Hippokrates und Archimedes - Weiterbildungskolleg des Kreises

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Hippokrates und Archimedes - Weiterbildungskolleg des Kreises
Hippokrates und Archimedes
Als Jean von der Probe der High School Band nach Hause kam, verabschiedete Isabel gerade einige Bekannte,
mit denen sie Aktivitäten der örtlichen Vereinigung der NAACP1 besprochen hatte. Sie engagierte sich stark in dieser
Civil Rights Organisation, ebenso wie ihr Mann Karl. Jean begrüßte kurz die Damen und Herren und ging ins Haus.
Lachen schallte ihr entgegen. Wie sie schnell herausfand, erzählten sich John Wye, Roy Mesick und ihr Vater Geschichten aus ihrer Studentenzeit. Karl hatte die Freunde nach der wöchentlichen Departmentkonferenz noch auf ein
Glas Wein in sein Haus eingeladen.
Als Jean ins Zimmer trat, erzählte John gerade, wie er einmal 100 Dollar verdient habe, dadurch daß er einen logischen Fehler in einer mathematischen Arbeit aufdeckte. Das interessierte Jean.
„Ein Hobbymathematiker, das war er wohl, hatte eine Arbeit ans Institut geschickt“, erzählte John, „in der er eine geometrische Konstruktion für die Dreiteilung eines beliebigen Winkels mit Zirkel und Lineal beschrieb. Da dies,
wie jeder von euch weiß, nicht möglich ist, erhielt er von der Sekretärin eine vorgedruckte Eingangsbestätigung, in der
u. a. stand, daß das angesprochene Problem unlösbar sei und man dies auch mathematisch beweisen könne. Darob äußerst erbost, schickte er nach einigen Tagen einen bösen Brief und versprach demjenigen, der ihm einen Fehler nachweisen könne, 100 $ zu zahlen. Da mich interessierte, welcher Art der Fehler in der umfangreichen, mit vielen Zeichnungen versehenen Arbeit wohl war, hatte ich die Abhandlung zu Hause durchgelesen und festgestellt, daß er an einer
Stelle vom Schnittpunkt zweier Geraden ausging, die nach seiner Konstruktion aber in Wirklichkeit parallel verliefen.
Vor lauter Hilfslinien hatte er wohl den Überblick verloren. Als nun sein Schreiben eintraf, meinte mein Professor, ich
solle den armen Mann doch kurz aufklären. Aber wir hatten die Hartnäckigkeit des Mannes unterschätzt. Nach einigen
Tagen kam ein neuer Brief, in dem er sich wegen des Fehlers entschuldigte und eine korrigierte Fassung beilegte. Diese
enthielt natürlich auch einen Fehler. Wir haben ihm dann geschrieben, die versprochene Summe müsse er in jedem
Falle zahlen, und fügten einen Hinweis bei, wo diesmal der Fehler stecke. Als schon niemand mehr an die Angelegenheit dachte, nach einigen Wochen, erreichte das Institut ein Scheck über 100 $, den wir dann auf dem nächsten Institutsausflug entsprechend umgesetzt haben.“
„Wenn ihn diese Zahlung von weiteren fruchtlosen Versuchen abgehalten hat“, lachte Karl, „dann war der Preis
nicht zu hoch.“
„Übrigens, das Problem ist sogar schon mal in einem Parlament behandelt worden“, bemerkte Roy, „Underwood
Dudley2 berichtet darüber. Im Jahre 1897 verabschiedete das Repräsentantenhaus des Staates Indiana ein Gesetz, in
welchem dem Staat Indiana die alleinige Nutzung einer neuen mathematischen Wahrheit kostenfrei zugestanden wurde.
