen dass es das – sie gibt.“ Hier formuliert ein Laie was Seelsorge im sozialen Umfeld beinhalten sollte: Es braucht die Ruhe, sich der Situation zuzuwenden (beruhigend empfunden, also auch Zeit!). Aktives Zuhören, nicht gleich Lösungen bereit haben, das Problem „wegzuberaten“ oder Partei ergreifen. Der andere Blick, die für den Laien nicht zu fassende, andere Dimension. Ein Ohr, das auch über die offizielle Beratungszeit hinaus in Notsituationen bereit ist. Person K. spricht die eingangs erwähnten Punkte der Seelsorge im sozialen Umfeld aus ihrem Erleben heraus an und schließt das Interview ab mit der Aussage, „dass es gut ist zu wissen, dass es das (Seelsorge?) … sie gibt.“ (Zeile 327 – 329). Die Person meint also diese Art der Beratung und den Menschen, dies ist aber nicht notwendigerweise an die Person der Diakonin gebunden, sondern es ist eben die Seelsorge. 4. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick Diakonische Schulsozialarbeit in der Trägerschaft der Kommune beinhaltet ein Spannungsfeld, da die Interessen von Kirche und Kommune nicht unbedingt deckungsgleich sind und sich je nach Situation vor Ort auch schwierig gestalten können, da es ein Arbeiten zwischen zwei Polen sein kann. Hier kann die Frage der „Missionierung“ Diskussionsstoff mit sich bringen. Diakonische Schulsozialarbeit braucht die Professionalität des Schulsozialarbeiters, wie die Gruppendiskussionen aufzeigten, gleichzeitig aber auch die Kompetenz der Seelsorge an öffentlichen Orten. Kirche zu sein an der Schule, die Menschen in ihren Alltagsvollzügen, Problemen und Grenzsituationen des Lebens in ihrem sozialen Umfeld begleitet und mögliche religiöse Räume im Gespräch öffnet. Die Begleitung ist dabei zentrales Element und sollte nicht von Seiten des Seelsorgers zeitlich begrenzt werden, sondern sich an den Bedürfnissen des Seelsorgesuchenden orientieren. Andererseits braucht es die Professionalität des Beraters, der die zu Beratenden wieder in die Selbständigkeit und Eigenverantwortung entlässt. Schulseelsorge steht Menschen zur Seite, will begleiten, aber nicht in Abhängigkeiten führen. 69 In Verbindung mit Religionsunterricht hat die Diakonische Schulsozialarbeit noch andere Schwerpunkte. Da ist zum einen die Wissensvermittlung, die wesensmäßig zum Unterricht gehört. Gleichzeitig gibt es vom Unterrichtsstoff ausgehend viele Fragen, die gestellt werden können, und somit Schulseelsorge noch einmal von einer anderen Warte aus aktuell wird. Da der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach ist, kann es zu eigenen Problemen aufgrund der Benotung kommen. Im konkreten Fall war dies nicht der Fall, da eingangs klar besprochen und die Felder deutlich abgegrenzt wurden. So wurde deutlich, dass keine Einstellungen, sondern Wissen bewertet wird. Eingangs wurde explizite und implizite Seelsorge erläutert. Im Alltagsgeschehen kann es bedeuten, dass die expliziten Angebote nicht immer angenommen werden, die Bedürfnisse danach scheinbar nicht vorhanden sind, aber jene Fragen, die Menschen bewegen, im Alltag zwischen Tür und Angel zur Sprache kommen. Dies ist die große Chance der Schulseelsorge. Es können Dinge thematisiert werden, ohne dass daraus gleich konkrete Erwartungen und Verpflichtungen erwachsen. Hier braucht es den langen Atem, Angebote zu machen, obwohl sie scheinbar nicht gebraucht werden. So hatte es einer langen Anlaufphase für die „Atempause für LehrerInnen“ gebraucht, und es schien, als würde sie nicht zustande kommen. Doch jetzt gehört sie für einzelne Lehrerinnen und Lehrer zum Schulalltag und hat somit ihren festen Platz. Schulseelsorge bedarf auch eines funktionierenden Teams am Lebensort Schule. Eine einzelne Person kann dies nicht umfassend leisten. In diesem Punkt hat das Projekt aufgrund der Kürze der zu evaluierenden Zeit noch dringenden Entwicklungsbedarf. Des Weiteren bedarf es ein hohes Maß an Flexibilität für die oft schnell wechselnden Anforderungen im Alltag, da dieser im Umfeld der Schulsozialarbeit nur sehr eingeschränkt planbar ist. Die Frage der Wahrnehmung von Situationen und Menschen spielt eine zentrale Rolle. Damit einher geht die oben genannte Professionalität, die jeweiligen Methoden und Kompetenzen den Anforderungen entsprechend einzusetzen. Einfühlungsvermögen und Empathie sind hier unabdingbar, damit hilfreiche, lösungsorientierte und seelsorgerliche Begegnungen ermöglicht werden können. Dabei bleiben SchulsozialarbeiterIn und DiakonIn Mensch, abhängig auch von der geistlichen Kompetenz des inneren Hörens nicht nur auf Menschen, sondern vor allem auch auf das Vorbild aller Seelsorge, Jesus Christus. Dies bedeutet für den/die Seelsorger/in aber auch, dass es ein Leben aus der Vergebung braucht, da die Anforderungen des Alltags das menschliche Vermögen sehr oft weit übersteigen. Somit ist die diakonische Schulsozialarbeit für die Kirche eine Chance, Menschen am Lebensort Schule zu begleiten, aber auch ihre „Seelsorger und Seelsorgerinnen“ als solche zu unterstützen, damit gelingende Arbeit geschehen kann, und für die Schulgemeinschaft das Evangelium „erlebbar“ wird. 70 Creglingen Anhang: Beschreibung einer Alltagssituation (Feldnotizen) Eine Lehrerin der Grundschule bittet darum, mit Mädchen ihrer Klasse zu sprechen, da diese in letzter Zeit sehr viel miteinander streiten. Es wird eine Unterrichtsstunde vereinbart, in welcher die Mädchen zur Klärung der Situation aus dem Unterricht geholt werden können. Zu Beginn des Gesprächs wird vereinbart, dass die Mädchen sich gegenseitig zuhören, jede darf zunächst ihre Sicht der Situation beschreiben, und sie dürfen sich nicht gegenseitig beschimpfen. Beide Mädchen stimmen den Gesprächsregeln zu. Mädchen 1 fängt an: „Eigentlich wissen wir gar nicht mehr, warum wir uns streiten! Früher vertrugen wir uns.“ Sie reklamiert, dass sich der Bruder der Kontrahentin in den Streit eingemischt hätte. Er habe ihr mal den Geldbeutel weggenommen. (Das klang so nach Stehlen, Beobachtung der Diakonin.) Mädchen 2 sagt später, dass ihr Bruder so etwas nie machen würde. Mädchen 2: „Du redest schlecht über mich. Du „bespitzelt mich.“ Die anderen Mädchen erzählen ihr, was sie Schlechtes über Mädchen 2 erzählt habe. Die Mädchen erzählen ruhig, unterbrechen sich nicht und hören sich gegenseitig aufmerksam zu. Auf meine Frage, wie sie miteinander umgehen könnten, kommt das Wort „Entschuldigung“, außerdem erarbeiten sie, dass sie aufhören wollen, schlecht über die andere zu reden, und dass sie auch nicht mehr ihr Ohr für das schlechte Reden der anderen Mädchen leihen möchten. Die Diakonin regt ein Gespräch mit den anderen am Konflikt beteiligten Mädchen an. Eines der Mädchen hat wohl durch die Streitigkeiten bedingt keine Freundinnen mehr in der Klasse und weint wohl auch zuhause. Mädchen 1 bittet, dass der Bruder ihrer Mitschülerin sich nicht mehr in den Streit einmischt. Wir verbleiben so, dass Mädchen 1 dies mit den Eltern bespricht und ihrem Bruder den Wunsch der Mitschülerin mitteilt. Die Mädchen reichen sich die Hand und entschuldigen sich gegenseitig. Im Anschluss an das Gespräch gibt die Diakonin die Information des Gesprächs an die Klassenlehrerin weiter, damit diese mit allen Beteiligten ein weiteres Klärungsgespräch führen kann. Einige Wochen später frage ich nach: „Wie geht es Euch?“ „Gut, wir vertragen uns wieder.“ Literaturverzeichnis: Benedict, H.-J. (2008): Klagen, Hoffen, Zagen, Danken. Die religiöse Dimension in der professionellen Begegnungsarbeit des Diakons, in: Merz, R. (Hg.): Dienst und Profession. Diakoninnen und Diakone zwischen Anspruch und Wirklichkeit (VDWI 34), Heidelberg, S. 134-139. Böhme, A. (2010): Beziehungsgestaltung in der Sozialen Arbeit. Verfügbar unter: http://www.ash-berlin.eu/fileadmin/user_upload/ pdfs/Studienangebot/Master/Klinische_Sozialarbeit/Klinsa/ Vortrag_Annegret_Boehme_–_Beziehungsgestaltung_in_der_ Sozialen_Arbeit.pdf (22.01.2013). Pädagogisch-Theologisches Zentrum der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (2010): Evangelische Schulseelsorge, 2. Aufl., Stuttgart. Petermann, F. (1985): Psychologie des Vertrauens, Salzburg. 71 Trauerwege gehen mit Familien Bericht 6: Reutlingen Trauerdiakonat Eva Glonnegger Projektort: Reutlingen Projektträger: Bruderhausdiakonie Reutlingen Projektstelleninhaberin: Diakonin Eva Glonnegger 72 Reutlingen 1. Projektidee und Projektkonzeption Das Projekt „Trauerwege gehen mit Familien“ der BruderhausDiakonie unterstützt Familien, in denen ein Elternteil oder ein Geschwisterkind stirbt oder verstorben ist. Dieser besondere Bedarf zeigte sich in der täglichen Arbeit der Seelsorger und der Sozialarbeiter in der Bruderhausdiakonie und deren Kooperationspartner, die Familien wahrnehmen, in denen durch den Tod eines Elternteils das ganze Familienleben innerlich und zu einem wichtigen Teil auch äußerlich neu aufgebaut werden muss. Der Ursprungsimpuls für diese Arbeit war, dass ein Klinikpfarrer der Kinderkrebsklinik Unterstützer für Familien suchte für die Zeit nach der Klinikphase. In dieser Zeit sind die Familien wieder völlig auf sich alleine gestellt und haben immer wieder darum gebeten, weiterhin seelsorgerlich und praktisch unterstützt zu werden. Wir sehen in der Begleitung von trauernden Kindern und deren Eltern eine christliche Kernaufgabe, die die Gemeinde schon in sehr früher Zeit übernommen hat, wie man in der syrischen Kirchenordnung aus dem 5. Jahrhundert sehen kann112. Die Urchristen zelebrierten einen Begräbniskult für ihre verstorbenen Gemeindemitglieder und sorgten auch für die Witwen/ Witwer und Waisen. Dieser Hilfsdienst wurde im Laufe der Zeit auf Amtsträger wie beispielsweise Diakone übertragen, weil man die Diakonie nicht dem Zufall überlassen wollte. Die christliche Begleitung macht deutlich, dass Sterben Teil des Lebens ist und bleiben soll: Trauerbegleitung ist eine gemeinsam getragene Last, ein Gemeinschaftsauftrag der Kirche, die für andere da ist. Wir haben weiterhin festgestellt, dass das Thema Trauer noch immer tabuisiert wird und auch Fachkollegen und -kolleginnen sich für die Beratung und Begleitung bei uns Unterstützung holen. So haben wir begonnen, Kollegen zu beraten und mit Beratungseinrichtungen zu kooperieren, die ebenfalls Familien in Krisen unterstützen und ihren Beitrag leisten können bei der komplexen Problemlage, in die trauernde Kinder und Familien kommen können. Mit diesen Einrichtungen (Beratungsstellen, Familienbildungseinrichtungen, Hospizdienst, Jugendamt usw.) wurde ein Netzwerk aufgebaut, das zum einen kurze Wege für die Klienten in der Hilfevermittlung ermöglicht und gleichzeitig zum Thema Trauer inhaltlich Fortbildung für die Fachkollegen anbietet. Dieses Netzwerk bringt das Thema Trauer auch gemeinsam in die Öffentlichkeit durch Artikel oder Veranstaltungen und unterstützt so die öffentliche Diskussion und dadurch den sichereren Umgang mit Trauersituationen. Der Umgang mit Trauer wird für eine breitere Öffentlichkeit selbstverständlicher, und das trägt wiederum dazu bei, dass sich Menschen in einer solchen Krise nicht zusätzlich ausgegrenzt fühlen müssen. 2. Vertiefte Evaluation anhand von 2 Teilzielen 2.1 Die Unterstützung von Trauerfamilien Das zentrale Ziel des Trauerdiakonats ist: Die Trauernden haben uns in der Begleitung vermittelt, dass sie von dem Projekt in zweierlei Hinsicht Unterstützung benötigen, nämlich seelsorgerlich und praktisch. Dies wurde in der Konzeption als zentrales Merkmal der Arbeit verankert. Mit dieser Zielsetzung wurde eine berufserfahrene Sozialarbeiterin und Diakonin eingesetzt, die die Familien begleitet bei der Auseinandersetzung mit der Sinnfrage, und die den trauernden Kindern und Erwachsenen auch ganz praktische Unterstützung vermittelt. Besonderen Bedarf haben wir bei Familien wahrgenommen, die von sich aus keinen Zugang zu Unterstützung finden und damit die Gefahr besteht, dass die Kinder neben dem Verlust des Elternteils auch z.B. in der Schule und im gesellschaftlichen Miteinander zusätzliche Probleme bekommen. Deshalb haben wir ein Projekt entwickelt, das in der oft isolierenden Situation der Trauer Teilhabe ermöglicht für Menschen, für die Kirche und ihre Diakonie schon immer ein besonderes Augenmerk haben wie Witwen/ Witwer und Waisen, die oftmals von staatlichen und kirchlichen Einrichtungen schwer zu erreichen sind. Vor allem Kinder können sich nicht eigenständig Hilfe organisieren, wenn sie in einer solch existentiellen Krise sind und brauchen von daher Hilfe, die sie findet und die zu ihnen kommt. 112 Die syrische Kirchenordnung ist z.B. zitiert bei: Noller 2013, S. 53. Die Diakonin bietet in Einzelgesprächen, Gruppen und Freizeiten einen passenden Rahmen an, in dem die Anliegen der Trauernden angemessen reflektiert werden können. Um den Bedarf für ein solches Vorhaben genau zu bestimmen, wurde eine Statistik erstellt mit Daten zur Kinderanzahl, der Herkunft aus städtischem oder ländlichem Umfeld und der Art der Vermittlung zum bzw. vom Trauerdiakonat. Darüber hinaus fließen Daten zur Ermittlung des Jugendhilfebedarfes in Baden Württemberg, Feldnotizen und ein Verbatim ein. Der Bedarf für die Unterstützung von trauernden Kindern war vor Beginn des Projektes zwar zu erahnen, kam aber in dieser Deutlichkeit überraschend: Schon nach der Hälfte des Projektzeitraums hatten 70 Familien bzw. deren „Vermittler“ um Unterstützung gebeten. Aus sehr vielen Einsätzen entwickelte sich über die Begleitung der Familie hinaus die Zusammenarbeit mit Kindergärten, Schulen, Kirchengemeinden und anderen Einrichtungen, sodass auch im Bereich Öffentlichkeitsarbeit/ Schulungen bis zum Ende des Jahres 2012 fünfzig Termine stattgefunden hatten. Auch hier wurde deutlich, dass die Doppelqualifikation Diakonin und Sozialpädagogin in diesem Bereich sehr sinnvoll ist: es war der Mitarbeiterin klar, in welchem Umfeld von sozialen Trauerdiakonat Einrichtungen sich eine Trauerfamilie bewegt, wie die Ausbildung der dortigen MitarbeiterInnen aussieht und wie das Themenfeld Trauer an sie vermittelt werden kann. Es wurden also in 4,5 Jahren 155 Kinder bzw. Jugendliche und ihre verwitweten Eltern erreicht, dazu kamen noch 18 weitere Erwachsene. 25 Familien wurden aus dem kirchlichen Bereich vermittelt, 23 aus der Jugendhilfe und 26 aus Kindergärten und Schulen. 19 Familien fanden die Unterstützung aufgrund eines Zeitungsartikels oder mit Hilfe des Internets. Gut ein Fünftel der Kontakte bis 2012 (21 Familien) verliefen in Form einer länger andauernden Betreuung in Form von seelsorgerlicher Begleitung und Vermittlung alltagspraktischer Unterstützung, also eine Art alltägliche „Rückenstärkung“. Etwa die Hälfte (46 Familien) hatten bis dahin 3-6 Treffen, weitere könnten folgen. Wir entnehmen diesen Zahlen, dass das Angebot einen angemessenen Rahmen schaffen konnte, in dem Trauernde ihre Anliegen reflektieren konnten. Schaubild 1: Beratungs- und Unterstützungskontakte, Stand 12/2012 (Laufzeit des Projekts 7/2008 – 6/2013) Zeitraum Anzahl der Kinder Anzahl der Jugendlichen Anzahl der Erwachsenen ohne / mit Behinderung Anzahl der Familien 7-12/2008 14 1 0/0 7 1-12/2009 29 16 4/7 28 1-12/2010 31 23 6/1 35 Kapazitätsgrenze überschritten, Neuaufnahmen reduziert 1-12/2011 9 11 0/0 8 1-12/2012 26 5 0/0 15 1-6/2013 Summe 7/200812/2012 Nach Drucklegung des Abschlussberichts 109 56 10 / 8 93 Begleitveranstaltungen 50 Veranstaltungen (Öffentlichkeitsarbeit/ Schulungen) Freizeiten Frauengruppen Ausflüge Stadt / Land: Familien aus der Stadt (innerhalb eines größeren Betreuungsangebots, aber weniger Unterstützung durch die Verwandtschaft): Familien aus kleineren oder mittleren Gemeinden: 73 50 Familien 43 Familien Spätestens Ende 2010 war also die Kapazitätsgrenze überschritten, da der Stellenumfang für die Diakonin nur 50 Prozent betrug. Es bestätigte sich deutlich die Notwendigkeit, ein gutes Netzwerk von Einrichtungen zu pflegen, zu dem immer wieder Familien weiter vermittelt werden können. Allerdings besteht zu der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in anderen Beratungseinrichtungen der wichtige Unterschied, dass unser Ansatz die „aufsuchende Hilfe“ ist. Unsere Klienten äußern häufig, dass es zunächst ungewöhnlich ist, wenn die Diakonin nach Hause kommt und schließlich dort doch für die Trauer der beste Platz ist. Trauer macht einsam und so reagieren auch Kinder und derer Eltern zunächst so, dass sie sich höchstens gut bekannten Menschen anvertrauen, die aber wiederum meist selbst betroffen sind vom Tod des Angehörigen. Eine Hilfe, die geistlich und strukturell weiter führt, muss die Menschen in ihrem eigenen Lebensumfeld aufsuchen und dort als NichtBetroffene wahrnehmen, wie die Perspektive auf den nächsten Lebensabschnitt eröffnet werden kann. Diese Beobachtungen aus dem Trauerdiakonat werden gestützt durch Beobachtungen aus dem Zusammenhang der „Frühen Hilfen“, die das Institut für soziale Arbeit in Münster erhoben hat: „Eltern bevorzugen meist das private Umfeld bei auftretenden Fragen und Problemen. Dies trifft auf bildungsbenachteiligte Eltern ebenso zu wie auf bildungsgewohnte – allerdings fällt es benachteiligten Familien meist schwerer, institutionelle Angebote wahrzunehmen, da sie sich, auch im Hinblick auf Bildungserfahrungen, oft als eher defizitär erleben und ihnen häufig die Angebote der Familienbildung nicht bekannt sind. Aufsuchende Elternarbeit kann bewirken, dass diese Eltern über die persönliche Ansprache Vertrauen fassen und sich auf weitergehende Hilfsangebote einlassen können.“113 Es ist dringlich, dass die Hilfe die Menschen erreicht, denn eine Inanspruchnahme stationärer Jugendhilfe ist in derart betroffenen Familien sehr hoch. Im Schaubild auf der nächsten Seite wird deutlich, dass Kinder aus verwitweten Familien in Baden-Württemberg im Jahr 2003 siebzehn Mal häufiger stationäre Jugendhilfe in Anspruch nehmen mussten als Kinder von verheiratet zusammenlebenden Eltern. Betreuungsdauer 2008 – 2012: Ca. 1-2 Kontakte: 26 Familien 46 Familien Ca. 3-6 Kontakte: Kontakt über längere Zeit: 21 Familien 113 ISA, Institut für soziale Arbeit e.V. Münster (Hrsg.): http://www.isa-muenster.de/ fruehe-kindheit-und-familie/aufsuchende-elternkontakte/index.html (13.12.2012). 74 Reutlingen Schaubild 2: Inanspruchnahme stationärer Jugendhilfe 12 10 8 6 4 2 0 verh./ zus. lebend ledig verh./ getr. lebend alleinerz. geschie- verwitwet insges. den Quelle: KVJS, Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden Württemberg (Hrsg.) (2005): Bericht zur Entwicklung von Jugendhilfebedarf und sozialstrukturellem Wandel, S. 106. 2.1.1 Beschreibung der Begleitung von drei Familien Im Projekt „Trauerwege“ suchen wir Kinder und Jugendliche auf, die den Verlust eines Elternteils seelisch und praktisch bewältigen müssen und begleiten sie in der Weise, dass sie durch die Trauer nicht ausgegrenzt werden und ihre neue Lebenssituation konstruktiv gestalten können. Dabei werden die Kinder auch unterstützt, ihrer Frage nach dem Sinn dieses Trauerereignisses eine Gestalt zu geben in Form von Ritualen und Bildern. Sie begegnen anderen betroffenen Kindern und deren Eltern und können sich gegenseitig Anregung und Unterstützung sein, um ihre neue Lebensetappe aufzubauen. Um dies zu veranschaulichen, stellen wir im Folgenden drei Begleitungsprozesse vor: Beispiel 1: Begleitung von Familie X. Diese Familie steht für den Teil der Klienten, die durch Bildung und materiell relative Sicherheit Zugang zu den Angeboten von Kirche und Sozialstaat haben. Zur Begleitung durch das Trauerdiakonat kam es dadurch, dass die Trauerdiakonin von Pfarrer und Diakon der Gemeinde eingeladen wurde, eine Predigt zu halten und dabei auch das Trauerdiakonat vorzustellen. Im selben Monat verstarb ein Gemeindemitglied, das zwei Kinder und Ehepartner/-in hinterließ, die im eigenen Haus leben. Der Gemeindepfarrer begleitete die Familie intensiv durch die Zeit der Beerdigung und wandte sich anschließend ans Trauerdiakonat, weil er den Bedarf für weitere Unterstützung wahrgenommen hatte. Er vermittelte also den Kontakt, und die Diakonin besuchte die Familie zu Hause und schaute auf die Situation der drei Trauernden. Die trauernde Person benötigte eine Gesprächspartnerin, die nicht familiär oder bekanntschaftlich verwickelt war, und mit der sie ihre neue Lebensetappe entwerfen konnte, ohne Rücksichten nehmen zu müssen. Es fanden viele Gespräche und dazwischen ein reger Email-Austausch statt, durch den die trauernde Person eine alltägliche Rückenstärkung hatte. Es wurde z.B. in einer am Abend geschriebenen Email berichtet wie an diesem Tag mit der Trauer gelebt wurde. Die Person wählte die Verschriftlichung, um ihre Trauer zu beschreiben und sie dadurch genauer begreifen zu können. Sie traute sich das, weil sie Resonanz erwarten durfte von einem Gegenüber, den sie noch nicht sehr genau kannte, dem sie aber eine Belastbarkeit und Kompetenz zutraute durch den anfänglichen persönlichen Kontakt. Eines der Kinder setzte seinen Schmerz so um, dass es sich sehr gegen den trauernden Elternteil auflehnte. Wir vermittelten eine Kindertrauergruppe, angeboten vom „Haus der Familie“, bei dem es wahrnehmen konnte, dass der Tod auch andere Kinder „erwischt“ und es nicht alleine damit ist. Das jüngere Kind entwickelte eigene Rituale: es schrieb z.B. Briefe an den verstorbenen Elternteil und hängte sie aus dem Fenster in der Hoffnung, dass diese Briefe gelesen werden würden. Im Gespräch mit Kind und trauerndem Elternteil versuchten wir, diese Art des Umgangs mit der Trauer einzuschätzen und Zutrauen dazu zu entwickeln, dass das Kind weiß, was ihm gut tut. Nachdem das Kind einige Male mit der Diakonin gesprochen hatte, bauten die beiden zusammen ein „Trauerregal“ im Schlafzimmer des Kindes, auf dem neben den Erinnerungsstücken an Vater und Mutter auch die Bibel auf ausdrücklichen Wunsch des Kindes Platz gefunden hat. (vgl. Feldnotiz Trauerregal) Immer wieder kam bei allen dreien die Frage, warum Gott das zulässt. Wir hielten diese Frage gemeinsam aus, ohne zu schnelle Antworten darauf formulieren zu müssen. Der Gemeindediakon fragte bei der Trauerdiakonin an, wie er nun speziell im Religionsunterricht mit dem älteren Kind und der Klasse umgehen solle. Die Klassenlehrerin telefonierte häufig mit der trauernden Person und der Trauerdiakonin. Die ErzieherInnen des evangelischen Kindergartens waren zum ersten Mal mit dem Thema konfrontiert und nahmen an einem Seminar mit der Trauerdiakonin teil. Familie X. nahm das Angebot an, alle 4 Wochen zu einer Trauergruppe in der Familienbildungsstätte zu gehen. Die Familie ging mit dem Trauerdiakonat in eine Familienfreizeit, bei der alle drei sehr intensiv ihre Themen mit den anderen bearbeiteten und auch Lebensfreude tanken konnten. Mit einer anderen trauernden Person, die ebenso von der Trauerdiakonin betreut wurde, ergaben sich privat weitere Treffen. Die trauernde Person berichtete immer wieder, dass sie mit dem Rückhalt durch die diakonische Begleitung sehr viel mutiger geworden war, ihr neues Leben mit ihren Kindern in die Hand zu nehmen. Trauerdiakonat 75 Beispiel 2: Begleitung von Familie Y Beispiel 3: Begleitung von Familie Z Diese Familie steht für die Klienten mit Migrationshintergrund, die von den Angeboten der Kirchen und des Staates oft nicht erreicht werden. Familie Z. war der evangelischen Pfarrerin bekannt, nahm aber kaum an den Angeboten der Gemeinde teil. Durch die Beerdigung kam der Kontakt wieder zustande, und in dieser Begleitung wurde klar, dass die Familie ein prekäres Leben führte und sehr grundsätzlich Unterstützung benötigte. Familie Y. war beim Kinderschutzbund bekannt. Dieser meldete sich bei der Trauerdiakonin, als eines der Elternteile der drei Kinder verstorben war. Es war deutlich, dass der hinterbliebene Elternteil versuchen wollte, die schwere Situation mit Hilfe seiner türkischen Community zu bewältigen und keine „Außenstehenden“ in die Familie hereinzulassen. Die trauernde Person konnte nicht deutsch schreiben und war im Dreischichtbetrieb als Hilfsarbeiter/-in tätig. Beim ersten Besuch versuchte die Diakonin, Signale zu geben, dass sie bereit wäre, sich an die Gewohnheiten der Familie anzupassen: sie zog zum Beispiel die Schuhe vor der Wohnung aus, nahm gezuckerten Tee und Gebäck an und umarmte die Kinder zur Verabschiedung. Der muslimische Elternteil der drei Kinder war vor kurzem verstorben, der hinterbliebene Elternteil war noch krank geschrieben. Er erzählte sehr schnell, dass er in absehbarer Zeit wieder zur Arbeit gehen müsse, damit die Stelle nicht verloren gehe, und auch die Krankenkasse hatte einen diesbezüglichen Brief geschrieben. Die Familie lebte auf Hartz IV–Niveau. Die Kinder hatten große Probleme in der Schule, die Lehrer hatten sich noch nicht gemeldet. Im Umfeld der Familie gab es kaum Unterstützer, da die Verwandtschaft in der Türkei lebt bzw. Streit hat. Da es kurz vor dem (christlichen!) Weihnachten war, konnte die Diakonin über eine Kirchengemeinde zunächst genau den richtigen Lego-Bagger für eines der kleinen Kinder der Familie organisieren. Dabei haben sie auch darüber gesprochen, wie die Familie in diesem Jahr ohne den verstorbenen Elternteil das christliche Weihnachtsfest (am 24.12.) und das islamische Neujahr (29.12.09) feiern würde. Die trauernde Person verstand sehr gut, was eine Diakonin macht und sprach von da an oft sehr vertrauensvoll und ausführlich mit der Trauerdiakonin über innere Nöte und pädagogische und materielle Schwierigkeiten. Durch diese „Eintrittskarte“ des Verständnisses für die Trauersituation, die Kinder und die religiöse Überzeugung durften dann die beiden jüngeren an einer Kindermusikgruppe teilnehmen. Finanziert wurde die Teilnahme durch den Kinderschutzbund, und die Gruppe fand in der Familienbildungsstätte statt. An der Schule wurde mit den LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen ein Seminar veranstaltet, um Grundsätzliches zum Umgang mit der Trauer zu verstehen. Und schließlich wurden zur Unterstützung der Familie die sozialstaatlichen Hilfeangebote einbezogen: eine Familienpflegerin über das Jugendamt, die Schulsozialarbeit, eine Kur, eine Ehrenamtliche, um Deutsch zu lernen usw. Familie Y. ging dann mit zu einer Freizeit mit anderen Trauerfamilien, und dabei ergab sich auch immer wieder ein sehr interessanter interkultureller Austausch. Ein Elternteil der Familie Z. war seit vielen Jahren krebskrank gewesen. Das jüngste Kind kam zu Beginn der Krankheit zur Welt. Ab diesem Zeitpunkt musste das andere Elternteil im 7-TageSchichtdienst arbeiten, um die Familie gerade so über die Runden zu bringen. Als das kranke Elternteil verstorben war, gab es keinen Plan mehr in der Familie, und die hinterbliebene Person wurde im Gespräch mit der Gemeindepfarrerin auf das Angebot der Trauerbegleitung aufmerksam gemacht. Zunächst gab es einige Gespräche mit den Kindern und der hinterbliebenen Person, in denen eine völlige Orientierungslosigkeit zutage kam, was sich auch in der Wohnung deutlich widerspiegelte. Eine vorrangige Aufgabe war, überhaupt den Gedanken zu nähren, dass es irgendwann wieder besser werden würde, und dass die Familie mit der Diakonin in kleinen Schritten in diese Richtung gehen würde. Das bedeutete, Kontakt zu den Lehrern und der Schulsozialarbeit aufzunehmen, um dort für eine kostengünstige Ganztagsbetreuung zu sorgen. Außerdem war es notwendig, eine Betreuung für die Abend- und Wochenendzeiten zu organisieren, damit der hinterbliebene Elternteil arbeiten gehen konnte. Dafür musste das Jugendamt gewonnen werden. Um die Trauer auch seelisch zu verarbeiten, lud das Trauerdiakonat die Familie zu einer Freizeit ein, die durch Sponsoren finanziert wurde, weil die Familie kein Geld hatte für Urlaub. Durch den dortigen Kontakt mit anderen Kindern und Trauernden, die in derselben Situation waren, hatten alle einen Weg gefunden, über den verstorbenen Elternteil zu sprechen und die Last zu beschreiben, die dieser Weg bedeutet. Auch die Fragen nach Schicksal, Sinn und Glauben konnten in diesem Schonraum bewegt werden auf kindlicher und erwachsener Ebene. Die Kinder beschäftigte dabei vor allem, dass auch andere Kinder ein Elternteil verloren hatten. 2.1.2 Ergebnisse aus der Begleitung der drei Familien Insgesamt waren ein Fünftel der Begleitungen langfristig, das heißt, die Familien riefen immer wieder die Unterstützung der Diakonin ab und/oder beteiligten sich an den Angeboten des Trauerdiakonats. Hier waren etwa wiederum ein Drittel Familien, die sich einen guten Zugang zu Hilfen organisieren konnten (vgl. Familie X.), zwei Drittel waren Familien, die in einer komplex schwierigen Lebenslage waren, bei der auch die Themen Migration, Jugendhilfe und Armut wichtig waren (Familie Y. und Z.). Diese wären ohne die Diakonin nicht zu Hilfsangeboten gekommen. 76 Reutlingen Familie X. ist an ihrem Wohnort und in der Gemeinde eingebunden und in der Lage, Unterstützung aufzugreifen und umzusetzen. Hier konnte ich, angeregt durch die Kooperation mit dem Pfarrer, die Möglichkeiten des Netzwerkes vermitteln. Dazu kam, dass Familie X. die Möglichkeiten des Mailkontakts nutzen konnte. Vielen Menschen, die durch Schule oder Beruf/Familie sehr eingespannt sind, entspricht diese Art des Umgangs mit der Trauer. Auch für Jugendliche ist diese Art naheliegend, und sie können so persönliche Fragen stellen wie die nach einem gnädigen Gott, der sie nun so sehr im Stich gelassen hat. Kombiniert mit einzelnen Besuchen ist dies eine Möglichkeit, über einen langen Zeitraum das Thema Trauer zu bearbeiten und die Sicherheit zu vermitteln, dass immer ein Gegenüber dazu ansprechbar ist. So viel Nähe wie nötig, um den Gegenüber zu spüren, aber auch so wenig Nähe wie möglich, um in einen offenen Raum hineinschreiben zu können. Diese Art des Austausches ist Lebensraum orientierte Seelsorge: die Trauernden sind in ihrem Lebensraum und die Begleiterin geht auf ihre Beschreibung der Trauersituation ein. Bei der Begleitung von Familie Y. war das Besondere, dass sie überhaupt zustande kam. Eine Brücke zur Lebenswelt einer Trauerfamilie ist an sich schon eine Besonderheit und in diesem Kontext fast nicht herzustellen. In dieser Konstellation konnte der trauernde Elternteil die Rolle der Diakonin als Garantin für eine angemessene Hilfe in seiner schwierigen Situation schätzen. Die hinterbliebene Person öffnete sich für Seelsorge und Beratung genau so wie für praktische Unterstützung und reflektierte ihre religiöse Überzeugung und traditionelle Rolle in der Familie. Die erste Aufgabe war also das „dolmetschen“: die Familie und die Diakonin begegneten sich frei und wertschätzend und machten dies für die Trauerbewältigung fruchtbar. Ich nahm also wahr, „wess` Geistes Kind“ meine Gegenüber sind, wie sie ihre Trauer und ihren Glauben mit den religiösen bzw. traditionellen Feste leben. Und ich beschäftigte mich damit, welches Bild sie vom christlichen Glauben haben. Für diese Familie war zum Beispiel ein Problem, dass der verstorbene Elternteil in der Türkei begraben ist und die Friedhöfe in Deutschland kein Ort für sie sind, um sich an die die verstorbene Person zu erinnern. So haben wir in der Wohnung und im Schrebergarten „Trauerwinkel“ und einen „Trauergarten“ geschaffen. Diese Vorgehensweise kann nur in Form aufsuchender Hilfe geschehen, auf diese Weise kann Hilfe ankommen. Die Familie würde keine Beratungsstelle aufsuchen, sie könnte sich dort nicht äußern und würde möglicherweise nicht angemessen verstanden. Um Menschen mit Migrationshintergrund Teilhabe zu ermöglichen, ist es am wirkungsvollsten, sie direkt aufzusuchen. So hörte ich jedem einzelnen Familienmitglied zu und nahm es in seiner persönlichen Trauer in seiner Umgebung wahr. Das mindert auch die Gefahr, eine Retraumatisierung auszulösen. Es ist der Versuch, den Menschen in seinem ganz persönlichen Raum sich selbst zurück zu geben in einer Lebensphase, in der er sich selbst ein Stück verloren gegangen ist. Ein weiterer Aspekt der diakonischen Begleitung zeigte sich darin, dass ich Kinder, die besonders stark psychisch belastet waren, durch das Vertrauensverhältnis in die Betreuung eines Kinderarztes oder einer psychologischen Begleitung vermitteln konnte. Familie Z. ist eine Familie, in der sämtliche persönlichen und materiellen Problemlagen sichtbar wurden, und so war es notwendig, einen Überblick über die sozialstaatlichen Hilfen zu haben und sie in die Wege leiten zu können. Hier war also die Doppelqualifikation der Diakonin/Sozialarbeiterin gefragt. Für die Kinder war außerdem entscheidend, dass sie aus ihrer direkten Umgebung herauskamen und neue Erfahrungen machen konnten. Sie begegneten anderen Kindern, die auch Vater oder Mutter verloren hatten und fühlten sich endlich wieder normal. Kinder fühlen in der Trauer unmittelbar, dass „nichts mehr verlässlich“ ist, dass der Lebensbezug verschwinden kann, dass der Tod alles zerstört, was einen zentralen Teil ihres Lebens ausgemacht hat. In dieser Gruppe und in Einzelbegegnungen mit der Trauerdiakonin wurde den Kindern klar, dass sie kein Einzelschicksal erleiden, und dass es möglich ist, wieder zurückzufinden zu einem Leben, das Freude macht und in dem es auch wieder einen gnädigen Gott zu finden gibt. 2.2 Das „Netzwerk Trauer“ Ein weiteres wichtiges Teilziel (Teilziel 2) in der Arbeit des Trauerdiakonats war der Aufbau eines Netzwerkes von Kolleginnen und Kollegen: Die Diakonin initiiert ein Netzwerk von Einrichtungen, durch das trauernde Kinder auf kurzem Abspracheweg optimal betreut werden können. Dadurch werden Einrichtungsdiakonie, kirchliche Einrichtungen und kommunale Jugendhilfe miteinander vernetzt. Für die Evaluation wurde dokumentiert, wie die Familien zum Trauerdiakonat kamen, und wohin sie ggf. vermittelt wurden. Außerdem wurde eine Gruppenbefragung mit den TeilnehmerInnen des Netzwerkes und einem externen Moderator durchgeführt und dokumentiert. Die Möglichkeiten der Trauerbegleitung sind mit einer halben Stelle relativ begrenzt, und nach meinem Eindruck macht es Sinn, Menschen in der Trauer in sehr vielfältiger Weise zu begleiten. So habe ich gleich zu Anfang begonnen, weitere Stellen zur Unterstützung der Familien zusammenzubringen: in der Erziehungsberatung, der Seelsorge, der Schuldnerberatung, im Feld der Freizeitangebote, der Therapie, der Nachbarschaftshilfe usw. Dadurch werden die Wege der Absprache einfach und Einrichtungsdiakonie, Kirchengemeinden und kommunale Jugendhilfe kommen miteinander ins Gespräch. In oben schon beschriebener Familie X. war zum Beispiel zunächst der Pfarrer der örtlichen Kirchengemeinde während der Zeit der Beerdigung präsent. Er kam auf mich zu mit der Bitte um weitere Begleitung der Familie, und ich setzte mich nach dem ersten Gespräch wiederum mit der Familienbildungsstätte wegen einer Trauergruppe für die Kinder und einer Frauen/Männer-Gruppe in Verbindung. Trauerdiakonat Der Diakon der Gemeinde war gleichzeitig Religionslehrer des ältesten Kindes und es kam zu einem Austausch, in welcher Weise er das Thema in seinem Unterricht und auch gegenüber den LehrerInnen im Kollegium aufgreifen könnte. Die Klassenlehrerin telefonierte häufig mit mir und auch die ErzieherInnen der örtlichen Kita machten einen Fortbildungstag zum Thema mit mir. In einer Familienfreizeit, die der Kinderschutzbund zum Teil mitfinanzierte, konnte die Familie zu anderen Betroffenen weiteren Kontakt bekommen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie hilfreich es ist, wenn vertrauensvolle Kooperationen auf Augenhöhe ein Netz für eine trauernde Familie weben. Der Ausgangspunkt für das Netzwerk war die Feststellung, dass die Fülle der Anfragen und die Komplexität der Problemlagen, die beim Tod eines Elternteils entstehen, von einer Stelle nicht aufgefangen werden können. Es bedarf einer unkomplizierten, „geräuschlosen“ Kooperation mit Fachleuten und mit ehrenamtlichen Unterstützern, die in einer Krisenzeit ihr Fachwissen und ihre Zeit zur Verfügung stellen können, auch im Einzelnen Stellen zu entlasten und die Arbeit optimaler für die Hilfesuchenden zu gestalten. Ein weiterer Grund war, dass einer guten Zusammenarbeit auch Konkurrenzsituationen entgegenstehen, die durch ein gemeinsames Ziel konstruktiv gestaltet werden können. Das Thema Trauer war für alle Beteiligten eine solche Aufgabe, weil hier auch Fortbildungsbedarf erkennbar war und für alle ein Zugewinn an Kompetenz erkennbar wurde durch das Angebot, Referenten herbeizuziehen und in einen fachlichen Austausch zu kommen. Ich begann unmittelbar zu Beginn der Projektlaufzeit mit dem Aufbau des Netzwerks. So konnte ich meinen persönlichen Bekanntheitsgrad einbringen und viele Kontakte zu Institutionen nutzen, mit denen ich auch schon in der Jugendhilfe kooperiert hatte wie z.B. Kinderschutzbund, Beratungsstellen und Kreisjugendamt. Auch persönliche Kontakte halfen, das Netz zu knüpfen in die Familienbildungsstätte, den ambulanten Hospizverein und zu Ehrenamtlichen. Der erste methodische Schritt war also, diese Kontakte zusammen zu denken und sich vorzustellen, in welcher Form konkret an diesem Ort mit diesen Menschen ein größerer Zusammenhang für die Zielgruppe geschaffen werden kann. Ich konnte dabei den“ frischen Wind“ nutzen, der bei der Einrichtung des Trauerdiakonats entstand, und so kamen die FachkollegInnen und viele Interessierte zu einem Auftaktgespräch. Alle Teilnehmenden wurden zuvor persönlich angesprochen auf eine mögliche Kooperation. Es wurden dabei die direkten Emailadressen abgefragt, um anschließend den alltäglichen Kontakt ohne zu großen Aufwand halten zu können. Ein weiterer methodischer Schritt war, die Netzwerk-Treffen von unendlich vielen Dienstbesprechungen abzuheben. Es wurde also nachdrücklich die so genannte diakonische Gastfreundschaft gepflegt: es gab Kaffee und Brezeln und jede/r wurde in einer Runde persönlich und mit seine aktuellen Aufgaben wirklich wahrgenommen. Schließlich schloss das Trauerdiakonat mit den zwei wichtigsten Kooperationspartnern direkte Vereinbarungen ab, um einer mögli- 77 chen Konkurrenzsituation Vorschub zu leisten. Mit einer dieser Einrichtungen wurde eine Bürogemeinschaft eingerichtet. Neben der kollegialen Kontaktpflege und dem Informationsaustausch wurde auch vereinbart, inhaltlich miteinander zu arbeiten. Dazu gab es bei jedem Treffen einen inhaltlichen Input: ein Referat zu Netzwerkarbeit, Informationen zu muslimischen Trauerriten, Input zur Arbeit mit Ehrenamtlichen, zu Trauerritualen, ein Film über trauernde Jugendliche u.