"Der Bund" vom 07.02.2013

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"Der Bund" vom 07.02.2013
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Donnerstag, 7. Februar 2013 —
Der kleine
Kultur
Jazz von den Sonnenhängen
Das Programm des 38. Jazzfestivals Bern ist enthüllt. Die Jazzgeschichte wird von McCoy Tyner, Roy Haynes und Monty Alexander
verkörpert. Und als kleiner Programmschwerpunkt kristallisiert sich der Jazz aus gut besonnten Gegenden heraus.
Ane Hebeisen
Wenn das Jazzfestival Bern am 18. März
den Start seiner 38. Austragung feiert,
dann wird eine ganz besonders charmante Dame auf der Bühne des Berner
National auf die Eingelassenen warten.
Catherine Russell heisst sie, hat bereits
im Jahr 2010 das Festival eröffnet und
sich ihre neuerliche Nomination mit
ihrer hübschen neuen Einspielung
«Strictly Romancin’» redlich verdient.
Sie versammelt darauf Klassiker der
Jazzromantik, Lieder, die in ihrer Jugend aus dem Küchenradio schallten.
Interpretiert werden sie ohne neuzeitlichen Schnickschnack, dafür mit umso
mehr Klasse. Sie wird flankiert von der
ebenso an der Historie des Vocal-Jazz
interessierten Cécile McLorin Salvant,
mit ihren 23 Jahren noch ein Geheimtipp der New Yorker Jazzszene.
Die Wiederholungstäter
Betrachtet man das Programm des
38. Jazzfestivals Bern in seiner Ganzheit,
dann fallen als Erstes die beiden honorigen Wiederholungstäter auf. Monty Alexander wird für das Jazzfestival Bern je
länger, desto mehr zu dem, was B. B.
King fürs Montreux Jazz Festival geworden ist: zum Stammgast mit allen künstlerischen Freiheiten. In diesem Jahr tritt
er im Quartett Triple Treat auf und wird
in seinem Set seine gleichnamige Albumserie aus den Achtzigerjahren in Erinnerung rufen. Kein jamaikanischer Highlife-Jazz ist hier also zu erwarten, sondern distinguiert swingende Standards
mit Gitarrenbegleitung.
Die Heissblüter
Weit rassiger wird es da an den Auftritten
der Pianistenlegende McCoy Tyner hergehen. Er greift fürs Festival sein Projekt
mit den traditionell prominent besetzten
Latin All-Stars auf (mit nach Bern reist
unter anderem der Saxofonist Gary
Bartz). Überhaupt bildet der HeissblüterJazz in diesem Jahr einen kleinen Programmschwerpunkt. Der kubanische
Klarinettist Paquito D’Rivera bringt das
Swiss Jazz Orchestra mitsamt dem Goldkanten-Trompeter Claudio Roditi und
dem Bandoneonisten Michael Zisman in
den Marians-Keller. Nicht nur ein personalintensives, sondern auch ein musikalisch interessantes Unterfangen mit viel
Crossover-Potenz.
Damit noch nicht genug an ÄquatorJazz: Mit Dave Samuels Caribbean Jazz
Project strandet eine weitere Band in
Bern, die das Publikum wenn nicht zum
Tanzen (das wird von Berner Jazzfreunden schon lange nicht mehr erwartet), so
Er hat sie alle begleitet, von Billie Holiday bis Miles Davis: Roy Haynes ist eines der Glanzlichter des Jazzfestivals Bern. Foto: Archiv
doch zum rhythmischen Fingertrommeln
auf dem Bistrotisch animieren dürfte.
Fusion-Dinos und Jazz-Helden
Etwas Ähnliches dürften auch die Yellowjackets bewerkstelligen, eine der letzten
überlebenden Bands aus der künstlerisch
wankelmütigen Fusion-Jazz-Ära. Die Amerikaner werden – wie in diesem Genre üblich – von geschmäcklerischer Schwülstigkeit bis zu grossartigen Einzelvorstössen
alles im Repertoire haben. Weit geschmackssicherer wird der Auftritt des
Schlagzeug-Methusalems Roy Haynes ausfallen, ein unbestrittenes Glanzlicht des
Festivals. Ein Mann, der sie alle begleitet
hat, die Hoheiten der Jazzgeschichte – Billie Holiday und Ella Fitzgerald, Lester
Young und Miles Davis, Charlie Parker
und Thelonious Monk, Bud Powell und
Sonny Rollins, Stan Getz und John Coltrane. Lange Zeit krankte sein Schaffen
daran, dass seine eigenen Bands kaum die
ganz grosse Klasse seiner Gastspiel-Combos erreichten. Mit dem Saxofonisten Ja-
leel Shaw hat er sich nun aber einen Bläser angelächelt, der dieses Manko problemlos aufzuheben imstande ist.
Zu einem musikalischen Erlebnis
wird auch das Konzert des belgischen
Gitarristen Philip Catherine werden –
seine Komplizen sind unter anderem
der Elektro-Geiger Didier Lockwood
und der Gitarrist Frank Vignola.