Ein Dr. E. J. G. glaubte die klassischen Probleme der Winkeldreiteilung, der Quadratur des Kreises und der Würfelverdopplung – natürlich unter ausschließlicher Verwendung von Lineal und Zirkel im euklidischen Sinne – gelöst zu haben. Die Zeitungen berichteten darüber. Ein Tageszeitung in Indianapolis, Der tägliche Telegraph, veröffentlichte sogar
einen Abriß der Geschichte der Zahl π , erwähnte auch den Mathematiker Lindemann3, der 15 Jahre zuvor die Transzendenz von π bewiesen hatte. Aber da die Zeitung auf deutsch erschien, war den Abgeordneten wohl entgangen, meint
Dudley, daß daraus die Unlösbarkeit des Quadraturproblems folgt. Er schreibt, daß die Arbeit des Dr. G. so konfus4
gewesen sei, daß man daraus nicht einmal entnehmen konnte, welchen Wert seiner Meinung nach die Zahl π denn nun
habe. Das Gesetz ist übrigens nie in Kraft getreten, da der Senat des Staates Indiana die Behandlung des Gesetzes auf
unbestimmte Zeit zurückgestellt hat. Und dabei ist es bis heute geblieben.“
Jean hatte aufmerksam zugehört.
„Und was bedeutet Transzendenz von π ?“
„Quod vires algebrae transcendit“, lächelte John Wye, „was die Möglichkeiten der Algebra übersteigt. Transzendente Zahlen sind Lösungen von Gleichungen, deren Terme nicht nur mit Hilfe der vier Grundrechnungsarten und
des Wurzelziehens mit ganzzahligem Exponenten aufgebaut sind, sondern z. Bsp. auch unter Verwendung von sin x.
Gleichungen, die nur von den erwähnten Hilfsmitteln Gebrauch machen, nennt man auch algebraische Gleichungen.
Wie der Mathematiker Abel5 1826 gezeigt hat, sind sie i. a. nur bis zum 4. Grade allgemein auflösbar. Die Konstruktion
der Lösung einer transzendenten Gleichung, also einer transzendenten Zahl, mit Zirkel und Lineal ist nicht möglich, und
damit auch nicht die Quadratur des Kreises.“
Sie erinnerte sich, daß sie im Geometrieunterricht eine Abschätzung gemacht hatten. Der Flächeninhalt A eines
Kreises war kleiner als das Quadrat des Durchmessers 2r und größer als 2r2. Daraus folgte 2 < A2 < 4. Da die Schranken
r
nicht von r abhingen, lag die Vermutung nahe, daß das Verhältnis von Kreisfläche zum Quadrat des Radius eine feste
Zahl zwischen 2 und 4 war. Der Lehrer hatte dann gesagt, ein genauerer Wert sei 3,14, aber wie man den gefunden
hatte, das war ihr nicht bekannt. Sie entschloß sich daher, Onkel John bei nächster Gelegenheit danach zu fragen. Als
444
ihr Vater das Zimmer verließ und Roy Mesick, der noch eine Verabredung hatte, zu seinem Wagen begleitete, stellte sie
Onkel John eine entsprechende Frage.
„Ja, 3,14 ist aber auch nur ein Näherungswert, der allerdings für viele Anwendungen des täglichen Lebens ausreicht. In der Mathematik wird das Verhältnis A2 , wie du weißt, mit dem griechischen Buchstaben π bezeichnet, und
r
dieses π ist eine irrationale Zahl, was aber erst 1768 von dem Mathematiker Lambert6 bewiesen wurde. Und irrationale
Zahlen lassen sich im Dezimalsystem als unendliche, nichtperiodische Dezimalbrüche angeben. Im Jahre 1999 hat Yasumasa Kanada, nachdem er seinen Computer 37 Stunden hat rechnen lassen, 206.158.430.000 Stellen bestimmen können.“
An seinem Gesicht konnte Jean unschwer ablesen, was John Wye von solchen Leistungen hielt.
„Versteh’ mich nicht falsch, Jean, vom mathematischen Standpunkt aus gesehen, ist das eine hervorragende Leistung, aber für die Praxis des Handwerkers reicht der alte archimedische Wert 22
. Die alten Ägypter verwendeten im 2.