ä. Seit der fünften Sitzung tagt das „Netzwerk Trauer“ reihum, sodass jede Einrichtung ein Mal für den gastfreundlichen Rahmen und die inhaltliche Gestaltung sorgt. Die Treffen finden zwei Mal pro Jahr statt. Im Hintergrund muss eine Stelle ansprechbar sein, die den Blick aufs Ganze hat. Diese Aufgabe liegt im Moment noch beim Trauerdiakonat. Zur achten Sitzung wurde die Presse eingeladen, um sich nach innen und jetzt auch nach außen deutlich auf eine Kooperation festzulegen. Ebenfalls beim achten Treffen wurde als interne Evaluation eine Gruppenbefragung mit einem externen Moderator und sechs Fragestellungen durchgeführt, zu denen im Folgenden jeweils eine Antwort dokumentiert wird: Moderator : „Welchen Nutzen haben Sie durch das Trauernetzwerk?“ KollegIn 1: „Also ich denk, dass das die Voraussetzung ist für eine lebendige Kooperation. Natürlich gibt es 1000 Führer, Beratungsführer und Schaubilder über Kooperation, aber es ist trotzdem anders, ob man das mit Menschengesichtern verbindet oder kriegt dann auch im Nachgespräch manchmal noch irgendwie eine Idee, und kriegt auch eine Info über irgendeine Hilfsmöglichkeit. Ich denk, dass wir da auch für unsere Klienten diese Hilfsmöglichkeiten viel lebendiger und nutzbar machen.“ (00:05:53-4) Moderator: „Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?“ KollegIn 2: „Also ich hab mich jetzt an einen Fall erinnert, wo ein muslimischer Vater an unsere Stelle überwiesen wurde, wo das dann quasi zusammen fiel mit diesen einen Fortbildungstag im Trauernetz mit dem trauerndem Muslimen, wo die Kollegin von uns hier war und das mitbekommen hat. Wo dann z.B. in einer Fallsupervision bei uns diese Inhalte total gut gepasst haben. Also dieses Geben und Nehmen auch wirklich spürbar war. Also ich find deshalb auch diese Inputs, die inhaltlichen Inputs für uns alle auch hilfreich, wir haben alle irgendwo viel Wissen, aber es gibt trotzdem immer noch Details wo wir wirklich davon profitieren.“ (00:13:47-0) Moderator: „Was wäre ein ideales Netzwerk für Sie?“ KollegIn 3: „Also ideal finde ich auch, wenn man Personen und Einrichtungen kennt und persönliche Kontakte da entstehen. Das finde ich ideal, weil dann dieses Vernetzen schneller läuft im Sinne von: wohin schicke ich sie? Das finde ich eigentlich ideal.“ (00:14:42-8) 78 Reutlingen Moderator: „Wo hindert mich ein Netzwerk?“ KollegIn 4: „Wichtig ist also die Struktur, die wir hier haben. Da war ein bisschen Reibung am Anfang. Da war es eher auch bei dir konzentriert oder so und jetzt ist es ja eigentlich auch so, dass es reihum geht und auch etwas entlastender ist für dich und auch für die anderen. Jetzt nächstes Mal ambulanter Hospizdienst, dann wissen die, die sind jetzt dran und dann geht es auch wieder zu Jemanden anderes. Und ich glaub, dass ist auch entlastend, wenn man weiß, dass man sich nicht immer ganz einbringen muss, dass man nicht immer ganz konzentriert sein muss. Also die Struktur, denke ich, ist ziemlich gut so.“ (00:19:26-2) Moderator: „Wie funktioniert die Steuerung eines Netzwerks?“ KollegIn 5: „Also ich glaub, bei Ihnen ist schon immer noch viel Steuerung und das ist auch gut so. Also ich würde, jetzt von meinen Möglichkeiten und Bedürfnissen her, mich auch nicht wirklich als gleichberechtigt sehen. Dass es richtig reihum geht mit allen Beteiligten. Sondern es muss schon irgendwo gebündelt sein. So auch von der Geschichte her, fand ich, war es so ein bisschen unkompliziert. Also wenn ich mich an diese Faltblätter erinnere: da gibt es ja Gremien, wo man Stunden zubringt und das hier war einfach die Entscheidung: jetzt macht man einfach ein Arbeitsexemplar und das ist jetzt nicht im Hochglanz, oder ausgefeilt. Aber es ist irgendwie gut und man kann es benutzten. Ich finde, wenn es so überstrukturiert wird, dann wird man auch so unflexibel, ich finde das besser.“ (00:22:39-2) Moderator: „Sind Ehrenamtliche oder Hauptamtliche die idealen Netzwerker?“ KollegIn 6: „Es hängt auch sicher von Thema Netzwerk ab, um was für ein Netzwerk geht es, wo will ich mich vernetzten, bei was, welches Thema, um welches Thema geht es, in welchem Kontext findet was statt? Hier glaub ich, finde ich es ganz gut so: Haupt-, Ehrenamt und Honorarkräfte alles, ich find das fließt ganz gut hier so, weil hier einfach alles vertreten ist und kompetent (unverständlich)“. (00:29:55-1) 2.2.1 E rgebnisse zum Nutzen des Netzwerks für Klienten und Fachleute In der Netzwerk-Arbeit wurde also deutlich, dass Klienten von einem breiten, gut informierten KollegInnenkreis profitieren, in dem sie schnell vermittelt und in sehr unterschiedlicher Weise begleitet werden können. Auch die KollegInnen und die Einrichtungen können ihre Spezialisierungen schärfen und vermeiden, dass doppelte Angebote gemacht werden, die dann ungenügend nachgefragt sind. Gleichzeitig verlangt das Netzwerk eine gewisse Reife, um in einer Mitbewerbersituation konstruktiv zusammenzuarbeiten und auch einen Teil seiner Arbeitskraft einzubringen, wenn man an der Reihe ist, eine Zusammenkunft zu gestalten. Auch die Koordinationsfunktion ist grundsätzlich notwendig, und es zeigt sich, dass diese noch beim Trauerdiakonat verblieben ist, genau so wie die geistliche Begleitung mitten in der Bewältigung der alltagspraktischen Notwendigkeiten, was wohl das Spezifikum des Trauerdiakonats ist. 3. Ausblick und Anregungen In unserer Zeit der Globalisierung und des demographischen Wandels ist diese Art der Zuwendung, die diakonische Seelsorge, sehr nachgefragt bei der Kirche und ihrer Diakonie. Die Grundsituation des Forderns und Förderns stellt jeden Menschen in einen individuellen Überlebenskampf, der sich für viele in völlig unübersichtlichen Abläufen abspielt.114 Man findet keine Arbeit mehr und dadurch nicht mehr den Zugang zu sich selbst, vor allem nicht in Zeiten der Trauer, in der zunächst alles Scheitern und Misslingen zu sein scheint. Ein Trauerdiakonat schenkt dem einzelnen Menschen in der Trauer und in den oft damit zusammen hängenden Themen (Arbeitslosigkeit, zunehmende Armut von Kindern und Familien, knappe Finanzmittel, wenig Kinder – viele alte Menschen, globalisierter Wettbewerb, Ökonomisierung aller Lebensbereiche) eine „geformte Aufmerksamkeit“115. Diese Art der Wahrnehmung ist keine spontane, unorganisierte Hilfeleistung, sondern sie hat u.a. auch das Ziel, auch sozialpolitische Strukturen zugunsten Benachteiligter zu verändern. Das Trauerdiakonat wendet sich also einerseits den Menschen „sozial-professionell“ zu, und es tut dies in der Haltung des Christen, der seinem „Nächsten“ begegnet. Die Handlungsweise ist also zweifach, einmal sozialarbeiterisch und einmal seelsorgerlich, und das bedeutet oft, nicht wirklich vereinbare Handlungslogiken auszuhalten und auszubalancieren. Gemeinsam wird dann ein Weg zu Unterstützungen aus dem Feld sozialstaatlicher und kirchlicher Möglichkeiten entwickelt. Auf diese Weise wird auch das soziale Miteinander in der Gesellschaft gestaltet, Not und Ausgrenzung aufgespürt, und es werden für die entsprechenden Aufgaben auch Unterstützer im Ehrenamt gesucht. Das genau ist mit dem Tätigkeitsprofil von Diakonen und DiakonInnen gemeint: das Evangelium und die christliche Religion kommunizieren, Menschen in existenziellen Lebensfragen unterstützen, in Organisationen von Kirche und Diakonie handeln und das Soziale gestalten. 3.1 Theologische Reflexion des Trauerdiakonats Das Trauerdiakonat ist also dazu da, Kinder und deren Eltern in ihrer trauernden Seele und in ihren materiellen Lebensbedingungen wahr114 Vgl. Schneider-Flume 2004. Vgl. Steffensky 2006, 17.19. 115 Trauerdiakonat zunehmen und zu erkennen, welche Unterstützung Not – wendig ist. „Im biblischen Verständnis sind Kinder eine Verheißung und ein Geschenk Gottes (1 Mose 12ff.). Die Sorge für die jeweils jüngere Generation sowie für nachfolgende Generationen insgesamt gehört demnach konstitutiv zum Menschsein. Sie beschränkt sich nicht auf die eigenen leiblichen Kinder und auch nicht auf die Angehörigen der eigenen Familie oder Nation. Dienst an Kindern ist Gottesdienst (Mk 9,37). Besonders im Neuen Testament wird dies unübertrefflich zugespitzt mit der Aussage, dass das Reich Gottes den Kindern gehöre (Mk 10,14).“116 Diakonische Seelsorge ist Solidarität und Anwaltschaft für die Menschenwürde derer, die in Not sind und die sich dann niederschlagen kann in zuhören, eine Trauergruppe vermitteln, Ämtergänge begleiten, Freizeiten organisieren, Selbsthilfegruppen initiieren usw. Wir suchen also Christus im Alltag. Er ist besonders in den Leidenden präsent, und das Diakonat geht entsprechend dort hin, um ihn zu finden im bedürftigen Gegenüber. Das Trauerdiakonat fragt nach der Trauer und danach, wo der Mensch Abgelebtes hinter sich lassen kann und sich öffnen für Neues. Und an diesem Ort kann sich dann Tischgemeinschaft und Abendmahl wieder zusammenfügen, die Sorge für Seele und Leib macht die Sache rund. Dafür braucht die Trauerdiakonin selbst eine reflektierende Persönlichkeit und sollte in der Lage sein, Sinndeutungen in der Trauer anzubieten, ohne Glaubensbezogen übergriffig zu werden. Geistliche Trauerbegleitung ist ein Beziehungsgeschehen, praktische Unterstützung ebenfalls. In der Aufgabe des Trauerdiakons lebt das eine aus dem anderen. Beide Pole des Menschen, seine materielle Existenz und seine geistliche Ausrichtung sind Bestandteil der Beziehung zwischen dem Trauerdiakon und dem Mitmenschen. So war das auch gedacht, als die Urchristen sich den Witwen und Waisen zugewandt haben und dafür einen diakonischen Dienst einrichteten. In unserer hoch differenzierten Gesellschaft kann also der Diakon als „Moderator“ die verschiedensten Milieus der bürgerlichen und der christlichen Gemeinde in Verbindung bringen, also eigentlich Kommunikation dort in Gang setzen, wo in unserer Gesellschaft starke Ab- und Ausgrenzungen vorhanden sind, Schnittstellen, die manchmal recht scharf sind. Menschen, die keinen Zugang haben zu Unterstützung, werden im Trauerdiakonat direkt erreicht und finden für seelische und alltagspraktische Hilfen Anschluss. 3.2 Notwendige Vernetzungspartner eines Trauerdiakonats Wache diakonische Kirchengemeinden und Kirchenbezirke haben viele Möglichkeiten für Menschen in Trauer. Dazu müssen sie allerdings auch die Sprache von nicht-christlichen und alternativ-religiösen Menschen sprechen lernen und diese wertschätzen. Dabei ist die Kooperation mit den Pfarrerinnen und Pfarrern einer der wichtigsten Fixpunkte des Trauerdiakonats. Aufgabe und Methodik von Pfarramt und Diakonat sind verschieden, und genau diese Unterschiedlichkeit kann bewirken, dass Menschen sich angesprochen und getragen fühlen können, manchmal sogar „weit weg“ am Rand der Gesellschaft. Liebe verkünden und der Liebe Gestalt geben sind geschwisterliche, komplementäre Aufgaben. Pfarramt und DiakonInnenamt haben hier wohl ein christliches Proprium. Christen ist zumindest eine eigene Art gegeben, mit dem Sterben und dem Tod umzugehen. Die Art und Intensität der Begleitung hängen davon ab, was der Gegenüber in seiner Krisenzeit braucht.117 Dazu kommt, dass entsprechende Fachkollegen z.B. des Hospizdienstes, der Familienbildung, des Kinderschutzbundes usw. ihre Angebote aufeinander beziehen und dadurch die Trauernden mit ihren verschiedenen Kompetenzen unterschiedlich begleiten. Es können so auch Einzelberatung, Gruppenangebote, Freizeiten, alltagspraktische Unterstützung und seelsorgerliche Begleitung für die Trauernden ermöglicht werden, die ein einzelner Dienst nie aufbringen könnte. Das Sterben und Abschied nehmen wird so von verschiedenen Menschen begleitet, die unterschiedliche Rollen einnehmen, aber den Prozess gemeinsam erleben und sich auch als Kollegen gegenseitig stützen. Wir wollen dahin finden, dass Menschen im Umgang mit Abschied und Trauer ihre persönliche Lebensgeschichte klarer sehen und Schlüsse für einen veränderten Alltag daraus ziehen. Nach meiner Erfahrung ist insgesamt das Trauerdiakonat ein genau passendes Aufgabenfeld zwischen Pfarramt und Sozialarbeit, zwischen Kirchengemeinden und bürgerlicher Gemeinde. Die Trauerdiakonin ist eine Mediatorin zwischen diesen Ebenen118 vor allem zugunsten randständig lebender Menschen, die dadurch ein wenig menschlicher leben und loslassen lernen können. Anhang: Schilderung einer besonderen Trauerbegleitung Anfang Februar, also mitten in einem harten Winter, hatte die Trauerdiakonin ein Treffen mit einem 11-jährigen Kind, das unter Mobbing in der Schule litt. Wir hatten uns an einem „seiner wichtigen Orte“, nämlich einem Imbiss verabredet und aßen zusammen eine Pizza. Das Kind sprach sehr viel über seine Probleme mit den Mitschülerinnen und Mitschülern, und wir entwickelten einen Plan, wie es mit Unterstützung der Schulsozialarbeiterin vorgehen könne. Als wir mit dem Essen fertig waren, gingen wir in Richtung der Wohnung der Familie. Ich interessierte mich auf dem Weg dorthin noch für den Jugendtreff, und wir machten einen kleinen Umweg dort vorbei. Nicht ganz auf der Strecke liegt auch der Friedhof, und plötzlich machte das Kind den Vorschlag, dass wir noch dort vorbeigehen sollten. Sie ging direkt zum Grab des verstorbenen Elternteils, das 117 Vgl. Zippert/Klein 2011, o.S. Vgl. Gruppenbefragung zu Steuerung des Netzwerks: „kleine Geschäftsführung“, Frage 4. 118 116 Rat der evangelischen Kirche Deutschlands (Hrsg.) 2010, S. 27. 79 80 Reutlingen winterlich unsortiert aussah. Wir standen eine Weile davor und sprachen z.B. darüber, dass Gräber im Winter einfach furchtbar aussehen können. Dann klingelte das Handy des Kindes. Es schaute kurz auf das Display, dann auf mich und ging dran. Es sprach kurz mit einem befreundeten Kind und erklärte mir dann, dass sich die beiden heute Nachmittag noch treffen würden. Dann fiel dem Kind ein, dass es bei einem Einkaufsladen um die Ecke im Moment Sonderangebote für kleine Gestecke geben würde. So machten wir auch diesen Weg und kauften einen kleinen Engel mit Trockenpflanze. Mein Handy klingelte danach ebenfalls. Ich holte auch kurz mit einem Blick das Einverständnis des Kindes ab und ging ebenfalls dran, um kurz einen Termin zu klären. Die Begleitung des Kindes entlang seiner Orte und die kurze gegenseitige Abklärung, dass in unserem Kontakt der für das Kind übliche Umgang mit dem Mobiltelefon der Beziehung keinen Abbruch tat, verhalf uns dann zu einem bemerkenswerten Gespräch. Wir gingen zurück zum Grab, räumten ein paar verdorrte Teile ab und stellten den Engel mit neuer Pflanze darauf. Ich fragte das Kind, ob es seinen verstorbenen Elternteil während der Pflege des Grabes spüren könne, und es sagte: „Klar, meistens, nicht immer.“ Ich fragte dann noch, ob es glaube, dass das verstorbene Elternteil uns sehen könne, wenn wir da so rummachen und es antwortete: „Bestimmt!“ Ich erzählte dem Kind, dass ich manchmal richtig rede mit meinen Verstorbenen, vor allem über Frust, und dass ich die Verstorbenen manchmal spüren könne und manchmal nicht, so wie mit dem Gott eben. „Mach ich auch manchmal, geht mir auch so, Mama/Papa ist bei Gott, aber wo ist das?“ antwortete das Kind. „Ja, stimmt, frag ich mich auch manchmal mehr, manchmal weniger“, sagte ich. „Jetzt grad sind sie da“ sagte das Kind. Danach gingen wir zu ihm nach Hause. Literaturverzeichnis: ISA, Institut für soziale Arbeit e.V. Münster (Hrsg.): Aufsuchende Elternarbeit. Verfügbar unter: http://www.isa-muenster.de/fruehekindheit-und-familie/aufsuchende-elternkontakte/index.html (13.12.2012). KVJS, Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden Württemberg (Hrsg.) (2005): Bericht zur Entwicklung von Jugendhilfebedarf und sozialstrukturellem Wandel. Verfügbar unter: http://www.kvjs. de/fileadmin/publikationen/jugend/1999-2003-Bericht_JB-Lang.pdf (14.12.2012). Noller, Annette (2013): Der Diakonat – Historische Entwicklungen und gegenwärtige Herausforderungen, in: Noller, Annette/Eidt, Ellen/ Schmidt, Heinz (Hrsg.): Diakonat – theologische und sozial-wissenschaftliche Perspektiven auf ein kirchliches Amt, Stuttgart, S. 42-84. Rat der evangelischen Kirche Deutschlands (Hrsg.) (2010): Kirche und Bildung. Herausforderungen, Grundsätze und Perspektiven evangelischer Bildungsverantwortung und kirchlichen Bildungshandelns, Gütersloh. Schneider-Flume, G. (2004): Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen. Steffensky, F. (2006): Schwarzbrot Spiritualität, Stuttgart. Zippert, T./Klein, C. (2011): Kommunikation des Evangeliums – gemeinsame Aufgabe aller Ämter und Dienste in Kirche, Bildungsarbeit und Diakonie. Unveröffentlichtes Papier. 81 „Vergesst die Vergessenden nicht“ Bericht 7: Ulm Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden Barbara Eberle Projektort: Ulm Projektträger: Evangelischer Diakonieverband Ulm/Alb Donau Projektstelleninhaberin: Diakonin Barbara Eberle 82 Ulm 2. Projektziele laut Antrag vom 29.04.2008 Als Projektziele wurden im Antrag formuliert: Der Salatkopf in der Schublade, das Spülmittel im Trinkglas, auf der Wäscheleine das Toastbrot, Anzeichen einer Demenzerkrankung? „Ich bin nicht mehr in der Welt“ sagt ein demenzerkrankter Mann in der Beratung. „Wir wollen nicht vergessen werden, wenn ich schon vergesse!“ 1. Projektanlass und Vorgeschichte Anlass für das Projekt waren zwei Entwicklungsstränge, die sich in der vorgelegten Konzeption ideal miteinander verbanden und kurz skizziert sein sollen: Das Thema „Demenz“ wurde im Evangelischen Diakonieverband Ulm/Alb-Donau bereits 2004 als wesentliche gesellschaftsdiakonische Aufgabe erkannt. Es ist eingebunden in das Themenfeld des „demografischen Wandels“, der in seinen mannigfaltigen Facetten in den letzten Jahren deutlich wird und auf verschiedenen Ebenen zur Auseinandersetzung zwingt.119 Bereits vor 8 Jahren wurde innerhalb der Diakonischen Bezirksstelle in enger Abstimmung mit dem Kreispflegeausschuss, und in seinem Auftrag, das ProjektDEMENZ Ulm konzipiert und aufgebaut. Die Arbeit war sozialräumlich auf Entwicklung und Optimierung von Versorgungsstrukturen gerichtet. (Versorgungsforschung, Netzwerkarbeit, und Schnittstellenoptimierung). Die nach drei Jahren evalu ierten Ergebnisse120 bildeten einerseits die Basis für ein Leuchtturmprojekt des Geriatrischen Zentrums Ulm mit Studiencharakter. Andererseits fehlte weiterhin ein Handlungsansatz für den in unserer Untersuchung signifikant herausgearbeiteten seelsorgerlichen Versorgungsaspekt in der Demenzarbeit. Im Jahr 2008 beteiligten wir uns deshalb an der Ausschreibung des Evangelischen Oberkirchenrates Stuttgart zur Umsetzung eines Projektes der Landeskirche zur Weiterentwicklung des DiakonInnenamtes. Die Projektbewerbung unter dem Titel „Herausforderung Demenz in der Kirchengemeinde – Verstehen, Handeln und Seelsorge“ wurde im Mai 2008 von der Steuerungsgruppe des landeskirchlichen Projektes angenommen. ProjektDEMENZ ist seit Oktober 2009 mit weiteren 50% Personalkapazität ausgestattet. Die Aktivitäten dieser weiteren Personalstelle wurden in diesem Bericht nicht aufgenommen. 119 Auf eine Definition des Demenzbegriffes wird im Rahmen dieser Arbeit verzichtet. Es handelt sich um ein medizinisch äußerst vielschichtiges Erkrankungsbild, dessen präzise Darstellung den Rahmen weit sprengen würde. 120 ProjektDEMENZ Ulm 2005. Verstehen – Information: Der diakonisch-missionarische Auftrag der Kirche wird in diesem Projekt zukunftsweisend wahrgenommen. Verwirrte Menschen sind im Wahrnehmungsspektrum. Rahmenbedingungen werden den Menschen angepasst – Räume der Barmherzigkeit –, weil die Liebe Gottes einfach jedem gilt! Seelsorge: Das Projekt nimmt die gesellschaftspolitische Herausforderung des demografischen Wandels an. Der würdevolle, seelsorgerliche Umgang im Fall des Verlustes der eigenen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit ist gesell schaftspolitisches und damit auch kirchlich-diakonisches Thema. Handeln – Diakonat als Profession: In der Auseinandersetzung mit der Dreiecksbeziehung Fachthema De menz/demografische Veränderung, Gemeinde/Informationsbedarf und seelsorgerlicher Auftrag/Beratungs- und Seelsorgebedarf der Erkrankten und Angehörigen profiliert sich die beruflich Handelnde und gibt dem abstrakten diakonischen Dienstauftrag den „Sitz im Leben“. Gerade die Multidimensionalität als Spezifikum im Handeln ist im Diakonat vorgegeben. Handlungskompetenz besteht im sozialwissenschaftlichen Diskurs, weil Fachwissen mit ethischer Refle xion gepaart ist. Das Berufsbild des Diakons/der Diakonin wird geschärft, weil Spezialwissen mit Feldkompetenz und ethischer Reflexionsfähigkeit verknüpft wird. 3. Theologische Grundsätze der Projektarbeit Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen fallen oft aus der Welt in die Abgeschiedenheit. Die Auswirkungen der Erkrankung ziehen einen Rückzug aus den sozialen Bezügen nach sich. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird die Entwicklung von „Räumen der Barmherzigkeit“ (s. Projektantrag) unumgänglich, im Bewusstsein, dass Räume der Barmherzigkeit (lat. Misericordia) ein Vorrecht der Kirche sind: „Ohne sie gäbe es keine Räume der Barmherzigkeit und des Vertrauens.“121 Das macht Kirche so bedeutsam. Das diakonische Handeln der Kirche kann mit Worten Frère Rogers folgendermaßen beschrieben werden: „Barmherzigkeit, die in uns wächst, sich entfaltet“ ist unabdingbar für eine diakonische Haltung. Barmherzigkeit „verströmt Zärtlichkeit, Mitgefühl und Mitleid.“122 Aus dieser seelsorgerlichen Haltung entsteht in der Begegnung mit Demenzerkrankten und ihren Angehörigen das Vertrauen, das nötig ist, um in schweren Lebenslagen Achtung und Anerkennung zu erfahren. Wenn dann auch der Perspektivwechsel gelingt und die Beratenden die Welt mit den Augen der demenziell Beeinträchtigten sehen lernen, wird dies zwangsläufig auch die Sprache der Kirche, den Ausdruck, die Form und Liturgie so formen, dass Kranke „verstehen“ und Barmherzigkeit erfahren/erspüren können. Die seelsorgerliche Haltung unterscheidet sich vom eingegrenzten Mitleid. Sie eröffnet Begegnung auf „Augen121 Prantl 2010. Frère Roger †, Prior Taize (Zitat mündlich überliefert). 122 Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden höhe“, also Begegnung mit einem Menschen, dessen Einschränkung aufgenommen wird und dessen Möglichkeiten nicht ausgeschlossen werden. Das schließt – mit Worten Hans-Jürgen Benedicts ausgedrückt – „die Fähigkeit (ein), die religiöse Dimension existenzieller Lebensfragen wahrzunehmen, zu deuten und in das professionelle Handeln einzubeziehen.“123 Das Leitbild der Diakonischen Bezirksstelle Ulm wird hier „Handlungsstrategie“: „Im Gegenüber begegnet uns Gott, deshalb sind wir miteinander unterwegs: aufmerksam, wach, solidarisch und in gegenseitiger Wertschätzung.“124 4. Projektumsetzung Die Ziele des Projektantrages wurden für drei verschiedene Handlungsebenen konkretisiert: Kirchengemeinden sind informiert und entwickeln mit Unterstützung gemeindespezifische Angebote. Seelsorge und Beratung sind die Grundlagen eines menschenwürdigen Zusammenlebens im Alltag von Betroffenen, ihren Angehörigen und Mitgliedern der Kirchengemeinde. Teilhabe am kirchengemeindlichen Leben ist für demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen durch Unterstützung, Impulse und Anleitung von Mitarbeitenden ermöglicht. Modelle von „demenzfreundlichen Gottesdiensten“ sind abrufbar. 4.1 Teilziel 1 Kirchengemeinden sind informiert und entwickeln mit Unterstützung gemeindespezifische Angebote. 30 4.1.1 Umsetzung: Der Pfarrkonvent 25 Im Ulmer Pfarrkonvent125 wurde die Stelleninhaberin angefragt, De20 Gesellschaft/ menz und die daraus entstehenden Fragen für eine Kirchengemeinde darzustellen. Auch die Möglichkeit, das Projekt „Diakonat neu gedacht – neu gelebt“ vorzustellen, war gegeben. Pro15 jektDEMENZ Ulm zeigte sein Interesse, gemeindliche Angebote und Projektideen für Demenzerkrankte und Angehörige fachlich, planerisch und praktisch zu unterstützen. Die Vorstellung 10 des Projektes wurde mit Interesse aufgenommen, was fol gende Rückmeldung eines Teilnehmers nach der Veranstaltung zeigt: „Deine Präsentation gestern war so spannend, herzlich und lebendig. Es gibt 5 im KTA selten eine so hohe Aufmerksamkeit über die gesamte Zeit ... gut, dass du da warst.“126 Ein anschließender Informationsbrief machte alle Pfarrämter auf die Angebote von ProjektDEMENZ Ulm0 aufmerksam. 2004 Die Anfragen zur Mitgestaltung von unterschiedlichen Vortragsreihen, Gottesdienste, Besuchsdienstschulungen etc., waren nach dem 83 Vortrag sehr vereinzelt. Gründe dafür werden im Interview der Begleitgruppe deutlich.127 Im Gegensatz dazu stehen die immer stärker ansteigenden Nachfragen nach Vorträgen bzw. Gesprächscafés Alter und Demenz aus den Reihen der ehrenamtlich Mitarbeitenden in Kirchengemeinden. Als Hintergründe sind persönliche Betroffenheit und die Mund-zu-Mund-Propaganda geäußert worden. 2008 gab es an zwei Orten, 2011 wurden bereits in sechs Orten Gesprächscafés mit bis zu 41 Teilnehmenden angeboten. Dies zeigt die Entwicklung zum Teilziel 1 auf. Verschiedene informative Presseartikel, Datenübersicht und Konzeption liegen bei ProjektDEMENZ Ulm vor. 4.1.2 D aten, Fakten, Zahlen aus der Projektarbeit: Veranstaltungen zum Thema Demenz Im Folgenden werden exemplarisch einige Daten aus der Arbeit im Projekt vorgestellt, die im Zusammenhang des Teilziels 1 erhoben wurden. ProjektDEMENZ Ulm hat bereits 2004-2008 durch Vorträge „Demenz geht alle an“ in den verschiedensten Kommunen und Kirchengemeinden Bewusstseinsbildung angeboten. Im Verlauf des Projektes wurden folgende Veranstaltungen durchgeführt: Zählungen zu Veranstaltungen 2008-2011 51 Vorträge mit durchschnittlich 22 Personen 2008-2011 16 Gesprächscafés Alter und Demenz an 5 Nachmittagen in 7 unterschiedlichen Kirchengemeinden, also 80 Gesprächscafés 2008-2011 13 Besuchsdienstschulungen in 9 unterschiedlichen Gemeinden Die Zunahme der Veranstaltungsarbeit in Kirchengemeinden ab Projektbeginn Herbst 2008 wird im Schaubild 1 deutlich. Die Veranstaltungsdichte von ländlichem zu städtischem Bereich wird in den grafischen Landkarten und vor Ort zusätzlich dokumentiert.128 Schaubild 1: Veranstaltungen zum Thema Demenz insgesamt 2004 – 2011 30 25 20 15 10 5 0 2005 2004 2006 2005 2006 2007 2007 Kirche Land Kirche Stadt Kirche Land Kirche Stadt 2008 2008 2009 2009 2010 2010 2011 Öff. Stadt Öff. Stadt Öff. Land Öff. Land 123 Benedict 2008 S. 135ff. Diakonische Bezirksstellen Ulm/Alb-Donau (Hrsg) 2001. 125 KTA (Kirchlich-Theologischer Ausschuss) 14. Januar 2010 Vortragsthema: Demenz – Herausforderung für Kirchengemeinden. 126 Rückmeldung Email eines Teilnehmer 15.01.2010. 124 127 128 Siehe 4.2.2, Tonbandinterview Projekt-Begleitgruppe Ulm 2012. Grafik: eigene Darstellung Stelleninhaberin. Grafikerklärung: Links Angabe Anzahl der Aktionen, unten sind Jahreszahlen angegeben. 2011 84 Ulm Schaubild 2: Veranstaltungen zum Thema Demenz im Kirchenbezirk Ulm/Blaubeuren 2004-2011 Die Kirchenbezirke Ulm/Blaubeuren haben insgesamt 80 508 Mitglieder. Die jeweils unterstrichenen Gruppierungen sind nicht eindeutig kirchlichem Hintergrund zuzuordnen. Veranstaltungen außerhalb des Evangelischen Diakonieverbandes sind am oberen Rand der Grafik z Bad Boll 2, Stuttgart 4, Ludwigsburg, Weinsberg, Bremen, Dresden, Giengen/Brenz 10 z Bad Boll 2, Stuttgart 4, Ludwigsburg, vermerkt. Weinsberg, Bremen, Dresden, Giengen/Brenz 10 z z z z Bad Boll 2, Stuttgart 4, Ludwigsburg, Weinsberg, Bremen, Dresden, z Giengen/Brenz 10 z zz 10z zz 10z z z z z z z z z zzz z z z z zzz z zz z zz z z zz z z 10 z z z z zz z z z z z z z z zz z z z zz z z z zzz z z z z z z zz z z z zz z zzz z z zz zz z z zzzz z z z z z z z z zz z z 15 z zzz15 zz z z zzz z zzz z z zz z zz z zz z z zz z z z zzz z z z zzz zz z z zzz z z z z 15 z zz zzz z z z z z z z zz z z z z z z z z z 10 z z z z z 10 z z z z z z z zzz z zzz z zz z z z z zz z 10 z z z zz z zzz z z z z z z z z z z z z z Balzheim z z Balzheim z z z z z z Balzheim z Legende zur Karte: Angehörige Legende zur Karte: Angehörige Besuchsdienst Besuchsdienst Diakoniebeauftragte zur Karte: Legende Veranstaltungen 2004-2011 Fachleute Diakoniebeauftragte Angehörige Veranstaltungen 2004-2011 Fachleute Frauen Besuchsdienst Evangelischer Diakonieverband Ulm/Alb-Donau Gottesdienst Frauen Diakoniebeauftragte Diakonieverband Ulm/Alb-Donau Evangelischer Gottesdienst Kirchenbezirke Ulm/Blaubeuren 80 508 Mitglieder Gesprächscafé Alter und Demenz Veranstaltungen 2004-2011 Fachleute Kirchenbezirke Ulm/Blaubeuren 80 508 Mitglieder Gesprächscafé Alter und Demenz Kirchengemeinderat Frauen Das GebietDiakonieverband Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm ÖffentlichkeitKirchengemeinderat Ulm/Alb-Donau Evangelischer Gottesdienst Das Gebiet Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm Öffentlichkeit innerhalb Ulm/Blaubeuren der gelben Markierung: Extra-Karte Pfarrer Alter Kirchenbezirke 508 siehe Mitglieder Gesprächscafé und Demenz innerhalb der 80 gelben Markierung: siehe Extra-Karte Pfarrer Senioren Kirchengemeinderat Senioren Das Gebiet Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm Öffentlichkeit Die jeweils unterstrichenen Gruppierungen sind innerhalb der gelben Markierung: siehe Extra-Karte Pfarrer Diekirchlichem jeweils unterstrichenen nicht eindeutig Hintergrund Gruppierungen sind Senioren nicht eindeutig kirchlichem Hintergrund zuzuordnen. zuzuordnen. Die jeweils unterstrichenen Gruppierungen sind außerhalb des Evangelischen nicht Veranstaltungen eindeutig kirchlichem Hintergrund Veranstaltungen außerhalb Diakonieverbandes sind am oberen Randdes derEvangelischen zuzuordnen. Diakonieverbandes sind am oberen Rand der Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden Schaubild 3: Veranstaltungen im Gebiet Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm 2008-2011 und im Stadtgebiet Ulm 2004 – 2008 und 2009 – 2011 Schaubild 3: Veranstaltungen im Gebiet Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm 2008-2011 und im Stadtgebiet Ulm 2004 - 2008 und 2009 - 2011 2004-2008 zz zz zz 2004-2008 zzz zz 2009-2012 2009-2012 Sozialraum 4 zz Eselsberg Sozialraum 1 Stadtmitte, Oststadt 2004-2008 zzzzzzz zzz z 2009-2012 z z z z z z z z z z z z z z z z zz zz zz zz z z z z z z z 2004-2008 zzz zzz zzz zzz zzz zzz zzz zz z Sozialraum 3 zzzz zz zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz zzzzz z z z z z z z Weststadt, Söflingen, Grimmelfingen, Eggingen, Ermingen, Donautal, Einsingen Ulm Sozialraum 5 Wiblingen, Unterweiler, Donaustetten, Gögglingen 2004-2008 2009-2012 zz zz 2009-2012 Legende zur Karte z Karte Frauenkreise Legende zur z Frauenkreise Seniorengruppen z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z zzzzzzz zzzzzzz z zzzzz zzzzz zzzzz z z z z Seniorengruppen z Besuchsdienste z Besuchsdienste z Angehörigengruppen z Angehörigengruppen z Öffentlichkeit z Öffentlichkeit z Gottesdienst Betroffene z Gottesdienst Betroffene z Schulen z Schulen z Fachleute z Fachleute z Gesprächscafés z Gesprächscafés fürfür Menschen mit mit beginnender Demenz z Gesprächskreis Gesprächskreis Menschen beginnender Demenz Gruppen mit Unterstreichung sind nicht eindeutig kirchlichem Hintergrund zuzuordnen. 85 86 Ulm Interviewdaten Um Eindrücke und Erfahrungen über die Entwicklungen in Kirchengemeinden zum Thema Demenz aus verschiedenen Blickwinkeln zu erhalten, wurde ein strukturiertes Tonbandinterview mit der Ulmer Begleitgruppe zum Projekt (Pfarrer/in, Kirchengemeinderat/rätin, Kirchenmitglied und Abteilungsleiter/in) durchgeführt. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der katholischen Kirche übernahm die Moderation; sie legte den Zeitrahmen fest und führte das Interview anhand eines Leitfadens durch. Das Interview fand ohne die Stelleninhaberin statt. Es wurde von der Stelleninhaberin inhaltsanalytisch ausgewertet. In der Auswertung der Tonbandaufnahme wurden förderliche Faktoren und Stolpersteine beobachtet und folgendermaßen dokumentiert: Förderliche Faktoren, Auswertung Interview: Aussagen über die Projektarbeit „Informationen über Demenz wurden unaufgeregt kompetent und mit Herz weitergegeben.“ (Tonbandinterview, 229) „Der Krankheitsverlauf wurde sehr klar dargestellt und zwar aus dem Blickwinkel – was bleibt –.“ (Tonbandinterview, 239), „Es wurde überlegt, was kann in der Kirchengemeinde umgesetzt werden.“ (Tonbandinterview, 50) Aussagen zum Thema Kirchengemeinde: „Persönliche Sensibilisierung hat stattgefunden.“ (Tonbandinterview, 233), „Kirchengemeinde braucht Menschen mit Vorbildcharakter, damit sich wertschätzender Umgang mit Demenzkranken ausbreitet.“ (Tonbandinterview, 313), „Mitarbeitende haben die Freiheit gespürt, den passenden Gottesdienst entwickeln zu können.“ (Tonbandinterview, 167), „Ehrenamtliche haben an Kompetenz dazu gewonnen.“ (Tonbandinterview, 276), „Das Thema Demenz ist jetzt stark präsent.“ (Tonbandinterview, 281), „Der persönliche Gewinn durch die Angebote in Kirchengemeinden ist die Hoffnung gegen die Angst vor Demenz.“ (Tonbandinterview, 412), „In Kirchengemeinden wurden Gesprächscafés, Gottesdienste, Besuchsdienstschulungen initiiert.“ (Tonbandinterview, 50) Stolpersteine oder Herausforderungen, Auswertung Interview: „Kirchengemeinderäte sind sehr beschäftigt, haben eine Flut von Themen.“ (Tonbandinterview, 247 und 270), „Das Thema Demenz wird nicht leicht angenommen, es ist sehr mühsam.“ (Tonbandin terview, 151) 4.1.3 Beobachtungen zum Teilziel 1 Die Projektarbeit wurde in der Ulmer Projektbegleitgruppe als bereichernd empfunden. Es konnte reflektiert werden, wie das Thema Demenz in Kirchengemeinden aufgenommen wird. Obwohl die Folgen des demografischen Wandels auch in Kirchengemeinden drängende Fragen aufwerfen, lässt sich die Sensibilisierung und Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem „Thema Demenz nicht mit Druck beschleunigen.“ (Tonbandinterview, 247 und 270). Es braucht Zeit und „gute Räume“, bis sich Angehörige öffnen und die Kirchengemeinde mit dem Thema Demenz konfrontiert werden kann. Das zeigt sich am Beispiel UlmSöflingen. Dort wurde ein Gottesdienst für Menschen mit Demenz gefeiert. In der Folge entstand ein starkes Interesse, den Besuchsdienst entsprechend weiter zu qualifizieren. Zudem wurden drei Abende „Altern neu denken“ entwickelt und parallel Gesprächscafés angeboten. Überall dort, wo Demenzbetroffene sich über das Pfarramt bei ProjektDEMENZ Ulm meldeten, waren weitere Anfragen zu Veranstaltungen die Folge. Demenz ist ein heikles Thema. Die erste Bemerkung bei Kontakten ist wiederholt: „Alles, bloß nicht Demenz“. Eine behutsame Information über die Krankheitsentwicklung und über verbleibende Ressourcen bei Menschen mit Demenz in der Öffentlichkeit ist aus diesem Grund umso wichtiger. Auch die gedankliche Auseinandersetzung mit den Fragen des persönlichen Menschenbilds ist eine wichtige Aufgabe in Veranstaltungen in Kirchengemeinden. Die Anfragen zu Veranstaltungen kamen überwiegend durch Weiterempfehlung zustande. Schriftliche Informationen erfüllen nur sehr selten eine Funktion als Werbeträger! Das wurde deutlich in der strukturierten Nachfrage bei Terminvereinbarungen und Erstkontakten, bei der danach gefragt wurde, wie Menschen auf ProjektDEMENZ Ulm aufmerksam wurden. Am folgenden Beispiel werden die „Wahrnehmung des gesellschaftlichen Umbruchs“ s.o., und die Folgen des demografischen Wandels deutlich: Über 70 ZuhörerInnen nahmen an einem Abend zum Thema „Demenz und geistige Behinderung“ in einer Einrichtung der Lebenshilfe Ulm/Neu-Ulm teil. Mitarbeitende, Eltern und Leitung wollten sich der Herausforderung Demenz stellen und luden die Diakonin als eine langjährig Erfahrene in Behindertenarbeit und als Fachfrau für Demenz ein. Im Anschluss an diesen Vortrag ist die Weiterarbeit durch einen „Runden Tisch Behindertenarbeit und Altenarbeit“ angedacht. Der „kirchengemeindliche“ Boden wurde hier verlassen. Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden Das ist meines Erachtens zweitrangig, weil ▶ die meisten der ZuhörerInnen einer christlichen Kirche angehören ▶ alle mit meinem kirchlichen Ansatz konfrontiert wurden ▶ Kirche ja auch ihren Auftrag (unabhängig der oben genannten Ziele) in der Welt hat. Entwicklung von gemeindespezifischem Angebot braucht exemplarische Angebote eines fachlich ausgebildeten Menschen mit hoher persönlicher Kompetenz, Vorbildverhalten und Feldkompetenz.129 Cornelia Coenen-Marx beschreibt Kompe tenz im diakonischen Umfeld wie folgt: „Fachwissen, theologische Reflexionsfähigkeit, Handeln in Spiritualität, Blick auf gesellschaftliche Umbrüche mit kirchlichen Planungen verknüpfen.“130 In diesen Worten spiegelt sich auch die persönliche Vorstellung der Stelleninhaberin von beruflicher Qualität als Diakonin. In der Bearbeitung von Teilziel 1 wurden Facetten dieser beruflichen Qualität erkennbar. 4.2 Teilziel 2 Seelsorge und Beratung sind die Grundlagen eines menschenwürdigen Zusammenlebens im Alltag von Betroffenen, ihren Angehörigen und Mitgliedern der Kirchengemeinde. 