Muskulöser Blues
Aus bewährten Hochkarätern setzt sich
auch das Blues-Programm zusammen.
Von Lucky Peterson gibt es mitreissendkernigen Stromgitarren-Blues, und Shemekia Copeland ist in Bern ein gern und
oft gehörter Gast, auch wenn ihr neuestes
Tonwerk «33 1/3» zuweilen etwas ordinär
im Blues-Mainstream gondelt. In so ziemlich sämtlichen elektrischen Blues-Distrikten fühlt sich Lil’ Ed zu Hause, zudem
dürfte er einmal mehr durch seine körperlich herausfordernden Show-Elemente auffällig werden. Als da wären:
«Toe Walking» und «Back Bends».
Das Programm
Opening Night, National, 18. März:
Catherine Russell & Cecile McLorin Salvant
Konzerte im Marians Jazzroom:
¬ 19. bis 23. März: The Lucky & Tamara
Peterson Band.
¬ 26. bis 30. März: Shemekia Copeland.
¬ 2. bis 6. April: Lil’ Ed & The Blues Imperials
¬ 9. bis 13. April: The Yellojackets (Bob
Mintzer, sax / Russell Ferrante, keyb / Felix
Pastorius, b / William Kennedy, dr).
¬ 16. bis 20. April: Monty Alexander’s Triple
Treat (Monty Alexander, p / Russell Malone, g
/ Hassan Shakur, b / Frits Landesbergen, dr).
¬ 23. bis 27. April: McCoy Tyner Latin Jazz
All-Stars (McCoy Tyner, p / Gary Bartz, as /
Steve Turre, tb / Claudio Roditi, tp / Gerald
Cannon, b, Ignacio Berroa, dr / Francisco
Mela, perc)
¬ 30. April bis 4. Mai: Philip Catherine
Quartet (Philip Catherine, g / Nicola Andrioli,
p / Philippe Aerts, b / Antoine Pierre, dr plus
Special Guests: Didier Lockwood, viol / Frank
Vignola, g)
¬ 7. bis 11. Mai: Roy Haynes Fountain of
Youth Band (Roy Haynes, dr / Jaleel Shaw,
sax / Martin Bejerano, p / David Wong, b)
¬ 14. bis 18. Mai: Paquito D’Rivera & The
Swiss Jazz Orchestra feat. Claudio Roditi &
Michael Zisman
¬ 21. bis 24. Mai: Dave Samuels’ Caribbean
Jazz Project (Dave Samuels, vib & marimba /
Oscar Feldman, as & ss / Ruben Rodriguez, b
/ Vince Cherico, dr / Arturo Stable, perc).
Gala Night, Stadttheater Bern, 25. Mai
Michel Camilo & Kenny Barron Trio oder
Danilo Perez Trio.
Wie jedes Jahr finden im Jazzfestival-Zelt
Gratiskonzerte von heimischen und New
Yorker Jazzstudenten statt. Der Vorverkauf
startet am Montag, 11. Feb., ab 8 Uhr via
www.starticket.ch, SBB, Post, Manor und
Innere Enge. (ane)
Denkmal für den «amerikanischen Schindler»
Varian Fry verhalf 1940/41 in
Marseille über 2000 Menschen
zur Flucht vor den Nazis.
Eveline Hasler erzählt seine
Geschichte: Spannend, aber
reichlich überfrachtet.
Alexander Sury
«Alle Fluchtwege schienen in Marseille zu
enden. Hier war das Meer. Von hier aus
hoffte man zu entkommen. (...) Eine
Arche Noah, gefüllt mit den unterschiedlichsten Menschen.» Im Spätsommer
1940 ist Frankreich besiegt, Tausende
von Flüchtlingen strömen in die französische Hafenmetropole am Mittelmeer und
hoffen auf die rettende Ausreise in die
Vereinigten Staaten. Aber es fahren kaum
mehr Schiffe, die einzige Möglichkeit ist
die unsichere Transitreise durchs faschistische Spanien nach Lissabon. In diesem
«Hexenkessel» wimmelt es von verzweifelten Gestrandeten, viele von ihnen bekannte Künstler und Intellektuelle, von
Gestapo-Agenten, zwielichtigen Helfern
und einer lokalen Polizei, die im Auftrag
von Vichy-Frankreich den neuen deutschen Herren zuarbeitet.
Und dann betritt ein eleganter 33-jähriger Amerikaner mit Hornbrille und
«intellektuellem Einschlag» diese Bühne:
Varian Fry, Harvard-Absolvent, Journalist und Gesandter des «Emergency Rescue Committee». Der Retter in höchster
Not hat 3000 Dollar bei sich, eine Liste
mit 200 Namen und quartiert sich vorerst im Hotel Splendide ein. Die Mission
des passionierten Hobby-Ornithologen:
«Künstlervögel» wie Franz Werfel, Heinrich Mann, Walter Mehring oder Lion
Feuchtwanger «einzufangen» und ihnen
zur Flucht zu verhelfen. Einige von ihnen werden später in den «goldenen Volieren» Hollywoods als bezahlte Autoren
ihre Bürostunden absitzen und Entwürfe für Drehbücher verfassen, die nie
realisiert werden. Sogleich macht sich
Fry an die Arbeit, schart einen verschworenen Mitarbeiterstab um sich,
beschafft Notvisa und gefälschte Pässe,
organisiert Transitgenehmigungen und
Schiffspassagen.
berg eine mündliche Quelle ersten Ranges gefunden.
