Ni un corps de femme – ni un corps d`homme
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Ni un corps de femme – ni un corps d`homme
Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 105 Ulrike Koch (Wien) Ni un corps de femme ni un corps dhomme Die Herstellung des Geschlechts und das Leben im Dazwischen in Tahar Ben Jellouns Lenfant de sable und La nuit sacrée 1. Einleitung Bereits sieben Töchter1 zählt eine Familie in Marokko. Jedoch ist dies kein Grund zur Freude, denn in einer Gesellschaft, in der Männer höher bewertet werden als Frauen, ist dies eine Schande, eine Schmach. Die Ehre der Familie befindet sich dadurch in Gefahr. Der Vater muss zudem befürchten verspottet zu werden, da er scheinbar nicht in der Lage ist einen Sohn zu zeugen. In Gefahr befindet sich auch das Erbe der Familie, das nicht an weibliche Nachkommen weitergegeben werden darf.2 Aus dieser Konstellation heraus birgt die erneute Schwangerschaft der Ehefrau das Risiko, dass auch das nächste Kind wieder eine Tochter werden könnte. Daher fasst der Vater einen folgenreichen Entschluss: lenfant à naître sera un mâle même si cest une fille!3 Und tatsächlich handelt es sich bei dem Kind erneut um ein Mädchen, die Worte des Vaters werden in die Tat umgesetzt und das Kind Ahmed getauft und männlich erzogen. Die so herbeigeführte geschlechtliche Maskerade des Kindes wird den Lesenden auf zwei Ebenen präsentiert. In dem 1985 erschienenen L enfant de sable ergreift zu Beginn ein Erzähler auf einem Marktplatz das Wort und präsentiert mit Hilfe des Tagebuchs die Lebensgeschichte des Kindes. Als der Erzähler nicht mehr am Marktplatz erscheint, ergreifen sechs weitere Stimmen die Erzählung und präsentieren jeweils ihre Version der Geschichte. Das tatsächliche Geschehen bleibt so im Ungewissen und transzendent wie das 1 2 3 Kategorien wie weiblich und männlich oder Frau und Mann und deren abgeleitete Personenbezeichnungen sind konstruierte Kategorien, die nicht auf vermeintlich biologischen Tatsachen beruhen, sondern gesellschaftlich geformt und genormt sind und dieses wird auch durch die Sprache transportiert. Vgl. Ben Jelloun, Tahar: Lenfant de sable. Paris: Ed. du Seuil, 1985, S. 16-17. Ben Jelloun, 1985, S. 21. 106 Ulrike Koch Geschlecht der erzählten Person. 1987 erscheint La nuit sacrée, das weniger als Fortsetzung gedacht ist, sondern eine weitere Erzählperspektive eröffnet, nämlich die eines je, das nun selbst das Wort ergreift und vom Vater auf den Namen Zahra getauft wird. Um die Ambivalenz der Namensgebung zu verdeutlichen und beiden angenommenen Geschlechtern gerecht zu werden, wird im Folgenden der Doppelname Ahmed_Zahra verwendet. Der durch den Unterstrich symbolisierte Gap soll dabei zum einen den Spalt in der Identität verdeutlichen, der durch diese Ambivalenz hervorgerufen wird, und zum anderen einen Raum für das Dazwischen eröffnen: ni un corps de femme plein et avide, ni un corps dhomme serein et fort; jétais entre les deux, [...]4. Das Nachspüren dieses Dazwischen in Ahmed_Zahras Prozess der geschlechtlichen Aneignung bewegt sich dabei eng am Text und wird zunächst anhand der doppelten Geste der Anrufung durch den Vater nachverfolgt. Daran anschließend wird mit Verweis auf L enfant de sable die performative Herstellung des männlichen Geschlechts dargelegt. Dem zweiten Roman La nuit sacrée folgend, widmet sich die Analyse der Annahme des weiblichen Körpers. Den Abschluss bildet eine Diskussion des Umgangs mit dem Weiblichen in einer patriarchal konstituierten Gesellschaft und welche Auswirkungen dies auf die Identitätskonstitution der Figur hat. 2. Die Anrufung des Geschlechts Die geschlechtliche Identität und die damit verknüpften Anforderungen werden bereits vor der Geburt eines Menschen durch das Umfeld in Form von Gesprächen über das Geschlecht des Kindes erzeugt. So eröffnet die Hebamme, die in den Plan des Vaters das Kind männlich zu ernennen, eingeweiht ist, dass sie aufgrund ihrer Erfahrung voraussieht, dass das Kind männlich sein wird, da die Bewegungen des Kindes im Bauch der Mutter männlich-brutal/aktiv sind: elle sentait quà la manière dont cet enfant bougeait dans le ventre de sa mère, ce ne pouvait être quun garçon. Il donnait des coups avec la brutalité qui caractérise la mâle!5 Neben vorgeburtlichen Untersuchungen und Geschlechtsdiskussionen ist es dann vor allem die Geburt selbst, bei der das Geschlecht des Kindes fest- und hergestellt wird. Judith Butler spricht hier in Anlehnung an Louis Althusser von 4 5 Ben Jelloun, Tahar: La nuit sacrée. Paris: Ed. du Seuil, 1987, S. 178. Ben Jelloun, 1985, S. 24. Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 107 einem interpellativen Akt der Feststellung die Anrufung , bei dem das Kind von einem es zu seinem sie oder er wird.6 Diese performative Leistung der Herstellung des Geschlechts sorgt auch dafür, dass obwohl eine weitere Tochter in die Familie hineingeboren wird, der Vater und seine Verbündeten das männliche Geschlecht des Kindes überzeugend dem Umfeld mitteilen. Der Vater nimmt dabei in Ben Jellouns Romanen eine besondere Rolle ein, da er das Geschlecht des Kindes mit einer doppelten Geste der Anrufung, die je unterschiedliche Konsequenzen hat, bestimmt. Damit macht er sich zum Schöpfer von Ahmed_Zahra, indem er ihn_sie benennt und tauft.7 In L enfant de sable ruft der Vater L enfant que tu mettras au monde sera un mâle, ce sera un homme, il sappellera Ahmed même si cest une fille!8 