7
Jahrtausend v. Chr. den Wert
19
6
, also 3,16 . Das steht in einem Papyrus, der im Puschkin Museum der Schönen Künste
in Moskau aufbewahrt wird, dem Golenischev Mathematical Papyrus, der um 1850 v. Chr. entstand. Etwa zweihundert
Jahre später, im Papyrus Rhind, den du im Britischen Museum in London bestaunen kannst, wird die Zahl
(169 )2 , das ist
3,1605, für π verwendet. Auch in der Bibel7, im ersten Buch der Könige, im 7. Kapitel finden sich Angaben über
Durchmesser und Umfang eines riesigen Wasserreservoirs aus Bronze, des sogenannten ehernen Meeres. Es stand im
Vorhof des Tempels, den König Salomo8errichten ließ. Dann machte er das “Meer“. Es wurde aus Bronze gegossen
und maß zehn Ellen von einem Rand bis zum andern; es war völlig rund und fünf Ellen hoch. Eine Schnur von 30 Ellen
konnte es rings umspannen.9“
„Da der Umfang U eines Kreises proportional zum Durchmesser d ansteigt, kann man doch daraus eine Schätzung für das Verhältnis U:d ableiten“, bemerkte Jean, „die haben mit π = 3 gerechnet, denn U = π d.“
In diesem Augenblick betrat ihr Vater wieder das Zimmer.
„Ihr habt doch eben über unlösbare Probleme gesprochen“, fuhr Jean fort, „wieso spielen Lineal und Zirkel dabei
eine so wichtige Rolle?“
„Das bezog sich auf die Dreiteilung des Winkels“, erklärte ihr Vater, „die Beschränkung auf diese beiden Hilfsmittel für die Konstruktion rührt her von den Postulaten, die Euklid an den Anfang seiner Elemente gesetzt hat, die man
wie folgt wiedergeben kann.
1. Man kann zu zwei Punkten stets eine Verbindungsgerade zeichnen.
Dazu braucht man ein Lineal.
2. Man kann auf einer Geraden eine endliche Strecke beliebig oft abtragen.
Das macht man mit dem Zirkel.
3. Um jeden Punkt kann man einen Kreis mit beliebigem Radius zeichnen.
Auch dazu benötigt man natürlich den Zirkel. Hinzu kommen dann noch zwei Forderungen, daß nämlich alle rechten
Winkel untereinander gleich sind, und das sogenannte Parallelenaxiom, das bei Euklid folgendermaßen lautet10:
Wenn eine Gerade zwei Geraden so schneidet, daß die inneren Winkel auf derselben Seite der Geraden zusammen weniger als zwei rechte betragen, dann schneiden sich die beiden Geraden, so man sie beliebig verlängert, auf der
Seite, auf der die beiden Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei rechte sind.“
„Dann kann man also mit den euklidischen Hilfsmitteln nur die Schnittpunkte von Geraden und Kreisen bestimmen?“
„Ja, und wenn du das mit Hilfe von Koordinaten in die Sprache der Algebra übersetzt, dann sind diese Punktkoordinaten Lösungen von Gleichungen. Und da kann man zeigen, daß z. Bsp. die Gleichung 4x3 – 3x = a, wie sie sich bei
der Dreiteilung eines Winkels ergibt, i. a. nicht auf die Lösung quadratischer und linearer Gleichungen zurückgeführt
werden kann. Aber nur deren Lösungen sind geometrisch mit den
genannten Hilfsmitteln konstruierbar.“
„Ein anderes klassisches Problem“, warf John Wye ein, „das
den Bewohnern der Insel Delos vom Orakel in Delphi aufgegeben
worden sein soll – sie wollten damit eine Seuche abwehren –, ist die
Verdopplung des Würfels, also die Aufgabe, zu einem Würfel die
Kantenlänge eines zweiten zu finden, der den doppelten Rauminhalt
hat.“
„Da müßte man doch die Lösung von x3 = 2 konstruieren“,
stellte Jean fest.
„Stimmt, und das ist eben mit Zirkel und Lineal nicht möglich.“
„Trotzdem, haben diese Probleme die Mathematiker, und zwar
große Geister wie Amateure, immer wieder beschäftigt. Viele kluge
Näherungslösungen mit erstaunlicher Präzision sind entwickelt
worden.
Abb. 194
445
Schon in der Antike“, John Wye nahm ein Blatt zur Hand, „hat man unter Zuhilfenahme anderer Mittel, beispielsweise spezieller Kurven, Winkel in drei Teile geteilt. Im Buch der Hilfssätze von Archimedes11 findet sich folgende Zeichnung.“ (Abb. 194)
„Gegeben ist ein Kreis mit dem Mittelpunkt O und dem Radius r. Die Sehne AB wird über B hinaus bis C verlängert, so daß BC = r gilt. Die Strecke CO wird dann ebenfalls bis zum Schnittpunkt E mit dem Kreis verlängert. Der
Bogen AE ist dann dreimal so lang wie der Bogen BD. Behauptet jedenfalls Archimedes.“
„Wenn man auf einem Lineal die Radiuslänge markiert, kann man doch den Punkt C auf der Verlängerung von
EO so wählen, daß der Kreis auf der Strecke CA gerade r abtrennt, also CB = r“, meinte Jean.