4.2.1 Umsetzung: Zahlen, Daten, Fakten zu Teilziel 2 Strukturierte Telefoninterviews: Bereits 2004/2005 wurden in Ulm durch strukturierte Telefoninterviews 1366 Haushalte angerufen (ein Drittel in ländlichen Gebieten, zwei Drittel im Stadtgebiet, aus den Telefonbüchern zusammengestellt). Schwerpunktthema war: „Durch welche Hilfsangebote würden Sie bei der Versorgung demenziell Erkrankter am ehesten entlastet?“ 87 Die Datenauswertung der Aussagen von 876 Teilnehmenden ergaben interessante Aussagen zur Seelsorge: 25,6% der Befragten formulierten einen Wunsch nach Seelsorge 37,2% Interviewpartner formulierten den Wunsch nach einem Besuchsdienst, der im erweiterten Sinn auch eine Form der Seelsorge darstellen kann. Die Daten über demenzerkrankte Menschen in Ulm aus dem Altenhilfeplan/Seniorenbericht 1998 der Stadt Ulm sind übereinstimmend mit den Angaben in den Telefoninterviews. Schaubild 4: Auswertung Telefoninterviews 5. Frage Unabhängig davon, ob Sie betroffen sind oder nicht, durch welche Hilfeangebote würden Sie in solch einer belastenden Situation am ehesten entlastet? Angaben % durch Hilfe bei der Körperpflege 318 36,3% Hauswirtschaftliche Versorgung 243 27,7% Information 375 42,8% Beratung allgemein 243 27,7% Behördengängen 180 20,5% Rechtsberatung 154 17,6% Besuchsdienste 326 37,2% Betreuungsgruppen 309 35,3% Angehörigengruppen 264 30,1% Tagespflege 323 36,9% Nachtaufsicht 254 29,0% Seelsorge 224 25,6% Quelle: ProjektDEMENZ Ulm (2005): Zwischenbericht, Tab. 13, S. 14 129 Vgl. Tonbandinterview 2012, 68, 78, 101, 114, 137, 154, 209. Coenen-Marx 2011, S. 27. 130 88 Ulm Schaubild 5: Anfragen Ein differenziertes Bild zur Seelsorge zeigt die Übersicht ProjektDEMENZ Ulm Beratungs-Seelsorgebedarf 2005-2011. Aufgelistet Fachleute Anonym Umfeld, Verwandte Sohn Literatur, Fortbildung, Ablösung Familiendynamik, Überlastung, Vollmacht Patientenverfügung Sterben, Tod Tochter Seelsorge: Depression, Aggression, Einsamkeit, Abbau von Schuldgefühlen, Ehefrau, Lebensgefährtin Beratung: Pflege, Alltagsbetreuung, Finanzen, Ehemann, Lebensgefährte Betroffene 2005 sind Anfragen an Diakonin Barbara Eberle. Anfragen an Kollege/Kollegin sind gesondert erhoben. Der zugrunde liegende Seelsorgebegriff ist weit gefasst und bezieht sich auf existenzielle, insbesondere emotionale und spirituelle Krisen. 1 4 1 4 2 1 10 2 18 3 14 16 28 10 2006 1 2 2 7 4 2 1 2007 1 6 3 15 6 3 5 2008 1 1 6 17 4 5 2009 2 4 9 19 8 4 2 1 33 17 2010 2 4 11 21 4 8 1 4 34 31 2011 2 4 17 24 3 10 0 2 35 34 1 Quelle: ProjektDEMENZ Ulm (2005): Zwischenbericht, Tab. 14, S. 14 Im Zahlenbereich der tabellarischen Übersicht wird jeweils das überwiegende Gesprächsthema angegeben. Überschneidungen zwischen den Themen bei Seelsorge – Beratung sind üblich, deshalb ist in diesem Feld in der Tabelle keine Trennlinie. Die Zahlen der einzelnen Felder sind nicht immer logisch abzugleichen, da an den Gesprächen z.T. mehrere Teilnehmende beteiligt waren und verschiedene Themen angesprochen wurden. Alle Gespräche sind auf einem festgelegten Dokumentationsbogen bei ProjektDEMENZ Ulm belegt.131 131 Dokumentationsbogen siehe Anhang. Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden 4.2.2 Beobachtungen zu Teilziel 2 4.3 Teilziel 3 Die Reflexion der Gespräche und der genannten Beratungsanliegen ergab: Grundlage für Seelsorge- und Beratungsgespräche bildet eine echte, zwischenmenschliche Beziehung zwischen ratsuchendem Mensch und der Beratenden. Voraussetzung für ein Gespräch über persönliche, existenzielle und spirituelle Krisen ist das Vertrauen, das durch die Erfahrung von Angenommen sein entsteht. Dieses Aushalten und Innehalten, ohne sofort ein Hilfskonzept entwickeln zu müssen, entlastet Angehörige in hohem Maß. Carl Rogers hat diese Haltung folgendermaßen beschrieben: „Bedingungslose positive Zuwendung enthält Akzeptierungsbereitschaft und Anteilnahme gegenüber dem Klienten als einem besonderen und selbständigen Menschen, dem es erlaubt ist, eigene Empfindungen und Erlebnisse zu haben und darin eigene Bedeutungen zu finden.“132 Menschen mit beginnender Demenz äußern in den Gesprächen mit der Diakonin eine große Erleichterung, wenn sie selbst über die Auswirkungen der Krankheit sprechen können und nehmen sehr deutlich wahr, wenn ihre eigenen Empfindungen ernst genommen und nicht „zu schnell verstanden“, sondern ausgehalten werden. Zu schnelles Verstehen lässt Angehörigen bzw. Demenzerkrankten wenig Zeit, ihre emotionale Dynamik wahrzunehmen und zuzulassen. Seelsorge ersetzt keine sachlich und fachlich fundierte Beratung. Sie muss in einer Sprache geschehen, die Menschen verstehen. (Tonbandinterview 134, 303) Die Übergänge zwischen Seelsorge und Beratung sind fließend. Seelsorgerliche Themen stehen meines Erachtens in einem engen Zusammenhang mit Sinn- und Existenzfragen, wie sie im Alltag erlebt werden. Eine wichtige Voraussetzung zur Seelsorge ist: Wachheit und Sensibilität der Fachperson ermöglichen, ohne im Gespräch zu werten, die angemessene Gesprächsform. Authentisches Verhalten, d.h. ehrlich, kongruent, glaubwürdig sein. Sachliche fundierte Beratung deckt nicht immer die gesamte Lebenswirklichkeit ab, wie folgender Gesprächsauszug zeigt: Person X kommt aus einer städtischen Beratung. Sie fühlte sich dort gut beraten. Sie kam anschließend zu mir mit einer speziellen Frage. Im Gespräch kamen wir an heikle zwischenmenschliche Erlebnisse. Die Person sagte mitten im Gespräch: „Hier zeige ich sogar meine Scham und dass ich hoffnungslos bin, und Sie beraten es nicht weg.“133 Teilhabe am kirchengemeindlichen Leben ist für demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen durch Unterstützung, Impulse und Anleitung von Mitarbeitenden ermöglicht. Modelle von „demenzfreundlichen Kirchengemeinden“ werden dargestellt und sind für Interessierte abrufbar. 4.3.1 Umsetzung Modell Gottesdienst Mehrere Gottesdienste in Ulm-Söflingen für Menschen mit Demenz und Menschen in schweren Lebenslagen haben als Sondergottesdienst freitagnachmittags stattgefunden. Obwohl auch ein weiterer Gottesdienst in Ballendorf am Sonntagmorgen positiv aufgenommen wurde, sind die Nachfragen aus weiteren Pfarrämtern für den sonntäglichen Gottesdienst zögerlich. Ein Konzept und ein exemplarischer Gottesdienst liegen vor; sie sind auf der Homepage des OKR hinterlegt.134 Im Juli 2012 fand ein Gottesdienst im Ulmer Münster statt, im Dezember in der Christuskirche Ulm, und im Januar 2013 ist ein Gottesdienst für Langenau in Planung. 4.3.2. Beobachtungen zum Modell Gottesdienst Obwohl Pfarrerinnen und Pfarrer gleichermaßen über Angebote von ProjektDEMENZ Ulm informiert werden, ist es entscheidend, wie und ob Themen persönlich aktuell sind. Das wurde bei Anfragen immer wieder formuliert. Entsprechend werden die Angebote in Gemeinden transportiert oder auch nicht. Der Freiraum, Demenz im Gottesdienst als Thema aufzunehmen, wird durch die Themenfülle in Gemeinden verhindert. (Aussage eines Kirchengemeinderats).135 Der persönliche Kontakt ist oft ausschlaggebend, das zeigen die Erfahrungen der Stelleninhaberin. Ähnlich wie bei den Vorträgen ist das Weitererzählen von Erlebnissen im Gottesdienst ähnlich wichtiger „Werbefaktor“. Viele Anfragen kommen direkt von z.B. Frauenkreisleiter/in, Seniorenkreisverantwortlichen, die das ProjektDEMENZ Ulm aus der Beratungsarbeit, durch Mund-zu-Mund-Propaganda und/oder über den Erfahrungsaustausch in Kreisbildungswerken kennen. 134 132 Rogers 1985, S. 277. 133 Tonbandinterview 146. 89 https://www.service.elk-wue.de/oberkirchenrat/kirche-und-bildung/diakonat/projektdiakonat-neu-gedacht-neu-gelebt/teilprojekte.html 135 Vgl. Tonbandinterview, 247 und 270. 90 Ulm Drei Abende mit dem Thema „Altern neu denken, Reise in ein unbekanntes Land“ wurden mit ProjektDEMENZ Ulm in einer Kirchengemeinde entwickelt. Die Teilnehmenden arbeiteten am Thema „Altwerden heute“ und vertieften sich erst anschließend in das Thema Demenz. Eine weitere Kirchengemeinde nahm diese Anregung mit einem Vortrag auf, da Kirchengemeinderäte die Abende in der o.g. Kirchengemeinde miterlebt hatten. 4.3.4 Beobachtungen zum Modell Gesprächskreis Allein die hohe Frequenz der Teilnehmenden zeigt die Notwendigkeit von Möglichkeiten zur „Teilhabe am Leben“, punktuell durch dieses Gesprächsangebot. Betroffene selbst nehmen sich wahr und werden nicht durch Angehörige dominiert. Allerdings wird noch eine konzeptionelle Weiterentwicklung anstehen. Es zeigt sich, dass durch das Krankheitsbild bedingt Menschen nach etwa zwei Jahren die Gruppe verlassen, weil durch die Erkrankung die sprachliche Ausdrucksmöglichkeit zunehmend stärker beeinträchtigt wird. 4.3.3 U msetzung Modell Gesprächskreis für Menschen mit beginnender Demenz Auch der begleitende Beratungsmodus muss bedacht werden: „Das Augenmerk muss sich auf Menschen richten, die spezifische Ängste, Sorgen und Nöte in ihrem sozialen Umfeld formulieren. Schon zu Beginn von ProjektDEMENZ Ulm war Herr Univ. Prof. Dr. med. M. Riepe, Geschäftsführender Oberarzt Gerontopsychiatrie BKH Günzburg, Leiter Sektion Gerontopsychiatrie Universität Ulm, ein wichtiger fachlicher Gesprächspartner zu Weiterentwicklungen. Erste Unterstützungsangebote in diesem Stadium (Frühstadium, Anm. d. Verf.) sollten vor allem darauf abzielen, das Spektrum der Verhaltensmöglichkeiten zu erweitern und schließlich Handlungsoptionen für die Zukunft hervorzubringen. Er regte 2007 eine Gruppengründung für jung Erkrankte und auch für betroffene Menschen im Frühstadium der Demenz an. Durch das Angebot einer Mitarbeiterin der Psychologischen Beratungsstelle Ulm wurde dann 2010 die Absicht, eine Betroffenengruppe im Frühstadium der Demenz zu gründen, Realität. Bei Demenz im Frühstadium136 ist ein sprachlicher Austausch noch möglich. Ist die Erkrankung fortgeschritten, wird ein Gruppengespräch durch die sprachlichen Verluste erschwert bzw. unmöglich. Besondere Aufmerksamkeit muss dabei dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung gewidmet werden, um auf diese Weise eine Beratungskontinuität zu erreichen ...“139 Weiterentwicklung müsste deshalb ein koordiniertes und integriertes Hilfsangebot in den Blick nehmen. Hierzu sind die ersten Gespräche mit der Sozialbürgermeisterin der Stadt Ulm und dem Verein „TrotzDEM“, der auf inkludierende Konzepte abzielt, ins Auge gefasst. Jeweils eine mitarbeitende Person der Psychologischen Beratungsstelle und aus dem ProjektDEMENZ Ulm haben diese Gruppe gestartet, sie sind erfreut über den regen Zuspruch. Die Projektstelleninhaberin stand in der Gründungsphase beratend zur Seite. Der Gesprächskreis erreicht bis zu 12 Menschen mit beginnender Demenz. Immer wieder stoßen Interessierte dazu. Die Gruppe trifft sich 14-tägig im moderierten Selbsthilfegruppenstatus.137 Im Gesprächskreis für Menschen mit beginnender Demenz wird in der Praxis umgesetzt, was Helga Rohra aus der Sicht Betroffener folgendermaßen beschreibt: „Richten Sie Ihr Augenmerk nicht nur auf unsere Defizite, sondern forschen Sie nach unseren Ressourcen. Häufig können wir noch viel mehr, als Sie es für möglich halten, ganz egal, wie fortgeschritten die Demenz auch ist. Lassen Sie es nicht zu, dass wir isoliert und an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden. Wir wollen integriert bleiben.“138 136 „Entscheidendes Frühsymptom der Erkrankung ist eine schleichend zunehmende Verschlechterung des Gedächtnisses .... Auffällig werden solche Einschränkungen meistens erst, wenn sie zu Problemen in der Bewältigung alltäglicher Aufgaben und Aktivitäten führen ... Im weiteren Verlauf kommt es dann zu einer Verschlechterung weiterer kognitiver Fähigkeiten wie des Orientierungsvermögens, des planenden Handelns, der visuell-räumlichen Fähigkeiten und der Sprache. Wortfindungsstörungen können sehr früh auftreten und sich zu einer starken Belastung entwickeln. Da sie in Gesprächen sehr hinderlich sind, führen sie zusammen mit der Vergesslichkeit oft zum sozialen Rückzug der betroffenen Person.“ (Perneczky / Danek / Förstl 2006, S. 53 ff.) 137 www.agush.de 138 Rohra 2011, S. 86. Tragendes Element diakonischer Arbeit bleibt, dass die Liebe Gottes allen Menschen gilt, auch den Vergessenden und den Menschen, die durch Betreuung und Pflege an der Teilhabe am Leben eingeschränkt sind. Durch die seelsorgerliche Zuwendung kann und soll diese Liebe zum Ausdruck kommen und darf von Betroffenen erwartet werden. 4.3.5 Umsetzung Modell Gesprächscafé Alter und Demenz Überraschend schnell und positiv wurde das Konzept Gesprächscafé Alter und Demenz in vielen Gemeinden aufgenommen (siehe auch Punkt 4.1.1). Das Konzept Gesprächscafé Alter und Demenz entstand 2008 innerhalb einer Kooperation mit einer Mitarbeiterin in einem Stadtteilprojekt. Angehörige erleben das Gesprächscafé als Ort des Austauschs, der emotionalen Wärme und der Gemeinschaft. An fünf Nachmittagen werden in offener Runde, die Anonymität und unregelmäßige Teilnahme zulässt, Themenrunden angeboten. Um die geschützte Atmosphäre der Gesprächsrunden zu wahren, wurde anfangs von einer schriftlichen Befragung abgesehen. Hier als Beispiel die erste Themenreihe: „Er erzählt 100 mal dasselbe.“ Persönlichkeitsveränderungen und doch altern in Würde? 139 Langehenning 2006, S. 39. Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden „Und dann kleckert sie sich einfach nur voll…“ Peinlichkeiten und Scham als Begleiter im Alltag? „Sie fährt noch immer Auto, obwohl sie keine Orientierung mehr hat.“ Rechte und Vollmachten im Zusammenleben. „Und ich kann`s nie recht machen!“ Überforderung, Schuldgefühle und wo bleibe ich? 4.3.6 Beobachtungen zum Modell Gesprächscafé Obwohl wir 2008 das Gesprächscafé als städtisches Nahraumkonzept entwickelten, zeigt die Übertragung in den ländlichen Raum durch die überraschenden BesucherInnenzahlen (bis zu 41 Gästen), dass es offensichtlich gelingt, vorhandene Bedürfnisse nach Austausch in geeigneter Form aufzunehmen (siehe 4.1.1). Gäste erfahren, dass aktuelle Anliegen ernst genommen und kompetent bearbeitet werden. (Tonbandinterview, 72ff) „Ich habe tagelang keinen zum Reden.“ Abschied, Verluste und Trauer im täglichen Zusammenleben. Die Konzeption des Gesprächscafés und weitere Themenreihen sind bei ProjektDEMENZ Ulm abrufbar und auf der Homepage des Oberkirchenrats140 in Ausschnitten bereits veröffentlicht. Eine schriftliche Arbeitshilfe wird zurzeit erstellt, und Fragebögen werden ab Dezember 2012 ausgewertet. Zur Verdeutlichung der Erfahrungen von Teilnehmenden werden einige Zitate aus den Gesprächen im Gesprächscafé angeführt. Person A: „Und den alten Schlüssel (den es als Mitnehmsel gab, Anmerk. der Verfasserin) hab` ich mir an meine Infowand gehängt. Er erinnert mich bei Gesprächen mit meinem Vater daran, dass ich den richtigen Zugang suchen muss.“141 Person B: „Ich habe mir immer Vorwürfe gemacht, wenn ich nicht 10 Stunden bei ihr im Altenheim blieb. Seit ich ins Gesprächscafé komme, merke ich, dass ich offener zu meiner Mutter gehe, und es ist besser, wenn ich entspannt etwas weniger lange da bin, aber dafür dann mit ganzem Herzen.“ Person C.: „Jetzt habe ich gesagt, halt, so kannst Du nicht mit mir reden (Person C. zur kranken Mutter). Das hätte ich mich vor dem Gesprächscafé nicht einfach getraut.“ 91 Im Gesprächscafé bekommen belastende Situationen Raum. (vgl. Tonbandinterview, 114) Die Atmosphäre ist von entscheidender Bedeutung. (Tonbandinterview, 136) Bereits über Ulms Grenzen hinaus ist das Modell Gesprächscafé Alter und Demenz vorgestellt und zum Teil durchgeführt worden (Kirchentage, Bremen/Dresden, Diakonisches Werk Stuttgart, Giengen/Brenz, Heidenheim). Der Erfolg des Modells Gesprächscafé Alter und Demenz lässt sich auch ablesen im Seniorenbericht der Stadt Ulm, in dessen Handlungsempfehlungen die Einrichtung des Gesprächscafés Alter und Demenz in verschiedenen Stadtteilen in hohem Maß angeregt wird.142 Der Zuschuss der Kommune basiert wesentlich auf den stadtteilorientierten Angebotsformen. 4.3.7 Umsetzung Modell Besuchsdienstschulungen Immer wieder bekundeten Kirchengemeinden ihr Interesse an Schulungen der Besuchsdienste zum Thema Demenz. Fünf Themenblöcke wurden inzwischen erarbeitet: Einige Stimmen beim Verabschieden im Gesprächscafé: Person D: „Ich dachte, hier gibt es einen Vortrag, und ich war eigentlich zu müde und erschlagen. Und jetzt habe ich wieder Kraft für den Alltag, weil ich merke, ich bin nicht allein.“ Person E: „Hier wird man richtig ernst genommen mit seinen schweren Fragen.“ Person F: „Die Zuwendung und die Liebe hier, das ist es, warum ich komme.“ Was geht verloren, was bleibt? Wie Menschen „AnSehen“ geben? Wo Vergessende nicht vergessen werden. Wenn Menschen Würde erleben. Was ist zu tun, was ist zu lassen? Inhalte dieser fünf Blöcke sind: Auswirkungen des demografischen Wandels, Krankheitsbilder Demenzen, Alltag mit demenzerkrankten Menschen, Herausforderung für betreuende Angehörige, Menschenbild – Leben mit Bruchstücken, Kommunikation, Miteinander trotz Demenz. Person G: „Ohne die Impulse und die Anregungen würde ich es zu Hause mit meinem Kranken nicht mehr aushalten.“ 140 https://www.service.elk-wue.de/oberkirchenrat/kirche-und-bildung/diakonat/projektdiakonat-neu-gedacht-neu-gelebt/teilprojekte.html 141 Dieses und die folgenden Zitate wurden während oder nach Gesprächscafés von der Stelleninhaberin und/oder einer Praktikantin während der Laufzeit des Projektes notiert. 142 Vgl. Stadt Ulm (Hrsg.) 2010, S. 72ff. 92 Ulm 4.3.8 Daten, Fakten Besuchsdienstschulungen In 7 Kirchengemeinden fand je eine Schulung statt. In 4 Kirchengemeinden fanden je 2 Schulungen statt. In 1 Kirchengemeinde fanden 3 Schulungen statt. Insgesamt 350 Teilnehmende besuchten 18 Schulungen, durchschnittlich also 19 Interessierte. 4.3.9 Beobachtungen zum Modell Besuchsdienst Die geäußerten Erfahrungen aus der Besuchsdienstarbeit machen deutlich: Die Besuchsdienste leiden größtenteils unter Nachwuchsmangel. Etliche Leiterinnen klagen über „nicht angefragt werden“; sie machen „nur die Geburtstagsbesuche“. Demenzkranke Menschen zu besuchen ist eine hohe Hürde. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Alter kommt wenig zur Sprache. Die momentanen angebotenen Konzepte von Besuchsdienst schulungen fordern ein großes Engagement. Meines Erachtens sind eine grundsätzliche Analyse und eine Bestandserhebung unter der Fragestellung nötig: Was will Kirchengemeinde? Wer braucht/will einen Besuch von wem? Welche Erwartungen sind im Raum? Wie müssen Menschen ausgebildet, begleitet sein, die sich diesen Erwartungen stellen? 5. Fazit und Ausblick 5.1. Fazit Anderen ohne Vorbehalte auseinandersetzt, und ich wollte präsent sein. Das bedeutet auch, mit den Ratsuchenden hineinzugehen in den großen Schmerz des Vergessens, heißt auch, zu keiner Vertröstung zu greifen, sondern diesen Verlust an mich herankommen zu lassen, ohne darin zu versinken. Zusätzlich will ich als seelsorgerlich Handelnde eine Horizonterwei terung in den Blick nehmen. Kann ich eine Hoffnung vermitteln, welche Einsicht kann ich verstärken, welche Perspektiven nehme ich auf? Ich sehe meine seelsorgerliche Aufgabe darin, Gehörtes in einen größeren Zusammenhang des Verstehens zu stellen und in großer Achtsamkeit die individuelle Problematik zu interpretieren und zu respektieren. Durch die Ausbildung, Selbsterfahrung und Selbstreflexion wurde mir eine Haltung der Echtheit, Akzeptanz und Empathie143 zur Überzeugung in der seelsorgerlichen Gesprächsführung selbstverständlich. In der breiten Öffentlichkeit wollte ich durch meine Haltung überzeugen, auf Lebenswegen ein Stück mit zu gehen und sich mit christlicher Zuversicht von Fragen, Ängsten und Hoffnungen bewegen zu lassen und sie – wo es geht – zu teilen. Ich wollte aufmerksam sein, weil es im großen Feld der Verluste bei einer Demenzerkrankung trotzdem Fundstücke geben könnte, die Leben sinnvoll sein lassen können. Die Auseinandersetzung mit dem „Abschied zu Lebzeiten“ hat auch meine persönlichen Einstellungen zum Leben und Sterben sehr beeinflusst. Meine Chance war die Doppelqualifikation als Diakonin. Ich bin befähigt, berufen, beauftragt, verantwortlich seelsorgerlich zu reden und zu handeln. Aus sozialpädagogischer Sicht oder (nur) aus meiner eigenen Überzeugung seelsorgerlich zu arbeiten – ist es eine Freiwilligkeit, auch unter Umständen eine Überforderung, während ich mir als Diakonin in jeder Situation meiner Berufung und Verpflichtung sicher sein darf. Alle Projektziele auf den drei Handlungsebenen sind erreicht worden. Das Thema Demenz wurde in vielen Gruppierungen der Kirchengemeinden aufgenommen. Menschen, die durch die Erkrankung Demenz betroffen sind, finden zu ProjektDEMENZ Ulm. Engagierte werden bei Gemeindeaktivitäten zum Thema Demenz begleitet. 5.2. Persönliche Schlussbemerkungen Aus der Perspektive der Diakonin sei festgehalten: Die Projektarbeit hat große Freude gemacht, ich gehe sehr reich beschenkt mit diesen Erfahrungen in die Altersteilzeit. Ich habe mich in meinen verschiedenen Arbeitsfeldern verstanden als Beraterin, die sich mit der Not des 5.3Ausblick Die wichtige Frage ist, nicht nur bei Demenz: was bleibt? Wo liegen hier zukünftige Aufgaben für eine Kirche mit ihrem Schatz der Seelsorge? Weitere strukturelle Fragen, z.B. in wie weit sich Kirche den Herausforderungen stellt, die durch den demografischen Wandel entstehen, bleiben offen. Fachlich kompetente Arbeit kostet Geld und kann langfristig nicht befriedigend ausschließlich durch das Ehrenamt abgedeckt werden! Eine Möglichkeit der inhaltlichen Weiterentwicklung sehe ich zum Thema Scham im Kontext von Krankheit, Versagen und Generationenfragen (Kriegstraumen). Angeregt und sensibilisiert durch Gespräche im Gesprächscafé Alter und Demenz „Er kleckert sich immer voll, Scham und Peinlichkeiten im Alltag“ vertiefte ich mich in das 143 Vgl. zu dieser Haltung Rogers 1985. Herausforderung Demenz in Kirchengemeinden Thema Scham. Es gibt verschiedene Forschungen144 die enge Zusammenhänge zwischen Schamgefühlen und Erkrankungen aufzeigen. Sie erkannten, wie sehr die Generation der im Krieg geborenen und im Krieg gewesenen Menschen von Schamgefühlen erfüllt und geprägt war. Die Stadt Ulm und ProjektDEMENZ Ulm planen mit weiteren Partnern einen Fachkongress zum Themengebiet Kriegstraumen/Scham im Herbst 2013. 93 Anhang: Eine typische Projektsituation: Gesprächscafé Alter und Demenz Hilflosigkeit, Angst, Wut und Resignation sind Kennzeichen der Situation von Angehörigen, die Menschen mit Demenz betreuen bzw. pflegen. Dies wird deutlich aus Aussagen von Teilnehmenden der Gesprächscafes: 146 In unserem Projektantrag an den OKR haben wir im Jahr 2008 formuliert: T1: „Und manchmal weiß ich wirklich nicht, hält er mich zum Narren, oder ist er wirklich krank!“ „Wir sind aufgrund der gemachten Erfahrungen in Ulm der Überzeugung, dass wissenschaftsgestützte gemeindenahe Projektumsetzungen verbunden mit Zukunftsthemen, hier exemplarisch Thema „Demenz“, für die Weiterentwicklung des Berufsbildes von Diakoninnen und Diakonen wesentlich werden.“145 Mit dieser Aussage beginnen häufig Beratungsgespräche bei ProjektDEMENZ Ulm. Das persönliche Gespräch, die Möglichkeit zur mehrmaligen Beratung und Begleitung sind bedeutende Grundpfeiler der Arbeit. Immer wichtiger wird jedoch zusätzlich die Teilnahme von betreuenden und pflegenden Angehörigen an einem Gesprächscafé Alter und Demenz. Hier, im moderierten Gruppengespräch mit einem Themenimpuls, erfahren Angehörige durch gegenseitiges Bestärken und im Austausch ihrer Erfahrungen viel Unterstützung und Zuspruch. Die Gesprächscafés sind offen, das bedeutet für mich eine ständig wechselnde Gruppenzusammensetzung, immer wieder neue und auch wiederkehrende Fragen, die es aufzunehmen gilt, um sie dann wieder in die Runde zu geben. Der Themenkomplex der (biografischen) Scham, der Beschämung und der Erhalt oder die Wiedererlangung von Würde wird u.E. die künftige diakonische Arbeit und die Fort- und Weiterbildung im Diakonat und seinen Arbeitsfeldern nachhaltig beeinflussen. T2: „Ja, in einem Moment weiß meine kranke Mutter ihren Namen nicht, und kurz darauf sagt sie zu mir: ’Du brauchst mir nicht zu sagen, wie ich heiße, das weiß ich schon’!“ T3: „Bei mir ist es so, dass ich dann genervt bin und laut und ungeduldig werde.“ Der Salatkopf in der Schublade, die Socke im Geschirrspüler, die Sonnenblume verkehrt in der Vase, Anzeichen einer Demenzerkrankung! Hier hilft erfahrungsgemäß eine Information und Aufklärung über die Auswirkungen einer Demenzerkrankung im Alltag. Manchmal sprechen sich Teilnehmende im Gesprächscafé Alter und Demenz selbst auf den nötigen inneren Abstand an, tauschen sich über die unerlässlichen Unterstützungsangebote aus und entlasten sich gegenseitig von Perfektionismus. T4: „Mir geht es oft auch so, da hilft bloß, dass ich einmal in der Woche durch die Nachbarschaftshilfe weg kann, dann renne ich durch den Wald, das entlastet mich.“ „Ich kann hier zum ersten mal mit einem Miterkrankten selbst reden“ sagt ein demenzerkrankter Mann im Gesprächskreis für Menschen mit beginnender Demenz. ProjektDEMENZ Ulm unterstützt Demenzerkrankte, ihre Angehörige und macht Kirchengemeinden sensibel für das Miteinander, wenn Menschen vergessen! T5: „Wenn ich humorvoll auf die Rüge reagiere, dann lacht meine Mutter mit, und sie vergisst ihren Vorwurf an mich.“ Es sind schwere Wege, die Angehörige von verwirrten Menschen gehen. Der durch die Demenzerkrankung nötige Rollenwechsel, jetzt als Tochter für und oft über die Mutter bestimmen zu müssen, ist seelisch belastend. Auch die Hilfsbedürftigkeit und der Verlust der Selbstständigkeit sind in der Beziehung, die manchmal noch von der Familiendynamik der früheren Jahre geprägt ist, Themen, die der Auseinandersetzung und Begleitung bedürfen. 144 145 Vgl. Saum-Aldehoff 2011, S. 52-53. Projektantrag 146 Alle hier aufgeführten Zitate sind gesammelte Mitschriften aus den Gesprächscafés. 94 Ulm T6: „Es ist gut, wenn ich von anderen höre, dass die Betreuung Demenzerkrankter an die Grenzen der Belastbarkeit geht, das erleichtert mich.“ Saum-Aldehoff, T. (2011): Die Wunden des Krieges, in: Psychologie heute. 20, S. 52-54. Stadt Ulm (Hrsg.) (2010): Seniorenbericht. Verfügbar unter: Angehörige nehmen Impulse von Betroffenen besser an, als von Fachleuten, das ist die große Chance im Gesprächscafé Alter und Demenz. Gesprächscafé-Teilnehmende formulieren immer wieder, wie schwer es ist, das erste Mal zum Gespräch zu kommen. Doch sehr rasch erfahren sie Entlastung und Unterstützung in ihrer Situation der Angst, Hilflosigkeit und Resignation durch den Austausch miteinander. Die Arbeitshilfe „Gesprächscafé Alter und Demenz“, ein Ulmer Modell zur Nachahmung, ist bei ProjektDEMENZ Ulm abrufbar. Literaturverzeichnis Benedict, H.-J. (2008): Klagen, Hoffen, Zagen, Danken. Die religiöse Dimension in der professionellen Begegnungsarbeit des Diakons, in: Merz, R./Schindler, U./Schmidt, H. (Hrsg.): Dienst und Profession, Heidelberg, S. 134-139. Coenen-Marx, C. (2011): Engagement und Spiritualität. DiakonInnen und Diakone in der Kirche der Zukunft, in: Der Geist wirkt in den Fugen (Impuls 2011, H. 4), Berlin, S. 19-31. Diakonische Bezirksstellen Ulm/Alb-Donau (Hrsg.) (2001): Qualitätsmanagement-Handbuch. Leitbild. Langehennig, M. (2006): Das „soziale Frühstadium“ der Alzheimer Krankheit als kritische Wegstrecke der Krankheitsbewältigung, in: Aldebert, H. (Hrsg.): Demenz verändert. Hintergründe erfassen, Deutungen finden, Leben gestalten, Schenefeld, Bz. Hamburg, S. 21-52. Perneczky, R./Danek, A./Förstl, H. (2006): Frühdiagnostik der Demenz. Alzheimer – Krankheit und Demenz, in: Aldebert, H. (Hrsg.): Demenz verändert. Hintergründe erfassen, Deutungen finden, Leben gestalten, Schenefeld, Bz. Hamburg, S. 53-62. Prantl, H. (2010): Was Kirche war, ist – und sein kann. Verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/oekumene-was-kirchewar-ist-und-sein-kann-1.941173 (01.03.2012). ProjektDEMENZ Ulm (2005): Zwischenbericht, Ulm. Rogers, C. R. (1985): Entwicklung der Persönlichkeit, Stuttgart. Rohra, H. (2011): Aus dem Schatten treten – Warum ich mich für unsere Rechte als Demenzbetroffene einsetze, Frankfurt am Main. http://www.ulm.de/sixcms/media.php/29/Ulmer%20Seniorenbericht.pdf (21.12.2012). 95 Sozialdiakonie und Seelsorge am Krankenbett Bericht 8: Altensteig Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege Gerd Gauß Projektort: Altensteig Projektträger: Evangelischer Kirchenbezirk Nagold/ Evangelische Kirchengemeinde Altensteig/ Diakoniestation Altensteig Projektstelleninhaber: Diakon Gerd Gauß 96 Altensteig Die Wahrnehmung des diakonisch-missionarischen Auftrages der Kirche wurde fixiert durch die normative Zielvorgabe: „Die Diakoniestation verfügt über ein starkes diakonisches Profil, das von den haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden gelebt, von den Patienten und ihren Angehörigen erlebt und in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.“ Mit dieser normativen Zielvorgabe zählte das Teilprojekt zu den „zielgruppenorientierten Teilprojekten“, wobei vier Zielgruppen in den Blick genommen wurden: 1. Einleitung: Projektbeschreibung und Gesamtschau die MitarbeiterInnen in der Diakoniestation ehrenamtliche MitarbeiterInnen für die ambulante Hospizarbeit die PatientInnen der Diakoniestation und ggf. deren Angehörige die Öffentlichkeit im Einzugsgebiet der Diakoniestation Altensteig In unserer Gesellschaft werden Menschen immer älter. Der „demographische Wandel“ ist in aller Munde. Die daraus resultierenden Herausforderungen sind vielschichtig und vielfältig. Zu einer der ganz großen Herausforderungen in diesem Zusammenhang gehört die Versorgung alter Menschen. Umfragen bestätigen, dass fast alle nicht im Krankenhaus oder Heim, sondern – wenn schon – in den eigenen Wänden sterben wollen. Letztendlich geht dieser Wunsch jedoch nur für rund ein Drittel in Erfüllung. Umso stärker spürt man die Bemühungen, das Leben in den eigenen vier Wänden wenigstens möglichst lange hinauszuschieben. Dazu bedarf es gut aufgestellter Nachbarschaftshilfen und ambulanter Pflegedienste, die ihre Profile und Kompetenzen durch die Weiterentwicklung von Leitbildern immer weiter entwickeln und weiter verbessern. Die Trägerschaft für die Projektstelle liegt beim Evangelischen Kirchenbezirk Nagold. Die durchführende Stelle ist die Diakoniestation Altensteig, deren Trägerin die Evangelische Kirchengemeinde Altensteig ist. Bei dem Teilprojekt handelt es sich um eine Anstellung mit 25 % Stellenanteilen. Diese Stelle wurde am 1. September 2008 mit Diakon Gerd Gauß, besetzt. Von diesem Hintergrund her bewarb sich die Diakoniestation Altensteig im Rahmen des landeskirchlichen Projekts „Diakonat – neu gedacht, neu gelebt“ um ein Teilprojekt mit dem Titel „Sozialdiakonie & Seelsorge am Krankenbett“. Teilziele des Teilprojekts waren und sind die Stärkung des christlichen Profils der Diakoniestation in der häuslichen Pflege durch die (1) Weiterentwicklung der geistlichen Kompetenzen der Mitarbeitenden Die Schulung und Begleitung der MitarbeiterInnen zeigte im Verlauf des Projekts sehr deutlich, dass hier ein großer Bedarf gegeben ist. Die Ergebnisse aus unserem Teilprojekt zeigen, dass bei MitarbeiterInnen in kirchlichen bzw. diakonischen Einrichtungen der Wunsch nach fachlicher, spiritueller und seelsorgerlicher Förderung stark vorhanden ist. Es zeigte sich aber auch, dass der Bedarf aus der Praxis des Alltags erwächst und daher auch ganz praxisnah und alltagstauglich sein muss. Theorie ist dann hilfreich und wird als solche angenommen, wenn sie sich mit den Erfahrungen im Beruf deckt – oder zumindest berührt – und diesen eine neue Perspektive gibt. Andachtsimpulse und Fortbildungseinheiten müssen mit konkreten Fallbesprechungen in Dialog treten. Nur dann können Glaube und Handeln eine Einheit bilden und sich gegenseitig bereichern zu „geerdetem Glauben“ und „Handeln mit weitem Horizont“. sowie durch den (2) Aufbau eines sozialdiakonisch-seelsorgerlichen Beratungsdienstes für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Während des Projektverlaufs wurde dieses zweite Anliegen erweitert und konkretisiert um den (3) Aufbau eines ambulanten Hospizdienstes für das Einzugsgebiet der Diakoniestation. Als weitere Aufgabe war die (4) Mitgestaltung in der Öffentlichkeitsarbeit vorgesehen, durch die die Diakoniestation in der Öffentlichkeit als kirchliche Anlaufstation für Nöte im Kontext von Krankheit, Pflege, Sterben und Tod wahrgenommen wird. Um es gleich vorweg zu sagen: Nicht alle Erwartungen und Wünsche erfüllten sich in unserem Teilprojekt. Es kam zu Enttäuschungen und dadurch zur Umstrukturierung und Neuausrichtung der Ziele. Die Projekterfahrungen waren trotzdem – oder gerade deshalb – sehr interessant und aufschlussreich. Folgendes soll zusammenfassend schon vorweg gesagt und festgehalten werden: Beim Auf- und Ausbau des sozialdiakonisch-seelsorgerlichen Beratungsdienstes waren die Enttäuschungen am stärksten. Die Erfahrungen zeigten, dass die meisten Patienten und ihre Angehörigen möglichst wenige und verlässliche Bezugspersonen wünschen. Das Angewiesensein auf Hilfe bringt für den Hilfsbedürftigen und seine Angehörigen viele Veränderungen und Turbulenzen mit sich. Es zeigte sich daher, dass die Fixierung auf eine Person erfolgt, von der man eine ganzheitliche Unterstützung und Begleitung wünscht. Die Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege „nachgehend-seelsorgerlichen“ Dienste durch den Projektstelleninhaber wurden daher nur zögerlich nachgefragt und angenommen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, die MitarbeiterInnen über die reine Pflege hinaus für eine ganzheitliche Begleitung ihrer Patienten zu gewinnen. Als Anregung sei hier nur die Frage gestellt, wie wir als Kirche Seelsorge verstehen und umsetzen. Ist uns hier durch die zunehmenden Erkenntnisse der Psychologie und die daraus resultierende Spezialisierung der Seelsorge die Alltagsbezogenheit verloren gegangen? Die MitarbeiterInnen in Diakoniestationen sind als „hörende Ohren“ und „sehende Augen“ und mit „weitem Herz“ ganz nah bei den Menschen. Sie sind der „verlängerte Arm“ der Kirche. Als solcher wollen sie aber auch befähigt, geschult, beauftragt und begleitet sein. Hier gibt es durchaus Entwicklungspotenzial. Der Aufbau des ambulanten Hospizdienstes und die Mitgestaltung der „Altensteiger Diakonietage“ als Baustein der Öffentlichkeitsarbeit zeigten deutlich, wie präsent und herausfordernd die Fragen in Bezug auf Krankheit, Sterben, Tod und Jenseits sind. Die beiden „Altensteiger Diakonietage“ 2010 und 2012 stießen mit ihren Vorträgen, Podiumsdiskussionen, kulturellen Abenden und den Gottesdiensten jeweils auf starkes Interesse. Hier wird die Diakonie durch ihre Praxiserfahrung sehr ernst genommen und gehört. Es bestehen vielfältige Möglichkeiten, mit Menschen über ihr Leben, ihre Ängste und Sorgen, aber auch über ihre Hoffnungen und ihren Glauben ins Gespräch zu kommen. Die gemachten Erfahrungen können als Anregungen genutzt und multipliziert werden. 2. Vertiefte Evaluation: Zielvorgaben, methodisches Vorgehen, Beobachtungen und Erkenntnisse Das Teilprojekt „Sozialdiakonie und Seelsorge am Krankenbett“ hatte ursprünglich vor allem zwei strategische Ziele im Blick, nämlich die (1) Schulung, Begleitung und Unterstützung der MitarbeiterInnen in seelsorgerlichen Fragen und Belangen und die (2) weiterführende bzw. nachgehende Seelsorge, Beratung und Hilfevermittlung für Patienten und deren Angehörigen bei lebensgeschichtlichen und sozialen Fragen und Problemen. Weil dieses zweite Anliegen zu Beginn des Projekts weniger als gedacht an- und abgefragt wurde, kam es zu einer Erweiterung des Auftrags mit dem Ziel der (3) Findung, Schulung und Einführung von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen für ambulante Hospizdienste und damit verbunden der Aufbau einer ambulanten Hospizgruppe 97 Darüber hinaus wurde als weitere Zielvorgabe der Wunsch geäußert, im Rahmen der Möglichkeiten im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit mitzuwirken: (4) Die Diakoniestation wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen als kirchliche Anlaufstelle für Nöte im Kontext von Krankheit, Pflege, Sterben und Tod. Der Diakon wirkt bei dieser Aufgabe mit. In der vertieften Evaluation soll es vorwiegend darum gehen, die ersten beiden Ziele und ihre Umsetzung zu beleuchten. Außerdem soll dabei vor allem dem Grund für die nur bedingt nachgefragte „weiterführende Seelsorge, Beratung und Hilfsvermittlung“ nachgespürt und mögliche Gründe dafür offen gelegt werden. Zu diesem Zweck wurde mit fünf MitarbeiterInnen der Diakoniestation eine Gruppendiskussion durchgeführt. Sie fand am 01.12.2011 in der Diakoniestation Altensteig statt und dauerte rund eineinhalb Stunden. Nach Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr147 dient die Erhebung einer Gruppendiskussion der Generierung von Hypothesen, Annahmen und Ideen. Gegenstand der Untersuchung sind Meinungen und Einstellungen, wie sie während der Diskussion – mehr oder weniger – wörtlich genannt werden. Die TeilnehmerInnen einer Diskussionsrunde werden als Repräsentanten von makrosozialen Einheiten verstanden, also in unserem Falle stellvertretend für alle MitarbeiterInnen im Bereich der Pflege. Der Gegenstand der Gruppendiskussionen sind kollektive Orientierungen, Wissensbestände und Werthaltungen. Diese entstehen nicht erst im Diskurs, sondern werden durch diesen repräsentiert. Den Zugang zu ihnen ermöglicht die Analyse selbständiger Passagen in der Gruppendiskussion. Das Gruppendiskussionsverfahren eignet sich aufgrund des Gesagten neben anderen Forschungsbereichen gut zur Organisationsforschung und zur Organisationsberatung. Wir haben uns daher methodisch für dieses Vorgehen entschieden. Die Gruppendiskussion wurde unter Zuhilfenahme der dokumentarischen Methode148 gesichtet, interpretiert und ausgewertet. Beteiligt waren dabei die Hauptverantwortlichen für das Gesamtprojekt, die zugleich erfahrene Fachkräfte im Bereich der Evaluation darstellen, sowie weitere Diakoninnen und Diakone, die zum Teilprojekt keinen Bezug haben, aber in ähnlichen Kontexten Arbeitserfahrungen haben. Daran anschließend will ich wenigstens kurz die stattgefundenen Entwicklungen im Bereich der Teilziele „Ambulanter Hospizdienst“ und „Altensteiger Diakonietage“ darstellen. Dabei beziehe ich mich vor allem auf Mitschriebe und Feldnotizen aus dem Arbeitsalltag. 