Die Namensgebung durch den Vater führt das Kind in die symbolische Ordnung ein und gibt ihm_ihr einen zugewiesenen Platz in der Ordnung der Geschlechter. Die geschlechtlich codierte Vergabe des Namens ermöglicht, dass der Körper seine Totalität erhält. Dieser Name besitzt über die Zeit hinweg Gültigkeit und führt das Kind in die Matrix der Sex-Gender-Begehren-Ordnung ein, die besagt, dass Sex und Gender einander zu entsprechen haben und das Begehren gegengeschlechtlich ausgerichtet ist. Diese Ordnung wird durch das Inzestverbot strukturiert, dessen Missachtung mit Sanktionen bedroht und das mit unterschiedlichen Tabus ausgestattet ist. Benannt zu werden bedeutet deshalb, jenes Gesetz eingeschärft zu bekommen und in Übereinstimmung mit diesem Gesetz körperlich formiert zu werden.9 Diese körperliche Formierung, auf die später noch genauer eingegangen wird, zwingt den Körper in eine Normierung, die dem jeweiligen geschlechtlichen Diskurs entspricht. Die körperlichen Einschränkungen wirken dabei direkt auf die Identitätskonstituierung des Menschen ein und bestimmen mit welchen Freiheiten bzw. Einschränkungen ein Mensch zu leben hat. Die Materialisierung des Körpers kann also nur in den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten hergestellt werden, die durch diskursive und performative Akte beschränkt wird.10 6 7 8 9 Vgl. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus. d. Engl. von Karin Wördermann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 29. Vgl. Tamm, Sabine: Secret du secret dans le silence du rêve dans le rêve: Traumerzählungen in den Romanen Lenfant de Sable und La nuit sacrée von Tahar Ben Jelloun. Frankfurt am Main, u.a.: Lang, 1998, S. 146. (= Europäische Hochschulschriften, Bd. 229) Ben Jelloun, 1985, S. 23. Butler, 1997, S. 109. 108 Ulrike Koch All dies wirkt auch auf die zweite Anrufung des Vaters ein, der kurz vor seinem Tod in La nuit sacrée sein Kind zu seiner Frau macht: En cette nuit jai su que ton destin serait meilleur que celui de toutes les femmes de ce pays. [...] Tu es une femme ... Laisse ta beauté te guider. Il nya plus rien à craindre. La Nuit du Destin te nomme Zahra, fleur des fleurs, grâce, enfant de léternité, tu es le temps qui se maintient dans le versant du silence [...]11 Die Nacht, in der Ahmed_Zahra ihre neue geschlechtliche Zuschreibung erhält, ist eine besondere Nacht. Es handelt sich um die 27. Nacht des Ramadan in der, so die Legende, der Koran offenbart wurde. Die Geschehnisse in dieser Nacht erlangen eine besondere Bedeutung und werden als entscheidend für den weiteren Verlauf des Schicksals gedeutet.12 Für die Identität Ahmed_Zahras ist dies sowohl ein bestürzender als auch ein befreiender Akt. Die bisher aufgestellte Geschlechterordnung, in der sich Ahmed_Zahra bewegt hat, ist dadurch gestört, die körperliche Formierung muss erneut erfolgen und auch der Platz im Symbolischen muss erneut und anders eingenommen werden. 3. Die performative Herstellung des männlichen Geschlechts Neben der Anrufung sind es vor allem performative Akte, die das Geschlecht herstellen. Darunter fallen Gestik, Sprache, Stimme, die Wahl der Kleidung und andere geschlechtlich codierte Verhaltensweisen, die performativ und damit wiederholend vollzogen werden und so das Geschlecht einer Person herstellen.13 Diese performative Herstellung von Geschlecht beschränkt sich in dem Fall von Ahmed_Zahra auf die Materialisierung einer männlichen Form, die nun durch das Verhalten der Eltern und der Umwelt hergestellt wird. Dazu zählt auch das Ritual der Beschneidung, das im Islam an männlichen Kindern vollzogen wird. Da Ahmed_Zahra keinen Penis hat, opfert der Vater, um diesen Initiationsritus 10 11 12 13 Vgl. Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie. Aus d. Engl. von Reiner Ansén. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Uwe Wirth. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 301-320. Hier: S. 304. Ben Jelloun, 1987, S. 32. Hervorhebung UK. Vgl. Tamm, 1998, S. 145. Vgl. Butler, 1997, S. 36. Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 109 durchführen zu können, einen Teil seines Fingers und greift so auf den eigenen Körper zurück, um das von ihm hergestellte Geschlecht des Kindes gesellschaftlich zu legitimieren.14 Der Rückgriff auf die Tradition verweist dabei auf die historische Konstituierung des Körpers, der in seiner Materialität auch erst durch den Beschneidungsakt hergestellt wird. Diese performative Handlung und ihre dramatische Reproduktion wiederholt dabei einen historischen Akt,15 der durch die Wiederholung selbst wieder legitimiert wird. Der gewalttätige Akt in der körperlichen Beschneidung und Einschränkung der Möglichkeiten wird auch an Ahmeds_Zahras Körper realisiert. Um mögliche Anzeichen eines weiblichen Körpers zu verschleiern, muss Ahmed_Zahra eine Brustbinde tragen: elle [die Mutter, Anm. UK] sinquiétait pour ma poitrine quelle pansait avec du lin blanc16. Das Verbergen der Brust und damit Anzeichen eines weiblichen Körpers greift direkt in die Materialisierung des Körpers ein. Legitimiert wird dieser Vorgang durch die binäre Strukturierung der Zweigeschlechtlichkeit, die besagt, dass männlich all jenes ist, das nicht-weiblich ist, also auf Ausschlüssen basiert.17 Die damit konstituierte Körpermaterialisierung erscheint in ihrer verdinglichten, materiellen Form als zwei scheinbar natürliche, gegensätzlich ausgerichtete Körper, die in einem binären