„Schon, aber eine Konstruktion mit Zirkel und Lineal im euklidischen Sinne ist das nicht; denn der Punkt wird ja
nicht als Schnittpunkt gewonnen. Aber stimmt denn die Behauptung? Kannst du sie beweisen?“ fragte Karl Icks.
„Das Dreieck OBC ist gleichschenklig“, begann Jean, „Ich nenne den Basiswinkel bei O mal α . Dann ist der
Winkel OBA gleich 2 α , ebenso der Winkel OAB, so daß der Winkel AOB 180° - 4 α beträgt. Jetzt kann ich den Winkel EOA berechnen: 180° - (180° - 4 α ) - α = 3 α , und das war zu zeigen.“
Karl Icks nickte zustimmend und wollte mit John ins Nebenzimmer gehen. Aber Jean hatte noch eine Frage.
„Wie hat denn nun Archimedes seine Näherung für π gefunden?“
„Ausgegangen ist er von regelmäßigen Sechsecken. In einem rechnerisch recht aufwendigen Verfahren hat er
dann den Umfang eines regelmäßigen 96-Ecks bestimmt. Aber du kannst ja selbst einmal eine Approximation durchführen. Die Idee ist, in einen Kreis ein regelmäßiges Vieleck einzubeschreiben, und dann Schritt für Schritt die Anzahl
der Seiten zu verdoppeln. Gelingt es eine Formel zu entwickeln, mit der man den Umfang des 2n-Ecks berechnen kann,
wenn man den Umfang des n-Ecks kennt, dann muß man nur ein geeignetes
Anfangsvieleck finden.“
Jean begann sogleich eine Skizze anzufertigen (Abb. 195).
„AB sei die Seite sn eines n-Ecks und AC die des zugehörigen 2n-Ecks.
2
2
AC = CD + AD
Dann gilt:
2
CD = r - MD
2
MD = r2 - AD
AD = 12 s n
2
Und wenn ich die Rechnung am Einheitskreis durchführe, kann ich
noch r gleich 1 setzen.“
„Gut, und wie sieht dann die Formel aus?“
„Zunächst folgt MD =
1
2
4 − s 2n und CD = 1 −
2
2
Also AC = 1 − 12 4 −s n2  + 14 s 2n


Die gesuchte Formel lautet dann:
=1-
4 − s 2n .
1
2
4 − s 2n + 1 -
s2n =
1 s2
4 n
+
1 s2
4 n
2 − 4 − s 2n
Jetzt muß ich nur noch ein regelmäßiges n-Eck wählen, daß ich dem Einheitskreis einbeschreiben kann und dessen Seite bestimmen.“
„Nimm doch das 6-Eck“, schlug ihr Vater vor.
Jean überlegte und betrachtete ihre Skizze. Dann mußte der Winkel AMB 60° betragen. Da das Dreieck AMB
gleichschenklig war, denn AM = r = BM, mußten die Winkel an der Basis AB gleich sein, also je 60°. Beim Sechseck
war also AMB ein gleichseitiges Dreieck, da aus der Gleichwinkligkeit die Gleichseitigkeit folgte. Das hieß s6 = r, also
hier s6 = 1. Für π galt 2Ur . Die Näherungswerte für π waren also 12 U6, 12 U12, 12 U24, 12 U48, usw. Sie nahm den pro2
 2X 
grammierbaren Taschenrechner ihres Vaters zur Hand und gab die Gleichung Y = n 2 − 4 − 
 in den Rechner
 n 
ein. Es galt: Y = 12 U 2 n und X = 12 U n , denn Un = nsn. Auf diese Weise konnte sie das jeweilige Ergebnis Y abspeichern und dann für den nächsten Schritt als X wieder abrufen. Ein Aufschreiben und Wiedereingeben konnte sie so
vermeiden. Sie erklärte ihrem Vater, was sie vorhatte, und der nickte nur.