147 Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009, S.101ff. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009, S. 271ff. 148 98 Altensteig 2.1.Die Schulung und Begleitung der MitarbeiterInnen in der Diakoniestation Um ein gegenseitiges Kennenlernen und Verstehen zwischen dem Projektstelleninhaber und den MitarbeiterInnen der Diakoniestation anzubahnen und die MitarbeiterInnen zu begleiten und zu schulen, habe ich in Absprache mit der Pflegedienstleitung damit begonnen, bei Dienstbesprechungen das Thema Diakonie „neu durchzubuchstabieren“. Zu Beginn der Dienstbesprechungen sammelten wir in einem Andachtsimpuls jeweils zu einem Buchstaben im Alphabet eine ganze Anzahl von Begriffen, die das Pflegepersonal mit ihrer Arbeit verbindet. Im Anschluss entfaltete ich immer einen Begriff mit dem passenden Buchstaben, um die MitarbeiterInnen für ein ganzheitlichdiakonisches Verständnis zu sensibilisieren.149 Die Intension war, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Diakoniestation das Verhältnis und Wechselspiel von „Pflege und Spiritualität“ zu beleuchten. keiten und ein Unwohlsein, ohne sie konkret fassen und darauf in angemessener Weise reagieren zu können. Ich hatte den Eindruck, als spräche ich an ihnen vorbei, und als ob ich ihre Lebenswelt nicht mehr erreichte. Die Gruppendiskussion der MitarbeiterInnen sprach die Wahrnehmung des Problems ebenfalls an und legte es offen152: M3: „Muss ich sagen. Das war mir viel zu, viel zu theoretisch und zu, dass ich gar nicht mehr wusste, von was redet er jetzt eigentlich. Muss ich, also, so manche Dinge. (3) Wo man, also für mich wär oft viel besser gewesen, man hätte anhand von einem Patienten oder von einem Problem, oder von irgendwas dann mal das von M2: „ …Was geschwind thematisiert, oder sowas …“ M3: „… Ja, von der christlichen Seite her jetzt beleuchtet. Oder wie kann ich darauf eingehen, oder so halt einfach.“ M4: „Ein so genanntes Fallbeispiel.“ M2: „Ein Fallbeispiel.“ (lacht) M3: „Zum Beispiel. Ja, was uns halt einfach auf der Seele liegt. Wo wir einfach an die Grenzen kommen am Bett. Was sag‘ ich jetzt da noch dazu wenn er sagt „Wie geht es nachher weiter?“ oder ja, einfach solche Dinge. Einfach praktische Dinge.“ Bei der Gruppendiskussion haben sich die ausgewählten MitarbeiterInnen (M) rückblickend wie folgt zu den anfänglichen Andachtsimpulsen geäußert150: M1: „Also gut fand ich da dieses ‚ABC‘, was wir gemacht haben am Anfang.“ M2: „mhm. Stimmt sowas, ja.“ M1: „Also da war so, also das ABC durchgegangen und immer halt jetzt da ein Thema draus gemacht. Also ‚A‘ oder ‚B‘ – ‚Barmherzigkeit‘ oder sowas halt, das für uns gepasst hat. Also da denk ich gern zurück. Also das hat mir was gebracht. Weil das waren dann so Schlagwörter, die für uns auch einfach Alltag sind. … Das fand ich gut. …Da hat man wirklich sehr viel auch lernen können.“ Durch die Äußerungen kann man schließen, dass die Impulse offen und dankbar angenommen wurden. Die MitarbeiterInnen sind dankbar, wenn sie geistliche Impulse für ihren Berufsalltag in der Pflege bekommen. Christel Ludewig hat dies in einer Publikation zur Spiritualität in der Pflege folgendermaßen ausgedrückt: „Auch die Pflegenden haben Bedürfnisse, die über die bloßen Verrichtungen hinausgehen wie Prophylaxe, Ernährung, Betten, Pflegeplanung, Dokumentation. Pflegende wollen sich wie die Gepflegten als ganze Menschen begegnen, die sich auch im Gegenüber entdecken.“151 Wichtig dabei ist jedoch, dass es Impulse sind, die sich mit den Erfahrungen im Alltag auch wirklich in Beziehung setzen lassen. Der kurze aber prägnante Abschnitt zeigt meines Erachtens gut, dass die MitarbeiterInnen ähnlich empfanden, und was sie in dieser Phase gebraucht hätten. Nach dem ersten Sensibilisieren für eine ganzheitliche Pflege unter Einbeziehung der spirituellen Dimension hätte es nun konkrete Fallbesprechungen gebraucht. Theorie und Praxis hätten mehr ineinander greifen müssen. Hier vernehme und deute ich einen großen Bedarf, der deutlich wird an der vielleicht existenziellsten Frage „Wie geht es nachher – nach Alter, Krankheit, Sterben und Tod – weiter?“. MitarbeiterInnen in diakonischen Pflegeeinrichtungen werden mit dieser und ähnlichen Fragen tagtäglich konfrontiert und möchten für eine aufrichtige Begegnung und eine ehrliche Beantwortung dieser Fragen Hilfestellungen. Wie diese Verzahnung von Theorie und Praxis aussehen kann, wird in einem weiteren Abschnitt angesprochen153: M1: „…Und was mir dann halt auch leid getan hat, wie Du vorhin auch gesagt hast, wenn wir dann zu den Patienten kamen oder wenn dann unser Programm ablief, dann hat es geheißen „Jetzt kommen wir zu den Patienten, aber jetzt redet ihr mal schnell“. Und das fand ich dann halt eben schade, weil um unsere Patienten geht es ja eigentlich.“ M4: „Um die Probleme. … genau.“ M1: „Und wenn wir dann Probleme hatten, und wollten vielleicht mal ein Fallbeispiel machen, und wollten von jemand mal länger erzählen, dann war halt keine Zeit mehr da und das war das Frustige daran, dass man einfach die Zeit wahrscheinlich, war falsch eingeteilt. Und das hat mir immer ein bisschen zu schaffen gemacht. Da ging es mir dann, da denk ich nur so… Ja.“ M2: „Ja, da denkst Du eine halbe Stunde nur so sage ich jetzt mal als Andacht aber wo Du vielleicht bei der Patientenbesprechung Leider haben der Pflegedienstleiter und ich es rückblickend versäumt, nach dieser ersten positiven Phase die Andachtsimpulse umzustellen. Im Anschluss an das „Durchbuchstabieren der Diakonie“ brachte ich weiterhin zu Beginn der Dienstbesprechungen Andachtsimpulse mit und stellt sie als Einstiege zum Austausch vorneweg. Neben allem positiven Miteinander spürte ich je länger je mehr Unstimmig149 Bei der Entfaltung der jeweiligen Begriffe habe ich mich weitestgehend an das Buch von Christel Ludewig „Pflege und Spiritualität – Ein ABC mit Texten, Ritualen und kleinen Übungen“ gehalten. 150 Gruppendiskussion (Zeile 831ff) 151 Ludewig, 2008, S.7 152 Gruppendiskussion (Zeile 792 ff) Gruppendiskussion (Zeile 842 ff) 153 Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege oder so da lieber dranhängen würdest.“ M1: „Ja, das hat mir so ein bisschen leid getan.“ M2: „Wo Du ja auch mitreinnehmen können hättest, wo es da Probleme gibt, gell.“ Der Abschnitt lässt sich interpretieren als Hinweis auf eine große Einsatzbereitschaft für die Arbeit und eine hohe Identifikationsfähigkeit für die anvertrauten Patienten. So deute ich zumindest den Satz „um unsere Patienten geht es ja“. Diese ihre konkreten Patienten möchten die MitarbeiterInnen zum Thema machen, um konkret Hilfestellungen geben zu können. Und das Nachdenken um konkrete Hilfe ist dann möglich, wenn man die Impulse in die Patientenbesprechungen mit hineinnimmt oder an den Schluss der Dienstbesprechungen stellt. Die Konsequenz aus der Gruppendiskussion war, diese Umstellung vorzunehmen. Schade war, dass wir das Problem nicht schon vorher erkannt und darauf reagiert haben. Die Umstellung brachte einen zusätzlichen Arbeitsaufwand für mich, weil ich nun von Beginn bis Ende der Dienstbesprechungen mit dabei war. Der Vorteil war und ist, dass ich seither viel näher am Arbeitsalltag und den damit zusammenhängenden Fragen und Problemen dran bin als vorher. Über die im Rahmen der Dienstbesprechungen stattgefundenen Impulse und Fallbesprechungen hinaus war der Diakon für hausinterne Fortbildungen eingeteilt, die neben den sonst stattfindenden pflegerischen Fortbildungen diakonisch-seelsorgerliche Themen zum Schwerpunkt hatten. Sie wurden von jeweils rund 20 Teilnehmenden wahrgenommen. 2.2.Die „nachgehend-seelsorgerlichen Dienste“ Nach den ersten Wochen und Monaten in unserem Teilprojekt waren wir etwas verwundert und enttäuscht, dass die Nachfrage an sozialdiakonischer Beratung und seelsorgerlicher Begleitung gar nicht so stark nachgefragt wurde, als das erwartet war. Und damit stand die Frage im Raum, was der Grund dafür war. In einem Abschnitt der Gruppendiskussion machen die MitarbeiterInnen Äußerungen, aus denen man mögliche Gründe ableiten kann154: M3: „Also ich habe am Anfang gedacht, oh cool, toll, da kommt jemand, der das macht, was ich vielleicht nicht so richtig kann. So, also wo ich an meine Grenzen gekommen bin, so mit Gesprächen führen oder mit, ja, einfach schlimmen Sachen oder wenn jemand Bedarf hat oder ja und habe auch glaube ich auch den Diakon zu ein paar geschickt, aber muss dann einfach auch feststellen, dass es glaub, weiß nicht, dass wir doch näher dran sind, dass da keine, dass da keine Beziehung zu Stande kommen ist und dass da keine, ich weiß es nicht, also ich habe jetzt nicht wirklich das was ich gedacht habe, was da jetzt vielleicht (?) nicht empfinden können, dass die Patienten da wirklich was mitgenommen haben oder es war, weiß ich auch nicht …“ 154 Gruppendiskussion (Zeile 683ff) 99 M2: „… ich glaube schon allein, also wenn ich jemand frage, möchten Sie gerne mit jemandem da drüber reden oder irgendwie, aber wir kommen halt doch jeden Tag irgendwo hin und irgendwie während dem Waschen oder was weiß ich oder so hast doch einmal das ein oder andere, also ich glaube mir würde es jetzt auch schwer fallen, wenn jetzt jemand kommt, ja jetzt, was gibt es für Probleme oder weiß ich jetzt nicht, wie das genau, aber ich weiß auch nicht. Ich denke du baust halt doch eine Beziehung auf, in dem du da hin gehst und…“ M4: „Also bei mir war es auch so, dass, dass ich eigentlich gedacht habe, au ja toll. Viele sind jetzt sowieso viel alleine und dann kann man vielleicht den Diakon noch als zusätzlicher Ansprechpartner, aber es war ganz komisch, ich konnte, ich glaube ich habe ihn einmal bei jemandem gehabt, bei mir war es immer so, dass die Patienten dann auch gesagt haben, ach nein, wir haben doch sie. Und, ach nein, nochmal jemand Fremdes (Zustimmung) und in so gewachsene Beziehungen rein dann nochmal jemand Fremdes, das war. Also ich glaube ich habe ihn einmal, wie gesagt, mitnehmen können, aber sonst bei, grad Patienten wo wir auch schon lange hinkommen. Der Mann hat auch gesagt: ‚Aber sie kenne ich doch schon‘. …“ M1: „ … und wenn die Patienten … dann was Geistliches wollten, war es wirklich der Gemeindepfarrer, den man dann geholt hat.“ Zu Beginn des Abschnitts kommt zum Ausdruck, was sich die MitarbeiterInnen und wir – das Leitungsteam der Diakoniestation und ich – uns ursprünglich erwartet haben: „Da kommt jemand, der das macht … wo ich an meine Grenzen komme“ – sprich: wo das Pflegepersonal an seine Grenzen kommt. Dort, wo „einfach schlimme Sachen sind“, dort, wo „jemand Bedarf hat“ und dort, wo zusätzliche „Gespräche zu führen sind“ über das alltägliche hinaus, da sollte ich eingesetzt werden. Und diese Besuche haben auch stattgefunden. Zum Teil haben die Besuche auch wiederholend stattgefunden, auch wenn das von den GesprächsgruppenteilnehmerInnen nicht wahrgenommen und daher verneint wurde. In mehreren Fällen kam es zu einem zweiten oder einem dritten Besuch oder sogar zu mehrfachen Besuchen. Trotzdem deckt der Abschnitt eine Tatsache auf, vor die wir gestellt waren: Die Patienten waren bei der Inanspruchnahme einer nachgehenden und weiterführenden Beratung und Seelsorge sehr zurückhaltend. Begleitung und Seelsorge – so hatten wir den Eindruck und so lässt es sich aus dem Gesprächsabschnitt schließen – findet an zwei Polen statt: Einerseits ganz niederschwellig durch die Gespräche und den Austausch mit dem Pflegepersonal selbst, oder aber ganz offiziell mit der verfassten Amtsperson der Kirche – und das ist für die meisten dann doch der Geistliche, sprich der Pfarrer, vor Ort. Aufgrund der anfänglich zurückhaltenden Nachfrage der „nachgehenden seelsorgerlichen Dienste“ wurde der Dienstauftrag erweitert um den Aufbau einer ambulanten Hospizgruppe mit ehrenamtlichen MitarbeiterInnen. 100 Altensteig 2.3. Die Hospizschulungen und der Aufbau eines ambulanten Hospizdienstes 2.4. Die Mitwirkung in der Öffentlichkeitsarbeit und die Mitgestaltung der „Altensteiger Diakonietage“ Um dieses Ziel umzusetzen machten wir uns im Frühling 2009 an die Findung von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen für die ambulante Hospizarbeit. Gleichzeitig galt es, eine geeignete Anleitung für die Kursabende zu finden. Nach zwei durchgeführten Informations- und Austauschrunden im Juni und September 2009 konnten wir im Oktober mit einem Einführungskurs für die Hospizarbeit beginnen. Meine Mitwirkung im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit umfasste die Mitgestaltung von Patientennachmittagen und von Gottesdiensten, bei denen sich die Diakoniestation in den umliegenden Gemeinden ihres Einzugsgebietes präsentierte. Ab Sommer 2010 informierte ein Flyer über das Angebot „Palliativpflege und Ambulante Hospizarbeit“. Die Schulung der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen bestand aus 10 Schulungsabenden und einer ganztägigen Exkursion in ein stationäres Hospiz in Oberharmersbach. Im Frühjahr 2010 begannen wir – versetzt zur ersten Kursgruppe – mit weiteren 10 TeilnehmerInnen eine zweite Schulungseinheit. Die Einsetzung und Verpflichtung der ehrenamtlichen HospizmitarbeiterInnen erfolgte im Rahmen von zwei Gottesdiensten in September 2010 in Altensteig und im Januar 2011 in Haiterbach. Bei den Diakoniefördervereins-Sitzungen in Altensteig, Simmersfeld und Haiterbach stellte ich das Diakonatsprojekt vor und referierte zum Thema „Hospizdienst & Sterbebegleitung“. Darüber hinaus war ich bei der Planung und Durchführungen der „2. Altensteiger Diakonietage“ (2010) und der „3. Altensteiger Diakonietage“ (2012) mit eingebunden. Die „2. Altensteiger Diakonietage“ standen unter der Überschrift „Im Blickpunkt: Palliativ-Versorgung – Mitten im Sterben vom Leben umfangen …“ und entfalteten das Thema „Umgang mit Sterben und Tod in unserer Gesellschaft – Einblicke, Anfragen, Chancen“ an 4 Abendveranstaltungen und im Rahmen eines Gottesdienstes am Sonntagvormittag. Die Veranstaltungen wurden mit jeweils zwischen 100 und 150 Besuchern sehr gut angenommen und die Rückmeldungen waren sehr positiv. Das Thema der „3. Altensteiger Diakonietage“ lautete „Im Blickpunkt: Ernstfall Pflege – Wer wird uns pflegen in einer Gesellschaft des langen Lebens?“. Wiederum 4 Abendveranstaltungen und ein Gottesdienst bildeten den Rahmen. Wiederum lagen die Besucherzahlen bei den einzelnen Veranstaltungen über 100 Personen und waren somit sehr zufriedenstellend. Zwischenzeitlich waren wir in 16 Sterbefällen durch Besuche, Sitzwachen und Begleitung der Angehörigen involviert (Stand Juli 2012). Hinzu kommt eine ganze Anzahl von Besuchsdiensten in den drei Seniorenzentren unserer Region, die vor allem von unseren „Ruheständlern“ gemacht werden. Die Koordination der Dienste und die anschließende Aufarbeitung der gemachten Eindrücke und Erfahrungen geschieht durch Einzel- und Gruppengespräche der jeweils Beteiligten und durch „Hospizdienst-Treffen“ mit der Gesamtgruppe, die in der Regel sechswöchentlich stattfindet. Das Matthäusevangelium zählt 6 Werke der Barmherzigkeit auf, die Jesus in seiner Endzeitrede angesprochen hat (Matth. 25,31-46): Hungernde speisen, Dürstende tränken, Fremde/Gäste beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke besuchen und Gefangene begleiten und loskaufen. Die Auflistung wurde in der frühen Christenheit um ein weiteres 7. Werk der Barmherzigkeit ergänzt: Sterbende begleiten und Tote begraben. Wir haben mit den bisherigen Diakonietagen so gute Erfahrungen gemacht, dass sie durchaus auch als Modell genommen werden können für andere Diakoniestationen. Mit dem Aufbau und der Gründung eines „Ambulanten Hospizdienstes“ unter dem Dach der Altensteiger Diakoniestation wollten wir dieses 7. Werk der Barmherzigkeit hier vor Ort in die Praxis umsetzen. Grundsätzlich hat sich die moderne Hospizbewegung stark verselbständigt und säkularisiert. Hartmut Maier-Gerber schreibt in seinem Buch „Sterben – der Höhepunkt des Lebens“: „Das Thema Sterben und Tod wird in den letzten Jahren in zunehmendem Maße öffentlich diskutiert. Dabei fällt auf, dass dies mehr in der säkularen Publizistik als im christlichen Raume der Fall ist.“155 Was für die Buchveröffentlichungen gilt, scheint mir ein Hinweis auf den Stand der Hospizarbeit im Gesamten zu sein. In einem ersten und oberflächlichen Rückblick auf unser Teilprojekt ist zu sagen: Nicht alle unsere Erwartungen und Wünsche wurden im Rahmen des Teilprojekts erfüllt. Manches wurde anders und besser erwartet. Enttäuschungen und Unzufriedenheit blieben nicht aus – von Seiten der Leitung der Diakoniestation als auch von Seiten des Diakons der Projektstelle. Vor allem im Bereich der „nachgehendseelsorgerlichen Dienste“ lief vieles anders als erwartet. Aber auch bei der Schulung und Begleitung der MitarbeiterInnen blieben wir dem ersten Eindruck nach hinter den Erwartungen zurück. Erste Eindrücke sind zwar häufig richtig, bedürfen aber eines zweiten Blickes und einer Reflexion. Nur so kann man aus den Ersteindrücken auch Konsequenzen ziehen und Gewinn erzielen. Der Kirche ist in ihrer Geschichte mit der Sterbebegleitung eine ganz wichtige Aufgabe aus dem Blick geraten. Hier haben wir unerledigte Hausaufgaben, und ich sehe für diesen Bereich der Hospizarbeit wieder durchaus eine „diakonische Kernaufgabe“. 155 Maier-Gerber 2009, S. 11 3. Metareflexion: Aussichten und Anregungen Was aus dem Teilprojekt „Sozialdiakonie und Seelsorge am Krankenbett“ grundsätzlich festgehalten werden kann und muss: Durch die Dienste unserer Diakoniestationen landauf und landab erreichen wir unzählige Patienten und ihre Angehörige. Und wir erreichen sie in existenziell herausfordernden Lebenslagen. Die Pflegenden kommen Diakoniestation: Diakonische Profilierung in der Pflege ihren Patienten im wahrsten Sinne des Wortes „hautnah“ und lernen sie daher auch hautnah kennen. Eine Mitarbeiterin formulierte es so: „Durch die tägliche Beziehung weiß ich, wie er denkt und fühlt und sich verhält. Ich weiß, was er will und braucht. Ich weiß, wie er riecht, und ich sehe, wie er sich heute bewegt und kann dadurch erkennen, ob es ihm gut geht oder aber, ob er heute traurig ist.“ Wie kann diese Nähe auch für die geistlichen Anfragen und Bedürfnisse der Patienten fruchtbar gemacht werden? Hier braucht es Austausch und Schulung, Fallbesprechungen und Begleitung, Zuspruch und Rückendeckung, dass sich das Pflegepersonal auch Zeit dafür nehmen darf. In der Diakoniestation Altensteig wurde über den Förderverein ein Budget eingerichtet, aus dem solche Zusatzdienste verrechnet und bezahlt werden können. Die Pflege einer Diakoniestation wird nicht unbedingt besser sein als die eines anderen, säkularen Pflegedienstes. Wenn aber MitarbeiterInnen einer Diakoniestation nach der Hoffnung gefragt werden, die uns trägt, dann sollten sie darüber Auskunft geben können. Ich denke, unser Teilprojekt hat gezeigt, dass hier ein weites Feld an Aufgaben gegeben ist. Schön ist, dass sich durch die Wiederentdeckung der „Pflegediakone“ ja auch schon vieles tut. Trotzdem sehe ich hier weitere Möglichkeiten und weiteren Handlungsbedarf. 101 ben. Natürlich – und „Gott sei Dank“ – war das kein alltäglicher und damit typischer Tag in meinem Diakonen-Dasein. Und doch zeigt er meines Erachtens etwas ganz Typisches in dem Amt und Beruf des Diakons: Ich kann mir zwar bestimmte Aufgaben für den Tag vornehmen. Die Ereignisse des Tages und die Menschen vor Ort können diese Planungen aber kurzfristig komplett über den Haufen werfen. Eine wichtige Regel aus der Sterbebegleitung bringt es auf den Punkt: „Heiße Alles willkommen, weise Nichts zurück.“156 Entscheidend ist, wahrzunehmen und zu tun, was im jeweiligen „Augenblick“ wesentlich und geboten ist! Wie wichtig diese Flexibilität ist, zeigte sich am Fortgang der Begleitung: Herr K. verstarb bereits am Tag darauf. Es war ein Abschied, der viele Fragen offen ließ. Durch die Begleitung konnten manche aber doch auch noch geklärt werden … Literaturverzeichnis: Ludewig, C. (2008): Pflege und Spiritualität – Ein ABC mit Texten, Ritualen und kleinen Übungen, Gütersloh. Anhang: Erlebtes & Erfahrenes: Ein typisch-untypischer Tag im Leben eines Diakons Angefragt nach etwas ganz Typischem aus meinem Berufsalltag muss ich eigentlich antworten, dass das Typischste daran gerade das Untypische ist: Jeder Tag ist anders. Jeder Tag hat sein ganz eigenes Gepräge. Wenn, dann gleichen sich noch am ehesten die jeweiligen Wochentage, weil Vorbereitungszeiten, Besprechungen, Besuchszeiten und Gruppen & Kreise sich wöchentlich oder monatlich wiederholen. Immer wieder gilt es, die Anforderungen des jeweiligen Tages um die fixen Termine herum zu verteilen und unterzukriegen. Maier-Gerber, H. (2009): Sterben – der Höhepunkt des Lebens. Eine medizinisch-biblische Betrachtung, Holzgerlingen. Napiwotzky, A./Reimann, A. (2012): 25 Jahre Hospiz Stuttgart. Festschrift, Stuttgart. Przyborski, A./Wohlrab-Sahr, M. (2009): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, 2., korr. Aufl., München. Weitere Quellen: Transkription der Gruppendiskussion vom 01.12.2011 Ein Beispiel dazu: Bevor ich am Abend zu einer Kirchengemeinderatssitzung ging, plante ich mir den darauffolgenden Tag. Als ich dann später wieder nachhause kam, blinkte der Anrufbeantworter. In der Ansage bat eine Krankenschwester unserer Diakoniestation darum, dass ich morgen früh unbedingt nach Herrn K. aus H. schauen sollte, da es ihm irgendwie sehr schlecht gehen würde. Herr K. hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium, einschließlich Metastasen. Aufgrund einer gebrochenen Lebensgeschichte und sozial stark an den Rand gedrängt, hatte er bisher jede Hilfe über die Grundpflege hinaus abgelehnt. Nun hatte sich sein Zustand innerhalb eines Tages rapide verschlechtert. Der darauffolgende Vormittag entwickelte sich zu einem intensiven Hospizeinsatz einschließlich der Begleitung und Beratung der Angehörigen. Um eine Betreuung zu ermöglichen, waren am Nachmittag mehrere Telefonate zu führen. Die ursprünglich geplanten Aufgaben am Schreibtisch musste ich auf einen späteren Zeitpunkt verschie- 156 Napiwotzky/Reimann 2012, S. 67 102 103 Kirchliche Dienste auf der Messe Stuttgart Bericht 9: Stuttgart Diakonat auf der Messe Martin Heubach Projektort: Stuttgart Projektträger: Amt für missionarische Dienste/ Diözese Rottenburg Stuttgart Projektstelleninhaber: Diakon Martin Heubach 104 Stuttgart 1. Einleitung KD auf der LMS nehmen Mitarbeitende und Aussteller und ihre Lebenssituationen wahr und suchen sie an ihren Arbeitsplätzen auf. 1.1 Die Arbeit auf der Landesmesse Stuttgart (LMS) wurde zu einem Ort missionarischer und diakonischer Präsenz. 1.2 Die Projektstelle hatte folgende Aufgaben zum Ziel: Entwicklung und Erprobung einer Konzeption „Kirche am dritten Ort“, Aufbau und Begleitung eines Netzwerkes von freiwilligem ehrenamtlichem und bürgerschaftlichen Engagement für die unterschiedlichsten Aufgaben und Dienste auf der LMS (das Soziale gestalten), Aufbau der Seelsorge (Menschen in existentiellen Lebensfragen unterstützen), Entwicklung von ökumenischen geistlichen Angeboten für Mitarbeitende, LMS-Vertragspartner, Aussteller und Messebesucher in den kirchlichen Räumen (das Evangelium kommunizieren). Der Diakon hat eine Brückenfunktion erprobt, von der „Wirtschaft“ in die Landeskirche und umgekehrt. Es war eine intensive Kooperation mit den diakonischen Handlungsfeldern auf den Fildern angedacht, ebenso eine Schnittstellenklärung mit der Airportseelsorge in Bezug auf die seelsorgerlichen, geistlichen und diakonischen Arbeitsfelder. Ein erster wichtiger Schritt war der Aufbau eines Netzwerkes von ehrenamtlichen Mitarbeitenden für die unterschiedlichsten Aufgaben und Diensten auf der LMS unter besonderer Berücksichtigung diakonischer Aufgabenstellungen und Herausforderungen. Ebenso haben wir am Aufbau einer Seelsorge auch in Notfällen für die LMS aktiv mitgewirkt. Es wurden Menschen in existentiellen Lebensfragen unterstützt und begleitet und Seelsorge-Angebote für Angestellte der LMS und Fachberatung bei Einsatzkräften auf der LMS nach Notfällen angeboten. Ich habe als Diakon bei der Entwicklung von ökumenisch geistlichen Angeboten mitgewirkt. Die Kooperation bei seelsorgerlichen, geistlichen und diakonischen Arbeitsfeldern auf der LMS und dem Flughafen Stuttgart (Schnittstellenklärung) lief eher verhalten an. 1.3 Auslöser und Projektidee: Der Bau und die Einrichtung der neuen LMS, seitherige ökumenische Erfahrungen auf der alten Messe bei der CMT und einem Kinderbetreuungsangebot während großer Publikums-Messen, die Bitte der Messegesellschaft, auf der neuen LMS einen Raum der Kirchen einzurichten. 2.2 1.4 Projektträger ist das Amt für missionarische Dienste mit der Abteilung Kirche in Freizeit und Tourismus und die Diözese Rottenburg Stuttgart. Die Arbeitsform ist ein ökumenischer Zusammenschluss, der als eigenständiger Vertragspartner mit der Messegesellschaft kooperiert. Zum Team der Kirchlichen Dienste (KD) auf der LMS gehörten zeitweise zwei Pfarrer auf einer beweglichen Pfarrstelle mit je einem Teilzeitauftrag, eine Franziskaner-Ordensfrau mit je einem 50-%-igen Dienstauftrag in der Messe- und Flughafen-Seelsorge und der Projektstelleninhaber (befristet auf drei Jahre, vom 01.05.2008 – 30.04.2011) mit einem Anstellungsumfang von 50 % im Rahmen des Diakonatsprojektes. 2.2.1 Z ahlen zur Landesmesse Stuttgart (bezogen auf 2008)157 2. Vertiefte Darstellung 2.1 Ausgewählte strategische Ziele Als Ziel des Projekts wurde formuliert: uswertung Teilziel 1: A Offene Räume für Mitarbeitende, Aussteller und Besucher und Nutzung zentraler, öffentlicher Messehallen An ca.160 Ausstellungstagen war die LMS mit 71 Messen (unter 100 und bis zu 2.000 Aussteller je Messe) von ca. 17.000 großen und kleinen Ausstellern belegt. Ca. 150.000 Personen waren als Standpersonal auf der LMS. Diese Menschen sind im Jahr auf bis zu 50 Messen, also teilweise sehr viel unterwegs. Somit ist es ihnen kaum möglich, soziale Bindungen an ihren Heimatorten zu leben und zu pflegen. Im Jahr 2008 wurden ca. 1,5 Mill. Messebesucher gezählt. Die LMS beschäftigt knapp 300 festangestellte Mitarbeitende, und die Vertragspartner-Firmen können auf einen Pool von über 2.500 Mitarbeitenden zurückgreifen. Diese Mitarbeitenden haben meist einen Zeitvertrag, werden nur saisonbedingt eingesetzt und sind teilweise an Messetagen sehr lange im Einsatz. Viele dieser Reinigungskräfte und Mitarbeitenden im Service-, Ordner- und Hostessendienst kommen nicht aus Deutschland und haben teilweise schlechte Deutschkenntnisse; sie kommen eher aus geringeren Bildungsschichten und arbeiten gegen eine geringe Bezahlung. KD auf der LMS bieten offene Räume für Mitarbeitende, Aussteller und Besucher und nutzen zentrale, öffentliche Messehallen. 157 Die Zahlen stammen von der Geschäftsleitung der LMS. Diakonat auf der Messe 2.3Zahlen und Fakten aus den Berichtsbögen der 37. Messezeiten In drei Jahren habe ich 74 Einzelmessen betreut. In der Regel finden parallel 1 – 6 Messen statt. 2.3.1 CMT (13. – 25.01.2011) Erfreulich war die Präsenz der Kirchlichen Dienste (KD), die mit vier Standpunkten und dem Schwerpunkt-Thema „JakobswegPilger“ am 1. Messe-Wochenende vor Ort waren: im Forum der Kirchen, Andachtsraum, Stand in Halle 6 und 9. Das Forum der Kirchen und der Andachtsraum sind bei einer so großen Publikumsmesse ein idealer Standpunkt mit hoher Öffentlichkeitswirkung. Wir konnten über 2.500 Pilger-Wege-Flyer (Die Jakobsweg in Baden-Württemberg) verteilen, vielen (potentiellen) Jakobspilgern Auskünfte erteilen und mehr oder weniger tiefe Gespräche führen. Zu beobachten war, wie selbstverständlich die KD auf der LMS dazu gehören und ins Messegeschehen mit integriert werden. Beim „Urlaubs-Kino“ waren an neun Messetagen insgesamt ca. 245 (210) und ca. 510 (440) Besucher im Forum der Kirchen [Zahlen in Klammer von 2010]. Das zeigt, dass der Jakobsweg nach wie vor ein Trend ist, den die Kirchlichen Dienste auf der CMT bedienen können und sollen. Es waren ca. 20 Ehrenamtliche, einschließlich der Jakobs-Pilgerweg-Freunde im Einsatz. Zu sieben von neun angebotenen Atempausen waren zwischen zwei und elf Besucher gekommen. In diesen Tagen hatte ich zu über 50 Mitarbeitenden der LMS und der Vertragspartner intensivere Kontakte und Gespräche von mehr als fünf Minuten, ebenso zu knapp 30 Ausstellern und gut 20 Besuchern. Davon würde ich ca. 20 Gespräche bei den insgesamt ca. 100 Begegnungen als „seelsorgerliches Gespräch“ bezeichnen. 2.3.2 Animal & Pferd-Messe (22.10. – 24.10.10) Bei den zwei angebotenen Atempausen waren jeweils nur die diensthabenden Ehrenamtlichen mit dabei. Kontakte und Gespräche von mehr als fünf Minuten hatte ich zu fast 30 Mitarbeitenden der LMS und der Vertragspartner, ca. 10 Ausstellern und etwa 10 Besuchern. Von den ca. 50 Begegnungen würde ich ca. 10 als „seelsorgerliche Gespräche“ bezeichnen. In diesen drei Tagen waren ca. 12 Besucher im Forum der Kirchen. Ein Projektleiter (M3) war zu einer Tasse Kaffee und einem Gespräch gekommen. Es ergaben sich viele Begegnung, „Wegegespräche und zwischen Tür und Angel“ mit Mitarbeitenden von der Geschäftsleitung bis zum Reinigungspersonal. In einem Gespräch mit einer Garderobendame (die Garderobe liegt gegenüber dem Andachtsraum, so dass sie uns und das Geschehen im Andachtsraum sehr gut beobachten konnte) wurde mir die Frage gestellt: „Was machen Sie bei den Kirchlichen Diensten den ganzen Tag über auf der LMS?“ 105 Zwischenzeitlich ergaben sich mit ihr mehrere Gespräche über diese Frage, und bei einer Messe (fünf Monate später) war diese Mitarbeiterin zum ersten Mal bei einer Atempause und bemerkte anschließend: „Die Atempause hat mir richtig gut gefallen“. Es entstand eine sehr gute Kooperation und ein großes Entgegenkommen der Veranstalterin und ihrer Mitarbeiterin vom ‚Doc Dancing’ in Blick auf unseren Gottesdienst am Sonntag im Doc Dancing Ring mit ca. 40 – 50 Besuchern plus ca. nochmals so vielen „Zaungästen und Laufpublikum“. Es war erfreulich, dass die Veranstalter vom ‚Doc Dancing’ uns ein Zeitfenster eingeräumt, uns sehr unterstützt und mehrfach auf den Gottesdienst hingewiesen haben. Ein kurzes Gespräch mit einer Besucherin im Forum der Kirchen, deren Vater ca. 4 Wochen zuvor verstorben war. Sie suchte eine Spruch- und Trostkarte für ihre Mutter. Verschiedene Gespräche mit Ausstellern über die Unzufriedenheit als Aussteller auf der LMS. Ein leitender LMS-Mitarbeiter, der von sich sagte, dass er Atheist wäre, vermittelte ein Gespräch mit Ausstellern und dem Präsidenten des Shire Horse Verbandes, die eine spontane PferdeSegnung im Show-Ring von uns organisiert haben wollten: Zu bester „Showtime-Besucherzeit“ mit hunderten von Besuchern auf den Rängen konnten wir einen ökumenischen 7,5 MinutenGottesdienst feiern. 2.3.3 P ET-VET–Tierärzte- und -Helferinnen-Kongress mit kleiner Ausstellung (27. und 28.11.10) Wir hatten keine Atempause angeboten, weil die Messehalle und das Kongresszentrum zu weit von den Kirchlichen Räumen weg liegen, und weil wegen einer Großveranstaltung unsere Räume aus Sicherheitsgründen geschlossen waren. Dafür konnten wir ein Ökumenisches Morgenlob vor dem 2. Kongresstag anbieten – im Tagungssaal mit ca. 15 – 20 Personen. Kontakte und Gespräche von mehr als fünf Minuten zu über 10 Mitarbeitenden der LMS und der Vertragspartner, über 10 Ausstellern und nur einem Besucher, davon mit ca. 5 Personen ein „seelsorgerliches Gespräch geführt“. Über drei Veranstaltungen hinweg hat sich ein gutes Verhältnis zu den Veranstaltern und der Projektleiterin der PET-VET entwickelt, sodass wir das Ökumenische Morgenlob anbieten konnten. Es soll Ende dieses Jahres langfristiger und besser geplant werden, darüber sind wir bereits im Gespräch. 106 Stuttgart 2.4 P erspektive der Mitarbeitenden: Auszüge aus der leitfadengestützten Fokusdiskussion Das Interview wurde von einer externen Person mit Mitarbeitenden der LMS geführt. Alle Namen wurden anonymisiert. Hans: Gut, ich denke…zunächst mal, wenn man ganz an den Anfang denkt, da… haben viele noch die Hemmschwelle gehabt… In der Zwischenzeit muss ich sagen, nutzen dass auch sehr viele Mitarbeiter wie auch Besucher die Kirchlichen Dienste und sehen dort einfach einen Rückzugsraum auch, wo Herr Heubacher sehr bemüht ist, es so angenehm wie möglich immer zu gestalten… Ich kenne Herrn Heubacher sehr viele Jahre auch von meiner Heimatstadt her. vom CVJM und wir haben uns hier oben erst seit langem wieder getroffen. Von mir, von der Messe oder von der (Dienststelle) wir nutzen es auch sehr gut, wenn wir irgendwelche schwierigen Fälle haben, wenn wir dann auf die kirchlichen Dienste zurückgreifen können… Bei Kirche hat man ja immer ein Aber. Aber es gehört jetzt einfach mit zum Messeleben dazu. Muss man ganz klar sagen. Und der Herr Heubach ist ja so engagiert. Er findet immer wieder Möglichkeiten oder deckt was auf. Wenn ich was mitbekomme, gebe ich ihm auch Tipps und sage: Mensch, da wäre doch auch noch was, wo man noch mehr auf die Leute zukommen kann...“ Petra: Ich kann nur von meiner Warte aus sagen, wie die Anfänge hier waren, und die waren nicht leicht... Die Ablehnung war sehr groß. Meine Einstellung von damals zu jetzt hat sich grundlegend geändert. Das lag aber auch daran, dass ich die Arbeit, die das Team macht, auch eine Schwester Agnesita und Herr Heubach, aber auch schätzen gelernt habe. Ja und einfach kontinuierliche Gespräche suchen. Raum der Stille geht und das Buch einfach mal so ein bisschen durchblättert und sieht, was da drin steht, dann bewegt das schon und man sieht, dass die Leute das schon annehmen… ich fand es sehr sehr schlecht umgesetzt von der Messe Stuttgart…ins Gespräch zu kommen und die Vorteile eben einfach auch, die so was letztendlich bietet. Weil ich habe jetzt auch zum Beispiel zum Herrn (…), der macht die (Messe XY), gesagt, geh doch mal zum Herrn Heubach und frag mal… Er fand den Tipp ganz gut. Das ist neutraler, was der ein oder andere Aussteller vielleicht noch gibt und da sage ich, das ist absolut top.“ Monika: „Ja, ja. Ich muss auch sagen, die Anfänge. Es wurde ganz schlecht kommuniziert… ich habe den Herrn Heubach kennengelernt an einem Wochenende. Da hatte ich Dienst, da kam er ins (Büro) rein, hat sich kurz vorgestellt und dann sind wir so ins Gespräch gekommen. Also war sehr nett und dann habe ich mich auch so ein bisschen... beklagt. Ich bin katholisch und in Stuttgart wird überhaupt nichts für die Katholischen getan. Ich bin hier angemeldet und ich kriege nie irgendwie einen Gemeindebrief und so… Er hat mich dann gleich mit Infos versorgt. Das fand ich echt ganz toll und er war da ganz arg engagiert.“ Auswertung und Reflexion: Zu Hans und Monika habe ich über eine persönliche Beziehung, einen persönlichen Zugang gefunden: „Er ist da, wenn man ihn braucht“; „er ist bemüht, hat Ideen, trotz Widerstände und Rückschläge“ – diese Zugangsebene gilt auch für M4. Petra argumentiert aus Sicht der LMS: „Zoff, weil Räume Konkurrenz sind und effektiver genützt werden könnten“, sie sagt zu Kollegen: „Kirchliche Dienste kannst du nützen, um die Stimmung zu erfragen“. Für Sie und auch für M3 wurden die KD für das „System Messe“ wichtig, die LMS hatte einen Nutzen von den KD. In der diakonischen Arbeit stehen die Beziehungen im Vordergrund, es geht darum, auf Menschen zuzugehen, Offenheit, Verlässlichkeit, Verschwiegenheit, Verstehen und eine Wertschätzung der Arbeit und des Menschen zu signalisieren. Zur diakonischen Arbeit auf der Messe gehört auch die Sensibilität, den Nutzen für das „System LMS“ zu erspüren und zu kommunizieren. Die diakonische Arbeit nimmt die Ausstellenden und LMS-Mitarbeitenden wahr und orientiert sich an ihren Fragestellungen und Problemen dran. Interessant sind die unterschiedlichen Erinnerungen und Wahrnehmungen, z.B. sagt Hans, dass er und ich uns in (XY), als ich in dieser Stadt Jugendreferent war, schon begegnet wären. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir uns vor der Messetätigkeit je gesehen hätten. Wir haben gemeinsame Bekannte: eine Chorsängerin und der Jungscharleiter seines Sohnes. Subjektiv geprägt ist auch die Wahrnehmung, dass wir in der Vergangenheit als KD oft bei Notfällen in Anspruch genommen worden wären. Das „Oft“ ist relativ, aber Hans hat den Eindruck, dass wir da sind und uns um Problemfälle kümmern, wenn es „brennt“. Dies gilt auch für die Teilnahme von LMS-Mitarbeitenden bei der Atempause. Sie ist bei einigen LMS-Mitarbeitenden ins Blickfeld gerückt und sie haben den Eindruck bekommen: Es ist auch für uns ein Angebot. Meines Erachtens wird von der Atempause nur gelegentlich Gebrauch gemacht. 