Verhältnis zueinander stehen.18 Auf die Erzählung von Ahmed_Zahra umgelegt bedeutet dies, dass er_sie als männliches Kind nicht nur nicht weiblich aussehen, sondern sich auch nicht so verhalten darf. So verbietet der Vater zum Beispiel das Spiel mit einer Puppe und meint: Tu te déguisais en fille, puis en infirmière, puis en maman. Tu aimais les déguisements. Que de fois je dus te rappeler que tu étais un petit homme, un garçon.19 Auch hier werden wieder durch einen performativen Akt das Geschlecht des Kindes und damit auch seine Verhaltensweisen festgeschrieben. Da Ahmed_Zahra sein_ihr Geschlecht andauernd erneut performativ herstellen muss, ist er_sie auch von solchen Vorschreibungen abhängig, die ihm_ihr sein_ihr Verhalten vorgeben. Neben diesen Verhaltensweisen ist es auch der Körper selbst, der sich in den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten manifestiert. Im Text wird dies durch die Stimme verdeutlicht, die einen dunklen Klang annimmt und so als männlich 14 15 16 17 18 19 Vgl. Ben Jelloun, 1985, S. 32. Vgl. Butler, 2002, S. 305. Ben Jelloun, 1985, S. 36. Vgl. Butler, 1997, S. 30. Vgl. Butler, 2002, S. 309. Ben Jelloun, 1987, S. 29. 110 Ulrike Koch identifizierbar die Konstituierung des Körpers, der Identität und damit auch auf sprachlich-stimmlicher Ebene die performative Herstellung des geschlechtlichen Körpers symbolisiert. Gleichzeitig handelt es sich dabei um die Stimme des Vaters, die das Kind in dessen Existenz eingeführt hat. Der so doppelt kodierte Körper verändert sich auch insofern, dass dem Kind ein Bart zu sprießen beginnt: [E]lle me trouble et mexaspère; elle raidit le corps, lenveloppe dun duvet qui devient tó`t des poils. Elle a réussi à éliminer la douceur de ma peau, et mon visage est celui de cette voix. [...] Non, cela ne mest pas permis. La voix, grave, granulée, travaille, mintimide, me secoue et me jette dans la foule pour que je la mérite, pour que je la porte avec certitude, avec naturel, sans fierté excessive, sans colère ni folie, je dois en maîtriser le rythme, le timbre et le chant, et la garder dans la chaleur de mes viscères.20 Wesentlich ist in diesem Fall auch, dass das Kind nicht selber an seiner Existenz zweifeln darf, denn erst indem es selbst die performativen Handlungen des Männlichen wiederholt, wird es zu einem Mann. Die tiefe Stimme ist aber auch etwas, das sich das Kind erst verdienen muss, also deren Legitimität erst durch die Wiederholung hergestellt wird. So wird auch die beginnende Menstruation als Konfrontation mit einer Materialität des Körpers, die nicht dem hergestellten Bild des Männlichen entspricht, wahrgenommen. Diese Erfahrung wird dann auch sofort relativiert:21 Je suis larchitecte et la demeure; larbre et la sève; moi et un autre; moi et un autre. Aucun détail ne devrait venir, ni de lextérieur ni du fond de la fosse, perturber cette rigueur. Pas même le sang. Et le sang un matin a taché mes draps. Empreintes dun état de fait de mon corps enroulé dans un linge blanc, pour ébranler la petite certitude, ou pour démentir larchitecture de lapparence. [...] Cétait bien du sang; résistance du corps au nom; éclaboussure dune circoncision tardive.22 Die vorgegebenen Verhaltensweisen wirken sich auch auf gewaltvolle Erfahrungen aus. So wird Ahmed_Zahra von seinem_ihrem Vater geschlagen, nachdem er_sie auf die Gewalt von Jugendlichen nicht selbst mit Gewalt reagiert hat, 20 21 22 Ben Jelloun, 1985, S. 45. Vgl. Gauch, Suzanne: Telling the Tale of a Body Devoured By Narrative. In: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, Vol. 11, Nr. 1 (1999), S. 179-202. Hier: S. 183. Ben Jelloun, 1985, S. 46. Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 111 sondern stattdessen weinend nach Hause lief. Geahndet wird dieses Verhalten auch mit den Worten des Vaters: Tu nes pas une fille pour pleurer! Un homme ne pleure pas!23 Die Handlungen des Vaters are based on the common premise that only men engender while women serve as mere vessels for the transmission of history.24 Auch hier wird wieder das Männliche mit dem Aktiven gleichgesetzt, das sich wehrt. Wie wehrlos Frauen zum Teil auch gegenüber männlicher Gewalt sind, macht nachfolgende Szene deutlich, die wiederum von einem Kindheitserlebnis und Streit erzählt, der mit den Worten des Gegenübers: Si tu avais été une fille, je taurais fait autre chose!25 endet. Bei der hier angedeuteten sexualisierten Gewalt, die Frauen angetan wird, handelt es sich um ein strukturelles Problem, dessen sich Ahmed_Zahra auch bewusst ist. In La nuit sacrée reflektiert er_sie: Ma vie dhomme déguisé avait été plus quun péché, une négation, une erreur. Si javais été fille parmi les filles, mon destin aurait été peut-être violent mais pas misérable, entaché de honte, de vol et de mensonge.26 Um die Mannwerdung zu vervollständigen, durchläuft Ahmed_Zahra einen weiteren Initiationsritus, indem er_sie seine_ihre Cousine Fatima heiratet, die unter epileptischen Anfällen leidet. Und so treffen zwei auf ihre jeweilige Art be-hinderte Körper aufeinander, deren Ehe hauptsächlich zur Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen dient. Ahmed_Zahra umgeht mit der Heirat noch einen weiteren Initiationsritus, da von dem behinderten Körper seiner_ihrer Frau nicht die Geburt eines Kindes erwartet wird. Er_sie umgeht auch jeglichen sexuellen Kontakt mit Fatima, die ihn_sie zunächst für homosexuell hält, aber dann errät, dass Ahmed_Zahra einen