Um die Hauptfigur Fry, die erst im Epilog an Konturen gewinnt und über deren
Homosexualität sie nicht spekulieren mag
(ihn verband eine Freundschaft mit dem
jungen Stéphane Hessel, der 2010 als
93-Jähriger mit dem Pamphlet «Empört
Euch!» für Aufsehen sorgte), gruppiert
Alle meine «Schützlinge»
In ihrem neuen Buch hat Eveline Hasler
(«Die Wachsflügelfrau») einmal mehr dokumentarisches Material sorgfältig ausgewertet und die Fakten mit der Fiktion
temporeich und in dichter szenischer Abfolge miteinander verwoben. Eine ihrer
Hauptfiguren in diesem an dramatischem
Personal überreichen Roman ist der
15-jährige Gussie aus Danzig, eigentlich
Justus Rosenberg, der zusammen mit
einem jüdischen Freund per Fahrrad in
den Süden Frankreichs flüchtet, sich mit
kleinen Chaplin-Nummern unterwegs etwas Geld und Nahrung verdient und
schliesslich zu Varian Frys «Lauungen»
wird. Die Autorin hat im heute hochbetagten, am renommierten New Yorker Brad
College immer noch lehrenden Rosen-
Eveline Hasler eine Fülle von meist nur
skizzenhaft charakterisierten Personen.
Franz Werfel («mit der Statur eines halb
gefüllten Mehlsacks») und seine Frau
Alma Mahler-Werfel (die mit 13 Koffern
samt dem «europäischen Kulturerbe»
ihrer Ex-Ehemänner Gustav Mahler und
Walter Gropius unterwegs war) oder das
Ehepaar Heinrich und Nelly Mann, die
Fry zunächst misstrauen, schliesslich
aber auf einem «Schmugglerpfad» zu Fuss
die Pyrenäen überqueren. Weitere Schlaglichter treffen etwa die SPD-Politiker Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding,
die fatalerweise auf einer legalen Ausreise
beharren und arretiert werden. Einzig
der schmächtige Lyriker und KabarettTexter Walter Mehring mit der markanten
Nase, auch das «Baby» genannt wegen seiner Alkoholika, die er oft auf dem Unterarm wiegte, wird in seiner Verlorenheit
und Gehetztheit plastisch erlebbar; er
quartiert sich im Nebenzimmer von Fry
ein und unterstützt ihn bei Interviews
und Übersetzungen.
Einsam war sein eigener Tod
Schutzengel für verfolgte Künstler:
Varian Fry 1940 in Marseille. Foto: Archiv
Vollends überfrachtet wird der schmale
Roman mit den beiden Schweizer Rotkreuz-Schwestern Elsbeth Kasser, die im
Internierungslager Gurs zum guten «Engel» wird und einen jüdischen Jungen adoptiert, und Rösy Näf, die ein Heim mit
flüchtigen Jugendlichen führt und etliche
von ihnen in Nacht-und-Nebel-Aktionen
über die grüne Grenze in die Schweiz zu
retten vermag. Ob all dieser parallelen Er-
zählstränge, die ein eigenes Buch verdient
hätten, tritt Varian Fry streckenweise in
den Hintergrund. Mit seiner Arbeit geriet
er immer mehr unter Druck und wurde im
September 1941 ausgewiesen – nicht zuletzt auch auf Betreiben des amerikanischen Konsulats, das ihn der «kommunistischen Aktivitäten» verdächtigte und bei
den lokalen Behörden anschwärzte.
Der Held wird in der Heimat kühl
empfangen und sollte im Klima des Kalten Krieges nie mehr richtig Fuss fassen,
das Militär verweigert ihm die Mitarbeit,
privat scheitern zwei Ehen, beruflich
geht er mit einer Filmfirma in Konkurs.
Er stirbt 1967 einen einsamen Tod: «Die
Polizei findet den neunundfünfzigjährigen Fry tot im Bett, halb bedeckt von
maschinengeschriebenen Blättern: die
Entwürfe für eine Schulbuchausgabe
seines Berichts über die Rettungsaktion
der Künstler und Intellektuellen in Marseille.» 1996 war Fry der erste amerikanische Staatsbürger, der in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in die
Galerie der «Gerechten unter den Völkern» aufgenommen wurde. Eveline
Hasler hat diesem «introvertierten Rebellen» Varian Fry zwar ein beherztes
Denkmal gesetzt, aber die Hauptperson
in der immensen Stofffülle zeitweise fast
aus den Augen verloren.
Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff.
Nagel & Kimche 2012, 218 S. Fr. 27.90.
Lesung: Heute, 19 Uhr, Buchhandlung
Haupt, Bern.

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