2.4.2 A us der Zusammenarbeit mit Projektleitung: Feldnotizen mit M3 M3 hat mich als Projektleiter einer Messe bei einer telefonischen Kontaktaufnahme meinerseits im Frühjahr 2009 gebeten, nicht in die Ausstellungshalle zu gehen, denn im „Messegeschäft“ würden diese Gespräche stören und ablenken. Erst durch eine Klarstellung der Geschäftsleitung, dass dies gewünscht und okay wäre, und nach einem Ausräumen von Missverständnissen über e-Mails mit M3, bekam ich für unseren Dienst auf dieser Messe ein zaghaftes oder verärgertes Okay. Aus meiner Wahrnehmung wich mir M3 bei zufälligen Begegnungen auf dem Messegelände aus. Eintrag im Berichtsbogen (Mai 2009): „Das Verhältnis zum Projektleiter, M3, hat sich normalisiert bzw. sehr verbessert. Es war aus meiner Sicht ein gutes Miteinander Diakonat auf der Messe 107 auch zu den anderen Projektassistentinnen, mit denen ich gute und nette Begegnungen und Gespräche hatte“. lichkeit, aber auch notwendigen Distanz zu begegnen und seine Haltung und Erfahrung gegenüber Kirche zu respektieren. Eintrag im Berichtsbogen (Oktober 2010): „Begegnungen und Gespräche mit der Projektleitung, u.a. mit M3. Ich habe den Projektleiter für nächste Woche zu einem Kaffee ins Forum der Kirchen eingeladen.“ Mein Eindruck ist, dass M3 zwischenzeitlich gemerkt hat, dass die KD auf der LMS für das System Messe gewinnbringend sind und dass wir in manchen persönlichen Dingen eine „gleiche Wellenlänge“ haben. Feldnotizen von einem Gespräch am 22.10.2010 im Forum der Kirchen: Fragen: „Wie kam es zu ihrer Ablehnung bei der Messe im Frühjahr 2009? M3: „Am Anfang war es mir zu viel. Die Arbeit stand mir oben. Dann wollten Sie als Kirchlicher Dienst auf der LMS auch noch etwas von mir“ – „die Kirchlichen Dienste sind mir nach wie vor nicht so wichtig. Weil die Geschäftsleitung dies so gewünscht hat, habe ich es zugelassen“ – „Die Aussteller klagen, dass sie von zu vielen Seiten angesprochen, angeschrieben und mit Messe-Themen belastet werden“ – „Religion ist Privatsache und eine freie Entscheidung eines jeden Einzelnen“ – „Was hat Religion mit der Messe zu tun?“ Was ich darauf geantwortet habe, kann ich nicht mehr wiedergeben. M3: „Ich möchte nicht, dass ich und die Aussteller auf der Messe ‚missioniert’ werden!“ M3 war bis zu diesem Gespräch nicht bewusst, dass die Kirchlichen Dienste (KD) zwei Räume auf der LMS haben. Bei diesem offenen und ehrlichen Gespräch haben wir viele Gemeinsamkeiten festgestellt, u.a. sportliche Aktivitäten, und es war m.E. eine „vertrauensbildende Maßnahme“. Einträge im Berichtsbogen (Januar 2011): Ich ging auf M3 zu. Er war mit einem leitenden LMS-Mitarbeiter und einem Veranstalter im Gespräch: M3 stellte mich einem leitenden Mitarbeiter mit den Worten vor: „Unser guter Geist der Messe“. Bei einem gezielten Besuch im Projektleiterbüro war meine Rückmeldung an M3: „Ich habe mich über Ihre Bemerkung und Bewertung heute Morgen sehr gefreut!“ Durch diese positive Vorstellung und mich in das Gespräch mit einbeziehend entwickelten sich weitere Gespräche mit leitenden Mitarbeitenden des Veranstalters. U.a. ergab sich die Überlegung für den Kongress im nächsten Jahr, dass der Veranstalter bei diesem Kongress ethische Themen aufgreifen könnten. Inzwischen hat sich ein eMail-Kontakt im Blick auf den nächstjährigen Kongress entwickelt. Wir haben uns angeboten, bei der Themenund Referentensuche behilflich zu sein. Bewertung und Reflexion: Ich habe versucht, M3 mit meiner und unserer Präsenz als KD und unseren Angeboten nicht zu „erdrücken oder missionieren“ zu wollen, sondern ihm in einer stetigen Freund- 2.4.3 W ahrnehmungen einer Vertragsmitarbeitenden: Feldnotiz mit M4 (am 29.01.11 im Forum der Kirchen mit M. Heubach) M4 ist eine Vertragspartner-Mitarbeiterin: Sie konnte am 18.01.11 bei der Fokusdiskussion wegen ihres Dienstplans nicht teilnehmen; sie ist seit über 40 Jahren Kirchengemeinderätin. Die nachfolgenden Punkte bzw. Fragen sind aus der leitfadengestützten Fokusdiskussion entnommen: 1. Smalltalk und Ankommen bei einer Tasse Kaffee 2. Einstiegsimpuls M4: „Es ist sehr positiv, dass bei den Kirchlichen Diensten jemanden da ist, der ein offenes Ohr hat, und dass die Kirchlichen Dienste an einem neutralen Ort, nicht im Wohnort oder in derselben Kirchengemeinde sind“. 3. Vertiefung – Orte M4: „Die Gottesdienste am Sonntag sind für mich schön. Wenn man oft am Sonntag arbeiten muss, hat man immer wieder die Möglichkeit, seinen Dienst so zu gestalten, dass man zeitweise, zumindest am Rande, vom Gottesdienst etwas mitbekommen kann“. 4. Vertiefung – Diakon M4: „Ob Pfarrer oder Diakon ist nicht so entscheidend. Viel wichtiger ist, was herüber kommt. Bei Herrn Heubach spürt man, dass er vorher einen praktischen Beruf gelernt hat. Zu ihm hat man schnell einen ‚guten Draht’. Bei Pfarrern habe ich oft den Eindruck (auch bei denen auf der Messe), dass sie ein ‚kleines Treppele höher’ stehen…. Dies ist bei Pfarrern anders, die vorher Diakone o.ä. waren bzw. die einen Beruf gelernt hatten. Denn sie sind ‚näher an der Basis’ …habe ich manchmal das Gefühl, dass das Gespräch auf einer Ebene geführt wird, die ich nicht verstehe“. 5. Vertiefung – Kirche – persönliche Einschätzung M4: „Ohne die Kirchlichen Dienste würde eine gewisse Menschlichkeit fehlen. Ebenso die Möglichkeit, dass ein Besucher, Messebauer, Aussteller oder Messe-Mitarbeitender einen Ansprechpartner finden, um eigene Probleme, gleich welcher Art, bereden zu können. Oftmals hat dieser Personenkreis nicht die Gelegenheit, den Seelsorger in der eigenen Gemeinde anzusprechen, be- 108 Stuttgart dingt durch die Arbeitszeiten... Missioniert zu werden’ finde ich nicht gut, denn das finde ich erdrückend...“ 6. Reste M3: „Mir wäre es wichtig, dass wir auf der LMS einen Diakon bei den Kirchlichen Diensten haben, denn ein Diakon spricht meist die gleiche Sprache wie ein Arbeiter im Berufsleben“. Auswertung und Reflexion: M4 hat bei ihrem langjährigen ehrenamtlichen Engagement sehr positive Erfahrungen mit Diakonen und kirchlichen Mitarbeitenden gemacht, die aus der „weltlichen Berufswelt“ kommen oder sich darin auskennen. Die Begegnung auf Augenhöhe“ ist ihr sehr wichtig. 2.4.4 Auszüge aus dem Gästebuch im Andachtsraum Als Folge zum Evaluationsgespräch am 18.01. hat Petra auf Kosten der LMS einen Fotografen über die Presse-Abteilung organisiert, der einige Seiten des Gästebuches fotografiert hat. Die Auswertung der Einträge können in folgenden Punkten zusammengefasst werden: Viele der Andachtsraum-Besucher (Mitarbeitende, Aussteller und Besucher) sind erstaunt und erfreut, im Messetrubel und in der Geschäftswelt einen so schönen und ruhigen Ort zu finden und dass die Kirchen auf der LMS mit Räumlichkeiten und Personal präsent sind. In das Gästebuch wurde manche Not aus dem Herzen geschrieben und mancher Hilferuf als Gebet formuliert. Als Raum für alle Religionen sind u.a. auch Muslime erfreut, einen Ort für das Tagzeitgebet zu finden. Sie bringen ihre Dankbarkeit zum Ausdruck, dass Christen für sie als Muslime diesen schönen Raum für ihr Gebet zur Verfügung stellen. Dieser sakrale Raum ist auch eine ideale Möglichkeit für den interreligiösen Dialog. Leider finden Juden den Weg nicht in den Andachtsraum, zumindest haben wir noch nichts bemerkt. Ob das Kreuz, die Quibla… ein „Ärgernis“ sind? Im Gästebuch geäußerte Kritik zeigt auch, dass dieser Raum zu wenig bekannt und deshalb nur zu selten genützt wird. Aber auch, dass im Messetrubel und -stress zu wenig Zeit für Stille und Gebet möglich sind. Wir arbeiten ständig daran und nützen jede Gelegenheit, unsere Präsenz und Bekanntheit zu erweitern. 2.4.5 Ökumenische Atempause Bei einer „alpha & omega-Sendung“ für bw Family.tv – „Innehalten, zur Ruhe kommen, Atempause im Messestress“158 gab es dazu folgende O-Töne von LMS-Mitarbeiterinnen: Monika: „Atempause ist für mich ein schöner Moment, einfach abzuschalten von der Arbeit, sich auf ein anderes Thema einzustellen, runter zu kommen und sich zu besinnen.“ Julia: „Von der Arbeit abgelenkt, nicht nur im Büro sitzen und Vespern, auf andere Gedanken kommen.“ Beide LMS-Mitarbeiterinnen waren auf meine Bitte zum ersten Mal bei einer Atempause. Sie reden schon so, als ob sie schon öfters bei einer Atempause gewesen wären. Beobachtungen zum Angebot Atempause: Bei Publikums-Messen kommen einzelne Messebesucher, bei Fachmessen nur ganz vereinzelt Fachbesucher. Ausstellende können kaum ihren Messestand verlassen. Sie sind aber auch schlecht informiert, obwohl in jedem Messe-Katalog und bei dem Welcome-Brief für Aussteller auf die Atempause hingewiesen wird und ich bei meinen Besuchen am Messestand persönlich dafür einlade. Dies hat schon gelegentlich Wirkung gezeigt. Seit ca. einem Jahr kommen vereinzelt LMS- und Vertragspartner-Mitarbeitende; bei einer Atempause waren es einmal sogar 6 LMS-Mitarbeiterinnen und ein Vertragspartner-Mitarbeiter, der schon öfters zu einer Atempause gekommen war. Bei ca. 20 % der angebotenen Atempausen kommt niemand, bei ca. 30 % sind wir mit Kolleg(inn)en und Ehrenamtlichen „alleine“ (aber, „wo zwei oder drei…“) und bei ca. 50 % der Atempausen sind ein bis max. 20 Besucher da. Wenn nur eine Person kommt oder „zufällig“ zur persönlichen Stille im Andachtsraum sitzt, ist es oft eine bessere Gelegenheit, mit dieser Person in ein tieferes Gespräch zu kommen. Ganz vereinzelt hat sich auch schon nach einer Atempause ein Gespräch ergeben oder während oder nach der Atempause eine Diskussion mit mehreren Personen entwickelt. 2.5 Kirchliche Dienste auf der Messe nehmen Mitarbeitende und Aussteller und ihre Lebenssituationen wahr und suchen sie an ihren Arbeitsplätzen auf Die meisten seelsorgerlichen Gespräche auf der LMS kommen „zufällig“ zustande. Bei meinen Rundgängen durch die Ausstellungshallen begegne ich „zufällig“ einem Menschen, oder wenn ich es geistlich sagen will: Den mir Gott in den Weg stellt oder der Geist Gottes uns den Kairos für diese einmalige Gelegenheit zu einer intensiveren Begegnung einer „seelsorgerlichen Gesprächsatmosphäre“ schenkt. Oft sind es bestimmte (Lebens-)Situationen des Gesprächspartners, Stimmungen, etwas „Luft“ bei der Arbeit oder allgemeine 158 http://www.missionarische-dienste.de/cms/startseite/kirche-in-freizeit-und-tourismus/ kirchliche-dienste-auf-der-messe/ Diakonat auf der Messe Auslösefaktoren (Naturkatastrophen, der Tod eines Menschen, die wirtschaftliche oder politische Situation), die eine offene Gesprächsatmosphäre begünstigen. Wenn ich einen Menschen noch nie gesehen habe und er bisher nicht wusste, dass es einen Messeseelsorger/KD auf der LMS gibt, ist ganz häufig die Einstiegsfrage: „Was machen Sie auf der Messe?“ oder „(Was) haben Sie als Messeseelsorger (etwas) zu tun?“ Schon nach relativ kurzer Zeit sind wir im Gespräch nicht mehr bei einer allgemeinen (Ausgangs-)Fragestellung, sondern wir reden über (s)ein Problem, das dem Fragestellenden „auf der Seele liegt“. Am Ende einer kurzen (ca. 10 – 20 Min.) Begegnung, in der wir nicht nur über „das Wetter geredet“ haben, ist zu spüren, bedankt sich der Gesprächspartner oder erwidert, dass ihm das Gespräch jetzt gut getan hätte. Für mich beginnt oder bezeichne ich ein Gespräch als „seelsorgerlich“, wenn mir das Gegenüber sein „Herz ausschüttet“, mir etwas anvertraut, das ihm „auf der Seele liegt“ oder er mir nach dem Gespräch zurück meldet, dass ihm diese Begegnung gut getan hätte oder es ihm „leichter ums Herz geworden ist“. Ein LMS-Mitarbeiter hat mir schon mehrfach gesagt: „Immer, wenn ich Sie gesehen und mit Ihnen gesprochen habe, geht es mir wieder ein Stück besser“. Zu einigen LMS- und Vertragspartner-Mitarbeitenden hat sich ein offenes Vertrauensverhältnis entwickelt, so dass eine leid- oder druckvolle Situation des Mitarbeitenden, ein Tagesereignis (Tod eines Prominenten, Erdbeben…) ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch bietet. Zu ca. 95 % finden die Gespräche während der Arbeitszeit (was für mich nicht immer einfach und unproblematisch ist; es erfordert viel Fingerspitzengefühl und Flexibilität, denn wir wollen die Mitarbeitenden nicht von der Arbeit abhalten oder Kundengespräche verhindern) und „zwischen Tür und Angel statt“. Die Gespräche werden meist unterbrochen, wenn ein Kunde kommt, ein anderes Ereignis oder die Arbeitspflicht das Gespräch abrupt unterbricht. Oft ist am nächsten Tag oder bei einer im nächsten Jahr wiederkehrenden Messe ein Gesprächsanknüpfungspunkt bzw. eine Begegnung möglich. In der Regel suche ich Aussteller und Mitarbeitende an allen Folgetagen einer Messe auf, um nach Möglichkeit an die Begegnung und das Gespräch vom Vortag anknüpfen zu können. Meistens kann das Gespräch weiter und tiefer geführt werden. In der Auswertung meiner Berichtsbögen, die ich von jeder Messe schreibe, kann ich als Fazit feststellen, dass ich pro Tag zwei bis drei solcher „seelsorgerlichen Gespräche zwischen Tür und Angel“ führe, bei denen wir nicht nur über das Wetter oder Tagesgeschäft reden. Mir ist sehr wichtig ist, dass ich mit „wachem Auge und betendem Herz“ über die Messe gehe, mich für die ausgestellten Produkte der Aussteller, die Tätigkeit der LMS- und Vertragspartner-Mitarbeitenden, das Umfeld der Angesprochenen interessiere und Anknüpfungspunkte suche. Dabei ist sicherlich von Vorteil und m.E. auch wichtig, dass ich als gelernter Elektromechaniker, Häuslesbauer und handwerklich interessierter Diakon über die LMS gehe und die Ar- 109 beit wert schätze, die ein Aussteller, Sicherheits- oder ReinigungsMitarbeitender leistet. Anknüpfungspunkte sind oftmals ein besonderes Ereignis, z.B. der Suizid eines Prominenten, der Amoklauf von Winnenden/Wendlingen, Katastrophen in der Welt…, aber auch die Thematik der Messen… Viele Gespräche haben als Thema zum Inhalt: Scheidung und Beziehungs-Krisen, Sozialer Abstieg, ungerechte Entlohnung, ungünstige Arbeitszeiten, hohe Preise und Kosten auf der LMS… Manchmal gelingt es sehr schnell, das Gespräch auf eine geistlich/ theologische Ebene zu lenken, in dem ich meinem Gesprächsgegenüber oft die drei (philosophischen) Grundfragen aller Religionen stelle: „Haben Sie für ihr Leben geklärt und wissen Sie: Wo komme ich her? – Warum lebe ich (Sinnfrage)? – Und wo gehe ich hin (was ist nach dem Tod)?“ Sehr viele Gespräche sind einmalig. Einige Begegnungen knüpfen an die Gespräche vom Vorjahr an, manche Gespräche werden über eine bestimmte Zeit (zwei, drei Wochen bzw. Monate) geführt und einige wenige über einen längeren Zeitraum. 3. Metareflexion 3.1 Ergebnisse im Blick auf die Zielsetzungen des Projekts Aus meiner Sicht ist es uns in den drei Jahren im Großen und Ganzen gelungen, die zentralen, ausgewählten und strategischen Ziele umzusetzen. Die KD auf der LMS konnten die von der Messegesellschaft kostenlos angebotenen Räume den Mitarbeitenden, Ausstellern und Besuchern bekannt machen, in die LMS-Strukturen einbinden und Zugänge für eine allgemeine Akzeptanz bewirken. Im Laufe der Zeit wurde die Präsenz der KD mit ihren Räumlichkeiten, den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und den regelmäßig angebotenen Veranstaltungen wahr- und angenommen und in den Messealltag bzw. -kalender integriert. Als Mitarbeiter der KD auf der LMS werden wir von fast allen Seiten und auf allen Ebenen der LMS in den Bemühungen großzügig unterstützt und wird uns freier Handlungsspielraum gewährt, dass wir die Mitarbeitenden und Aussteller in ihrer Lebenssituationen wahrnehmen und an ihren Arbeitsplätzen aufsuchen können. Nach längeren Messepausen wird uns vielfach zurück gemeldet: „Schön, dass Sie wieder da sind! Wir haben Sie vermisst.“ Dass wir als KD auf der LMS im letzten Jahr viermal mit umfangreicheren Fernsehaufnahmen von drei Fernsehsender einer breiten Öffentlichkeit in längeren Beiträgen vorgestellt wurden, unterstreicht diese Wertschätzung (Baden-Württemberg Aktuell: Bericht über die Messe-Seelsorge bei der CMT – ntv-Nachrichten: im Rahmen der Invest-Messe – Kirchenfernsehen und bw-Family.tv: „alpha & omega“ und ein „Gloria-Gottesdienst“. 110 Stuttgart 3.2 W ahrnehmungen zur spezifisch diakonischmissionarische Arbeit als Diakon 3.3 Beobachtungen zu Veränderungen im Laufe der Projektzeit Zunächst ist festzuhalten, dass die Mehrzahl der LMS-Mitarbeitenden, Aussteller und Besucher keinen Unterschied zwischen einem Pfarrer oder Diakon machen können. Dies hat auch die leitfadengestützte Fokusdiskussion eindrücklich bestätigt. In den meisten Fällen werde ich als „Herr Pfarrer“ angesprochen oder „als der Pfarrer unserer KD auf der LMS“ vorgestellt. Menschen mit keiner kirchlichen Anbindung oder aus einem katholischen Umfeld können mit dem Begriff „Diakon“ nichts anfangen. Aus einer Konzeption: „Kirche am dritten Ort“ (Freizeitwelt) wurde die „Präsenz der KD auf der LMS“. Als KD finden wir auf der LMS weniger Zugang zu den Menschen, die eine Publikums-Messe in ihrer Freizeit besuchen, sondern verstärkt zu Menschen an ihrem Arbeitsplatz (zweiter Ort) mit besonderen Herausforderungen und Erschwernissen. Trotz aller öffentlichen Diskussion, in die die Kirchen in den letzten Monaten hineingeraten sind, genießen wir als kirchliche Mitarbeitende eine hohe Achtung und Annahme. Viele Gesprächsgegenüber sind erstaunt, dass sich die Kirche in einem so weltlichen und wirtschaftlich-geschäftsmäßigen Umfeld bewegt, wir als Mitarbeitende Zeit haben, uns für die Belange und Sorgen interessieren. Als Diakon auf der LMS kommt mir m.E. mein Hintergrund mit einer praktischen Berufsausbildung und mit einem hohen Interesse in und an der Arbeitswelt zugute. Als Nichtakademiker und „einer von ihnen“ kann ich mich vermutlich mehr in ihre Belange, Sorgen und Nöte hineindenken und mit ihnen fühlen. Meine Ausbildung an einer missionarischen Ausbildungsstätte mit dem Leitmotiv: „Den Hirtenblick der Liebe entwickeln“ hat mein missionarisches Interesse am Menschen sicherlich geweckt und gestärkt. Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, eine 30-jährige Berufserfahrung in verschiedenen kirchlichen Arbeitsfeldern, hat meine diakonische Kompetenz und Sprachfähigkeit verstärkt. Elementar wichtig ist ein offenes Zugehen auf Menschen, eine ehrliche und wertschätzende Grundhaltung, vertrauensbildende Maßnahmen, ein langer Atem und ein unaufdringliches Nachgehen und -spüren von Menschen. Meinem Eindruck nach haben viele Menschen, denen ich auf der LMS begegne, eine große Sehnsucht nach Religiösem und Spirituellem, nach mehr Qualität, Tiefgang und Sinn im Leben. Eine ablehnende, verärgerte und enttäuschte Haltung gegenüber den institutionalisierten und verfassten Kirchen ist nicht zu übersehen. Viele Menschen sind vom (ihrem) Leben enttäuscht und haben einige Lebensbrüche (Ehe, Beziehungen, Arbeitsverhältnisse...) hinter sich, zu verarbeiten bzw. an ihnen zu tragen. Ich bin fast nach jeder Messe dankbar, erfreut und erstaunt, wie schnell ich zu Menschen und sie zu mir Vertrauen fassen, sie mir zwischen „Tür und Angel“ und bei der Arbeit Seelsorgerliches und Lebenslasten in einer eher anonymen Umgebung anvertrauen. Was ich beobachten konnte, mich aber etwas ratlos macht, ist, dass sehr viele Menschen in Tieren eine „Ersatz-Beziehung“ suchen und gefunden haben und dafür sehr viel Geld ausgeben. Unterschiedliche Zeitrhythmen und -phasen, mobile Gesellschaft und Arbeitswelt, Aufteilung des ersten, zweiten und dritten Ortes, getrennt sein von Familie, Freunden, sozialen Bezügen, auch in Vereinen und Kirchengemeinden, sind für viele Menschen beschwerlich und belastend. Die Umstellung von zwei auf nur eine Atempause hat sich entlastend für die Arbeit, und Vorbereitung herausgestellt. Die Atempause am Abend wurde nur selten besucht und einige der Messen schließen sowieso bereits um 16 oder 17 Uhr. Nur in seltenen Fällen wurde dies schon bedauert, weil es dadurch nur eine Möglichkeit an einem Messetag gab. Bei einzelnen Messen oder bei Gruppenführungen bieten wir, wenn dies gewünscht wird, auch am Morgen vor oder am Abend noch eine zusätzliche Atempause an. Wir bieten einen Gottesdienst nicht grundsätzlich an Messesonntagen an, sondern nur, wo dies von der LMS-Projektleitung und dem Veranstalter erwünscht wird und auch nur an Messen, auf denen es relativ viel Publikum gibt, bei denen es in den Zeitplan passt und die in den Hallen rund um das Atrium gelegen sind. Bei einer der sehr großen Messe ist ein Gottesdienst vom Veranstalter nicht mehr gewünscht. Bei wenigen Messen ist das Atrium von Ausstellern oder Veranstaltungen belegt, so dass wir keinen „Platz haben“. Zu einem Gottesdienst im Andachtsraum „verirren“ sich nur ganz wenige Menschen. Bei der Uhrzeit sind wir sehr flexibel, je nach Bedarf und anderen Veranstaltungen. Die spätere Mittagszeit hat sich als günstige Uhrzeit herausgestellt. Unsere ökumenischen Kurz-Gottesdienste haben eher einen „Eventoder Veranstaltungs-Charakter“, der im „Vorbeigehen auch noch mitgenommen wird“. Der Geräuschpegel und die Ablenkungen sind hoch. Die Gottesdienstbesucher in Lieder oder Aktionen mit einzubeziehen ist schwer möglich. Auch beim Vaterunser-Beten lade ich ein, leise im Herzen oder laut mit zu beten. Eine „fetzige Musik“ von einer Band oder von farbigen SängerInnen, wenn die Melodien eingängig oder sogar bekannt sind und der Rhythmus zum Mitgehen oder -singen animiert, kommen sehr gut an. Die wechselnde Kollegenschaft und das kollegiale Miteinander war nicht immer für den „Erfolg“ des Projektes bzw. unseren Dienst auf der LMS fruchtbar. Phasenweise haben die Reibungsverluste und unterschiedlichen Meinungen viel Zeit und Kraft gekostet. Diakonat auf der Messe 3.4 Was uns eher (bis jetzt noch) nicht gelungen ist Die Schnittstellenklärung mit der Flughafenseelsorge kam nur sehr schleppend voran. Von Seiten der Flughafenkollegen wurde dieses Vorhaben nicht besonders offen aufgenommen und unterstützt. Seit aber unsere katholische Kollegin in beiden Aufgabengebieten tätig ist, konnten manche Vorurteile abgebaut und erste gemeinsame Schritte getan werden; z.B. in einer gemeinsamen Fortbildung für unsere Ehrenamtlichen, und dass zwei Mitarbeiterinnen, die im Flughafenchor mitsingen, bei uns auf der LMS als Ehrenamtliche mitarbeiten. Ein geplanter personeller Wechsel im nächsten Jahr könnte diesem Anliegen noch mehr Rechnung tragen. Messebegleitende Themen in Foren oder bei Podiumsdiskussionen aufgreifen und umsetzen, steckt m.E. noch am Anfang. Der Aufwand ist relativ hoch, aber nur wenige Besucher lassen sich bisher einladen und ansprechen. Inzwischen gibt es zwei gelungene Beispiele: bei der CMT das Thema „Jakobspilgerweg“ zu platzieren und bei der Bastelmesse mit einem Messestand in der Ausstellungshalle; hier gibt es auch einen direkten Bezug zu den zwei biblischen Szenen, die wir im Forum der Kirchen regelmäßig gestellt haben. After Work Veranstaltungen: Angebote nach Messeschluss als Alternativ-Angebote mit Inhalt und christlichen oder diakonischen Themen gegen das „Abtauchen“ in die „Messeunterwelten“ (Herumlungern, Alkohol, Hotelzimmerbeziehungen, Rotlichtmilieu…) konnten wir bisher nicht platzieren. Die starke Tendenz von Mitarbeitenden und Ausstellern, den Messeort möglichst schnell nach Messeschluss zu verlassen, ist sehr groß. Zudem sind die meisten Ausstellenden in Hotels untergebracht, die weit ab vom Schuss sind. Und für eine Runde Nordic Walking hat niemand eine passende Kleidung an und für einen „Erlebnisspaziergang“ eignet sich das Messeumfeld nicht sonderlich. Eine Kooperation mit diakonischen Handlungsfeldern auf den Fildern hat es bisher noch nicht gegeben mit Ausnahme der Ehrenamtlichen, die ausschließlich in der Filder-Region wohnen, einer guten und reibungslosen Zusammenarbeit mit dem Notfallseelsorge-Team des Kirchenbezirkes Bernhausen und der Psychosozialer Notfallversorgung vom DRK im Landkreis Esslingen; bis jetzt war eine Kooperation in anderen Bereichen auch nicht notwendig. Die Notfall-Seelsorge an Betroffenen, Angehörigen und LMS-Mitarbeitenden hat bisher im Notfall hervorragend funktioniert. Auch die regelmäßigen und im Bedarfsfall angesetzten Gespräche und Besprechungen haben sich gut eingespielt. Eine NFS-Fachberater-Nachsorge war bisher noch nicht angefragt. Eine „Brückenkopffunktion von der Wirtschaft“ in die Landeskirche ist sicherlich auch noch ausbaubar und könnte in nächsten Schritten angegangen werden. 111 3.5 Was wir als Kirche von und auf der Messe lernen können Die LMS arbeitet hinsichtlich der Messen mit unterschiedlichen Projektleitern. Auch unsere Zuständigkeiten der KD für die einzelnen Messen und Aufgabenfeldern haben wir an diesem System ausgerichtet. Es gibt Aussteller, die vorbeigehende Messebesucher als potentielle Kunden aufmerksam wahrnehmen und sensibel auf die Bedürfnisse und Wünsche eingehen; andere dagegen bedrängen Ihre „Opfer“ mit Ihrer „Ware oder Idee“ sehr aufdringlich und entmündigend. Unterstützung und Wertschätzung als KD gerade auch von Menschen und LMS-Mitarbeitenden, die der Kirche distanziert und dem Glauben eher ablehnend gegenüber stehen. Es beeindruckt mich, wie viele an der gemeinsamen Sache ausgerichtet und für ihre Arbeit bezahlten Dienst versehen und Andersdenkende vorbehaltlos unterstützen. Unsere „Mission“ in einem Wirtschaftssystem auf die Systemebene transformieren und ausrichten. Erst in zweiter Linie auf die Beziehungsebene wechseln. Es gibt einige Messen, auf denen „glückliche Männer mit glänzenden Augen“ anzutreffen sind. Dazu gehört die „Retro Classics“ (OldtimerMesse), Modell-Messe (ferngesteuerte Fahrzeuge zu Land, Luft und Wasser) und die Animal (Hunde und Katzen). Mich beeindruckt und erschreckt zugleich, mit welcher Leidenschaft, Hingabe und Liebe Männer ihr „heiligs Blechle“ pflegen, an ihrem Modell-Fahrzeug herumdoktern oder ihr Tier liebevoll betreuen. Einerseits finde ich es gut, wenn ein Mensch (Mann) ein leidenschaftliches Hobby betreibt und einen Ausgleich zu Beruf und persönlichen Herausforderungen oder Leidvollem pflegt. Andrerseits wünschte ich mir mehr, dass diese Leidenschaft und Hingabe in Ehrenämter und missionarischdiakonisches Engagement investiert werden. 3.6 Ausblicke Aus meiner Sicht wäre es sehr schade, wenn nach meiner Projektzeit und nach dem Ausscheiden der Pfarrkollegen eine kontinuierliche Arbeit auf der Messe nicht mehr gegeben wäre. M.E. dürfen wir uns diese missionarische und diakonische Chance, die uns die Messegesellschaft mit den beiden Räumlichkeiten bietet und mit dem, was zwischenzeitlich gewachsen und entstanden ist, nicht entgehen lassen. Entsprechende Rückmeldungen, auch schriftlicher Art, wurden uns signalisiert. Ich könnte mir sehr wohl vorstellen, dass wir als evangelischer Partner uns der katholischen Seite angleichen und zukünftig mit einer 100%-Stelle für die LMS und den Flughafen diese Arbeit versehen. Auch wenn die Menschen, zu denen wir mit unserem missionarischen und diakonischen Anliegen nicht zwischen dem Amt des Pfarrers und des Diakons unterscheiden können und der „Ruf nach dem: 112 Stuttgart Herr Pfarrer unüberhörbar“ ist, hat sicherlich ein Diakon mit einer Berufsausbildung und Berufserfahrung in der Wirtschaft große Vorteile. Die „klassischen pastoralen Aufgaben“, die auf der LMS und dem Flughafen abgefragt sind, können m.E. auf jeden Fall von einem Diakon wahrgenommen werden. Mir haben diese drei ausgefüllten und erfüllten Jahre als Diakon sehr gut gefallen. Ich konnte mich mit meinen Gaben sehr gut einbringen und hatte in meinem über 30-jährigen-Berufsleben als Diakon noch nie so viele missionarisch und seelsorgerlichen Gespräche geführt und diakonische Handlungsfelder bearbeiten können. Mich hat diese 50-%-ige-Aufgabe mehr als erfüllt und meine ursprünglichen Befürchtungen mit zwei Teilstellen und einer großen räumlichen Trennung nicht eingetreten sind oder sich für beide Arbeitsbereiche nachteilig ausgewirkt hätten. Anhang: Auszüge aus dem Gästebuch im Andachtsraum „Carriere auf dieser Welt ist nicht so wichtig, wie die Carriere neben dem Schöpfer. Mein Dank geht denjenigen, die dieses Gebetsraum realisierte haben.“ „Herr, Du machst die Unverständigen zum Zeugnis Deiner Macht – Gelobt sei Dein Name, Herr Jesus Christus!“ „Danke Mutter Gottes für alles“ „Herzlichen Dank an alle die so einen Raum mit erdacht und gestaltet habe. Der Allmächtige habe Erbarmen mit den Gläubigen.“ „Was für ein Tag. Danke für gutes Gelingen und die wohltuende Ruhe dieses Raumes.“ „Eine tolle & wichtige Idee, auch in solch trubeligen Messehallen den Menschen einen Raum der Ruhe & dem Glauben einen Platz zu schenken. Hoffe, dass er sich von vielen Menschen finden lässt!“ „Du wurdest nicht geboren, mein Kind. Es tut mir sehr leid. Dennoch wirst du immer in meinem Herzen bleiben.“ „Und du Mensch, der du das liest. Gehst Du hier Deinen Geschäften nach, schaust, dass der Laden läuft, Gewinn, Profit, die richtige Standzeiten für Maschinen… Und Deine Seele…? Und Jesus? Ist er schon in Deinem Herzen? Hast Du Dich ihm schon ganz eingegeben? Hast Du Dein Leben verloren und das neue Leben empfangen…? Mensch, denke, dass unser Leben ein Ende haben wird, denke an Dich, an Deine Seele…“ „Gott möge allen vergeben, die uns hier die Möglichkeit anbieten, Ihn (Gott) anzubeten. gez. Muslim“ „Dass wir als Muslime die Möglichkeit hatten, unsere Gebete durchzuführen, danke ich Allah. Möge Allah Gesundheit, Glück und insallah (wenn Gott will) das Paradies gewähren.“ Abkürzungen: LMS: Landesmesse Stuttgart KD: Kirchliche Dienste 113 Brückenschlag „milieuübergreifende Glaubensvermittlung“ Bericht 10: Stuttgart Verkündigung und jugendliche Milieus Tobias Becker Projektort: Stuttgart Anstellungsträger: Evangelisches Jugendwerk in Württemberg Projektstelleninhaber: Diakon Tobias Becker 114 Stuttgart 1. Einleitung: Projektidee und Konzeption Unsere bisherige Jugendarbeit erreicht meist nur Kinder und Jugendliche mit mittlerem und höherem Bildungsniveau. Das Angebot der Jugendarbeit gilt zwar allen Jugendlichen, wird aber in der Regel nicht von allen Jugendlichen wahrgenommen. Auch die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist noch vergleichsweise gering. Durch das Projekt soll der missionarische Auftrag unserer Kirche so wahrgenommen werden, dass Jugendlichen aus bisher nicht erreichten Milieus und Lebenswelten Gottes Liebe verkündigt wird. Im Projekt Brückenschlag werden junge Menschen in ihrer Lebenswelt aufgesucht und zu einem mehrtägigen Auftaktevent in Form einer Spielshow eingeladen. Die Jugendlichen werden dabei selbst zu Akteuren und Akteurinnen, indem sie Teil einer Mannschaft sind, die um die Ehre im Ort kämpft. Ausgehend von unserem normativen Ziel Durch das Projekt soll der missionarische Auftrag unserer Kirche so wahrgenommen werden, dass Jugendlichen aus bisher nicht erreichten Milieus und Lebenswelten Gottes Liebe verkündigt wird. soll das strategische Ziel Jugendliche aus bisher nicht erreichten Lebenswelten haben von Gottes Liebe gehört und christliche Gemeinschaft erlebt159 Gegenstand der vertieften Evaluation sein. Dieses strategische Ziel wurde in zwei Teilziele aufgeteilt: Die Glaubensvermittlung geschieht nach dem Spiel durch kurze Impulse, die an den Lebenswelten der Teilnehmenden ansetzen. In der Vertiefungsphase folgt gemeinsames Bibellesen in Kleingruppen zum Thema des Impulses. Fester Bestandteil ist die Befragung des „Experten“ zum Thema. Alle offenen Fragen sind erlaubt und werden gewürdigt. 1 . Durch Brückenschlag sind Jugendliche aus bisher nicht erreichten Lebenswelten mit kirchlicher Jugendarbeit in Kontakt gekommen und nehmen deren Angebote gerne wahr. In der Weiterarbeit nach diesem Event werden interessierte Jugendliche eingeladen, Teil eines Angebotes zu werden, welches ortspezifisch ins Leben gerufen wird. Neue Formen für geistliche Beheimatung der durch das Projekt erreichten Jugendlichen sollen entwickelt werden. Neben der Begleitung dieser prozessorientierten Veranstaltungsform werden die ehrenamtlichen Mitarbeitenden aus bestehenden Jugendarbeiten zu Milieuüberschreitungen motiviert und geschult. Das Projekt Brückenschlag wird von der Landesstelle des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg verantwortet und durchgeführt. Projektstelleninhaber ist Diakon Tobias Becker mit einem Stellenanteil von 60%. Da das Projekt jährlich wechselnd in Kooperation mit einem Bezirk oder einer Gemeinde durchgeführt wird, findet die Umsetzung in Zusammenarbeit mit dem Kernteam des durchführenden Kooperationspartners statt. Die Aufgabe des Diakons besteht darin das Kernteam vor Ort zu begleiten, zu beraten und beim Event die Rolle des Verkündigers zu übernehmen. 2 . Durch Brückenschlag haben bisher nicht erreichte Jugendliche Gottes Liebe und christliche Gemeinschaft durch Wertschätzung, Wahrnehmung und Anknüpfungsmöglichkeiten an biblische Werte und Inhalte erfahren. 2.1 Erreichte Lebenswelten und Inanspruchnahme der Angebote Um Wahrnehmungen und Beobachtungen zu Teilziel 1 zu erhalten, wurden folgende Verfahren gewählt und die Methode der Gruppenbefragung angewandt: vier Jugendliche der Mannschaft CC und vier Jugendliche der Mannschaft PP wurden in zwei getrennten Gruppenbefragungen im Januar 2012 befragt Telefongespräch mit einem CVJM-Vorstand160 2. Vertiefte Evaluation Das Projekt wurde in verschiedenen Orten und Kontexten durchgeführt. Im Oktober 2010 fand Brückenschlag in Zusammenarbeit mit dem örtlichen CVJM unter dem Titel XX in M-dorf statt. Die dort erhobenen Daten stellen die Grundlage der Untersuchung dar. Protokoll der Auswertungssitzung des XX-Kernteams am 05.05.2011 Wahrnehmungen des Projektstelleninhabers161 159 Ausarbeitung Projektziele 2010. Telefongespräch mit C.M. (CVJM-Vorstand), Juli 2012. 161 Ich habe diese Wahrnehmungen aus dem Gedächtnis auf der Grundlage meiner Besuche im Wohnzimmer und verschiedener Gespräche formuliert. 160 Verkündigung und jugendliche Milieus 2.1.1 A ussagen zum Kontakt der Jugendlichen mit der CVJM Jugendarbeit In der Gruppenbefragung mit der Mannschaft CC werden die Jugendlichen auf ihre Motivation, bei Brückenschlag (XX) mitzumachen, angesprochen. Dabei wird (ab Zeile 7) auch deutlich, an welchem Ort sie angetroffen wurden: S: „Also bei mir war das so. Also die E hat sich da informiert bei H und so hat sie uns gefragt. Und am Ende haben wir gehört, dass wir in Europapark gehen deshalb hab ich mitgemacht.“ M: „Bei mir war´s so, H ist zu mir gekommen und hat gefragt, ob ich da mitmachen will, da hab ich gesagt: Ja, okay. Hab sowieso nichts Besseres zu tun.“ E: „Ja bei mir war´s auch so. Ich war ja auch im Jugendhaus und da hat sie halt rumgefragt und hat halt keine Leute so richtig zusammen bekommen und da hat sie mich auch gefragt.“ Im gleichen Gespräch werden die Jugendlichen auf Vorkontakte mit dem „CVJM befragt (Zeile 157): I: „Die XX-Abende wurden ja vom CVJM durchgeführt. Hattet ihr schon vor den Jugendabenden etwas mit dem CVJM zu tun mal?“ E: „Ich nicht.“ S: „Hmm. Also ich auch nicht.“ M: „So richtig eigentlich nicht. Außer ein bis zweimal Jungschar.“ Etwas später werden die Jugendlichen auf ihre Kontakte zu Menschen aus dem CVJM angesprochen und wie sich diese durch das Wohnzimmer (ein 14-tägiges offenes Jugendangebot des CVJM als Eventfortführung) verändert haben (Zeile 249): S: „Also früher hatten wir keinen Kontakt. Weder H noch M. Aber jetzt schon. Ich find´s ganz okay mit den hier zu sein.“ M: „Ja, ich bin auch gleicher Meinung. Und, das Wohnzimmer ist nur durch CC so beliebt geworden. Weil, diese anderen von XX kommen ja nicht hier her. Das sind alles unser Freundeskreis.“ Int: „Also ihr habt nur den M und die H kennen gelernt und sonst? Haben sich sonst Kontakte geknüpft und Freundschaft oder so?“ M: „Nöö.“ S: „Ja, und dann hat sich das so entwickelt, dass wir zu dritt da hingegangen sind.“ Im Telefongespräch mit dem CVJM-Vorstand wurden folgende Beobachtungen mitgeteilt: Alle Jugendlichen der Mannschaft CC haben Migrationshintergrund und besuchten zum Zeitpunkt des Events die Hauptschule. Nach Einschätzung des CVJM-Vorstands besuchen 90% der CVJM-Jugendlichen über 14 Jahren eine weiterführende Schule.162 Das Protokoll der Sitzung der Begleitgruppe des Projekts Brückenschlag ergab folgende Einschätzungen: Im Vorfeld des Brückenschlag-Events XX wurden vier Mannschaften für die XX-Spielshow aufgestellt. Nach Einschätzung der (oder Kernteams des Projekts) besuchten vor Brückenschlag über die Hälfte aller mitspielenden Jugendlichen keine Gruppenangebote des CVJM.163 Diese Einschätzung wird ergänzt durch Wahrnehmungen des Projektstelleninhabers: Einen großen Teil ihrer freien Zeit verbringen die CC-Jugendlichen im kommunalen Jugendhaus. Hier treffen sich vor allem Jugendliche aus dem Umfeld der Hauptschule oder der alternativen Szene. CVJMJugendliche sind hier nur sehr selten anzutreffen. Auswertende Beobachtungen: Jugendliche aus Lebenswelten, die bisher keine Angebote des CVJM nutzten, sind durch Brückenschlag mit der Arbeit des CVJM in Kontakt gekommen und nutzen regelmäßig das Wohnzimmer, die offene Jugendarbeit des CVJM, welches nach dem Event ins Leben gerufen wurde. Es zeigt sich, dass es keine Berührungspunkte zwischen typischen CVJM-Jugendlichen und Besuchern des Wohnzimmers gab. Bei den CVJM-Jugendlichen herrscht eine klare innere Abgrenzung zu Jugendlichen, die kein traditionelles Gruppenangebot besuchen. 2.1.2 Aussagen zur Nutzung des CVJM Angebots Bei der Gruppenbefragung äußern sich die Jugendlichen des Teams CC auf die Frage, was sie über die Angebote des CVJM´s wie beispielsweise das XX-Event oder das Wohnzimmer denken (ab Zeile 161), folgendermaßen: Im CVJM war bekannt, dass XX vor allem ein Event sein sollte, um Jugendliche zu erreichen, die bisher noch keine Gruppenangebote des CVJM wahrnehmen. Jugendliche aus der Mannschaft PP, die aus CVJM-Jugendlichen gebildet wurde, äußern sich auf die Frage, warum sie mitgemacht haben, wie folgt (ab Zeile 7): C: „Sara hat uns gefragt. Der L hatte zu wenig Mitspieler und dann hat er uns gefragt, obwohl wir eigentlich nicht die Zielgruppe waren, die da mitmachen sollten.“ S: „War es nicht so, wir waren im Mädchenkreis und danach hat doch der L dich angerufen und irgendwie so und.