weiblichen Körper hat. Die performative Herstellung des Geschlechts beruht auf einem Zweigeschlechtsmodell, das nur weiblich und männlich kennt. Beide Zuschreibungen sind jeweils mit Rollenerwartungen aufgeladen, die erfüllt werden müssen, da sonst Sanktionen drohen. Um die Erwartungen zu erfüllen, wird auch zu drastischen Maßnahmen in der Materialisierung des Körpers gegriffen. Und doch scheint es, dass der direkte Eingriff in die körperliche Entwicklung für Ahmed_Zahra selbst jedoch keine direkte Einschränkung darstellt. Als Kind nimmt er_sie die Vorgehensweise der Eltern als ein Wagnis auf, eine Art Abenteuer, das es zu bestehen gilt. Zudem wächst er_sie in einer patriarchalen Gesellschaft auf, die ihm_ihr als männlich identifiziertes Kind mehr Freiheiten ermöglicht. Dieser als 23 24 25 26 Ebd., S. 39. Gauch, 1999, S. 181. Ben Jelloun, 1987, S. 127. Ebd. S. 177. 112 Ulrike Koch höher gewertete Zustand und die Aufnahme in die Kreise der Männer stellen für das Kind einen Prestigegewinn dar, den es nicht verlieren möchte. Ahmed_Zahra erfährt diese Privilegien vor allem in seinem_ihrem Elternhaus, das ihm_ihr als männliches Kind einen weitaus höheren Status als den der Schwestern zuspricht. Die Reflexion des dahinter stehenden patriarchalen Diskurses erfolgt erst später; zu einem Zeitpunkt, an dem die Identitätsausbildung und die damit verbundene geschlechtliche Identifizierung verstärkt auftreten und Ahmed_Zahra aus der Perspektive einer weiblichen Person auf seine_ihre Erfahrungen zurück blickt. 4. Die Annahme des weiblichen Körpers Die zuvor schon beschriebene Verwirrung und Befreiung durch die weitere Anrufung des Vaters manifestiert sich in Ahmed_Zahra als ein erneutes Ausloten der eigenen Identität. Die Annahme des weiblichen Körpers erfolgt durch eine Traumsequenz, in der sich Ahmed_Zahra in einem Garten befindet, der nur von Kindern bevölkert wird. In diesem Garten findet sich eine Quelle, in der sich Ahmed_Zahra wäscht und seinen_ihren Körper berührt: Je touchai mes seins. Ils émergeaient lentement. Jouvris mon chemisier pour les offrir au vent du matin, un petit vent bénéfique qui les caressait. [...] Le vent traversait mon corps de haut en bas. Mon chemisier gonflait. Je lâchai mes cheveux. [...] jai retiré mon saroual puis ma culotte pour faire plaisir au vent, pour me faire plaisir et sentir la main légère et froide de cette brise matinale passer sur mon ventre et réveiller mes sens. [...] Je faisais mes premiers pas de femme libre. La liberté, cétait aussi simple que de marcher un matin et de se débarrasser des bandages sans se poser de questions. La liberté, cétait cette solitude heureuse où mon corps se donnait au vent puis à la lumière puis au soleil.27 Durch die sensiblere Wahrnehmung des Körpers erfolgt dessen Annahme. Das Wiedererwachen der taktilen Sinne ermöglicht das Wiederbeleben des erotischen Körpers, der zuvor unterdrückt worden ist. Daraus entwickelt sich ein neuer Raum des Lebens und der Lust.28 Wie Maazaoui herausgearbeitet hat, ist die 27 28 Ebd. S. 45-46. Vgl. Maazaoui, Abbes: L Enfant de sable et La Nuit Sacrée ou le corps tragique. In: The French review 54 (1995) Nr. 4, S. 68-77. Hier: S. 69. Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 113 Quelle auch noch aus einem weiteren Aspekt von Bedeutung. Ben Jelloun versetzt die Wahrnehmung des Körpers damit in ein Land der Träume, das Ahmed_Zahra als Frau erlaubt nackt zu sein und seine_ihre Sexualität auszuleben. Beides ist in einer traditionellen islamischen Gesellschaft Frauen sonst nicht in dieser Freiheit gestattet.29 Die Quelle versorgt dabei den Körper, der in seinen Einschränkungen zuvor als Wüste wahrgenommen wird, mit neuem Leben: Mon corps qui était une image plate, déserté, dévasté, accaparé par lapparence et le mensonge, rejoignait la vie. Jétais vivante.30 Wasser wird im Koran je nach Zustand unterschiedlich gedeutet. Handelt es sich um bewegtes Wasser, wird es als lebensspendend wahrgenommen. Stehende Gewässer jedoch werden mit einer unheilbringenden Bedeutung versehen.31 Diese Ambivalenz des Wassers wird auch im fiktionalen Werk widergespiegelt. Ahmed_Zahra bewegt sich zwar unter dem sprudelnden und damit lebensspendenden Wasser, jedoch badet er_sie auch in stehendem Gewässer. Damit wird die Annahme des weiblichen Körpers nicht nur positiv gedeutet, sondern verweist auch auf die Ambivalenz der als neu erfahrenen Körpermaterialisierung und auf den weiteren Verlauf der Handlung, in der der weibliche Körper mit Restriktionen versehen wird. In Verbindung mit Lenfant de sable gesetzt, wird die Dualität zwischen der Lebendigkeit in der Quelle und dem zuvor als Stillstand erlebten Dasein deutlich. Aus kurz nach dem Tod des Vaters verfassten Tagebucheinträgen zitierend, greifen die Erzählstimmen Ahmed_Zahras Stimme auf, der_die sich in die Dunkelheit eines Zimmers zurückgezogen hat. Nur mit der Hausmagd in Kontakt lebt Ahmed_Zahra in diesem Zimmer. Diese Beschreibungen voller Düsternis und Selbstzweifel zeigen das Bild einer Person, die mit sich selbst und dem Zustand des Gefangenseins in einer Rolle hadert. In diesem Gefängnis ist auch die Möglichkeit Sexualität auszuleben beschränkt. Ein weiterer Schritt zur Annahme des weiblichen Körpers erfolgt durch das Ablegen jener Gegenstände, die sich zuvor in Ahmed_Zahras Besitz befunden haben. Darunter fallen vor allem jene, die der zuvor gelebten Identität als Legitimierung gedient haben wie die Geburtsurkunde, ein Foto der Beschneidung und der Personalausweis. In einem wütenden Akt reißt sich Ahmed_Zahra auch die Brustbinde vom Leib und bettet die Gegenstände im Grab des Vaters, das zusätzlich von ihm_ihr mit Steinen beschwert wird: 29 30 31 Vgl. ebd. S. 70. Ben Jelloun, 1987, S. 46. Vgl. Bourget, Carine: L intertexte islamique de L Enfant de sable et La Nuit sacrée de Tahar Ben Jelloun. In: The French Review 72 (1999) Nr. 4, S. 730-741. Hier: S. 738. 