„Vielleicht schreibst du trotzdem die Zahlen mal auf, damit man die Approximation erkennen kann. Die ersten
fünf Stellen hinter dem Komma werden verläßlich sein, danach schlagen die Rundungsfehler durch. Man kann daher
auch die Seitenzahl n nicht beliebig hoch wählen, bei 3072 würde ich Schluß machen. Um verläßliche Stellen zu bekommen, muß man andere Verfahren anwenden.“
446
Jean schrieb die Tabelle auf und war mit ihrem Ergebnis zufrieden: Als Verhältnis
n
Un : 2
des Kreisumfangs zum Durchmesser ergab sich näherungsweise 3,14159.
6 3
John Wye hatte aufmerksam zugehört.
12 3,10582
„Die Methode, dem Kreis ein regelmäßiges Vieleck einzubeschreiben, stammt
24 3,13262
12
aber nicht von Archimedes. Es gibt antike Texte , aus denen hervorgeht, daß der Sophist
48 3,13935
Antiphon, der im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen lebte, die Ansicht vertrat, daß man den
96 3,14103
13
Kreis als Vieleck mit unendlich vielen Seiten auffassen könne. Joannes Philoponus , der
192 3,14145
14
einen Kommentar zu den Werken des Aristoteles verfaßt hat, berichtet, daß Antiphon
384 3,14155
dem Kreis ein Quadrat einbeschrieb und durch fortwährende Halbierung der Seiten die
768 3,14158
Eckenzahl des einbeschriebenen regulären Polygons jeweils verdoppelte. Auf diese Wei1.536
3,14159
se, so glaubte er, werde schließlich das Polygon wegen der Kleinheit der Seiten mit dem
3.072
3,14159
Kreisumfang zusammenfallen. Da man zu jedem regulären Polygon ein Quadrat gleichen
Flächeninhalts konstruieren kann, wäre somit die Quadratur des Kreises gelungen.“
„Der Kreis wäre dann sozusagen der Grenzfall eines Polygons“, warf Jean ein, „so ähnlich wie der
Grenzwert einer Zahlenfolge.“
„Das ist unsere Sicht der Dinge. Die griechischen Mathematiker haben den Begriff des Grenzwertes nicht
gekannt. Philoponus weist denn auch diese Argumentation entschieden zurück, da sie gegen die Prinzipien der
Geometrie verstoße. Die Vorstellung des unendlich Kleinen oder unendlich Großen war den griechischen Mathematikern nicht ganz geheuer. Sie entwickelten statt dessen die Idee von Dingen, die kleiner oder größer als
jede vorgegebene Größe waren.15 Simplikios16 schreibt, daß der Mathematiker niemals die Fläche zwischen der
geraden Seite und dem Kreisumfang ausschöpfen kann; denn dann würde er gegen das Prinzip verstoßen, daß
Größen beliebig oft teilbar sind.“
„Auf entsprechende Weise müßte man doch π auch durch das Verhältnis A:r2 approximieren können,
wenn man die Flächen der regelmäßigen Vielecke verwendet.“
„Ja, dazu muß man die Flächen der Dreiecke mit der Spitze im Mittelpunkt berechnen.“
„Und der Flächeninhalt eines Dreiecks ist die Hälfte des zugehörigen Parallelogramms, das man wiederum in eine flächengleiches Rechteck verwandeln kann mit gleicher Grundseite und Höhe. Ein Rechteck kann
man dann mit dem Einheitsquadrat ausmessen. Die Anzahl der Einheitsquadrate, die in ein Rechteck hineinpassen, kann man dadurch bestimmen, daß man feststellt, wie oft die Seite des Quadrats in den Seiten des Rechtecks
enthalten ist. Das Produkt der beiden Zahlen gibt dann die Anzahl der Quadrate an, die in das Rechteck passen.“
„Du hast den Gedankengang richtig beschrieben, Jean, aber leider paßt die Quadratseite meist nicht ganzzahlig oft in die Rechteckseite. Was dann?“
„Dann nehme ich eben entsprechend kleinere Quadrate zum Ausmessen, im Dezimalsystem z. Bsp. ein Quadrat,
das den hundertsten Teil als Flächeninhalt hat. Das kann man dann noch weiter verfeinern, bis die Genauigkeit für die
jeweilige Anwendung ausreicht.“
„Gut, aber vergiß nicht, daß zwei Strecken auch inkommensurabel sein können, also kein gemeinsames Maß haben müssen. Das Problem kann hier bei der Flächenmessung auch auftreten. Aber die Ingenieure stört das genau so
wenig wie bei der Längenmessung.“
Jean machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Geradlinig begrenzte Flächen kann man durch Zerlegung in Dreiecke ausmessen. Und was mache ich bei
krummlinig begrenzten Flächen? Ich kann doch nicht feststellen, wie oft ein Einheitskreis da hineinpaßt“, scherzte Jean.