“ I: „Genau.“ S: „und du hast noch gefragt, ob die C....“ I: „Weil ich nicht alleine in die Gruppe wollte.“ 115 S: „Also Wohnzimmer. Ich finde das eigentlich ganz schön. Weil, im Winter und so wir können halt nie draußen sein. Also wenn wir draußen sind, randalieren wir, also die Jungs oder so allgemein wird alles randaliert. Und hier hat man halt Spaß im Wohnzimmer. Wir sind alle zusammen. Wir Schwaben (?), wir reden, wir spielen.“ M: „So wie... Das Wohnzimmer ist halt gut geeignet für ? (unverständlich) Menschen. Wir haben sowieso nichts Besseres im Winter zu tun. Und dann gehen wir halt hierhin. Außerdem sonntags hat sowieso nichts offen. Also kommen wir hierher.“ Int: „Nur im Winter aber...?“ M: „Nö, nö, auch im Sommer. Wenn nichts los ist, kommen wir hierher.“ 162 Telefongespräch mit C.M. (CVJM-Vorstand), Juli 2012. Protokoll Auswertungsgespräch XX, Mai 2011, S. 1 (J.). 163 116 Stuttgart Angesprochen auf das, was sie sich vom CVJM wünschen würden, nennen die Jugendlichen (ab Zeile 262): E: „Dass es nicht nur sonntags, sondern auch an anderen Tagen das Wohnzimmer gibt.“ Int: „Okay.“ E: „Weil das ist ja nur jede zweite Woche so.“ S: „Bissle zu wenig.“ M: „Ja.“ S: „Und dass wir wieder zusammen kochen und dass wir wieder Regeln einhalten. Dass es dann Regeln gibt und dass jeder mithilft.“ E: „Und ganz einfach, dass, wenn niemand mithilft, dass dann derjenige auch nicht dazu kommt und so.“ M: „Ich stimmt sehr da zu.“ Int: „Also man braucht unbedingt Regeln.“ S + E: „Ja, auf jeden Fall, ja.“ S: „Weil, Sie haben´s sicher auch vorher gesehen. Unsere Jungs da drin. Die sind richtig schlimm.“ M: „Ja, die schreien halt rum und so.“ S: „Schalten das Licht aus. Vorletzte Woche müssten Sie sie sehen. Alle Tische lagen auf dem Boden und die Stühle, so was darf eigentlich nicht passieren. Weil H war letztes Mal allein hier und keiner hat auf sie gehört. Ich finde, alle sollten Respekt vor ihr haben. Die ist älter. Dank ihnen (H und M) sind wir hier.“ Int: „Wie kann man so was schaffen?“ (Pause) M: „Wenn wir alle mitmachen.“ S: „Vielleicht, dass man mal alles zusammen sitzt.“ E: Uund darüber diskutiert...“ S: „Ja genau.“ E: „Und mit M zusammen.“ Zum Ende des Gesprächs werden die Jugendlichen gebeten, noch mal zu sagen, was ihnen wichtig wäre (ab Zeile 303): E: „Also ich fand´s mit den CC war alles in Ordnung. Dadurch hab ich Freunde kennen gelernt. Hab Kontakt zu M, H und den anderen. Und ich bin eigentlich öfters jeden Monat hier. Mir macht´s voll Spaß.“ M: „Willst du nicht mal ne Predigt halten (lacht) Spaß (alle lachen).“ E: „So halt. Ich finde es sollte weiterhin so laufen, halt.“ Int: „Okay.“ E: „Ich bin zufrieden so.“ M: „Echt?“ (alle lachen) S: „Also ich stimm ihr zu, aber sonst fällt mir auch nichts ein.“ M: „Ja ich auch. Aber wie gesagt. Es sollten halt Dinge schon verändert werden.“ Int: „Zum Beispiel?“ S: „Regeln.“ E: „Ja.“ M: „Essen sollte man. Und mal was kochen. Was uns auch Spaß macht. Bisschen zusammen spielen. Und nicht so in der Ecke alleine spielen, (lachen) so Puzzle und so...“ Int: „Was könntet ihr noch beitragen, dass es besser läuft? (Pause) oder die Gruppe an sich?“ M: „Ja ich bin ja nicht der Mann im Haus, aber. Ich kann da nichts dazu sagen. Das muss schon M und H machen.“ S: „Ja.“ M: „Die sind ja die Leiter hier.“ Int: „Hmmm.“ S: „Die sind ja auch älter als wir. Wenn wir da was sagen, würden die sagen, wieso mischt ihr euch da ein.“ Auswertende Beobachtung Ein wichtiger Grund für die regelmäßige Nutzung des Wohnzimmers ist, dass es halt das einzige Angebot für Jugendliche am Sonntagabend ist. Dennoch fühlen die Jugendlichen sich mittlerweile in ihrem Wohnzimmer zuhause. Sie wünschen sich, dass die Leitenden die Einhaltung der Regeln durchsetzen, um einen geordneten Ablauf zu gewährleisten und den Fortbestand des Wohnzimmers sichern. Die Jugendlichen entwickeln im Gespräch dafür einen Lösungsvorschlag. Sie wünschen sich eine gemeinsame Diskussionsrunde mit allen Jugendlichen und den Verantwortlichen. Hier wird deutlich, dass es durch Brückenschlag und das Wohnzimmer gelungen ist, die CC-Jugendlichen im Sinne der Teilhabe zu erreichen. Es ist ihr Wohnzimmer geworden und sie sind nicht mehr bloß Gäste. 2.2 Erfahrbarkeit der Gottes-Liebe und christlicher Gemeinschaft Um Äußerungen von Jugendlichen im Rahmen von Teilziel 2 zu erheben, wurde eine Gruppenbefragung mit vier Jugendlichen der Mannschaft CC (Januar 2012) durchgeführt Diese wurde durch Beobachtungen des Projektstelleninhabers ergänzt. 2.2.1 A ussagen über Wertschätzung und Wahrnehmung beim Event Im Gespräch werden die CC-Jugendlichen gefragt, was man bei so einem Event besser machen sollte. Darauf entgegnen sie ab Zeile 65 folgendermaßen164: E: „Alles war in Ordnung eigentlich, also, s´war spannend. Alles war schön dunkel mit viel Musik, da waren Zuschauer da.“ Zwar kommt im Gesprächsverlauf auch kurz ein Konflikt mit einem anderen Team zur Sprache. Aber schon ab Zeile 78 dreht sich alles wieder um die Erlebnisse bei der Show: M: „Halt, dass es noch mal so was gibt.“ Int: „Das sollte man noch mal machen?“ M: „Ja.“ 164 Gruppenbefragung CC, Zeile 65. Verkündigung und jugendliche Milieus Int: „Warum? Was war so richtig gut daran?“ M: „Ja es hat Spaß gemacht.“ Int: „Warum?“ M: „Ja so halt.“ (versucht zu erklären, Mädels mischen sich ein...) S: „Vier Nächte hintereinander.“ E: „Das war halt so...“ S: „Waren alle halt zusammen.“ M: „Voll aufgeregt.“ Int: „Alle voll dabei so...“ M: „Ja.“ S: „Alle waren gut drauf.“ M: „Viele Zuschauer.“ E: „Ja.“ Auf die Bitte, das Event positiv oder negativ zu bewerten kommen die Jugendlichen zu folgenden Aussagen (ab Zeile 135)165: E: „Ich hab mich wie ein Star gefühlt.“ Int: „Wie ein Star... weil so viele Zuschauer da waren?“ E: „Ja.“ (lacht etwas verlegen) Int: „Okay.“ M: „Voll geschmeichelt...“ Int: „Ja, ist doch schön. ... Sonst noch was?“ (Nöö Geräusche) M: „Nöö.“ Int: „Besonderes Erlebnis? Irgendwas?“ S: „Schöne Erinnerungen haben wir halt.“ Auswertende Beobachtungen: Das Brückenschlagkonzept mit der Form der Spielshow hat ein hohes Potential, dem Evangelium durch Wertschätzung und Wahrnehmung Gestalt zu geben. Jugendliche sind als Akteure bei der Spielshow beteiligt, sie werden als Gesprächspartner ernst genommen und ihre Potentiale werden wahrgenommen. Mit dem Event wird ein Raum ermöglicht, in dem auch Hauptschuljugendliche zeigen können, welche Gaben und Fähigkeiten in ihnen stecken. 2.2.2 A ussagen über Wertschätzung und Wahrnehmung im Wohnzimmer Als weiterführendes Angebot des Brückenschlagevents wurde mit dem Wohnzimmer eine 14-tägige offene Jugendarbeit etabliert, die von den CC-Jugendlichen regelmäßig besucht wird. Ab Zeile 249166 schildern die befragten Jugendlichen ihr Empfinden gegenüber dem Wohnzimmer und den Mitarbeitenden: 117 S: „... Vorletzte Woche müssten Sie sie sehen. Alle Tische lagen auf dem Boden und die Stühle, so was darf eigentlich nicht passieren. Weil H war letztes Mal allein hier und keiner hat auf sie gehört. Ich finde, alle sollten Respekt vor ihr haben. Die ist älter. Dank ihnen (Anm: H und M) sind wir hier.“ Auf die Frage, was sie sich vom CVJM wünschen würden, äußern sich die Jugendlichen ab Zeile 292 wie folgt: S: „Ja, dass wir vielleicht alle mal irgendwo hingehen. Irgendwelche berühmte Dinger besichtigen. Weiß nicht.“ M: „Ja das nicht, (lachen) aber nicht intelligentes, aber zum Beispiel ins Filderado irgendwann mal.“ S: (lacht) „In Zoo, ins Freibad, solche Sachen...“ E: „Eis essen.“ (alle lachen etwas) M: „So halt mehr zusammen unternehmen.“ Wahrnehmungen des Projektstelleninhabers: Die Mitarbeitenden des Wohnzimmers werden von den Jugendlichen geschätzt. Während meiner Besuche im Wohnzimmer konnte ich erleben, wie besonders eine ehrenamtliche Mitarbeiterin und der Gemeindediakon immer wieder als Gesprächspartner aufgesucht wurden. Mittlerweile sind intensive Beziehungen gewachsen, so dass auch sehr persönliche Sorgen und Probleme mit den Mitarbeitenden besprochen werden. Auswertende Beobachtungen: Durch die hohe Beziehungsorientierung im Wohnzimmer erfahren die Jugendlichen Wertschätzung. Sie wissen den Einsatz der Mitarbeitenden zu schätzen. Auch der regelmäßige Besuch belegt das hohe Maß an erfahrener Wertschätzung. Mit dem Wohnzimmer wurde ein Ort geschaffen, an dem die Gesetze der Leistungsgesellschaft keine so große Rolle spielen. Niemand wird im Wohnzimmer nach seinen Noten gefragt. Mit dem Wohnzimmer wird der biblische Wert von Gastfreundschaft für die Lebenswelt der CC und ihrer Freunde in M-Dorf gelebt. Die Regelmäßigkeit, mit der die CC das Wohnzimmer besuchen, belegt ein hohes Maß an erlebter Wertschätzung. Die investierte Zeit für Beziehungsarbeit im Wohnzimmer trägt Früchte: Die Mitarbeitenden werden als Gesprächspartner aufgesucht und ihr Rat ist geschätzt. Das Wohnzimmer stellt einen Ort dar, an dem Jugendliche willkommen sind. Dennoch bleibt selbstkritisch festzustellen, dass die Möglichkeiten für eine intensivere Arbeit mit den Jugendlichen im Wohnzimmer nicht voll ausgeschöpft werden. Die Jugendlichen wären offen für mehr gemeinsame Aktivitäten, die wiederum die Beziehungen intensivieren. S: „Also früher hatten wir keinen Kontakt. Weder H noch M. Aber jetzt schon. Ich find´s ganz okay mit den hier zu sein.“ Ein paar Zeilen später (277-280) geht es um die Disziplinschwierigkeiten, die immer wieder den Ablauf im Wohnzimmer und letztlich auch den Fortbestand des Wohnzimmers gefährden167: 165 Gruppenbefragung CC, Zeile 135. 166 Gruppenbefragung CC, Zeile 249-250. 167 Gruppenbefragung CC, Zeile 277-280. 2.2.3 A ussagen über Anknüpfungsmöglichkeiten an biblische Werte und Inhalte Aufgrund der langen Zeitspanne zwischen der Befragung und dem Event ist davon auszugehen, dass sich die Aussagen überwiegend auf das im Wohnzimmer Erlebte beziehen. Auf die Angebote im CVJM 118 Stuttgart angesprochen, bei denen es um den christlichen Glauben geht, äußern sich die befragten Jugendlichen ab Zeile 200168 so: M: „Ich find´s okay, aber wir sind halt keine Christen, was soll ich dazu sagen...“ Int: „Ja, du hast bestimmt ne Meinung darüber, auch als Nichtchrist...“ E: „Doch, also auch wenn ich keine Christin bin oder so, trotzdem interessiert mich des also. Zum Beispiel, vor kurzem, also nicht vor kurzem, sondern. Wir haben mal so einen Film angekuckt über Jesus. Und ich war die Einzige, die geheult hat, weil ich weischt... mich interessiert das schon auch. Bin zwar Moslem, aber interessieren andere Religionen auch.“ Konkret auf das Bibellesen und die Andachten im Wohnzimmer angesprochen (Zeilen 219-220):169 S: „Ja, sie (Anm: Mitarbeiterin) erzählt uns halt ab und zu solche Geschichten oder liest uns halt was vor. Da hören wir halt zu und sagen unsere Meinung schon dazu.“ In diesem Zusammenhang geht es dann darum, ob sie durch solche Angebote etwas über den christlichen Glauben und für sich persönlich gelernt haben (Zeile 232-245):170 E: „Also ich weiß jetzt, wie Jesus aufgehangen wurde und warum und so.“ S: „Ja.“ E: „Früher wusste ich das schon, aber nicht richtig. Aber jetzt schon, so einigermaßen hab ich´s im Griff (lacht etwas verlegen).“ M: „Gehört haben wir schon viele Sachen, aber... Keine Ahnung.“ S: „Ich stimm dem zu.“ M: „Das sind Sachen, die ich schon längst kenn. Früher habe ich auch Film von Jesus angekuckt, kam ja auch im Fernsehen. Das hab ich alles schon gesehen, gehört und so.“ Int: „Hast du da auch was gelernt für dich? Oder nur gesehen?“ M: „Ich hab´s einfach nur gesehen. Was soll ich da auch lernen? Dass... Keine Ahnung. Bisschen netter sein.“ Int: „Okay.“ S: „Respekt.“ M: „Ja.“ Auswertende Beobachtungen: Brückenschlag ist eine gute Möglichkeit, einen ersten Kontakt zwischen Jugendlichen und Glaubensthemen herzustellen. Das Thema Glauben ist für die CC-Jugendlichen nicht unwichtig, auch wenn es im Wohnzimmer nicht ihr Topthema ist. Für sie besteht kein Grund dazu, sich auf den christlichen Glauben näher einzulassen, da sie ja Muslime sind. Das Gespräch über den Glauben wird daher von den CC-Jugendlichen eher als Lernstoff wahrgenommen und nicht persönlich existenziell. Werte des christlichen Glaubens wie Annahme und Nächstenliebe werden unter dem Begriff Respekt verortet und durchaus positiv gesehen. Dennoch bedarf der Bereich des Glaubensgesprächs einer intensiveren Betrachtung. Es ist festzustellen, dass kognitiv orientierte Verkündigungsformen im Kontext Wohnzimmer an ihre Grenzen kommen. Es stellt sich daher eine didaktische Herausforderung. Es ist zu hinterfragen, ob die Methode einer kognitiv ausgerichteten Andacht in diesem Kontext das geeignete Mittel ist. Das Beispiel des Jesusfilms zeigt, wie viel einprägsamer dieses visuelle Medium im Gegensatz dazu war. Sicher liegt es auch daran, dass hier einer der wenigen Methodenwechsel stattgefunden hat. Darüber hinaus stammt das Medium Film aus der konkreten Lebenswelt der Jugendlichen. Es kommt daher darauf an, im Wohnzimmer die Vielfalt der Methoden zu nutzen. Außerdem müssen diese adäquat für die Jugendlichen sein. Auf rein kognitivem Wege werden sie offensichtlich nicht erreicht. Spannend ist, der Frage nachzugehen, wie Jugendlichen dieser Zielgruppe in anderen Kontexten Wissen vermittelt wird. Der Bildungsplan für Werkrealschulen171 Baden-Württemberg schreibt in seinen Leitgedanken für den Evangelischen Religionsunterricht vor: „Grundlegend ist der Zusammenhang von Handeln, Erfahrungen und Verstehen. Besonders durch handlungsbezogene projektorientierte Lernformen wird ein Gespräch über Einsichten und Bedeutungen ermöglicht.“172 Christliche Jugendarbeit ist gut beraten, im Gespräch über den Glauben diese Erkenntnisse zu berücksichtigen. Das stellt die Verantwortlichen vor die Herausforderung, die Arbeit des Wohnzimmers vermehrt zu fördern. Die Mitarbeitenden müssen für ihre didaktischen Aufgaben geschult werden. Weiter ist zu beobachten, dass das Gespräch über den Glauben im Kontext muslimischer Jugendlicher eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Allerdings scheint der Umgang in Bezug auf Gespräche über den Glauben bisher sensibel genug geschehen zu sein. Im XX-Auswertungsgespräch wurde die missionarische Strategie für das Wohnzimmer folgendermaßen beschrieben. Das Hauptziel besteht nicht darin, Jugendliche zu bekehren, sondern ihnen zu begegnen und Christus zu bezeugen.173 Man ist bereit den langen Weg einer beziehungsorientierten offenen Jugendarbeit zu gehen. Die Mitarbeitenden wollen daher als offene Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Es bleibt aber das langfristige Ziel, dass alle Jugendlichen in eine persönliche Christusnachfolge eingeladen werden sollen. 3. Metareflexion Das Projekt Brückenschlag ist ein gutes Instrument, um mit Jugendlichen ohne kirchliche Sozialisation in Kontakt zu kommen. Die Idee der Spielshow setzt an der Lebenswelt Jugendlicher an und ermöglicht durch das Konzept der hohen Beteiligung persönliche Wahrnehmung, Wertschätzung und Förderung ihrer Potentiale. 171 168 Gruppenbefragung CC, Zeile 200-205. 169 Gruppenbefragung CC, Zeile 219-220. 170 Gruppenbefragung CC, Zeile 232-245. Hauptschulen werden zurzeit in Werkrealschulen umgebildet. Die Schüler und ihre Fähigkeiten sind aber noch die gleichen. 172 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden Württemberg (Hrsg.) 2010, S. 16. 173 Protokoll Auswertungsgespräch XX, S. 2 (M.). Verkündigung und jugendliche Milieus Offene Räume in der Weiterarbeit wie das Wohnzimmer ermöglichen auch Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund Beheimatung und Begegnung. Dabei sind Wertschätzung und Wahrnehmung durch die Mitarbeitenden von elementarer Bedeutung für ein überzeugendes und einladendes Christuszeugnis. Es ergeben sich folgende Herausforderungen und Lernfelder für die Arbeit des EJW: Glaubenssprachfähigkeit schulen. Mitarbeitende müssen für die Weitergabe des Glaubens zu zielgruppengerechten didaktischen Formen angeleitet werden und die Vielfalt der Methoden kennen lernen. Interreligiöse Dialogbereitschaft. Unsere Sprach- und Dialogfähigkeit bei der Kommunikation des Evangeliums in der Begegnung mit Muslimen muss neu bedacht und gefördert werden. Sind wir auskunftsfähig über unseren Glauben? Mut zu langem Atem. Notwendig sind Mitarbeitende, die bereit sind, lange Wege mit Jugendlichen zu gehen, ohne schnell Erfolge sehen zu müssen. Nachhaltige Veränderungen bedürfen langer Zeit. Milieusensibilität wach halten. Das Jugendwerk hat dafür Sorge zu tragen, dass es verschiedene Arbeitsbereiche gibt, die sich um das Thema milieusensible Jugendarbeit kümmern. Daher muss die Vernetzung und Kooperation mit diesen Arbeitsfeldern innerhalb des EJW verstärkt werden. 3.1 Schlussgedanken Das Projekt Brückenschlag verdeutlicht, dass die bisher gegangenen Schritte allenfalls ein Anfang auf dem Weg hin zu anderen Lebenswelten/Milieus sind. Man muss sich bewusst sein, dass die Früchte dieser Arbeit unter Umständen erst in vielen Jahren erkennbar werden. Schließlich handelt es sich bei diesem Unterfangen um nicht weniger als einen Paradigmenwechsel. Deshalb ist es bereits ein Erfolg, unterwegs zu sein. Anhang: Eine typische Situation im Projekt Brückenschlag „Eine typische Situation“ – da fallen mir sofort Szenen mit begeisterten Jugendlichen ein. So etwas ließe sich gut berichten: Jugendliche aus ganz verschiedenen Lebenswelten, die an vier Abenden im Rahmen der Brückenschlag-Spielshow leidenschaftlich um die Ehre im Ort kämpfen. 119 Jugendliche, die auf diese Weise Kirche und christliche Jugendarbeit ganz anders und vielleicht zum ersten Mal kennen lernen. Jugendliche, die das Evangelium durch Wertschätzung erleben und von der Liebe Gottes hören. Und so etwas ist begeisternd. Ja, davon ließe sich gut erzählen. Doch waren es typische Situationen für das Projekt Brückenschlag? Wohl eher nicht. Es war ein Highlight. Typischer waren die vielen Gespräche und Diskussionen mit Menschen über das Brückenschlag-Grundanliegen. Ich denke dabei an das Gespräch mit einer leitenden Mitarbeiterin. Sie hatte vom Projekt gehört und versucht, ihre Gemeinde dafür zu gewinnen, einen Brückenschlag zu wagen. Leider ohne Erfolg. Und ich spüre: Leiten und leiden gehören manchmal zusammen. Sie wünscht sich, dass die Jugendlichen, die von der bisherigen kirchlichen Jugendarbeit nicht erreicht werden, mehr in das Blickfeld der Gemeinde genommen werden. Immer wieder hört sie, dass Gott ja alle Menschen liebt und es schon wichtig sei, dass man für die da was macht... Doch scheint dieser Wunsch eher ein theoretischer zu sein. Denn wo und wie wird so was konkret? Oder ahnen es viele schon? Denn eins ist klar. Wo Jugendliche aus anderen Lebenswelten auftauchen, da wird das bisherige System der Jugendarbeit in Frage gestellt. Und auch diese Frage ist gerechtfertigt: Wer hat schon so viel Kraft und Kapazitäten, um den Jugendlichen aus anderen Lebenswelten dann gerecht zu werden? Wir sind ja an vielen Orten froh, das Bisherige am Leben erhalten zu können. Wie kann man da noch eine zusätzliche Baustelle aufmachen? Diese Fragen und Gespräche waren typisch für das Projekt. Und ich gebe zu: Ich habe keine einfache Lösung parat. Und trotzdem. Diese Fragen müssen vermehrt diskutiert werden. Denn Gottes Liebe gilt allen. Literaturverzeichnis Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden Württemberg (Hrsg.) (2010): Bildungsplan 2010 Werkrealschule, Stuttgart. 120 Kurzberichte II. Kurzberichte 121 122 123 Menschen entdecken – gemeindediakonisch handeln: Diakonieladen Kaufkultur Bericht 11: Tuttlingen Diakoniekaufhaus Dennis Kramer Projektort: Tuttlingen Projektträger: Evangelischer Kirchenbezirk Tuttlingen Projektstelleninhaber: Diakon Dennis Kramer 124 Tuttlingen 1. Projektidee und Projektkonzeption Die Idee für das Projekt „Menschen entdecken – gemeindediakonisch handeln“ entstand durch die Beobachtung von Bedarfen, die in der bisherigen Arbeit in der Bezirksstelle nicht abgedeckt wurden. Mit einem Wechsel in der Geschäftsführung erlebte die Arbeit mit Ehrenamtlichen einen neuen Aufschwung. Schon bald wurde deutlich, dass ehrenamtliches Engagement kein Selbstläufer ist, sondern Ehrenamtliche auch Betreuung, Begleitung und Schulung bedürfen. Anfang 2009 belief sich die Zahl derer, die sich ehrenamtlich bei der Diakonischen Bezirksstelle engagierten, auf ca. 120 Personen. Bald wurde klar, dass dieses Arbeitsgebiet nicht nebenbei zu bearbeiten ist. Der zweite Hauptaspekt der Projektidee war die Überlegung, das Diakonielädle, in dem gebrauchte Kleidung günstig weiter verkauft wurde, aus- und umzubauen. Eine Erweiterung des Angebots auf Möbel und Hausrat erschien notwendig. Von erweiterten Öffnungszeiten versprach man sich höhere Umsätze, um so bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen. Am Anfang standen Überlegungen, wie ein zukünftiges Sozialkaufhaus in Tuttlingen aussehen könnte. Dazu wurde ein Konzept geschrieben, welches die Ausgangssituation beschreibt, zentrale Ziele formuliert und weitere Ausbauideen beschreibt. Die Konzeption wurde immer wieder mit einer Begleitgruppe diskutiert und überarbeitet. Nachdem ein grundsätzliches Konzept bestand, wurde die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten aufgenommen. Diese waren überraschend schnell gefunden. Mit Hilfe eines Architekten wurden dann erste Überlegungen zur Raumgestaltung angestellt. Weitere Hilfe wurde von zwei Studierenden der Fachrichtung Kommunikationsdesign geleistet. 2. Wichtige Stationen / Meilensteine Konzeptionierungsphase Diakonieladen Kaufkultur Raumsuche und Einrichtungskonzeption Testphase Ladenbetrieb Der Laden etabliert sich im Gemeinwesen Kultur im Kaufhaus Ehrenamt 2.3 Weichenstellungen / Stolpersteine Die wichtigsten Weichenstellungen, die auch gleichzeitig Stolpersteine hätten werden können, wurden sicherlich vom Diakonischen Bezirksausschuß (DBA) beschlossen. Am Anfang, schon vor dem Projekt, wurde grundsätzlich die Einrichtung der Diakonenstelle und die damit verbundene Finanzierung beschlossen. In der Diskussion verschiedener möglicher Konzepte folgte der DBA dem von den „Praktikern“ favorisierten Vorschlag. So wurde es möglich, den Laden in der Tuttlinger Innenstadt anzumieten. Schon bald wurde deutlich, dass die Person des Diakons alleine nicht reichen würde, um Öffnungszeiten und Kontinuität zu sichern. So wurde entschieden, zwei zusätzliche 75%-Kräfte anzustellen. Schwierig war es, die Ehrenamtlichen mitzunehmen in das neue Konzept. 3. Ergebnisse 3.1 Teilziel 1 Ehrenamtliche engagieren sich im Diakonieladen Kaufkultur Das Thema Ehrenamt war von Anfang an zentraler Bestandteil des Projekts. Hauptaufgabe am Anfang war es, die Ehrenamtlichen, die im Diakonielädle vergleichsweise autark gearbeitet hatten, mitzunehmen in ein neues Konzept. Das Diakonielädle spielt in der Erinnerung der Ehrenamtlichen immer noch eine große Rolle. Viele Diskussionen gab es um die Frage der Transparenz des Ladens. „Da kann uns ja jeder sehen“174 konnte man da hören und hinzugefügt wurde, „die Kunden sieht man aber auch.“ „Da werden die alle weg bleiben.“175 Schwierigkeiten brachte auch die Vorstellung, dass neben den Ehrenamtlichen nun auch sogenannte „Ein-Euro-Jobber“ dort arbeiten sollten. In dieser Situation habe ich versucht, die Ehrenamtlichen an möglichst vielen Stellen der Konzeptionierung zu beteiligen. Schon bevor überhaupt klar war, wie und wo es einen neuen Laden geben könnte, wurde eine Projektgruppe gegründet. In dieser Projektgruppe saßen Vertreter und Vertreterinnen der Stadt, des Sozialamts, anderer sozialer Einrichtungen, Vertreter der Kirchengemeinden und Ehrenamtliche aus dem Laden. Mir war es wichtig, dass meine konzeptionellen Überlegungen dort diskutiert wurden. So konnten die Experten und Expertinnen vom Konzept überzeugt werden aber auch die Ehrenamtlichen. Dabei war ich besonders bedacht, dass vor allem die „key persons“ aus dem Kreis der Ehrenamtlichen beteiligt waren. Diese waren m.E. zentrale Personen, die authentisch dafür sorgen konnten, dass die konzeptionellen Überlegungen von den Ehrenamtlichen akzeptiert werden. Parallel dazu habe ich versucht, so viel wie möglich Kontakt zu den Ehrenamtlichen zu pflegen. Diese Kontakte wurden genutzt, um sehr schnell und direkt neue Entwicklungen, die den Laden betrafen, zu verbreiten. So gab es in regelmäßigen Abständen Treffen bei Kaffee und Kuchen. Bei diesen Treffen versuchte ich unter anderem auch aufzunehmen, welche Anregungen die nicht direkt beteiligten Ehrenamtlichen noch geben konnten. Später wurden diese Treffen dann mit „Baustellenbesichtigungen“ im neuen Ladengeschäft abgeschlossen. Trotz teils großer Vorurteile gelang es schließlich, dass bei der Eröffnung des Ladens alle vormals engagierten Ehrenamtlichen weiter bereit waren, mit zu helfen. Dazu kamen noch einige Neue, die wegen der Berichterstattung in den Medien neugierig geworden waren. 174 Gedächtnisnotiz Ladenbesprechung vom 13. Mai 2009. 175 Ebd. Diakoniekaufhaus Im Laufe der Zeit beendeten dann auch einige ihr Engagement, andere kamen hinzu. So arbeiten im Laden kontinuierlich ca. 25 Ehrenamtliche. Durch die Berichterstattung in den Medien und die Rückmeldungen, die die Ehrenamtlichen von Kunden bekamen, wandelte sich die Skepsis sehr schnell. „Einen schönen Laden haben wir da jetzt, schön modern eingerichtet.“176 Unverständnis begegnete mir sogar bei einer Adventsfeier, bei der ich mich nochmals für das Engagement bedankte. Da gäbe es nichts zu danken, es ginge ja schließlich um ihren Laden! Das Verhältnis zwischen den Ehrenamtlichen und den „1-Euro-Jobbern“ ist weiterhin zwiespältig. Auf der einen Seite haben die Ehrenamtlichen akzeptiert, wie wichtig die Beschäftigung im Laden für die Jobber ist. Auf der anderen Seite wird immer wieder moniert, dass es an Identifikation mit dem Laden bzw. seinen Zielen und Bereitschaft zum Engagement mangeln würde.177 Hier bietet der Laden Raum für ein eminent wichtiges, gesellschaftlich bedeutendes Lernfeld. Das Ziel eines gleichberechtigten Nebeneinanders wird wohl nie völlig erreicht werden, und doch werden die Beteiligten zu Botschaftern einer Gesellschaftsordnung, die über Milieugrenzen hinweg miteinander kommuniziert und arbeitet. Zusammengefasst kann man sagen, dass Selbstbestimmung, Transparenz und Beteiligung die wichtigsten Bedingungen sind, die im Umgang mit Veränderungsprozessen aber auch in der allgemeinen Arbeit mit Ehrenamtlichen zu beachten sind. 3.2 Teilziel 2 Der wirtschaftliche Erfolg des Diakonieladens bietet die Grundlage für sozial-diakonische Arbeit. Neben dem Erhalt der gewachsenen Ehrenamtsstrukturen war das Schaffen von bezahlter Arbeit und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Erfolg des Ladens Kernziel. Die Erlöse im Diakonielädle wurden für Miete und Nebenkosten des Ladengeschäfts, Einrichtung und Personal ausgegeben. Die Personalkosten entstanden durch die Beschäftigung von drei Personen auf Minijobbasis. Der Erlös wurde durch Verkauf und Regiekosten für eine „Ein-Euro-Jobberin“ erwirtschaftet. Neben den Kosten des laufenden Betriebs konnten regelmäßig Rücklagenzuführungen vorgenommen werden. Aus diesen Rücklagen konnte dann auch letztlich die Teilfinanzierung der neu geschaffenen Diakonenstelle bestritten werden. 125 Besonders die langfristige finanzielle Sicherung der Diakonenstelle auch über die Projektförderung hinaus stand im Mittelpunkt der Überlegungen. So wurde also das Angebot vergrößert. Neben der Kleidung wurden nun auch Bücher, Elektrogeräte, Hausrat, Schmuck und Spielzeug verkauft. Bei der Einrichtung des Ladens wurde auf attraktive und gleichzeitig funktionelle Gestaltung geachtet. Die Innenausstattung korrespondiert dabei mit dem innovativen Design der Aussenbeklebung sowie der Werbemittel und Publikationen. Im Außenbereich wurden Wühlkörbe positioniert, um die Menschen zum verweilen einzuladen. Die Schaufenstergestaltung wird im Zweiwochenrhythmus geändert. Insgesamt werden 44 Stunden Öffnungszeit in der Woche vorgehalten. Durch die genannten Maßnahmen erhöhte sich die Kundenfrequenz und somit auch der Umsatz. Gesteigert wurde dieser Effekt noch mal durch die Eröffnung einer Café Bar im Laden. Synergien werden auch durch die Nutzung des Ladens mit Kulturveranstaltungen in Schließzeiten erreicht. Schon bald begannen Überlegungen, wie die Geschäftsbereiche des Ladens weiter ausbaubar sein könnten. So wurde ein weiteres Ladengeschäft angemietet, um dort mehr Möbel ausstellen zu können. Kurz darauf wurde ein zusätzliches Kleingewerbe gegründet, welches sich mit dem Verkauf von antiquarischen Büchern über die Internetplattform Amazon Marketplace™ beschäftigt. Der Geschäftsbereich Möbel erfuhr Mitte 2012 eine Aufwertung durch ein zusätzlich angemietetes Lager mit ca. 350 m² und die Schwerpunktverlagerung einer 75%-Stelle auf dieses Thema. Wie auf Abbildung 1 zu sehen ist, steigerten sich die Umsätze von Anfang an. Im Jahr 2009 gab es durch den Umzug in der Jahresmitte knapp acht Wochen Schließzeit. Berücksichtigt sind die Einnahmen des Diakonielädles und dann später des Diakonieladens. Durch den frühen finanziellen Erfolg war es sehr schnell möglich, zwei Langzeitarbeitslose jeweils mit 75 % v.H. anzustellen. Die Stellen waren bis 31. August 2013 befristet und wurden, wie die Diakonenstelle auch, entfristet. Abbildung 1: Umsatzentwicklung in den Jahren 2008 bis 2011 120.000,00 € 100.000,00 € 80.000,00 € 60.000,00 € 40.000,00 € Aus dieser Anfangssituation heraus wurde damit kalkuliert, dass der Laden bei erweiterten Öffnungszeiten und einer öffentlichkeitswirksamen Präsentation bzw. Ausweitung des Angebots auch höhere Erlöse erwirtschaften kann. Diese Überlegungen wurden durch ein Marketingkonzept bestätigt. 176 Gedächtnisnotiz Gespräch mit Ehrenamtlichen am 17.09.2009. 177 Vgl. Gruppendiskussion Ehrenamt Zeilen 110 bis 130. 20.000,00 € 0,00 € 2008 1 2009 2 2010 3 2011 4 126 Tuttlingen In Abbildung 2 ist eine ungefähre Aufteilung der Umsätze zu sehen. Die Zahlen sind auf Grundlage des aktuell vorliegenden Zahlenmaterials angenommen. Zuwächse können vor allem im Internet- und Bücherhandel verzeichnet werden, während die Umsätze im Kerngeschäft etwas nachgelassen haben. Gründe dafür sind nicht zuverlässig zu nennen. Es ist aber zu vermuten, dass diese Entwicklung mit den prosperierenden wirtschaftlichen Verhältnissen in Tuttlingen zusammenhängt. Diese Entwicklung scheint sich aber schon jetzt umzukehren, sodass man davon ausgehen kann, dass der Umsatz direkt mit der Umsatzkraft bzw. Kraftlosigkeit der Kundschaft zusammenhängt. 2.000,00 € Abbildung 2: Kalkulierte Umsatzanteile für das Jahr 2012 30.000,00 € 12.000,00 € 12.000,00 € € 12.000,00 12.000,00 € 20.000,00 € 20.000,00 € € 12.000,00 € 20.000,00 20.000,00 € 20.000,00 € 30.000,00 € 30.000,00 € € 30.000,00 30.000,00 € 30.000,00 € den hohe Flexibilität erfordern. Auf neue Geldquellen muss schnell und zielgerichtet reagiert werden, ohne dabei pädagogische, theologische und soziale Ziele aus dem Blick zu verlieren. Langfristig scheint es unumgänglich, sich aus der Abhängigkeit von Drittmitteln und öffentlicher Förderung zu lösen. Der Aufbau einer sich selbst finanzierenden Sozialwirtschaft z.B. nach Schweizer Vorbild könnte eine Lösung sein. Vor allem unter diesem Gesichtspunkt wird innerkirchliche Öffentlichkeitsarbeit immer wichtiger werden. Eine kleinmaschige Vernetzung mit den Subsystemen christlicher Gemeinschaften, die ein hohes Maß an Sprachfähigkeit sowohl im sozialen als auch im kirchlichen Bereich erfordern, könnte eine Grundvoraussetzung sein, um einen gesellschaftlichen Gegenpol zum Diktat des Kapitals zu bilden. Anhang: Ein typischer Tag Regiekosten Es ist Montagmorgen 9 Uhr. Ich betrete den Laden und möchte in Verkaufserlös Diakonieladen mein Büro. Bevor ich es erreiche, fängt mich eine meiner MitarbeitenVerkaufserlös Möbel den ab. „Herr Kramer! Am Freitagabend hat mich Frau M. den ganzen Verkaufserlös Möbel Internethandel Nachmittag Fenster putzen lassen. Ich hab es jetzt so im Kreuz…“ Verkaufserlös Internethandel Verkaufserlös Internethandel Regiekosten Regiekosten Regiekosten Verkaufserlös Diakonieladen Verkaufserlös Diakonieladen Regiekosten Verkaufserlös Diakonieladen Möbel Verkaufserlös Möbel Regiekosten Verkaufserlös Diakonieladen Möbel Internethandel Verkaufserlös Internethandel Verkaufserlös Diakonieladen Möbel Internethandel 80.000,00 € 80.000,00 € € 80.000,00 80.000,00 € 80.000,00 € 4. Aussichten und Anregungen 80.000,00 € Ein Laden ohne Ehrenamtliche ist für mich inzwischen nur noch schwer vorstellbar. Sie sind die Brückenbauer in die örtliche Gesellschaft und zu den Kunden. Trotzdem ist es schwierig, ein Unternehmen zu führen, das innovativ sein will und sich ständig weiter entwickelt und gleichzeitig darauf zu achten, dass alle mit der Geschwindigkeit Schritt halten können. Was in der großen Wirtschaft nicht klappt, bei der die Abgehängten irgendwann im Wohlfahrtssystem landen, muss in einer diakonischen Einrichtung oberstes Gebot sein. Umso wichtiger ist es, alle Beteiligten auch zu beteiligen und eine Struktur zu finden, in der nicht zwangsläufig alle selber mitgehen, aber eben doch die Idee mittragen. Die besondere Herausforderung der milieugemischten Mitarbeiterschaft und der damit verbundenen unterschiedlich hohen Motivation und Einsatzbereitschaft ist gleichzeitig Weg und Ziel. Außergewöhnliche Schwierigkeiten brachten in der Vergangenheit Umstrukturierungen in der Sozialgesetzgebung, in der ein Rückzug des Staates aus seiner solidarischen Verantwortung hin zu einem völlig deregulierten System, in dem nicht die Freiheit des Menschen, sondern die Freiheit des Kapitals, im Mittelpunkt steht, mit sich. Dieser Trend wird sich vermutlich fortsetzen. Der Ein-Euro-Job, der zumindest einige (wenn auch nicht nur) positive Effekte hatte, ist so gut wie abgeschafft. Das Gemeinnützigkeitsrecht steht durch Europäisierungstendenzen auf dem Prüfstand. Diese Entwicklungen wer- (Wir werden von Herrn S. unterbrochen. Er ist für die Abholung von Möbeln zuständig) „Herr Kramer! Nur ganz kurz! Sollte die Sofagruppe jetzt in Mühlheim oder in Möhringen abgeholt werden?“ Ich komme meinem Büro näher, als ich gerade die Klinke runter drücke, ruft es vom Kassentresen: „Herr Kramer! Frau X, Y und Z haben sich krank gemeldet. Wer soll jetzt die Nachmittagsschicht übernehmen?“ Ich betrete mein Büro und schließe die Tür. Das Telefon klingelt. „Ja, hier ist M. Ich wollte mal fragen, nehmen Sie auch Kleider?“ Ich ziehe meine Jacke aus. Das Telefon klingelt. Frau B. aus der Verwaltung ist dran. „Kannst Du mir heute noch Einzahlungsbelege bringen? Ich muss den Monatsabschluss machen.“ Ich setze mich, es klopft an der Tür. „Übrigens die Spülung im Herrenklo ist defekt“. Ich höre den Anrufbeantworter ab. Dreimal die Frage nach den Öffnungszeiten, zweimal Schweigen im Äther. Das Telefon klingelt. Pfarrer K. ist dran: „Herr Kramer! Ich wollte mal fragen, ob Sie bereit wären, im Konfirmandenunterricht eine Einführung in das Thema Diakonie zu machen? ….dann warte ich auf Ihren Stundenentwurf und sage dann Bescheid, ob das so in Ordnung geht.“ Ich trage den Umsatz vom Wochenende in die Tabelle ein. Es klopft. Die Ehrenamtliche Frau S. „Herr Kramer! Ich bin da….ich wollte das eigentlich gar nicht… es ist schon eine gute Sache…teuer ist es aber… Können Sie mir das schreiben? Dieses, eine Kündigung. Ich will nicht mehr für den Kneippverein zahlen.“ Es klopft. „Herr Kramer! Da fragt einer nach einem Praktikum“. Ich schreibe einen Beitrag für das Geburtstagsheft der Gesamtkirchengemeinde. Thema: Mein liebstes Kirchenlied. „und reichst du mir den schweren Kelch, den bittren.“ Es klopft. Ein kleiner Junge guckt mich mit großen Augen an und fragt: „Was machst Du?“ Das Telefon klingelt. Staatsanwaltschaft. „Herr Kramer! Ich wollte nur eben fragen, wie weit Herr B. mit seinen Sozialstunden ist?“ Lautes Geschrei dringt aus dem Laden in mein Büro. Eine Kundin hat nach sechs Wochen gemerkt, dass die Bluse, die sie sich gekauft hat, nicht grün sondern Mintfarben ist. Es ist 12.30 Uhr. Mittagspause… 127 Vernetzung von kirchlicher Jugendarbeit und Schule vor Ort Bericht 12: Welzheim Jugendarbeit und Schule Nicole Heß Projektort: Welzheim Projektträger: Evangelischer Kirchenbezirk Schorndorf Projektstelleninhaberin: Diakonin Nicole Heß 128 Welzheim 2. Projektverlauf Nicole Heß Diakonin / Jugendreferentin 1. Projektidee und Projektziel Die Idee der Projektstelle „Jugendarbeit und Schule“ in Welzheim bestand in der personalen Verbindung der Alltagslebenswelt Schule und des Freizeitbereiches kirchliche Jugendarbeit. Zu bemerken ist hier, dass Welzheim über fünf Schulen verfügt und die evangelische Jugendarbeit in einem CVJM organisiert ist. Der Evangelische Kirchenbezirk Schorndorf war Anstellungsträger der Projektstelle, welche gemischt kirchlich finanziert wurde (30% CVJM Welzheim e.V., 10% Evangelische Kirchengemeinde Welzheim, 10% Evangelischer Kirchenbezirk Schorndorf und 50% Projektgelder). Das Projektteam bestand aus Verantwortlichen des CVJM Welzheim e.V. und der Evangelischen Kirchengemeinde Welzheim, ergänzt durch einen Fachbeirat mit Vertretern der Schulen und der Kommune. Der Leitungskreis erarbeitete als Ziel der Projektarbeit: Jugendliche aus kirchenfernen Milieus haben im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit in Welzheim Anteil am Evangelium als Zuwendung Gottes zu den Menschen. Strategisch wurden hierzu Wege mit folgenden Personengruppen vorgesehen: 1. In der kirchlichen Jugendarbeit bisher nicht wahrgenommene Jugendliche der Hauptschule der Klassen 6 und 7 erfahren sich in ihrem bisherigen Lebensraum und darüber hinaus als Teil einer Gemeinschaft, als Menschen, deren Stärken wertgeschätzt sind und werden in diesen Zusammenhängen zu Mitgestaltern. 