114 Ulrike Koch Au moment de fermer la tombe, je maccroupis pour bien tasser les objets et jeus mal à la poitrine. Quelque chose me serrait les có`tes et le thorax. Les bandelettes de tissu étaient encore autour de ma poitrine pour empêcher les seins de sortir et de grossir. Je retirai avec rage ce déguisement intérieur composé de plusieurs mètres de tissu blanc. Je le déroulai et le passai autour du cou du mort. Ensuite je serrai très fort et fis un nud. Jétais en sueur. Je me débarrassais de toute une vie, une époque de mensonges et de faux-semblants.32 Ahmed_Zahra kann sich nur deswegen von diesen Gegenständen trennen, da er_sie zuvor die Lusterfahrung in der Quelle durchlebt hat. Der direkte Kontrast zwischen der Helligkeit und der Lebensfreude in der Quelle und die mit Dunkelheit und Tod verknüpfte Friedhofsszene, verweist auch auf die verschiedenen Stadien der Identitätsfindung, die zwischen Licht Freude und Dunkelheit Ungewissheit oszilliert. Der Körper, der nun Sexualität in autoerotischen Gesten kennengelernt und mit weiblich codierter Kleidung den Platz im Symbolischen eingenommen hat, erfährt jedoch auch den gewaltvollen Umgang mit Weiblichkeit, wie sie schon in Ahmed_Zahras Kindheitserlebnissen angedeutet wird. Ahmed_Zahra begegnet auf der Straße einem Mann, der ihm_ihr hinter einen Busch folgt und ihn_sie vergewaltigt. Diese Szene ist von außergewöhnlicher Ambivalenz geprägt. Ahmed_Zahra handelt aus einer gewissen Neugier heraus, erstaunt über die Empfindungen, die die beschwörenden Worte des Mannes bei ihm_ihr auslösen. So lässt er_sie es auch zu, dass er in ihn_sie eindringt. Obwohl es sich dabei um einen gewaltvollen Akt handelt, empfindet Ahmed_Zahra dies so nicht. Der Sexualakt erscheint vielmehr als ein notwendiger Schritt zur Annahme des Körpers. Dass Sexualität nicht nur mit Gewalt in Verbindung steht, erfährt Ahmed_Zahra beim Konsul, dessen Schwester er_sie in einem Hammam kennenlernt und die Ahmed_Zahra bei sich aufnimmt. Der Konsul ist blind und nimmt daher seinen_ihren Körper anders, mehr emotional und taktil, wahr: Quand nous faisions lamour il passait de longs moments à dévisager tout mon corps avec ses mains. [...] il sappliquait à se concentrer comme un artiste avant de commencer une uvre. Il se comparait à un sculpteur: Pour que votre corps me devienne familier, pour quil renonce à être rebelle, il faut que je le sculpte soigneusement, patiemment, me disait-il encore.33 32 33 Ben Jelloun, 1987, S. 56-57. Ebd. S. 137. Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 115 Ahmed_Zahra hat in Bezug auf seinen_ihren Körper bisher nur Gewalt, Aggression und Lüge kennengelernt. Durch den Konsul erfährt Ahmed_Zahra den liebe- und lustvollen Umgang mit dem Körper, der nicht mehr nur als einfache Hülle wahrgenommen wird.34 Ahmed_Zahra ist so in der Lage Lust und Begehren zu empfinden. Er_Sie ist damit auch in der Lage einen weiteren Schritt in der Identitätsfindung als Frau zu gehen: Jétais heureuse que le premier homme qui aima mon corps fú`t un aveugle, un homme qui avait les yeux au bout des doigts et dont les caresses lentes et douces recomposaient mon image.35 [...] Je nétais plus un être de sable et de poussière à lidentité incertaine, seffritant au moindre coup de vent.36 Mit dem Begehren, das auf Gegenseitigkeit beruht, tritt Ahmed_Zahra auch in die heterosexuelle Matrix ein. Damit der Körper als intelligibel wahrgenommen wird, muss zunächst Sex als feste Entität hergestellt werden. Dieser hat mit Gender übereinzustimmen. Das Begehren, das dadurch hergestellt wird, hat sich an das dichotom gegenüberstehende Geschlecht zu richten.37 Indem Ahmed_Zahra seinen_ihren Körper annimmt, sich auch als Frau identifiziert und einen Mann begehrt, tritt sie in diese heterosexuelle Matrix ein, die ihm_ihr zuvor verwehrt geblieben ist und die er_sie zuvor schon durch die Heirat der Cousine herzustellen versucht hat. Sein_ihr Dasein kann nun als intelligibel gedeutet werden, hat also eine Existenzberechtigung erhalten. 5. Der Umgang mit dem Weiblichen In einer traditionell gezeichneten Gesellschaft, wie Ben Jelloun sie in seinem Werk präsentiert, wird der weibliche Körper zensuriert, das Begehren unterdrückt, die Gestalt verhüllt und das Sprechen verboten.38 Auch Ahmed_Zahra kennt diese Erfahrung und reflektiert darüber. So muss er_sie nach dem Tod des Vaters erneut 34 35 36 37 38 Vgl. Marrouchi, Mustapha: My Aunt is a Man: ce je-là est multiple. In: Comparative Literature 69 (2002) Nr. 1, S. 325-356. Hier: S. 337. Ben Jelloun, 1987, S. 137. Ebd. S. 138. Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus d. Amer. von Kathrina Menke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 219-220, Fn. 6. Vgl. Marrouchi, 2002, S. 348. 116 Ulrike Koch in die Rolle eines Mannes schlüpfen. Während das Totengebet in der Moschee gesprochen wird, betet Ahmed_Zahra gemeinsam mit anderen Männern. Frauen dürfen nicht in diesen Bereich und so reflektiert Ahmed_Zahra: A la grande mosquée, je fus, bien sú`r, désignée pour diriger la prière sur le mort. Je le fis avec une joie intérieure et un plaisir à peine dissimulés. Une femme prenait peu à peu sa revanche sur une société dhommes sans grande consistance. En tout cas cétait vrai pour les homes de ma famille. En me prosternant, je ne pouvais mempêcher de penser au désir bestial que mon corps mis en valeur par cette position susciterait en ces hommes sils savaient quils priaient derrière une femme. Je ne parlerai pas ici de ceux qui manipulent leur membre dès quils voient un derrière ainsi présenté, quil soit celui dune femme ou celui dun homme.39 Dadurch, dass Ahmed_Zahra durch seine_ihre Kleidung und gesellschaftliche Rolle als Mann codiert ist, ist es ihm_ihr möglich gemeinsam mit den Männern zu beten. Er_sie tritt damit in einen Bereich ein, der ihm_ihr eigentlich verboten ist bzw. schon immer verboten war. Dies kann als eine Art Rache gegenüber der männlich dominierten Gesellschaft gelesen werden, die das weibliche Geschlecht auf ein Sexualobjekt reduziert. Sein_ihr Vergehen darf aber nicht entdeckt werden, da mit schwerwiegenden Sanktionen zu rechnen ist.40 Die Auslotung weiblicher Verhaltensweisen und auch Kleidungsmöglichkeiten geschieht nur indirekt. An Gewicht gewinnt beides erst, nachdem Ahmed_Zahra verhaftet wird, da ein Bruder seines_ihres Vaters ihn_sie des Mordes bezichtigt. Im Gefängnis erhält Ahmed_Zahra die Möglichkeit als Schreiberin zu arbeiten. Dazu erhält er_sie eine Uniform, die die Angestellten zu tragen haben: Quand le matin je mettais mon uniforme, je me regardais dans le miroir. Je souriais. Jétais de nouveau en costume dhomme. Mais ce nétait plus un déguisement. Cétait un habit de fonction. Les femmes shabillaient comme les hommes pour avoir lair sévère et imposer leur autorité. [...] Certains [Häftlinge, Anm. UK] mappelèrent monsieur. [...] Je ne trompais personne. Je prenais soin de mon visage. Je me maquillais plus quavant. Jétais devenue coquette.41 Auffallend ist hier die Diskrepanz zwischen der männlichen Uniform und dem weiblich codierten Schminken. Ahmed_Zahra ahmt hier weibliche Verhaltensweise 39 40 41 Ben Jelloun, 1987, S. 36. Vgl. Tamm, 1998, S. 201-202. Ben Jelloun, 1987, S. 175. Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 117 nach. Da ihm_ihr in seiner_ihrer bisherigen Geschlechtswerdung kein direktes Rollenbild zur Verfügung stand, greift er_sie auf den Diskurs der Weiblichkeit zurück und fügt sich in diesen ein. Die durch das Schminken hervorgerufene weibliche Erscheinungsweise steht zudem in direktem Kontrast zu der männlich codierten Uniform, von der sich Ahmed_Zahra damit abgrenzt. Der Umgang mit dem Geschlecht wird mehr zu einem Spiel. Möglich wird dies auch nur deswegen, da Ahmed_Zahra in die heterosexuelle Matrix eingetreten ist, die ihm_ihr die Gewissheit über seine_ihre Identität und seinen_ihren symbolischen Platz in der Gesellschaft ermöglicht. Das Gefängnis ist dabei als ein geschützter Ort zu denken, der Ahmed_Zahra das Spiel mit seinem_ihrem Äußeren ermöglicht. In diesem Ort, der hauptsächlich Frauen beherbergt, kann er_sie eine weitere Form der Maskerade performativ aufführen und muss keine Restriktionen befürchten. Das Spiel wird von Ahmed_Zahra dann auch weiter betrieben. So steigt er_sie geschminkt mit männlich codierter Kleidung in einen Bus: Je portais une djellaba dhomme. Sa laine était épaisse et rugueuse. Mes chevaux étaient noués dans un joli foulard de couleurs vives. Je me mis du rouge sur les lèvres et du khó`l autour des yeux. [...] Avec ma djellaba de camionneur javais lair étrange et dró`le. Les voyageurs mal réveillés me lançaient des regards inquiets. Je leur souriais. Ils baissaient les yeux. Chez nous les hommes ne supportent pas dêtre regardés par une femme. Eux, aiment regarder et scruter, mais toujours de biais.42 Durch sein_ihr Aussehen weckt Ahmed_Zahra Irritation hervor, vor allem bei den anwesenden Männern, die es nicht gewöhnt sind, dass eine Frau nicht den Blick senkt, ja sogar zurück blickt. Auch hier entwickelt sich wieder ein Moment der Rache an der patriarchal strukturierten Gesellschaft, gegen die Ahmed_Zahra mit seinem_ihrem Verhalten aufbegehrt. Das Spiel wird von ihm_ihr auch weiter getrieben und so schlüpft er_sie mal in jene und dann wieder in eine andere Rolle: A mon tour je me levai et me mis dans la file des femmes. Puis, jeus envie de jouer, je rejoignis la file des hommes. Avec ma djellaba je pouvais passer pour un homme.43 Deutlich wird auch hier wieder die performative Herstellung des Geschlechts, die vor allem durch Gesten und Kleidung erfolgt. Es ist aber zugleich ein Spiegel einer patriarchalen Gesellschaft, die das Männliche mit Privilegien ausstattet, die dem Weiblichen verboten bleiben. Das Dasein im Dazwischen ermöglicht jedoch nicht nur Freiheiten, sondern unterliegt auch anderen Sanktionen. Da Ahmed_Zahra weder eindeutig als Frau 42 43 Ebd. S. 187. Ebd. S. 189. 