2. Mitarbeitende in der kirchlichen Jugendarbeit in Welzheim kennen, bejahen und leben die Zuwendung zu Jugendlichen aus kirchenfernen Milieus als Nachfolge Jesu Christi. Im folgenden Abschnitt wird der Verlauf des Projektes kurz skizziert. Einige dieser Schritte waren vom Projektteam von vornherein so geplant. Andere wurden von diesem Team auf dem Weg entwickelt bzw. auf Grund der Beobachtung und Reflektion des tatsächlichen Verlaufes entsprechend weiterentwickelt. Somit entspricht dieser Ablauf zwar nicht einem idealen Projektablauf, kann jedoch aufzeigen, wie Verläufe von Veränderungen (z.B. von Haltungen Ehrenamtlicher) in der Realität aussehen können. Der Verlauf berücksichtigt beide strategische Ebenen, also die Arbeit mit den Jugendlichen im Bereich der Schule und die Arbeit mit den Ehrenamtlichen im Bereich des CVJM. Mit Dienstantritt der Diakonin erfolgte zunächst eine vertiefte Sozialraumanalyse. Hierfür wurde eine Vielzahl von Gesprächen geführt, sowie Beobachtungen und Fakten gesammelt. Das Projektteam wertete diese miteinander aus. Auf dieser Basis wurden die Ziele des Projektantrages überarbeitet, d.h. ausgewählt, strategisch aufgestellt und operationalisiert. Mit dem Aufbau von Kontakten und ersten Angeboten im Bereich der Schule, besonders in der Mensa, und der Hauptschule konnte erstes Interesse bei Jugendlichen gewonnen werden. Währenddessen reagierten die Mitarbeitenden des CVJM irritiert. Sie waren im Vorfeld nicht genug in die Entwicklung des Projektes einbezogen worden und verstanden nicht, wieso die Schule plötzlich ein so großes Thema darstellte. Diese Irritation war anfangs nur zwischen den Zeilen und unausgesprochen wahrnehmbar. Im Verlauf der folgenden Monate erwachsen aus der Arbeit in der Schule Erfahrungen mit diesem Kontext und weitere Beobachtungen und Erlebnisse der Diakonin mit den Jugendlichen dort. Diese werden z.B. im Mitarbeiterkreis oder Gesprächen mit den Mitarbeitenden geteilt. Die Mitarbeitenden nahmen wahr, dass sich in ihrem Umfeld Veränderungen ergeben können bzw. sie zu Veränderungen herausgefordert werden. Sie reagierten mit kritischen Fragen und Ängsten. An mehreren Stellen erfolgten Gespräche, die dies thematisieren. Die Aufgabe und Rolle der Diakonin im Bereich Jugendarbeit und Schule wurde gemeinsam geklärt, Ängste und Befürchtungen thematisiert. Die erneute Vermittlung der Projektidee förderte das Verständnis für die Prozesse und half dabei, einen gemeinsamen Boden zu finden. Hierbei sind einige Mitarbeitende wichtig, welche den Prozess im Vorfeld mitgeprägt haben und den Ängsten die Spitze nehmen können, da sie großes Vertrauen genießen. Im Leitungskreis wächst die Erkenntnis für die Größe des Ziels und das Bewusstsein, dass unser Weg länger werden wird, als zunächst angenommen. Wir benötigen kleinere Zwischenschritte und die Bereitschaft, sinnvolle Umwege zu gehen, um die Ehrenamtlichen mitzunehmen. Diese benötigen ebenso spürbare Aufmerksamkeit wie die Jugendlichen der Hauptschule. Jugendarbeit und Schule 129 Im Bereich der Schule wachsen Kontakte und Beziehungen, die Angebote können weiterentwickelt und noch besser auf den Kontext und die Jugendlichen abgestimmt werden. Die Kommunikation der Erfahrungen dort wird bewusst dosiert. Als Themenbereiche wurden die jeweiligen Lebenswelten angesprochen, Haltungen zum Thema Glauben und Kirche seitens der Jugendlichen bzw. gegenüber den Jugendlichen seitens der Mitarbeiter und ihre Erfahrungen im Rahmen des Projektes. Punktuelle Begegnungen zwischen einzelnen Ehrenamtlichen und Jugendlichen, mit denen die Diakonin arbeitet, finden statt. Sie fördern das Verständnis für die Notwendigkeit des Projektziels und fordern zu einer Beschäftigung mit Jugendlichen, die nicht in der Jugendarbeit beheimatet sind, heraus. Ausgewertet wurde das Datenmaterial mit Hilfe der dokumentarischen Methode nach Bohnsack unter Beteiligung weiterer Diakone sowie erfahrenen Fachkräften im Bereich Evaluation. Einzelne erwachsene Ehrenamtliche engagieren sich mit der Diakonin im Bereich der Schule. Zudem begegnet die Diakonin bei ihrer Arbeit im schulischen Bereich einigen Jugendlichen, die im CVJM beheimatet sind. Die Arbeit im Bereich der Schule verliert zunehmend den Charakter des Neuen und Fremden. Die Mitarbeitenden begreifen zunehmend den Grund und das Ziel dieses Engagements und beginnen, es als sinnvoll zu bewerten. Mitarbeitende, welche über Begegnungserfahrungen mit den Jugendlichen der Hauptschule verfügen, bringen ihre Beobachtungen in Gespräche ein und werden fragend. Sie entdecken Grenzen der bisherigen Arbeit und überlegen, wie man diesen Jugendlichen als kirchliche Jugendarbeit begegnen könnte. Die Beobachtungen werden mit interessierten Mitarbeitenden diskutiert, so dass Kenntnis und Beschäftigung mit diesen Jugendlichen und der eigenen Kultur erwächst. 3. Erkenntnisse aus der Evaluation 3.1 Zur Erhebung Im Projektziel werden vor allem zwei Personengruppen berücksichtigt: Jugendliche der Hauptschule ehrenamtliche Mitarbeiter des CVJM. Entsprechend zielte die Evaluation auf die Darstellungen der jeweiligen Lebenswelt, wie auch auf Schilderungen bzgl. des jeweiligen Gegenübers. Acht Gruppendiskussionen wurden im Frühjahr 2011 mit entsprechenden Leitfäden von verschiedenen Interviewern geführt; fünf davon mit insgesamt vierzehn ausgewählten Jugendlichen der Hauptschule, drei Diskussionen mit etwa ebenso vielen ausgewählten Ehrenamtlichen des CVJM. Ergänzt werden diese Daten und ihre Auswertung durch die Beobachtungen der Sozialraumanalyse sowie Feldnotizen aus dem Arbeitsalltag der Diakonin. Wiedergegeben werden hier also die Äußerungen und Darstellungen der jeweiligen befragten Personen und zwar zum Zeitpunkt der Erhebung. 3.2 Die Welt der Mitarbeitenden und der Jugendlichen Zunächst fällt auf, dass die Mitarbeitenden des CVJM stark die Norm einer überschaubaren Gruppe als Kernangebot der Jugendarbeit vor Augen haben, mit den Rollenangeboten Mitarbeiter und Teilnehmer sowie wöchentlichen Treffen mit Programm und der Erwartung einer regelmäßigen Teilnahme. Diese Angebote aufrechtzuerhalten erleben die Mitarbeitenden bereits als große Herausforderung, ebenso wie die häufige Bewertung durch die Teilnehmer. Durch die häufig lange Sozialisationszeit meist seit der Kindheit im CJVM sind bei den Mitarbeitenden zum einen die Themen in der Jugendarbeit und Vorstellungen über Jugendarbeit stark angeglichen. Davon abweichende Zugänge zur Jugendarbeit, z.B. zu einem späteren Zeitpunkt, kommen bei den Mitarbeitenden wenig vor bzw. werden als Ausnahmen bewertet. Dem gegenüber taucht bei den befragten Jugendlichen der Hauptschule der Wunsch nach lebensnahen bzw. publikumswirksamen Beteiligungsmöglichkeiten auf, bei denen ihre Stärken und Möglichkeiten gefördert werden und sie sich als Teil eines größeren Ganzen erleben. Die Jugendlichen thematisieren außerdem mehrfach die häufig als abwertend erlebte Art, in der Jugendliche anderer Schularten über sie sprechen bzw. mit ihnen umgehen. Sie werden dadurch gekränkt und in ihrem Selbstbewusstsein verunsichert. Außerdem wird von einigen bedauert, dass in den Schulklassen immer wieder durch das Verhalten einzelner Personen das allgemeine Klassenklima und damit die persönliche Situation negativ beeinflusst werden. 130 Welzheim 3.3 Das Bild der Diakonin aus Perspektive der Mitarbeitenden und der Jugendlichen dass in der Jugendarbeit das „Menschliche“ bedeutender ist, bleiben Unsicherheiten. In den Gruppendiskussionen erzählen die Befragten auch von der Diakonin und den Erfahrungen mit ihr. Bei einer Gruppe Jugendlicher, welche in engerem Kontakt mit der Diakonin stehen, wurde explizit danach gefragt. Die Mitarbeitenden des CVJM brachten dieses Thema selbst an mehreren Stellen ein. Außerdem schildern sie eine angenehme Atmosphäre sowie ein gutes Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Jugendarbeit (im Vergleich zum Konfirmandenunterricht), die sie auf die Freiwilligkeit und hohe Partizipation zurückführen. Zudem ist für sie erkennbar, dass hier Glauben eine zentrale Rolle spielt. Insgesamt ist zu beobachten, dass die Diakonin v.a. als Kommunikatorin und Wanderin zwischen den Welten erscheint. Bei den befragten Jugendlichen entsteht das Bild eines Weges von mehreren Etappen, den sie mit der Diakonin gegangen sind. Zunächst beschreiben die befragten Jugendlichen die Beziehung, die zu ihnen aufgebaut wurde. Hier erfuhren sie Wertschätzung und Achtung ihrer Person, auch in der Form, dass sie aktiv an Aktionen beteiligt wurden und sich darin als gefragte Personen erlebten. Bei diesen Jugendlichen entstand (teils in Verbindung zur Konfirmandenarbeit) darüber Interesse für Glaubensthemen. Die Diakonin wird geschildert als eine Person, die erklärte, verständlich machte und den Jugendlichen zu einem Zugang und zu einer Orientierung im Bereich des Glaubens half. Schließlich wurde den Jugendlichen der Glauben selbst wichtig; sie fanden Raum zur Auseinandersetzung und konnten eine eigene positive Haltung dazu entwickeln; sie wurden aufmerksam dafür, wo Glauben auch sonst vorkommt und ordneten weitere Anregungen ein. Kurzgefasst kann man vielleicht sagen: Beziehung, Wertschätzung, Glaube. In den Schilderungen der Mitarbeitenden erscheint die Diakonin als Kontakt- und Beziehungsperson: sie geht auf Menschen zu, nimmt aktiv Kontakt auf und leistet eine erste Wegetappe in Richtung Glauben und Kirche. Diese Kompetenz führen die Ehrenamtlichen vor allem auf die Ausbildung, teils auch auf die Persönlichkeit der Diakonin zurück. Außerdem speist die Diakonin (aus ihrer größeren Perspektive und dem Erfahrungsfeld) neue Informationen ein und bildet hier als Gesprächspartnerin eine Ressource für die Mitarbeitenden. 3.4 Begegnungserfahrungen Punktuell kamen in den Gruppendiskussionen Begegnungserfahrung im Rahmen des Projekts zur Sprache. Während abstrakte konzeptionelle Überlegungen mit Mitarbeitenden zügig an Grenzen kommen, werden konkrete punktuelle Begegnungen sowohl von den Mitarbeitenden als auch von einigen Jugendlichen deutlich wahrgenommen und mit innerer Beteiligung reflektiert. Ein paar Mitarbeitenden werden auch Grenzen der bisherigen Formen der Jugendarbeit deutlich. Die Jugendlichen wiederum nehmen im Kontext der Jugendarbeit deutlich schulische Unterschiede wahr. Auch wenn sie feststellen, 4. Beobachtungen Das Ziel einer Annäherung von kirchenfernen Jugendlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern der Jugendarbeit bedarf eines gründlichen und ständig reflektierten Prozesses, der gut auf die Möglichkeiten und Grenzen dieser Gruppen abgestimmt werden muss. Um diese Gruppen nicht zu überfordern, sind zunächst punktuelle Begegnungen sinnvoll, außerdem ist die Sorge für Reflektionsmöglichkeiten wichtig. Konkrete Begegnungen fördern die Auseinandersetzung miteinander mehr als gehörte Erzählungen und diese wiederum mehr als abstrakte Überlegungen. Eine Beschäftigung mit diesen Jugendlichen (und den ggf. daraus folgenden Notwendigkeiten) wird von ehrenamtlich Mitarbeitenden schnell als Überforderung empfunden; sie fühlen sich schon mit ihren bisherigen Aufgaben als Gruppenmitarbeiter mehr als ausgelastet. Teilhabe und Mitgestaltung von Aktivitäten wird vor allem von jüngeren Jugendlichen als hohe Wertschätzung bewertet, die es ihnen ermöglicht, sich als „gefragt“ zu erleben. Jugendarbeiten und Kirchengemeinden verfügen diesbezüglich über Ressourcen, die noch zu entwickeln sind. Die Frage nach der Ein-/Zuordnung der Arbeit an der Schule im Verhältnis zur klassischen Jugendarbeit stellt sich als Frage nach dem Verständnis von Kirche. Zur Identität und zum Auftrag von Kirche gehören in dieser Konzeption die Mitgestaltung des Lebensbereiches Schule und das Zugehen auf kirchenferne Jugendliche als Nachfolge bzw. Teil von Nachfolge Christi. Anhang: Eine exemplarische Situation Am geplanten Schulgottesdienst möchte ich gerne Jugendliche beteiligen. Die Junior-Schülermentoren sind zur Vorbereitungszeit leider im Schullandheim. So frage ich einzelne Jugendliche an: Jemand aus dem Gitarrenkurs, eine Person die sich gerne mit mir unterhält, zwei Mädchen, die bereits im Jahr zuvor mitgemacht haben, und die ich inzwischen gut kenne. Alle sagen spontan zu und fragen nach: Wann treffen wir uns? Was muss ich genau machen? Wer macht noch mit? Echtes Interesse und Motivation ist spürbar. Jugendarbeit und Schule In den Ferien treffe ich einige der Jugendlichen am Gemeindehaus; ich sitze draußen und gehe den Ablauf des Schulgottesdienstes durch. Eine der Jugendlichen kommt vorbei, setzt sich zu mir und will wissen, was ich mache. So gehen wir Schritt für Schritt den ganzen Gottesdienst durch, sie stellt Fragen, kommentiert, ich frage sie nach ihrer Meinung z.B. zu Fragen der Verständlichkeit. Sie möchte z.B. wissen, „was ist ein Amen“ usw. Am ersten Schultag treffe ich mich mit zwei der Jugendlichen in der großen Pause. Eine sieht, dass auf meinem Zettel am Anfang „Begrüßung“ steht, und sie fragt vorsichtig und mit dem Finger darauf zeigend: „Kann ich das vielleicht auch machen?“ Ein anderer sitzt auf der anderen Seite, kuckt auf den Zettel und stellt fest: “Ich auch.“ Ich bin kurz irritiert und frage: „Ähm, ja. Welchen Teil wollt ihr denn machen?“ Darauf wird das Mädchen mutiger und eröffnet: „Ich will noch allen was wünschen!“ Der andere schreitet gleich ein mit den Worten „Aber mach keine lange Rede!“ – „Nein, nein!“ antwortet sie und zu mir gewandt „geht das?“. Ich wedle fragend mit den Händen, überlege kurz und antworte: „Ok, lass mal überlegen... wie wäre es nach dem Segen? Ganz am Ende?“ Sie zuckt mit den Schultern und nickt. Sie kann es wohl nicht einschätzen, aber wenn ich das sage, wird es schon in Ordnung sein. Ich ergänze dann noch: „Kannst du das bitte vorher aufschreiben? Dann zeigst du mir das morgen früh, damit es auch passt und dann kannst du das machen, ok?“ Am Tag des Gottesdienstes habe ich mich auf 7:20 Uhr mit den Jugendlichen zu letzten Absprachen in der Kirche verabredet. Bereits 10 Minuten vorher stehen sie vor der Türe. Das Mädchen ist ganz aufgeregt und zeigt mit gleich ihren Zettel mit zwei Versionen ihrer Abschiedsworte. Ich wähle eine davon aus. Am Ende des Gottesdienstes stehen dann ein Pfarrer in Talar, sowie ich in Jeans und Bluse nach dem Segen vorne. Das Mädchen stellt sich vor uns mit ihrem Zettel in der Hand. Mit großer Ernsthaftigkeit und nickendem Kopf verliest sie sorgfältig ihren Text. „Liebe Schüler (Pause), liebe Lehrer (Pause), liebe Eltern. Wir hatten heute einen sehr schönen Gottesdienst. Wir wünschen euch allen viel Erfolg, viel Freude und Durchhaltevermögen im neuen Schuljahr. Und jetzt (nun wird sie beschwingt und nimmt die Hand mit) – Mutig ran ans neue Schuljahr!“ Fröhliches Gelächter, allen voran die Erwachsenen lachen. Diese Worte sind einfach gut. Ein paar Wochen später erzählt sie mir, dass sie sich doch sehr gewundert hat im Gottesdienst. Ich frage nach, „Warum denn?“ Sie stellt fest, dass nach ihrer Verabschiedung keiner mehr etwas gesagt hat. Ich verstehe noch nicht, worauf sie hinaus will und frage erneut nach. Sie erklärt, dass doch tatsächlich sie das letzte Wort hatte. Damit hatte sie nicht gerechnet, wo doch mehrere Erwachsene hinter ihr standen. Nach ihr hat keiner mehr das Wort ergriffen. Ich sage ihr, dass dies ja auch nicht nötig war. Sie hat den Schluss gut gemacht, und so hatten wir das doch auch vereinbart, oder? Trotzdem wundert sie sich und freut sich darüber. 131 132 133 Gastfreundliche Gemeinde für Familien Bericht 13: Reutlingen Inklusive Gemeinde und kirchliche Kindergartenarbeit Achim Wurst Projektort: Reutlingen Projektträger: Evangelische Gesamtkirchengemeinde Reutlingen Projektstelleninhaber: Diakon Achim Wurst 134 Reutlingen 1. Projektidee und Projektkonzeption Wie gelingt es, familienfreundliche Gemeinde mit Familien zu gestalten, die aus nicht typisch kirchlichen Lebenswelten kommend den evangelischen Kindergarten besuchen? Eine Kirchengemeinde mit volkskirchlich-komplettem Angebotsspektrum in einem Neubaustadtteil der 60er-Jahre erlebt den demografischen Wandel in beschleunigter Weise, die Gründergeneration ist im hohen Alter. Die Landeskirche hat eine Pionier-Erfahrung zur Verfügung, die zeitversetzt auf viele Gemeinden zukommen wird. Im Projekt wird entwickelt, was es für die gemeindediakonische Arbeit mit jungen Familien bedeutet, wenn von 40 Kindern im evangelischen Kindergarten 4 evangelisch und ein Drittel muslimisch sind und insgesamt über die Hälfte keiner christlichen Kirche angehört. Von 71 Elternteilen kommen 19 aus Deutschland, 13 aus osteuropäischen Ländern, 12 aus Russland und Kasachstan, 7 aus der Türkei, 6 aus Pakistan, 9 aus dem Libanon, aus Irak und Iran, 3 aus Vietnam und Indonesien und 2 aus afrikanischen Ländern. 20% der Kinder leben in Ein-Eltern-Familien. Ein Drittel der Familien bezahlt aufgrund prekärerer finanzieller Situation eine ermäßigte Kindergartengebühr. Unser Projekt verfolgt die strategischen Ziele, dass (1) die Kirchengemeinde ein Raum des Miteinanders für Familien in unterschiedlichen Lebenslagen ist, dass (2) der evangelische Kindergarten sich als aktiver Teil der Kirchengemeinde erlebt und, dass (3) im Geist des Evangeliums verschiedene Angebote und Aktivitäten gemeinsam entwickelt werden. Gemeinsam wurden im Projekt neue Aktionen entwickelt, angelegt an den Interessen der Familien, z.B. Nachmittagskurse (Bewegungsangebot Capoeira) und Kinderkino an Werktagen, Kirchenraumpädagogik für Kinder, Kirchenführung für muslimische Mütter, Vorlesepaten in offener Form und zu biblischen Geschichten, gezielte Einladung zu den tradierten Familienaktionen (Osterwerkstatt, Gemeindefest, Kinderferienwoche, Ostergarten usw.), neue Beteiligungsmöglichkeiten für Eltern (Stockbrotbacken für Kinder bei der Stadtteilaktion Nikolaus, Zirkusfest usw.). Die Beratung und Vermittlung in diakonischen Fragen gewann zunehmend an Umfang. Anknüpfungspunkte waren dabei: Sozialraumanalyse, niederschwelliger Kontakt der Kindergarteneltern zur Kirche über die leicht erreichbare „Amtsperson“ Diakon, Stärkung des Ehrenamts, punktuelle Entlastung des Erzieherinnenteams, Seelsorge. 1.2 Weichenstellungen/Stolpersteine Zentrale Mitarbeitende aus der Kirchengemeinde und dem Kindergarten erlebten eine grundsätzliche Neuausrichtung gewohnter Aktivitäten, als wir die Mitwirkung des Kindergartens beim Erntedank-Familiengottesdienst neu ansetzten. Anstatt dass sich die Mitarbeitenden des Kindergartens die übliche Frage stellen „Was kann der Kindergarten beitragen?“, knüpften wir neu an, und zwar an den evaluierten Interessen der beiden Zielgruppen: der Eltern/Familien des Kindergartens und der kirchengemeindlichen Familienarbeit. Es erwuchs daraus eine Eigendynamik der Beiträge. Und neue, vor allem ehrenamtlich Mitwirkende entlasteten die eh schon stark ausgelasteten Mitarbeitenden des Kindergartens, indem für jene neue Mitgestaltungsmöglichkeiten eröffnet wurden. Über die Hälfte der Kindergartenfamilien nahm an dem Erntedankfest teil. 2. Vertiefte Evaluation Die Evaluation hat nicht alle 3 strategischen Ziele (s.o.) ausgewertet. Sie fokussierte sich innerhalb des 1.1 Wichtige Stationen/Meilensteine Das Projekt startete mit den verantwortlich Mitarbeitenden in der Kirchengemeinde und im Kindergarten. Als besondere Herausforderung erwies sich, dass alle mit der Fülle der Regelangebote bis an die Belastungsgrenze ausgelastet waren. Der Einsatz für das gemeinsame Ziel der familienfreundlichen Gemeinde brauchte zeitökonomische Planung und das wachsende Erleben, dass die neuen Ansätze neben dem inhaltlichen Gewinn auch reale Entlastung bringen. Der Diakon baute Kontakt zu den Kindergartenfamilien auf, über den Kindergartenalltag, über Feste und die soziale Nähe, die die Familien im Kindergarten schätzen. Sie sind in ihrer je eigenen Lebenswelt mit vielfältigen Anforderungen konfrontiert. 1. strategischen Ziels: „Die Kirchengemeinde ist ein Raum des Miteinanders für Familien in unterschiedlichen Lebenslagen“ auf folgende Kernfrage: Welche gemeinsamen Interessen der Kindergarten-Familien und der Ehrenamtlichen der kirchengemeindlichen Familienarbeit wurden herausgefunden, um sie für die Gestaltung des Raums des Miteinanders nutzen zu können? Wir fragten danach, weil Menschen aus so unterschiedlichen Lebenswelten kaum, allenfalls punktuell und über ein organisiertes Miteinan- Inklusive Gemeinde und kirchliche Kindergartenarbeit der Berührungspunkte haben, und weil wir über die Standardvermutung „Bildung interessiert alle“ hinaus präzise die Überschneidungen in den originären Interessen herausfinden wollten. Dazu werteten wir nach der dokumentarischen Methode zwei Gruppengespräche aus, die uns unterstützende Studierende anhand unserer Impulsfragen führten. Und ein Vater sagt: Ein Gruppengespräch wurde geführt mit 7 Vätern und Müttern von Kindergartenkindern, die breitmöglichst das Spektrum der Lebenswelten vertraten hinsichtlich Herkunftsländer, Religionen, finanzieller Bedürftigkeit, Geschlecht und Alleinerziehung, und ein Gruppengespräch mit 7 Ehrenamtlichen der kirchlichen Familienarbeit, die sich als Gruppe vertraut sind. Das Lernen soll E2: „Ich finde schön zum Beispiel, wenn die Kinder, die wo Fahrräder fahren können, dass man hier im Kindergarten mal ausüben ... auch Fahrrad zu fahren. Mit Verkehrsschilder. Dass Kinder zeigen, wie die Verkehrsschilder sind (…) denen mal zeigen.“180 (4.) nicht in Einzelförderung sondern in Gruppenangeboten werktags nachmittags geschehen, passend zu den Zeiten der Berufstätigkeit und lokal im Stadtteil, möglichst im Gebäude des Kindergartens. Wochenend-Aktionen für die ganze Familie sind nur gelegentlich von Interesse, Mitwirkung wird angeboten. Die Evaluation erfolgte in drei Schritten: aus jedem der beiden Gruppengespräche wurde gesondert ermittelt, welche Themenfelder die Gesprächsteilnehmer als ihre Interessen beschreiben, die Kindergarteneltern und die Ehrenamtlichen der Familienarbeit. Im 3. Schritt wurde untersucht, welche Überschneidungen und Ansätze für gemeinsame Interessen vorliegen. 2.1 Kindergarteneltern Kindergarteneltern schätzen 135 (5.) Fazit: Die Erfahrungen von Nähe, Schutz und Förderung sollen erweitert werden. Bei einem großen Teil der Familien liegt eine große Hürde zu kirchlichen Familienangeboten darin begründet, dass sie nur sehr behutsam Vertrauen zu Neuem fassen, am ehesten über den Kindergarten und vor allem über ihr Interesse an Lern- und Gruppenangeboten. 2.2 Die Ehrenamtlichen der Familienarbeit Die Ehrenamtlichen der Familienarbeit beschreiben (1.) den sicheren, förderlichen Schutzraum des Kindergartens als eine umfassend kinderfreundliche Oase angesichts von Gefährdungen im Umfeld wie Vermüllung von Spielplätzen oder Ausländerfeindlichkeit. (2.) Im vertrauensvollen Kindergartenleben erfahren die Kinder und auch die Eltern ein zentral wichtiges soziales Feld, räumliche und menschliche Nähe, einen sicheren Ort des Vertrauens und finden Freundschaften. (3.) Das Hauptinteresse der Eltern ist, dass ihre Kinder lernen können sollen. Damit ihre Kinder auch außerhalb der KindergartenBetreuungszeit Neues lernen, was sie als Berufstätige in Schichtdiensten oder als Alleinerziehende zeitlich nicht leisten können. Und sie möchten, dass ihre Kinder Bildungsinhalte kennenlernen, die sie selber nicht vermitteln können. Das wird deutlich an mehreren Gesprächsbeiträgen, als Beispiel sei dieses Zitats einer Mutter aufgeführt: E1: „Oder auch gerade Musik, finde ich jetzt also, wenn die Lisa178 hier ist, hat sie sich jetzt unbedingt eine Gitarre gewünscht und eine Flöte. Also wir sind völlig unmusikalisch, leider, muss ich sagen. Mein Mann spielt Flöte, mehr aber nicht und sie ist da total begeistert davon und möchte das echt gern machen. (…) wo man da vielleicht musikalisch ein bisschen rangeführt wird.“179 178 (1.) als ihr herausragendes Interesse, Angebote für Familien zu machen, auch solche, die neue Familien aus dem Stadtteil oder Kindergarten ansprechen. Angesichts des (2.) Umbruchs der Familienarbeit durch Generationswechsel und unterschiedliche Familieninteressen werden Neue als Nachwuchs auch vom Kindergarten und aus dem ganzen Spektrum des Stadtteils gesucht. Dabei ist (3.) der wertvolle Kern ihrer Arbeit das sorgsame, akzeptierende Miteinander, das aber bisher noch nicht im größeren Stil Neue erreicht, u.a. weil Neue anfänglich fremd und stimmungsirritierend wirken und es auch Zeiten und Aktionen geben muss, wo das Miteinander der Mitarbeiter gepflegt werden darf. Das Lebensgefühl der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen ist (4.) von dem der meisten Kindergartenfamilien (Existenzkampf, Trennung, Armut, Fremdsein) entfernt, aber es besteht ein Interesse, mehr über die Bedürfnisse von anderen Stadtteilbewohnern zu erfahren, um dem entsprechend einladende, offene Angebote für Neue machen zu können. Alle Namen wurden verändert aus Gründen der Anonymität. 179 Gruppengespräch Kindergarteneltern, Z. 471-476. 180 Und das neben einer missionarisch äußerst aktiven Freikirche in der Nähe, die um ihren Zulauf beneidet wird und weshalb die Fa Ebd., Z. 865ff. 136 Reutlingen milienarbeitsehrenamtlichen sich Fragen stellen hinsichtlich ihrer eigenen diakonischen und missionarisch-einladenden Haltung. Sie beschreiben es (5.) als besondere Aufgabe für Hauptamtliche, im Besonderen Diakone, dass sie als Initiatoren und Anleiter wirken für ehrenamtliches Engagement in der diakonischen Arbeit mit anderen, fremden Lebenswelten. 2.3 Ansatzpunkte für gemeinsame Interessen Gemeinsame Interessensansätze finden sich, wenn man folgende Interessensbereiche kombiniert: Einerseits das Interesse der Kindergarteneltern, dass ihre Kinder auf vielfältigen Gebieten lernen können sollen, und andererseits das Interesse der Familienarbeitsehrenamtlichen, dass sie Angebote für Familien, auch Neue machen wollen. Einerseits das Erleben der Kindergarteneltern von sozialer Nähe und Vertrauen im Kindergartenalltag und andererseits das Erleben und die Werthaltigkeit von Gemeinschaft der Familienarbeitsmitarbeitenden. Aber die Interessen stehen auf ihrem je eigenen Lebenswelt-Kontext und treffen sich daher nicht automatisch. Beispielsweise suchen Kindergarteneltern für ihre Kinder über die Öffnungszeiten des Kindergartens hinaus einen Schutzraum für sorgloses Spielen ohne Aus länderfeindlichkeit. Dieses Interesse liegt nahe am Interesse „Gemeinschaft und wert schätzende Akzeptanz“ der Familienarbeitsehrenamtlichen181: E 3: „...und auch das, was du gesagt hast, das fand ich jetzt total wichtig, ja, dass die Marie hier erlebt: sie ist angenommen und sie kann kommen, wie sie halt gerade ist und .. da (unverständlich 2), ohne dass jemand gleich einen blöden Spruch sagt: He, wie siehst denn du heute aus?“ E 4: „Ja, oder es fragt auch mal jemand: Oh, geht es dir nicht gut oder warum? Hattest du Stress in der Schule oder gab es, was weiß ich? .. Da kommt doch mal eine Rückmeldung. (…)“ E 5: „Das meine ich ja, das Lernen, wieder sich gegenseitig wahrzunehmen (Bestätigung),... “182 Aber diese kinderfreundliche Oase finden die Kindergarteneltern nur, wenn eine gemeindediakonische Brücke gebaut wird, wie wir es in der Projektpraxis für die Kinderferienwoche in den Sommerferien gemacht haben. Von 9 Vorschul-Kindergartenkindern nahmen 4 an der 7-tägigen Kinderferienwoche teil, die ein Höhepunkt im Jahreskreis der Familienarbeit ist. 181 Die folgenden Zitate stammen aus einem Gruppengespräch mit Mitarbeitenden. Die Namen wurden anonymisiert. 182 Gruppengespräch Familienarbeitsehrenamtliche S. 16, 8-19. Ein wesentlicher Ansatzpunkt ist, dass die Ehrenamtlichen Gelegenheit bekommen, von Familien aus anderen Lebenswelten, die ihnen anfangs fremd sind, die vielfältig vorhandenen Interessen wahrzunehmen, damit sie bedeutsamer werden für weitere oder modifizierte Angebote der Familienarbeit. Im Gruppengespräch beschäftigt die Ehrenamtlichen die Frage, bei welchen Anlässen und in welcher Form Neue aktiv begrüßt werden, dass es mindestens eine vertraute Person zur Einladung braucht, und dass Neuen vorgestellt werden soll, was der Sinn der Angebote ist, auch bezüglich der Lernziele für die Kinder. Die Angebote der Familienarbeit sollten verstärkt im Kindergartengebäude und primär werktags nachmittags liegen, was aber für Ehrenamtliche kaum leistbar ist. Jedoch können, wie schon erprobt, Honorarkräfte eingesetzt werden, deren Finanzierung über umgelegte Teilnehmergebühren mit sozialer Preisstaffelung gelingt. Der Bezug zur kirchlichen Familienarbeit ist dadurch erkennbar, dass die kirchlichen Mitarbeiter es sind, die die Bedarfe abfragen, sie mit den Eltern eingehend diskutieren und Formen der Angebote mit ihnen entwerfen, begleiten und weiterentwickeln. Dies hat in unserer Projektpraxis beispielsweise mit Capoeirakurs, Vorlesepaten biblischer Geschichten und Erntedankfest bereits begonnen. Die Familienarbeits-Ehrenamtlichen benötigen gezielte Unterstützung, wie sie ihre Angebote ansetzen, gestalten, öffnen und dazu einladen, wie sie den Generationswechsel bewältigen und ihre diakonisch-missionarische Ausrichtung neu definieren. Im Gruppengespräch äußern sie den Bedarf professioneller Unterstützung für den Brückenbau zwischen den prägnant unterschiedlichen Lebenswelten. Die doppelte Qualifikation des Berufsbildes Diakon/in, in längerfristigen Arbeitsaufträgen mit mindestens 50%-Deputat, erscheint als passend, weil gesellschaftliche Trends die familiäre Belastung, Individualisierung, Profilierung und Selbstinszenierung verstärken. Auch im Bereich der Religion gibt es Berührungspunkte. Eltern des Kindergartens suchen eine verlässliche Grunderfahrung ihrer Kinder mit den christlichen Hauptfesten. Die Familienarbeitsehrenamtlichen wollen, dass andere kennenlernen, wie sie offen Glauben leben und Gemeinschaft fördern. Des Weiteren liegen im Thema „Familienfreundlichkeit des Stadtteils“ gemeinsame Grundinteressen. 3. Aussichten und Anregungen In der alltäglichen Praxis und in Gesprächen mit Verantwortlichen wurde in unserem Projekt das Profil des Berufsbilds Diakon/in anschaulich, zwischen den angrenzenden Berufsbildern Erzieher/in und Pfarrer/in. Tenor in der Projektgruppe ist zudem, dass sich die Verknüpfung von Lebenswelten lohnt, weil es beidseits Bereicherung erbringt, jedoch „Brückenpersonal“ dafür nötig ist, das über die Regelangebote hinaus sensibel an den Interessen und Mit wirkungsmöglichkeiten der Menschen ansetzt. Unsere Projektgruppe arbeitet daran, über Einwerbung von Drittmitteln eine Verlängerung des Projektes über 2013 hinaus zu ermögli- Inklusive Gemeinde und kirchliche Kindergartenarbeit chen. Darin wird ein zentrales Ziel die verstärkte sozialdiakonische Erstberatung von Familien sein, die sich mit akuten Fragestellungen mittlerweile stark an die ErzieherInnen wenden. Diese sollen zukünftig dabei gezielt durch den Diakon entlastet werden, indem er Anfragen unmittelbar mit den Familien bearbeitet. Weitere Ziele sind Nachmittagsbetreuung mit inklusiver Ausrichtung und Bildungsinhalten, der interreligiöse Dialog und eine familienfreundliche Gemeindeentwicklung der Kirchengemeinde als Teil des Gemeinwesens. Insgesamt entwickelt sich die Arbeit in Schritten inhaltlich in Richtung eines Kinder- und Familienzentrums, allerdings noch ohne bauliche Veränderungen. Anhang : Zwei für das Projekt typische Situationen Situation 1: 137 mende, suchende Familien zu begrüßen und das Gemeindehaus zu zeigen. Während der Veranstaltung begleitete ich einzelne Familien, zeigte Kindern neue Bastelstände, motivierte JugendmitarbeiterInnen an den Ständen so, dass sie noch weitere Kinder einbezogen, suchte Gespräche mit Eltern. Und nach der Veranstaltung hielt ich Nachge spräche, z.B. mit den MitarbeiterInnen an der Kasse und mit Teammitgliedern über die Erfahrungen. Situation 2: Anfrage und Gewinnung der TeilnehmerInnen für das Gruppengespräch mit den Studierenden im Rahmen der Evaluation. Es zeigte sich bei der Anfrage, wie unterschiedlich die Lebenswelten sind. Während die Ehrenamtlichen der Familienarbeit per Telefonat und Rundmail für das Mitmachen beim Gruppengespräch schnell und recht einfach zu gewinnen waren, brauchte es bei dem angestrebten Querschnitt der Kindergarteneltern einen besonders starken Einsatz. Wie können für die kirchliche Familienarbeit neue Familien aus fremden Lebenswelten eingeladen werden? Das schildern wir an einem Beispiel, wie wir zum tradierten Familienangebot „Osterwerkstatt“ gezielt Familien des Kindergartens eingeladen haben. In der Projektpraxis wurde erkannt, dass zahlreiche Hürden überwunden werden müssen, damit neue Familien die kirchlichen Angebote wahrnehmen können. Sie müssen die Angebote sprachlich verstehen, und ihr Sinn muss sich ihnen erschließen. Das bedeutet, die Eltern fragen sich, was das entsprechende Angebot konkret an Lernerfolg für ihre Kinder bringen kann? Sie müssen den Veranstaltungsort finden (und am besten schon kennen) und sich den Aufwand dafür leisten können – finanziell, aber auch zeitlich für Fahrt und Betreuungsaufwand, falls nicht alle Kinder der Familie am Angebot teilnehmen können. Sie brauchen Zutrauen, dass ihren Kindern die Angebote auch gefallen, sie dort zumindest nicht unangenehm auffallen werden. Und vor allem brauchen sie eine Beziehung über mindestens eine bekannte Person. Im Folgenden die Darstellung meiner Feldnotiz: Viele Eltern waren schon allein von den Kommunikationsmitteln schwer zu erreichen, kaum Festnetz-Telefonnummern, kurzfristig gewechselte Handynummern, keine Mailadressen vorhanden, an der Kindergartentür und bei Hausbesuchen selten anwesend. Zusätzlich standen teilweise sprachliche Hürden im Weg, wenn ich mehr als Alltagsfragen mit ihnen besprechen wollte, sie nämlich einlud auf ein ungewohntes Gespräch in unbekannter Konstellation und auf einen gemeinsamen Termin in vielen Wochen. Eine Kinderbetreuung musste organisiert werden und das Zeitfenster für die zum Teil schichtenden und kinderreichen Eltern war enorm schwierig zu finden. So machten wir uns an daran, die Flyer für die Osterwerkstatt umzugestalten. Verzehr-Gutscheine für ein Getränk oder einen Kuchen sollten die Attraktivität steigern. Zuvor wurde im Team über Gerechtigkeit gesprochen, und es erfolgte eine genaue Abstimmung mit den Mitarbeitern an Kasse und Essensständen. Aus früheren Versuchen wussten wir bereits, dass die Verteilung der Flyer in die Boxen der Kindergartenkinder kaum wirksam ist. Deshalb verteilten wir die Flyer persönlich an die Eltern eine Woche vor der Osterwerkstatt an einem Tag von 7.30 bis 10 Uhr vor dem Kindergarten. Wir konnten dabei 80% der Familien ansprechen. Dabei sind manche Eltern in Zeitnot, andere haben Fragen, typisch kirchliche Worte auf dem Flyer sind für viele Eltern ohne Aussagekraft. Anschauliches hilft, zum Beispiel indem wir ein Modell des Bastelobjekts zeigen, das bei der Osterwerkstatt entstehen soll. Vieles, was uns selbstverständlich erscheint, muss erklärt werden. Wichtig für die Eltern sind die Fragen: Wer ist dabei: Bekannte, Familien, ErzieherInnen, Diakon? Wo liegt die Kirche im Stadtteil? Zudem besuchte ich einige der Gesprächsteilnehmer kurz vor dem Gespräch erneut, um mich zu vergewissern, dass sie sich noch an den Termin erinnerten, den sie mir vor kurzem freundlich zugesagt hatten. Andere Familien blockierten die Einladung zum Gespräch – laut Erzieherinnen betrachten sie alles, was vom Kindergarten kommt, als Zusatzaufwand; sie wollen ausschließlich die BetreuungsDienstleistung. Oder sie haben angstbesetzte Vorbehalte gegenüber allem, was auf sie wie eine Behörde wirkt (Kirche ist Institution), weil sie bereits unangenehme Erfahrungen gemacht hatten, z.B. wenn sie vom Jugendamt zum Gespräch gebeten wurden. Am Sonntagnachmittag, als die Osterwerkstatt stattfand, hielt ich mich eine halbe Stunde vor und eine Viertelstunde nach Veranstaltungsbeginn auf der Hauptstraße vor der Kirche auf, um ankom- Selbst am Tag des Gesprächs war ich viele Stunden unterwegs, weil Gesprächsteilnehmer kurzfristig erkrankten oder ein verletztes Kind ins Krankenhaus bringen mussten und kein familiär-nachbarschaftliches Netzwerk kurzfristig einspringen konnte. Auch massive Familienumwälzungen innerhalb kürzester Zeit oder Wegzüge Alleinerziehender verhinderten die Einhaltung des Termins. Oder eine Mutter kam eine halbe Stunde vor Ende des Gruppengesprächs abgehetzt an, mit einem Kind auf dem Arm und eines im Kinderwagen und bot „mit etwas Verspätung“ äußerst freundlich ihr Mitwirken an, was ich schweren Herzens ablehnen musste. Trotzdem war ein breiter Querschnitt an Personen anwesend und nahm aktiv am Gruppengespräch teil. 138 139 Diakonische Gemeinde gestalten in Vernetzung mit Ortsgemeinden Bericht 14: Ludwigsburg Diakonische Gemeindeentwicklung: Vernetzte Einrichtungsdiakonie Thomas Hofmann Projektort: Ludwigsburg Projektträger: Stiftung Karlshöhe Ludwigsburg Projektstelleninhaber: Diakon Thomas Hofmann 140 Ludwigsburg 1. Projektidee und Projektkonzeption 1.1 Thema und Aufgabe Das Thema und die Aufgabe beschreibt im Grunde der Titel des Projektes: „Diakonische Gemeinde gestalten in Vernetzung mit Ortsgemeinden“. Dieses beinhaltet, die annähernd analog einer Kirchgemeinde aufgestellten Strukturen der Karlshöhe aufzunehmen und weiter zu entwickeln. Eine Form der Weiterentwicklung ist es, den Fokus auf die Vernetzung mit den jeweiligen Ortsgemeinden zu richten: zum einen zur Friedenskirchgemeinde in Ludwigsburg, zu der die Stiftung Karlshöhe parochial gehört, zum anderen auch auf die Vernetzung der dezentral verorteten Außenstellen der Karlshöhe (z.B. Kornwestheim, Benningen etc.) mit den dortigen Kirchengemeinden. Diese Aufgaben sollen explizit durch einen Diakon oder eine Diakonin als Leiter/in wahrgenommen werden. Es gilt auch, Erfahrungen der Aufgabenstellung in Bezug auf die Spezialkompetenzen (Doppelqualifikation) des Diakons oder der Diakonin zu erheben. 