118 Ulrike Koch noch als Mann gesehen werden kann, ist auch seine_ihre gesellschaftliche Akzeptanz fragil. Erschwerend kommt hinzu, dass die performative Herstellung des Geschlechts vor allem in Ahmed_Zahras Kindheit geschehen ist. Die so schon vorher erwähnten fehlenden Rollenvorbilder erschweren die performative Herstellung des Weiblichen, dessen Anspruch und damit Legitimität Ahmed_Zahra nie voll erfüllen kann. Ahmed_Zahra kennt somit auch beide Seiten einer patriarchalen Gesellschaft. Welches Frauenbild dabei vorherrscht, wird anhand eines Tagtraumes deutlich, der Ahmed_Zahra vor eine Wand führt: Une rue déserte et étroite. Sur le mur des pierres avaient poussé comme des grenades sèches. Sur des endroits lisses, blanchis à la chaux, des syllabes, des dessins obscènes, des graffiti. [...] Je lisais à voix haute ce quil y avait sur le mur: L amour est un serpent qui glisse entre les cuisses. ... Les couilles sont des pommes tendres ... Ma verge se lève avant le soleil. [...] De la main je le poussai un peu et je vis, dessiné avec précision, un vagin avec des dents. Au-dessus on avait écrit: Les dents du plaisir. Un corps avance; le seul membre apparent est son sexe, le gland est une tête de mort, tout le corps est un sexe, marchant, souriant, impatient. Tout autour de ce dessin les innombrables noms donnés au sexe féminine: lhuis, la bénédiction, la fissure, la miséricorde, le mendiant, le logis, la tempête, la source, le four, le difficile, la tente, le chaud, la coupole, la folie, lexquis, la joie, la vallée, le rebelle ... Je les épelai un à un et les criai à loreille de mon père au visage tout blanc, où aucune expression ne passait.44 Ahmed_Zahra betrachtet mit seinem_ihrem Vater diese Wand, deren Bilder den Mann als erigierten Penis darstellen, während die Frau auf ihre Vagina reduziert wird. Die Vagina wird mit unterschiedlichen Bezeichnungen versehen, die vor allem auf die Lust des Mannes und dessen Befriedigung ausgerichtet ist. Die Metapher der vagina dentata und die damit verbundene Kastrationsangst macht dabei das ambivalente Geschlechterverhältnis deutlich, denn nicht die Person steht im Vordergrund, sondern nur deren Genitalien. Ahmed_Zahra brüllt die pornographischen Bezeichnungen in das Ohr des Vaters, der dies mit weißem Gesicht über sich ergehen lässt. Auch hier taucht wieder das Bild der Rache auf, die Rache gegenüber dem Vater, der Sex und die Sexualität des Kindes negiert hat. Im Text finden sich noch weitere Stellen, die das Weibliche auf den Körper reduzieren. So beschwört Ahmed_Zahras Vergewaltiger den Körper ohne dabei 44 Ebd. S. 76-77. Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 119 auf Adjektive zurückzugreifen: Louanges à Dieu, louanges à toi ma sur qui me précède pour que je sente ton parfum, pour que je devine tes hanches et tes seins, pour que je rêve de tes yeux et de ta chevelure.45 Der Körper wird dabei zu einem austauschbaren Objekt und ist nicht fassbar. Be-greifbar wird er nur für den Vergewaltiger selbst, der die beschworenen Körperteile in seinen Besitz bringen möchte.46 Die Reduktion des weiblichen Körpers auf seine Oberfläche begrenzt die Wahrnehmung auf primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale. Diese Objektivierung zeigt sich auch bei einem Besuch des Konsuls in einem Bordell. Er wird dabei von Ahmed_Zahra begleitet, der_die ihm das Aussehen der anwesenden Frauen beschreibt: L une est brune, elle est tatouée sur le front et sur le menton. Ses cheveux huilés sont ramassés dans un foulard aux couleurs vives. La poitrine est grosse mais elle tombe. Elle a du ventre ; les fesses sont bien grasses, les jambes poilues; elle mâche du chewing-gum. [...] L autre est mince. Elle a de beaux seins, la taille fine mais des fesses énormes. Ses cheveux sont noirs et ses yeux clairs.47 Der so ausgestellte und bewertete Körper reduziert auch die Möglichkeit der Existenz und Subjektwerdung der begutachteten Körper, da durch die Reduzierung des Körpers auf seine Oberfläche weder eine Stimme noch eine andere Form der Artikulation möglich ist. Die damit negierte Existenz eines weiblichen Subjekts spiegelt eine patriarchale Gesellschaft wider, die das Weibliche in seiner Subjektkonstitution verwirft. Die Negation des Weiblichen geht auch mit Gewalterfahrungen einher. So träumt Ahmed_Zahra im Gefängnis, dass seine_ihre Schwestern zu ihm_ihr kommen und dabei Tiere und Gegenstände, wie eine Viper, ein Barbiermesser und einen Skorpion, bei sich tragen. Die Schwestern bedrohen Ahmed_Zahra mit den Phallussymbolen und er_sie fürchtet um sein_ihr Leben. Das Erlebnis bleibt jedoch kein Traum. Die Schwestern verschaffen sich durch Bestechung Zugang zu dem Gefängnis und sperren Ahmed_Zahra in einen Raum. Sie beschuldigen ihn_sie schuld am Tod des Vaters und dem Wahnsinn der Mutter zu sein. Zur Strafe führen sie bei Ahmed_Zahra eine Genitalverstümmelung durch: Rappelle-toi, tu nes quun trou entouré de deux jambes maigrichonnes. Et ce trou on va te le boucher définitivement. On va te faire une petite circoncision, on ne va pas 45 46 47 Ebd, S. 61. Vgl. Maazaoui, 1995, S. 71. Ben Jelloun, 1987, S. 125. 