1.2 Auslöser und Projektidee Vom tradierten Verständnis her definierte sich die Karlshöhe als „Anstaltsgemeinde“. Es gab einen ausformulierten Dienstauftrag für einen Pfarrer/ eine Pfarrerin mit den klassischen Aufgaben Gottesdienste, Kasualien, Seelsorge, Unterricht. Zuletzt lag dieser Stellen anteil bei 10% (nur noch Gottesdienste und Seelsorge) und war an den Bereich „diakonische Bildung“ angegliedert. Themen wie Inklusion, Dezentralisierung, „Leben im Ort“ haben die Entwicklung der Karlshöhe in den vergangenen Jahren geprägt. Damit stellt sich auch die Frage nach einer Verbindung der dezentralen Außenstellen der Karlshöhe zu ihren Kirchgemeinden. Welches Verständnis prägt hier das Verhältnis von Diakonie und Kirche? Für die Karlshöhe in ihrer besonderen Verantwortung für Diakon/innen war die Frage interessant, inwiefern die speziellen Kompetenzen eines Diakons bzw. einer Diakonin an der Schnittstelle zwischen Diakonie und Kirche Wirkung erzielen. 1.3 Projektträger, Arbeitsformen, Personal Die Stiftung Karlshöhe Ludwigsburg ist Träger dieses Teilprojektes. Wesentliche konkrete Arbeitsformen sind unter anderem: unterstützende Vernetzung unter den Geschäftsbereichen in der Gestaltung geistlicher Angebote (Gespräche, Koordinationskreis geistlichen Lebens, etc.) Vernetzung mit dem kirchlichen Umfeld (in beide Richtungen!). Innerhalb der Organisation ist diese Stelle als Stabsstelle dem theologischen Vorstand/Direktor zugeordnet und wird durch das eingesetzte Begleitgremium beraten. 2. Vertiefte Evaluation 2.1 Teilziel 1 Es gibt eine Verständigung darüber, was diakonische Gemeinde und diakonische Unternehmenskultur unter den Bedingungen der 5-Tage-Woche für Mitarbeitende und Bewohner/innen bedeutet. 2.1.1 Methoden und Materialien Zur Evaluation wurde eine Gruppendiskussion mit Mitgliedern des Koordinationskreises geistlichen Lebens (KGL) durch einen Kollegen eines anderen Teilprojektes durchgeführt. Diese Gruppendiskussion wurde aufgezeichnet, transkribiert und ausgewertet. 2.1.2 Beobachtungen und Erkenntnisse Die Gruppendiskussion zeigt unterschiedliche, mitunter widersprüchliche Facetten des Verständnisses von diakonischer Gemeinde auf – von einem zur Parochie analogen Verständnis über die klassische „Anstaltsgemeinde“, einer Personal- oder Fachgemeinde bis hin zur vollständigen Integration in die Ortsgemeinde Friedens kirche. Diese Pluriformität erscheint somit als ein zentrales Merkmal der dia konischen Gemeinde in der Unterscheidung zur „normalen“ Ortsgemeinde. Fr. O. beispielsweise bringt einen „pragmatischen Ansatz“ in die Diskussion ein; pragmatisch in dem Sinne, dass spirituelles Leben sich unabhängig von Strukturen und Strukturdiskussionen entfaltet, also sich ausschließlich an den Menschen orientiert: regelmäßig stattfindende Gottesdienste (z. B. sogenannte diakonische Gottesdienste, gestaltet durch die jeweiligen Geschäftsbereiche) und Andachten innerhalb der Karlshöhe und vor Ort Fr. O: „… machen wir Gottesdienst oder machen wir keinen Gottesdienst.“183 Seelsorge, Begleitung 183 Gruppendiskussion 12.01.2012, Zeile 464. Diakonische Gemeindeentwicklung: Vernetzte Einrichtungsdiakonie Das Thema, ob wir Gemeinde sind oder nicht, ist nur „unsere“ (bezogen auf KGL…) Fragestellung und interessiert die Menschen eigentlich nicht. Im Altenheim finden ganz einfach Gottesdienste statt, und die Frage nach Gemeinde stellt sich so gar nicht. Dies belegt folgende Äußerung: Hr. P: „Das Gemeindeverständnis kommt von dem, was ich gestalte.“184 Das Schaubild kumuliert und systematisiert die Aspekte, Sichtweisen und Zugänge aus der Gruppendiskussion: 141 2.2 Teilziel 2 Die Kontakte zur Friedenskirche sind strukturell und inhaltlich verbessert. 2.2.1 Methoden und Materialien Evaluiert wurde mit insgesamt drei Einzelinterviews, die mit verantwortlichen Personen geführt wurden. Diese Interviews wurden durch eine Studierende im Praktikum durchgeführt und anschließend ausgewertet. Ergänzend habe ich eine Datensammlung in Bezug auf relevante Aktivitäten erstellt (quantitativ). Pragmatischer Ansatz Personalgemeinde Dienstgruppe der Ortsgemeinde 2.2.2 Beobachtungen und Erkenntnisse Entwicklung ermöglichen und aufgreifen Anmeldung, Beitritt ggf. Kostenbeitrag zur Gemeinde Diakonische Seite der Ortsgemeinde In den jeweiligen Interviews wird in besonderer Weise die Wichtigkeit dieser Kontakte zur Friedenskirche betont. Hr. Z. benennt das exemplarisch wie folgt: Diakonisches Gemeinwesen Diakonische Gemeinde Karlshöhe Gottesdienst als zentraler Ort Karlshöhe als Stadtteil mit diakonischer Prägung Hr. Z: „Der Kontakt zu der Friedenskirchengemeinde und zu den umliegenden Gemeinden ist mir sehr wichtig, aus grundsätzlichen Gründen: Diakonie und Kirche gehören zusammen, und auch aus dem Grundgedanken der Inklusion, dass die Menschen, die wir betreuen, nicht nur auf der Karlshöhe leben, sondern auch Teil der sozialen und damit auch Teil der kirchlichen Gemeinschaft sind.“185 „Anstaltsgemeinde“ Kommunitäres Leben Teilgemeinde Diakonische Unternehmenskultur Leben miteinander teilen und gestalten Eine Predigtstätte der „Südstadtgemeinde“ Leitorientierungen mit Leben füllen Als strukturelles Merkmal werden von den Interviewten die gemeinsamen Dienstbesprechungen als zentrales Instrument benannt.186 Hervorgehoben wird dort die positive Atmosphäre dieser Besprechung. Hr. Z. beschreibt das wie folgt: Hr. Z: „Dann ist da immer eine sehr, sehr entspannte und offene Atmosphäre. Wir sprechen Termine ab, wir überlegen Projekte, wir stellen das Jahresfestmotto des kommenden Jahres vor. Also das ist immer eine sehr, sehr konstruktive Atmosphäre. …. Herr X. macht in der Regel beim Familiengottesdienst des Jahresfestes mit, Frau Y. und Herr Z. machen gemeinsame Projekte und so weiter, also das ist eine gute Atmosphäre.“187 Wie in kaum einem anderen Gemeinwesen leben auf dem Gelände der Karlshöhe Menschen in unterschiedlichsten (auch spirituellen) Prägungen und Lebenszusammenhängen in unmittelbarer Nähe. Diese Vielfalt nimmt die diakonische Gemeinde entsprechend auf und bildet sie entsprechend ab. Von der Grundtendenz her wird man sagen können, dass „diakonische Gemeinde Karlshöhe“ sich zum einen vor allem implizit in der diakonischen Unternehmenskultur konkretisiert, zum anderen in spirituellen Angeboten, die in direktem Bezug zum jeweiligen Arbeitsalltag stehen. Die Datensammlung bezüglich des Kontakts zur Friedenskirchgemeinde spiegelt wider, dass im Zeitraum 2011/2012 eine Menge an konkreten („zählbaren“) Aktionen initiiert und umgesetzt wurde. Da ist neben den Dienstbesprechungen besonders die gemeinsam gestaltete Gottesdienstkultur hervorzuheben: Teilnahme der Karlshöher an den Gottesdiensten der Friedenskirche und gemeinsame Gottesdienste (Kanzeltausch am Gründonnerstag, Familiengottesdienst 185 Interview 05.10.2011. 186 Interview 25.09.2011. 184 Gruppendiskussion 12.01.2012, Zeile 480. 187 Interview 05.10.2011. 142 Ludwigsburg zum Jahresfest und „diakonischer Gottesdienst“ in der Friedenskirche).188 Drei wesentliche Aspekte ergeben sich für die diakonische Gemeinde Karlshöhe: Der Kontakt konkretisierte sich außerdem in Projekten wie „Urlaub ohne Koffer“ für Gemeindeglieder der Friedenskirche auf der Karlshöhe. Solche Projekte werden auch langfristig Wirkung zeigen. In der Datensammlung werden neben den offensichtlichen und „großen“ Kooperationen auch eher banale Dinge wie das Ausleihen von Abendmahlskelchen benannt. Hinter diesem scheinbar Banalen wird deutlich, es gibt ein „Mehr“ an „aneinander denken“ und „aufeinander zugehen“. Dieses Aufeinanderzugehen vollzieht sich in großen und auch kleinen Schritten. Insgesamt kann man sagen, dass solche Vernetzungen sich nicht von selbst ergeben, bzw. wenn sie sich ergeben, sie eher kurzfristigen Charakter haben. Sie bedürfen der gezielten Planung, Inszenierung und beharrlichen Durchführung. Hier konnte die Projektstelle Zukunftsweisendes initiieren. 3. Metareflexion: Aussichten und Anregungen Kirche ist Diakonie und Diakonie ist Kirche.189 Diese These impliziert die Frage, wie kann Diakonie kirchlicher und Kirche diakonischer werden. Eine wichtige Facette in der Bearbeitung dieser Frage stellt dieses Projekt dar. Hier wird in einem weiten Sinne das „Evangelium kommuniziert“ und auf unterschiedlichste Art konkretisiert. Die Binnensicht der Projektphase nimmt Themen wie Rituale, Seelsorge, Gottesdienste, Auseinandersetzung mit Themen des christlichen Glaubens auf. Diese Sicht nimmt auch ernst, dass bei Mitarbeitenden Leben und Arbeiten in aller Regel an verschiedenen Orten stattfinden. Es nimmt auch auf, dass am Ort diakonischer Arbeit Mitmenschen (unsere Klienten/innen, Bewohner/innen etc.) leben, die für die The men ihres Lebens einen Anspruch auf Angebote der Auseinandersetzung, Zuwendung, Sinnstiftung, Gemeinschaft … haben – und nicht ausschließlich auf Angebote von Pflege, Beratung und pädagogischen Maßnahmen. Diakonische Gemeinde gestalten unter den Bedingungen der 5-TageWoche bedeutet, dass Mitarbeitende sich für diese Zeit darauf einlassen, dass sie für begrenzte Zeit zu begrenzten Themen spirituelle Angebote und Erfahrungen von Gemeinschaft machen – für die Klienten, für sich selbst und vor allem auch gemeinsam mit Klienten/innen. Das schließt nicht aus, dass sie sich in ihren privaten, familialen Kontexten in ihren Heimat- und Wohnortgemeinden bewegen. Präsenz: Die Akteure/innen und Protagonisten (dies meint u.a. den/die Leiter/in) dieser Gemeinde sollen als Teil dieses Sozialraumes präsent, erlebbar und ansprechbar sein. Dies meint Präsenz auf dem Gelände, aber auch Vernetzung in das kirchliche und soziale Umfeld. Sozialräumliche Orientierung: Die Karlshöhe versteht sich selbst als wichtigen Sozialraum, nämlich als „inklusives diakonisches Gemeinwesen“. Dabei wird Leben – auch spirituelles Leben – miteinander gestaltet und erweitert bzw. ergänzt durch offene Angebote (bspw. Sportgruppen) und Möglichkeit der Begegnung. Dies geschieht aber nicht isoliert, sondern die Karlshöhe versteht sich auch als Teil des größeren Sozialraums Ludwigsburg. Impulse setzen, Leben ermöglichen und Zugänge schaffen: Damit ist das Selbstverständnis der Leitung der diakonischen Gemeinde beschrieben. Er/sie regt an, setzt Impulse, stellt Fragen, führt Gespräche, übernimmt Andachten und Gottesdienste, kümmert sich aber auch pragmatisch um alltägliche Dinge wie den Mesnerdienst. Dies hat unmittelbar positive Auswirkung auf die eigene Präsenz und Akzeptanz. Zugänge schaffen heißt auch, das Netzwerk der Karlshöhe für das kirchliche Umfeld und für Außenstehende zugänglich und nutzbar zu machen. In diesem Zusammenhang ist auch eine Angebotsliste der Dienstleistungen der Karlshöhe entstanden. Anhang: Datensammlung Kontakte, Kooperation, Zusammenarbeit Karlshöhe – Friedenskirche Vesperkirche ▶ Mitgestalten des „Wortes zur Mitte des Tages“ ▶ Bereitstellung und Organisation von Equipment und Unterstützung Auf- und Abbau ▶ 2013 Übernahme der Versorgung durch die Zentralküche der Karlshöhe Dienstbesprechung: ▶ Es finden zwei Treffen jährlich zwischen den PfarrerInnen der Friedenskirche und Pfarrern und Diakon (diak. Gemeinde) zu aktuellen Themen statt „Urlaub ohne Koffer“ ▶ Ein Angebot für Ältere fand vier Tage lang in den Räumen der Karlshöhe statt 188 189 Vgl. Datensammlung Kontakte, Kooperation, Zusammenarbeit Karlshöhe – Friedenskirche, Juli 2012. Vgl. Diakoniewerk Karlshöhe Ludwigsburg, Kinder- und Jugendhilfe 2008, Kap. F1.3, S. 2. „Offene Tage Lauchbühl“ ▶ wurde als Angebote speziell für Karlshöhe und Friedenskirche konzipiert Diakonische Gemeindeentwicklung: Vernetzte Einrichtungsdiakonie Gottesdienste ▶ Kanzeltausch: der Abendmahlsgottesdienst am Gründonners tag wird gemeinsam gestaltet (Hr. Grau oder Hr. Merz übernehmen den Predigtdienst in der Friedenskirche) ▶ Familiengottesdienst zum Jahresfest fand in Kooperation zwischen Team Kinderkirche, Pfarrerin Bohner und mir statt. ▶ Ein diakonischer Gottesdienst des Hauses auf der Warth fand Anfang Juli in Zusammenarbeit mit Pfrin. Vogt statt. ▶ Ein Traugottesdienst fand mit Fr. Vogt in der Kirche der Karlshöhe statt. Literaturverzeichnis „Gottes Festspiele“ ▶ eine Veranstaltung des Kirchenbezirkes findet unter Beteiligung der Karlshöhe (Workshop und Gottesdienst) statt (verortet in der Friedenskirche). Interview 5.10.2011, Transkript. Kantorei ▶ Jubiläumskonzert und Empfang fand in der Friedenskirche statt. Pfarrerin Bohner vertritt die Friedenskirche im Begleitgremium zum Projekt Für Fachfragen (hier Jugendhilfe) stand ich einmal zum Gespräch zur Verfügung Nutzung der Karlshöher Abendmahlskelche für den Nachteulengottesdienst (wir haben ganz viele und die Friedenskirche brauchte ganz viele) Gezielte Einladung zu den Gottesdiensten und Veranstaltung der Friedenskirche. An ausgewählten Sonntagen wurde ein Fahrdienst angeboten und genutzt. Eine Einladung an den Kirchgemeinderat der Friedenskirche zur Sitzung auf der Karlshöhe wurde ausgesprochen. 143 Datensammlung Kontakte, Kooperation, Zusammenarbeit Karlshöhe – Friedenskirche, Juli 2012. Diakoniewerk Karlshöhe Ludwigsburg, Kinder- und Jugendhilfe (2008): Organisationsmanagement-Handbuch. Leitorientierungen der Jugendhilfe Karlshöhe. Interview 29.09.2011, Transkript. Gruppendiskussion 12.01. 2012, Transkript. 144 145 „Gemeinsam können wir mehr“ Das diakonische Profil im Kirchenbezirk Mühlacker stärken Bericht 15: Mühlacker Diakonisches Profil im Bezirk Peter Feldtkeller, Michael Gutekunst Projektort: Mühlacker Projektträger: Evangelischer Kirchenbezirk Mühlacker Projektstelleninhaber: Diakon Michael Gutekunst, Diakon Peter Feldtkeller 146 Mühlacker 1. Projektidee und Projektkonzeption Auf einer Bezirkssynode formulierten die Gemeinden des Evangelischen Kirchenbezirks Mühlacker zwei Anliegen: in verstärktem Maße zu kooperieren und den diakonischen Bereich zu stärken. Dazu zeitnah wurde von der Evangelischen Landeskirche in Württemberg das Projekt „Diakonat – neu gedacht und neu gelebt“ aufgelegt, bei dem sich der Kirchenbezirk bewarb, um den begonnenen Prozess weiterführen zu können. Das Anliegen des Projektes war es, im Kirchenbezirk Mühlacker das diakonisch-missionarische Profil zu stärken und weiterzuentwickeln. Der diakonisch-missionarische Auftrag sollte dahingehend verwirklicht werden, dass Menschen vor Ort in ihren jeweiligen Lebensumständen evangelische Kirche erleben, die sie wahrnimmt „so wie sie sind, dort, wo sie sind, und mit ihren Bedürfnissen“ (Entnommen aus dem Antrag an die Landeskirche). Aus dieser Wahrnehmung heraus erfolgt Zuwendung und Begleitung in stimmiger, angemessener und redlicher Weise. Um dieses Ziel zu erreichen wurde die so genannte „Servicestelle“ mit Diakon Peter Feldtkeller (50% Stellenumfang) im Bereich Gemeindearbeit und mit Diakon Michael Gutekunst (50% Stellenumfang) im Bereich Öffentlichkeitsarbeit geschaffen. Beide unterstützten sich mit ihrem Fachwissen gegenseitig. Sie vernetzten sich innerhalb des Kirchenbezirks mit Diakoninnen und Diakonen sowie im diakonischen Bereich Tätigen. Aufgabe dieses Kompetenzteams war die inhaltlich fachliche Begleitung und Mitwirkung bei Gemeindeprojekten der Servicestelle. Gesteuert wurde die Servicestelle von einer Steuerungsgruppe, die aus Personen des KBAs und Vertretern der Kirchengemeinden gebildet wurde. Die Bezirkssynode, die Pfarrerschaft und die Kirchengemeinden wurden regelmäßig über Entwicklungen und Angebote informiert und um Rückmeldung gebeten. Um einerseits die Zusammenarbeit der Kirchengemeinden zu fördern und gleichzeitig mit der Servicestelle möglichst viele Gemeinden erreichen zu können, sollten die Kirchengemeinden mit anderen Gemeinden eine Projektkooperation eingehen. Zu Beginn des Projekts konnten interessierte Gemeinden einen Antrag an die Steuerungsgruppe stellen, in dem das Anliegen, Kooperationspartner, Dauer, Ziele und Kosten beschrieben wurden. Die Servicestelle erarbeitete mit den vor Ort agierenden Projektgruppen die Projekte bis zur Antragsstellung. Im Kompetenzteam und in der Steuerungsgruppe wurden diese beraten und schließlich von Letzteren beschlossen. Im Verlauf zeigte es sich, dass es schwierig war, einige Hürden zu nehmen: Die Antragsstellung war (zu) arbeitsintensiv. Eine andere Gemeinde zu finden, die das gleiche Thema bearbeitete, gelang kaum. Ziele zu formulieren war schwierig, weil die gemeindlichen Projektgruppen auf der Maßnahmenebene arbeiteten. Im Prozessverlauf wurde das Antragsverfahren wesentlich vereinfacht, die Kriterien reduziert um es den Gemeinden einfacher zu machen. 2. Entwicklungen und Erfahrungen Die Servicestelle arbeitete in zwei Bereichen, die im Folgenden separat dargestellt werden. Zunächst geht es um verschiedene Entwicklungen im Laufe des Projektzeitraums und anschließend um die gemachten Erfahrungen. Im Laufe des Projektes wurde evaluiert, inwieweit Hauptamtliche und Ehrenamtliche motiviert und befähigt waren, ihren diakonisch-missionarischen Auftrag zu erkennen und umzusetzen. Als Ziel wurde formuliert: Die Haupt- und Ehrenamtlichen im Kirchenbezirk Mühlacker sind motiviert und befähigt, den diakonischen Auftrag vor Ort zu erkennen und umzusetzen. Es wurden bis zur Hälfte der Projektlaufzeit Daten erhoben und anschließend ausgewertet. In der gebotenen Kürze werden hier die Resultate wiedergegeben. 2.1 Gemeindearbeit Zu Beginn des Projekts forderten zwei Distrikte und eine Gesamtkirchengemeinde vor allem im Bereich Jugendarbeit die Unterstützung bei der Servicestelle an. Es ging um Vernetzung von Jugendarbeit, Findung neuer Jugendmitarbeitenden, Kontakt zu über 20-jährigen, Etablierung eines Jugendgottesdienstes und Schaffung einer Hausaufgabenbegleitung. Um die Nachhaltigkeit zu gewährleisten, war es immer wichtig, Menschen vor Ort als Akteure und Akteurinnen zu gewinnen. Diakon Peter Feldtkeller beriet und begleitete den Prozess; ein Jugendreferent wurde eingebunden, um die Mitarbeitenden gut zu unterstützen. 2.1.1 Erkenntnisse dieser Phase Die konkrete Begleitung eines Angebots durch einen Hauptamtlichen wurde positiv bewertet. Allerdings war dies nicht automatisch ein Erfolgsgarant eines Angebots. Ziele waren in den gemeindlichen Begleitgremien schwer zu formulieren oder zu bearbeiten. Die Begriffe „Missionarisch“ und „Diakonisch“ wurden nicht einheitlich definiert. Unter diakonisch konnten sich manche Ehrenamtliche wenig vorstellen. Bei einem Jugendgottesdienstteam Diakonisches Profil im Kirchenbezirk war aber zu erkennen, dass sie diakonisch arbeiteten, ohne dies selber so zu formulieren. In der Mitte der Projektzeit wurde mit Hilfe des Kompetenzteams das Angebot an die Gemeinden gemacht, die Arbeit mit Ehrenamtlichen zu stärken. Zwei Gemeinden nahmen dieses Angebot an und bearbeiteten unabhängig voneinander beide das Thema „Stärkung der vorhandenen Mitarbeiterschaft“. Nach Beendigung der ersten Projekte entstand ein Werbeflyer, der die Angebote der Servicestelle darstellte. Weiter wurde die Pfarrerschaft immer wieder in ihren Dienstbesprechungen informiert, die Servicestelle bei den Sekretärinnen vorgestellt und die Gemeindeforen von Gemeindediakon Peter Feldtkeller besucht. Dadurch entstanden vereinzelt Anfragen. Doch bis zum Ende waren diese eher verhalten. Fast am Ende des Projektes sind innerhalb des Kirchenbezirks durch die Servicestelle einige regelmäßig stattfindende diakonisch-missionarische Angebote entstanden, wie z.B. Jugendgottesdienste oder Hausaufgabenbegleitung. Eine FSJ-Stelle wurde geschaffen und ein Aktivspielhaus ins Leben gerufen. Es konnten in einer Gesamtkirchengemeinde einige junge Erwachsene neu erreicht werden. Im Bereich des Ehrenamts haben Gemeinden neue Formen der Mitarbeitendenbegleitung etabliert. Beispiel 1: wie diakonisch-missionarische Begleitung in der Praxis auch auf unkonventionelle Weise aussehen kann „Ich hab da mal ’ne Idee“ „Es ist 22:30 – das Telefon klingelt. Ich werde unruhig – wer ruft so spät an? Es müsste was passiert sein. Meine Frau nimmt ab, ruft mich, nennt mir den Namen eines ehrenamtlichen Mitarbeiters und ich gehe spontan von einem akuten Seelsorgegespräch aus. Doch es kommt anders. Der Mitarbeitende möchte mit mir über eine neue Jugendarbeitsidee reden: Geschichte-Erlebnis-Wochen in und um sein Haus und die evangelische Kirche als Träger. Das Letzte macht meine Rolle deutlich. Er braucht mich, den er schon von einer früheren Aktion her kennt, als Vermittler zur Kirchengemeinde und zum Pfarrer. Ich vereinbare also einen Termin mit dem Pfarrer, es gibt ein Treffen zu dritt und es entstehen mit der Zeit vier durchgehende Kinderbibelwochen mit Erlebnisprogramm. Während der Vorbereitung und der Durchführung wird spürbar, daß in der Zusammenarbeit zwischen diesem ehrenamtlichen Mitarbeiter und der Kirchengemeinde einiges geklärt werden muss. Daraus wird ein Projekt, in dem ich im Laufe von ca. zwei Jahren die Kirchengemeinde – konkret den Kirchengemeinderat – und 147 den ehrenamtlichen Mitarbeiter zueinander bringen soll. Es geht um Einhalten von Absprachen und rechtlichen Vorgaben, Klärung der Finanzen, Gespräche mit Nachbarn, Finden von Ehrenamtlichen und einem geeigneten Grundstück, usw. Die Vereinbarung ist unterschrieben und in der Praxis wird nun ein ständiges Aktivspielhaus erprobt. Die Kirchengemeinde gewinnt dadurch ein unübliches Kinderangebot, das auch sonst nicht erreichte Milieus ansprechen kann. Der Mitarbeiter erhält Raum für sein Engagement, kann sich im Ehrenamt mit seinen Gaben und Ressourcen einbringen und nimmt aktiv in einer Gemeinde teil.“ 2.2 Öffentlichkeitsarbeit Öffentlichkeitsarbeit hatte die Aufgabe im Rahmen des Projekts, das Kommunikationsmanagement zu gestalten. Im Rahmen der gemeindlichen Projekte wurden kommunikative Maßnahmen in Bezug auf die jeweils relevanten Dialoggruppen und deren Mediennutzungsgewohnheiten und -interessen umgesetzt. Dazu gehörten erstens Flyer, Plakate, Pressemeldungen und -gespräche. Es wurden besondere öffentliche Aktionen wie Besuche bei Jungen Erwachsenen mit Einladung zu einem Brunch oder einer „Herbstlounge“ auf einem zentralen Platz mit Musik, Feuer und gepflegten Getränken entwickelt. Die Ergebnisse und Entwicklungen in den gemeindlichen Projekten wurden allen Gemeinden des Bezirks durch Informationen auf Synoden und bezirklichen Besprechungen, im Bezirksjournal und online auf der Bezirkshomepage zur Verfügung gestellt. Das zweite Anliegen war die öffentliche Darstellung der Vernetzung der Gemeinden als Kirche in der Region. Das dritte Anliegen war es, die Gemeinden in ihrer eigenen Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen und zuzurüsten. Dies geschah durch Beratung, Konzeption, Zuarbeit und bezirksweiten Schulungen, u.a. mit dem Evangelischen Medienhaus Stuttgart in Form von „Medientagen“. Im Projektverlauf gesellte sich der Bereich „Medienarbeit“ im Sinne von „Orientierung in Medienwelten“ dazu. Themenabende zu gesellschaftlichen medialen Prozessen und medienpädagogisches Wissen und Können ergänzten die Angebote der Öffentlichkeitsarbeit hilfreich. Im Feld Öffentlichkeitsarbeit wurden zu Beginn des Projekts die kommunikativen Grundlagen (u.a. Corporate Design, Bezirkshomepage, Medienkontakte) auf Bezirksebene entwickelt, umgesetzt und in einen Regelbetrieb übernommen. Dies war auch sinnvoll und notwendig, um kommunikative Grundlagen zu legen, auf welche die PRArbeit in den Gemeindeprojekten aufbauen konnte. 148 Mühlacker Als interne Kommunikationsinstrumente wurden unter anderem ein thematisch ausgerichtetes Bezirksjournal und ein Bezirksthema etabliert. Letzteres griff über einen Zeitraum von zwei Jahren die Themen „Arm und Reich in einer Welt“ und „Gemeinsam Glauben Leben“ auf. Dies geschah in Form von Vorträgen, Ausstellungen und Kampagnen wie dem „Gottesdienstpilgern“. Ab der Hälfte des Projektzeitraums nahmen die Anfragen der Kirchengemeinden für ihre Öffentlichkeitsarbeit vor Ort (Konzeption, Gemeindebrief, Homepage, Fundraising, Events) an die Servicestelle zu. Es zeigte sich, dass das Bezirksthema von den Gemeinden zwar mitgetragen wurde, aber eine Ausgestaltung und aktive Mitwirkung nur schwer möglich war. Gründe hierfür waren: eigene Schwerpunkte und Notwendigkeiten, alltägliche Arbeit und dauernde Anforderungen an Ehren- und Hauptamtliche. Daher lag die Umsetzung des Themas bei den Bezirkswerken und wurde durch die Öffentlichkeitsarbeit koordiniert. Das Bezirksjournal richtete sich an Verantwortliche auf Gemeindeebene. Es informierte über modellhafte Entwicklungen und vorhandene Angebote in anderen Gemeinden und im Kirchenbezirk. Es wurde genutzt um Informationen aus der Kirchenbezirksleitung transparent darzustellen. Somit konnten Themen grundsätzlich breiter und zeitlich längerfristiger, als es mit digitalen Medien möglich ist, kommuniziert werden. Die Verteilung des Bezirksjournals an die Gemeinde- und Gruppenleitenden ist bisher suboptimal gelöst. Es wurden noch nicht alle Adressaten durch dieses Journals erreicht. Insgesamt zeigte sich auf Grund der Medienpräsenz in der Presse, den Zugriffszahlen auf der Homepage und der Inanspruchnahme durch die Gemeinden, dass Öffentlichkeitsarbeit als sinnvoll und notwendig erkannt wurde. Wie Öffentlichkeitsarbeit in der Praxis aussah, soll der folgende Bericht illustrieren: Beispiel 2: „Mach mal ’nen Flyer“ „Ping“ signalisiert der Posteingang die Zustellung einer Mail. In dieser ergeht die Bitte, doch mal einen Flyer zu machen mit den beigefügten Informationen, um auf die anstehende Renovierungsmaßnahme und die notwendigen Gelder hinzuweisen. Danke und Gruß. Meine Reaktion: Rückruf beim Absender der Mail, um zu klären, an wen sich dieser Flyer konkret richtet, wie er diese Zielgruppe/n erreicht, welches Budget zur Verfügung steht und bis wann dieser fertig sein muß. Aus diesen Fragen entspinnt sich ein Gespräch, bei dem dann am Ende unter anderem ein Flyer steht – mit veränderten Informationen. Im Verlauf der Gespräche haben wir uns miteinander überlegt, für wen die Renovierung dieses kirchlichen Gebäudes aus welchen für ihn relevanten Gründen interessant sein könnte, welche In- formationen er möchte, welche Wortwahl und Bildsprache angemessen ist, welche Zahlungsweisen für den potentiellen Spender am einfachsten sind und ob diese für die Gemeinde administrativ leistbar und rechtlich so zulässig sind. Am Ende war der Flyer Teil einer kleinen Kommunikationsstrategie, die stufenweise Informationen über mehre Informationsmittel bereitstellte bzw. die aufeinander verwiesen, um die unterschiedlichen Anspruchsgruppen möglichst entsprechend ihrer Mediennutzungsgewohnheiten zu erreichen. Es entstanden unter Einbindung von Ehrenamtlichen und der Beratung durch Finanzverantwortliche – neben dem Flyer, der in der Weihnachtszeit in den Gottesdiensten verteilt wurde und auf die Homepage mit Filmclip zur Renovierung verwies – entsprechende Meldungen für die kirchlichen Nachrichten. Auf der Gemeinde-Homepage wurde kurz und prägnant im selben Sprachstil und Bildern wie bei den Printmedien über die Renovierung informiert mit der Möglichkeit, mehr Informationen über eine Verlinkung abzurufen. Ebenso wurden Pressemeldungen und Hinweise auf die für die Renovierung stattfindenden Veranstaltungen veröffentlicht. Beim Filmclip geben Gemeindeglieder Auskunft warum ihnen diese Renovierung am Herzen liegt. So wurden auch sie als Botschafter dieser Sache eingebunden und stehen für ihre Kirchengemeinde und diese Maßnahme. 3. Ertrag und Schlussfolgerungen Der Austausch im Kompetenzteam war sehr befruchtend und sollte weitergeführt werden. Verschiedene Kompetenzen und Sichtweisen können so für alle Beteiligten gewinnbringend vernetzt werden. Die Bezeichnung „Servicestelle“ war nicht zielfördernd und wird daher aufgegeben. Die inhaltliche Arbeit der bisherigen Servicestelle wird weitergeführt mit gleicher Personalstärke. Die Schwierigkeit einiger Kirchengemeinderäte in einem Gruppengespräch die Begriffe „diakonisch“ und „missionarisch“ einem Ziel zuzuordnen, nötigt uns an dieser Stelle zu neuem nachdenken. Diakonie und Mission gehören zum Wesen der Kirche; dies ist allgemein unumstritten. Auf der Maßnahmenebene, d.h. bei konkreten Aktionen vor Ort lässt sich mit diesen Begriffen sehr viel leichter arbeiten. Durch die gewollt weite Definition (siehe Seite 9) von „missionarisch-diakonisch“ konnten theoretisch viele verschiedene Themenfelder bearbeitet werden. Möglicherweise hat dies dazu geführt, dass das Angebot der Servicestelle im Bereich Gemeindearbeit für Kirchengemeinden nicht konkret genug war und deshalb wenig in Anspruch genommen wurde. Diakonisches Profil im Kirchenbezirk In den Kirchengemeinden kann nicht alles Know-how vorhanden sein, um den diakonisch-missionarischen Auftrag umsetzen zu können. Deshalb kann Fachpersonal von außen hilfreich sein, das sich auf die Ressourcen und Gegebenheiten vor Ort (Quantität und Qualität der Mitarbeitenden, Raum, Traditionen, usw.) einlässt und sich darum bemüht, die Menschen vor Ort für den diakonisch-missionarischen Dienst zu begeistern und zu befähigen. Öffentlichkeitsarbeit ist nicht nur wichtig für praktische Aufgaben wie Flyer- oder Gemeindebriefgestaltung, sondern auch für das Kommunikationsmanagement. Gemeint ist die interne und externe Informationsvermittlung, welche stimmig für den jeweiligen Absender und Adressat erfolgt: Wer braucht wann welche Informationen in welcher Art und Weise und welche Resultate bzw. Reaktionen löst das jeweilige Vorgehen aus. Dies ist u.a. durch die Instrumente Homepage oder Bezirksjournal und Pressearbeit bezirksweit umgesetzt, müsste aber noch mehr in die Gemeinden getragen werden. Der Beratungsaspekt ist noch ausbaubar. 4. Fakt-O-Gramm Der Evangelische Kirchenbezirk Mühlacker umfasst 27 Kirchengemeinden. Die Servicestelle erreichte 18 Gemeinden mit sieben Projekten. Darüber hinaus erhielten weitere sechs Gemeinden allein in der Öffentlichkeitsarbeit Unterstützung. 149 Bis Dezember 2012 wurde mit ca. 50 Ehrenamtlichen und 15 Hauptamtlichen im Bereich Gemeindearbeit intensiv zusammengearbeitet. Durch den Bereich Öffentlichkeitsarbeit wurden bis Dezember 2012 ca. 450 Personen (Haupt- und Ehrenamt, thematisch Interessierte) in Schulungen und thematischen Veranstaltungen erreicht. Diese große Gesamtzahl war auch möglich durch die Medientage im 1. Quartal 2012 in Kooperation mit dem Evangelischen Medienhaus. Regulär führt die Öffentlichkeitsarbeit ein bis zwei Schulungen pro Jahr für Mitarbeitende im Kirchenbezirk durch, die von insgesamt ca. 15 – 20 Personen wahrgenommen werden. Die Bezirkshomepage wurde seit Online-Stellung am 1.10.2008 monatlich ca. 1.500-mal aufgerufen. Dies ist für ein Onlineangebot dieses Zuschnitts (Kontaktinformationen, aktuelle Informationen, Grundlagen) eine sehr gute Zahl. Von 2010 bis 2012 wurden pro Monat durchschnittlich 30 Pressemeldungen (ohne Veranstaltungshinweise) zu kirchlichen Themen in der regionalen Presse abgedruckt. Anhang: Schaubild diakonisch-missionarischer Auftrag im Kirchenbezirk Mühlacker 150 Liste der Teilprojekte Liste der Teilprojekte Altensteig Sozialdiakonie und Seelsorge am Krankenbett DIAKONIESTATION: DIAKONISCHE PROFILIERUNG IN DER PFLEGE Bernhausen Diakonisch-missionarisches Handeln im Gemeinwesen. Sozialraum- und gemeindebezogene Vernetzung von Schulsozialarbeit, Streetwork und Gemeindejugendarbeit mit kirchlichen und kommunalen Hilfesystemen SCHULE IM SOZIALRAUM: SCHULSOZIALARBEIT, STREETWORK UND GEMEINDEJUGENDARBEIT Creglingen Diakonische Schulsozialarbeit – seelsorgerliches und kirchliches Handeln an der Schule DIAKONISCHE SCHULSOZIALARBEIT Esslingen Diakonische Jugendarbeit als Mitgestalter der Schule DIAKONISCHE JUGENDARBEIT UND SCHULE Ludwigsburg Diakonische Gemeinde gestalten in Vernetzung mit Ortsgemeinden DIAKONISCHE GEMEINDEENTWICKLUNG: VERNETZTE EINRICHTUNGSDIAKONIE 151 In alphabetischer Reihenfolge nach Projektorten, mit Kurzbeschreibung Durch ein Qualifizierungsangebot für Pflegekräfte hinsichtlich der geistlichen Kompetenzen in Verbindung mit dem Angebot einer nachgehenden Seelsorge und Sozialberatung, sowie durch den Aufbau einer ambulanten Hospizgruppe wird die christliche Profilierung einer Diakoniestation vertieft und eine Verbesserung der Situation von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen angestrebt Durch Beziehungsarbeit im Gemeinwesen entstehen diakonisch-missionarische Netzwerke für Schülerinnen und Schülern in ihren verschiedenen Lebensräumen, dabei werden diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleitet und in sozialen Fragen beraten und unterstützt. Kinder und Jugendliche erfahren in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer in ihrer erzieherischen Arbeit am Lebensort Schule diakonisch und kirchlich profilierte Unterstützung und Begleitung. Kirche und christliche Jugendarbeit nehmen Schule als Lebensraum von Schülerinnen und Schülern wahr und gestalten ihn aktiv mit, durch Angebote zur Persönlichkeitsstärkung und zum sozialen Lernen. Die Formen geistlichen Lebens im Kontext einer diakonischen Einrichtung werden weiterentwickelt und die Kooperation der Einrichtungsgemeinde mit dem örtlichen Kirchebezirk wird intensiviert. 152 Liste der Teilprojekte Mühlacker „Gemeinsam können wir mehr“. Das diakonische Profil im Kirchenbezirk stärken DIAKONISCHES PROFIL IM KIRCHENBEZIRK Reutlingen Gastfreundliche Gemeinde für Familien INKLUSIVE GEMEINDE UND KIRCHLICHE KINDERGARTENARBEIT Reutlingen Trauerwege gehen mit Familien TRAUERDIAKONAT Schwenningen „Eine Chance für Kinder“ – Hilfe für Familien mit Kindern in Armutslagen und prekären Situationen DIAKONISCHE ARBEIT MIT FAMILIEN IN ARMUT UND PREKÄREN SITUATIONEN Stuttgart Brückenschlag – Milieuübergreifende Glaubensvermittlung VERKÜNDIGUNG UND JUGENDLICHE MILIEUS Stuttgart Kirchliche Dienste auf der Messe Stuttgart DIAKONAT AUF DER MESSE Die gemeindeorientierte diakonische Arbeit im Kirchenbezirk wird mit den Schwerpunkten Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit so intensiviert und neu organisiert, dass für Menschen evangelische Kirche in ihrer Lebenswelt erfahrbar wird. Ausgehend von einem Kindergarten sollen in einer Kirchengemeinde Lebensräume geschaffen werden, in denen Familien mit unterschiedlicher religiöser und sozialer Herkunft Akzeptanz finden, zum Glauben eingeladen werden, Beteiligungsmöglichkeiten und soziale Unterstützung finden und zum interreligiösen Dialog eingeladen werden. Familien, in denen ein Familienmitglied verstorben ist, werden seelsorgerlich und beratend begleitet. Ausgehend von der Anstellung bei einem diakonischen Träger wird ein funktionierendes Netzwerk in Kirche, Vereinen und Kommune zur Trauerbegleitung für Menschen aller Generationen aufgebaut. Benachteiligte Kinder und ihre Eltern werden in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld durch professionelle Beratungsangebote, ehrenamtliche Begleitung und sozialraumorientierte Angebote unterstützt und gestärkt. Dieses Projekt will an unterschiedlichen Orten durch eine Initialveranstaltung zu milieuübergreifender Jugendarbeit einladen und junge Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten mit dem Evangelium erreichen und in Kirchengemeinden beheimaten. Diakonisch-missionarische Präsenz auf der Messe wird mit Hilfe eines Ehrenamtlichennetzwerkes, durch geistliche und seelsorgerliche Angebote aufgebaut. Liste der Teilprojekte Tübingen Diakonisch wahrnehmen und handeln – einladendes gelebtes Evangelium DIAKONISCHE GEMEINDEENTWICKLUNG IM KIRCHENBEZIRK Tuttlingen Menschen entdecken – gemeindediakonisch handeln: Diakonieladen Kaufkultur DIAKONIEKAUFHAUS Ulm „Vergesst die Vergessenden nicht“ HERAUSFORDERUNG DEMENZ IN KIRCHENGEMEINDEN Welzheim Vernetzung von kirchlicher Jugendarbeit und Schule vor Ort JUGENDARBEIT UND SCHULE 153 Gemeinden werden darin unterstützt, Menschen, die an den Rand der Gesellschaft geraten sind, wahrzunehmen und mit ihnen nach Auswegen aus der Not zu suchen. Diakoniebeauftragte werden im Bezirk geschult und Modelle eines inklusiven Gemeindelebens gestaltet. Rund um den Aufbau eines Sozialkaufhauses gruppieren sich Initiativen diakonischer Ehrenamtlichenarbeit und diakonischer Gemeindeund Gemeinwesenarbeit, in denen Kirchengemeinden und diakonische Bezirksstelle im Sozialraum vernetzt werden und diakonische Modelle diakonischer Sozialwirtschaft und der Finanzierung von Arbeit in Kooperation mit Kommunen und Gewerbeverein erprobt werden. Für Menschen mit demenziellen Erkrankungen und ihre pflegenden Angehörigen werden in Demenzcafes, Beratungsangeboten, in der Seelsorge und in Gottesdiensten „Räume der Barmherzigkeit“ eröffnet, in denen sie seelsorgerliche Begleitung, soziale Unterstützung und Beratung erfahren. Die kirchliche Jugendarbeit des örtlichen CVJMs engagiert sich im Bereich der Schulen. Über die personelle Verknüpfung durch die Diakonin werden Jugendarbeit und Schule vernetzt. V.a. kirchenferne Jugendliche erfahren Begleitung, Entwicklung von Stärken, die Möglichkeit Mitgestalter in ihrem Umfeld zu werden und erhalten darin Anteil an der Kommunikation des Evangeliums. 154 Präsentation der Projekte Präsentation der Projekte bei der Abschlussveranstaltung „Diakonat – für die Kirche der Zukunft“ am 27.04.13 in Böblingen Im Vordergrund: Oliver Pum Im Vordergrund: Thomas Hofmann Im Vordergrund: Elsbeth Loest Im Vordergrund: Michael Gutekunst, Tobias Becker (mit Mikrofon), Michael Feldtkeller Alle Photos wurden zur Verfügung gestellt von Prof. Dr. Thomas Zippert.