120 Ulrike Koch simuler, ce sera pour de bon, il ny aura pas de doigt coupé, non, on va te couper le petit chose qui dépasse, et avec une aiguille et du fil on va museler ce trou. On va te débarrasser de ce sexe que tu as caché. La vie sera plus simple. Plus de désir. Plus de plaisir. Tu deviendras une chose, un légume qui bavera jusquà la mort. Tu peux commencer ta prière. Tu pourras crier. Personne ne tentendra. Depuis ta trahison nous avons découvert les vertus de notre religion bien-aimée. La justice est devenue notre passion. La vérité notre idéal et notre obsession. L islam notre guide.48 Die Beschneidung durch die Schwestern steht symbolisch für die Entwertung des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität. Ahmed_Zahra wird durch diese Verstümmelung und die darauf folgende Infektion unfruchtbar. Die Schwestern beschneiden Ahmed_Zahra in seiner_ihrer Weiblichkeit, die durch das Gebären von Kindern und dem sexuellen Lustempfinden durch die Klitoris manifestiert wird. Die Schwestern erzeugen durch ihre Handlung auch jene Störung in der Reproduktion, die zuvor den Vater zu seiner Tat veranlasst hat. Sie operieren damit in einem Feld der patriarchalen Ordnung, gegen das sie sich, indem sie sich gegen ihren Schwester_Bruder wenden, eigentlich wehren wollten. Der operative Akt ist dabei sowohl körperlich als auch rhetorisch und diskursiv zu verstehen.49 Der Körper wird in seiner Materialität durch die Verstümmelung negiert und verliert die für die heterosexuelle Matrix wichtigen Eckpunkte des Begehrens. Zugleich wird mit dem Akt der Genitalverstümmelung ein Stereotyp über arabisch-islamische Länder aufgeworfen, in denen Genitalverstümmelungen durchgeführt werden. Dies wird auch durch Ahmed_Zahra hervorgehoben: Jappris plus tard que la torture qui me fut infligée est une opération pratiquée couramment en Afrique noire, dans certaines régions dÉgypte et du Soudan. Son effet est dannuler chez les jeunes filles qui séveillent à la vie toute possibilité de désir et de plaisir. Jappris aussi que jamais lislam ni aucune autre religion nont permis ce genre de massacre.50 Es darf dabei nicht vergessen werden, dass Ben Jelloun für ein europäisches Publikum schreibt, das durch die Reflexion Ahmed_Zahras erläuternd auf den 48 49 50 Ebd., S. 159. Vgl. Flaugh, Christian: Operating Narrative: Words on Gender and Disability in Two Novels by Tahar Ben Jelloun. In: Forum for Modern Language Studies 45 (2009) Nr. 4, S. 411-426. Hier: 420-421. Ben Jelloun, 1987, S. 163. Ni un corps de femme ni un corps dhomme... 121 Umgang mit Genitalverstümmelungen im arabisch-afrikanischen Raum hingewiesen wird. 6. Conclusio Die in Ahmed_Zahra innewohnende Dichotomie des Weiblichen und Männlichen erschwert die Identitätsausbildung. In L enfant de sable zieht sich Ahmed_Zahra auch deswegen in die Depression zurück, während in La nuit sacrée durch die Annahme des Körpers in der Quelle wieder Lebensfreude in die Figur dringt. Trotz der erzeugten Dichotomie ist es bemerkenswert, dass Ben Jelloun in seinen Erzählungen nicht auf eine scheinbar natürlich hergestellte geschlechtliche Identität verweist, sondern deutlich dessen Konstituierung herausstreicht. Ben Jelloun verweist durch die Materialisierung von Ahmed_Zahras Körper auch auf die Konstruktion des Sex, was ebenfalls durch performative Äußerungen mit der Sprache hergestellt wird.51 Die auf Dichotomie aufgebaute Gesellschaft ermöglicht jedoch kein Leben im Dazwischen. So endet die schon in der Einleitung zitierte Aussage von Ahmed_Zahra: ni un corps de femme plein et avide, ni un corps dhomme serein et fort; jétais entre les deux, cest-à-dire en enfer.52 es ist die Hölle. Das Leben im Dazwischen bedeutet auch einen Spalt in der Identität, da das Geschlecht unveräußerlicher Bestandteil der Identität ist und ohne geschlechtliche Zuordnung diese auch nicht konstituiert werden kann.53 Die doppelte Anrufung des Vaters führt dabei jeweils zu dem Versuch eine Identität herauszubilden, die jedoch beide Male nicht im vollen Ausmaß den Anforderungen einer Gesellschaft gerecht werden kann, die mit starren und dichotomen Rollenvorstellungen durchzogen ist. Die Erzählung von Ahmed_Zahras Lebensgeschichte macht dabei deutlich, wie Geschlecht performativ hergestellt wird, um eben diesen Rollenerwartungen zu entsprechen und damit auch eine gesellschaftlich akzeptierte, legitimierte und damit intelligible Identität herauszubilden. Die Basis dafür bildet der Körper, denn seine geschlechtliche Ausprägung (Sex) 51 52 53 Vgl. Butler, 1997, S. 26. Ben Jelloun, 1987, S. 178, Hervorhebung UK. Vgl. Kilian, Eveline: Gender Studies und Queer Studies: neuere Entwicklungen in der Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Ins Wort gesetzt, ins Bild gesetzt. Gender in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Hg. von Ingrid Hotz-Davies und Schamma Schahadat. Bielefeld: transcript, 2007, S. 79-98. Hier: S. 81. 122 Ulrike Koch bestimmt Gender. Der Körper jedoch spielt beim männlichen Kind nur eine untergeordnete Rolle. Neben dem Initiationsritus der Beschneidung sind es vor allem die Stimme und der Bartwuchs, die Ahmed_Zahra in seiner_ihrer Kindheit und Adoleszenz geschlechtlich kodieren, während der weibliche Körper und seine Ausprägungen versteckt bleiben müssen. Auch im weiteren Verlauf der Geschichte werden weibliche Körperteile explizit benannt und damit auch hergestellt; ein Vorgang, der beim männlichen Körper nicht vollzogen wird. Und doch muss hier erwähnt werden, dass trotz der Negation und Reduktion des weiblichen Körpers durch dessen explizite Benennung auch weibliche Sexualität und Begehren thematisiert und diese positiv dargestellt wird. Sexualität und Begehren sind dabei wiederum wesentliche Eckpfeiler der Subjektkonstitution, die der Matrix von Sex-Gender-Begehren folgend, dessen vollständiges Gelingen Sex ist Gender und das Begehren ist auf das andere Geschlecht ausgerichtet die Intelligibilität des Subjekts erst ermöglicht. Wie sehr das weibliche Begehren unterdrückt wird, zeigen in seiner radikalen Form die Schwestern, die den weiblichen Körper ihres Schwester_Bruders, der_die dieses Begehren und durch den Konsul auch die Aufhebung der Reduktion und Negation erfahren hat, verstümmeln.