„Natürlich nicht, aber das Verfahren, das du eben angewandt hast, ein Kurvenstück durch einen Polygonzug zu
approximieren, kann man verwenden, um geradlinig begrenzte
y
Flächen zu erhalten, deren Flächeninhalt man berechnen kann.
7
Die Flächenberechnung durch Exhaustion, also das ‘Ausschöp6
fen’ einer Fläche durch immer kleinere Flächen, hat schon
P2
5
P1
Archimedes durchgeführt. Bekannt ist die Berechnung des
4
Parabelsegments.“
John Wye setzte sich an den Tisch und zeichnete eine
3
Po
V1 V2
Parabel
auf ein Blatt (Abb. 196). Zwei parallele Sehnen P1Q1
2
und
P
Q
trennten zwei Segmente ab.
2
2
1
„Die Tangente, die zu den Sehnen parallel verläuft, bex
-7
-6
-5
-4
-3
-2
-1
1
2
3
4
5
6
7
rührt die Parabel im Punkt P0“, erklärte er.
Q1
-1
„Und wie findest du den Berührungspunkt?“
Q2
-2
Jean hatte nämlich bemerkt, daß John Wye die Mittelpunkte V1 und V2 der beiden Sehnen bestimmt hatte.
-3
„Ja, das ist einfach, denn P0 ist der Schnittpunkt der Geraden
-4
durch V1 und V2 mit der Parabel. Die Mittelpunkte von paral-5
lelen Sehnen liegen alle auf einer Parallelen zur Parabelachse.
-6
-7
Abb. 196
447
Diese Parallelen nennt man auch Durchmesser der Parabel. Für den Beweis des Archimedes ist nun folgende Feststellung wichtig:
P0 V1
P0 V2
=
P1V1
2
2
P2 V2
Als er Jeans erstauntes Gesicht sah, scherzte er.
„Ich halte es hier wie Archimedes; der verweist in
dem Brief an Dositheus, in dem er diesem den Beweis mitteilt, auch auf andere elementare Bücher über Kegelschnitte.
Dort stehe der Beweis. Gemeint sind wohl Werke des
Euklid17 und des Aristaios.18 Also setzen wir die Richtigkeit
der Behauptung mal voraus.“
John zeichnete eine neue Parabel, bei der die halbe
Sehne PV nochmals halbiert war, PM = VM (Abb. 197).
„Durch M ziehe ich eine Parallele zum Durchmesser
durch P0 und V, welche die Parabel in R schneidet. RW sei
parallel zu PV. Die Behauptung des Archimedes lautet jetzt:
P0 W = 14 P0 V .
Abb. 197
Oder anders ausgedrückt P0 V = 43 RM. “
Jean überlegte. Nach dem, was Onkel John eben
vorausgesetzt hatte, galt
P0 W
=
RW
2
2
P0 V
PV
und wegen 2RW = PV folgte ¼P0V = P0W.
John Wye sah, daß Jean mit der
Behauptung einverstanden war, und begann
erneut zu zeichnen (Abb. 198). Zunächst sah es
so aus, als fertige er die Zeichnung noch einmal
an, aber dann verband er R mit P0 und P und
außerdem P0 mit P, wodurch ein neues Parabelsegment P0RP entstand, in dem R jetzt die
Rolle spielte, die vorher P0 im Segment PP0Q
gespielt hatte.
„RM halbiert die Sehne P0P in T“,
begann Dr. Wye.
„Klar“, fiel ihm Jean ins Wort, „zieht
man durch den Mittelpunkt einer Dreiecksseite,
hier PV, die Parallele zu einer zweiten Seite,
also P0V, so halbiert diese auch die dritte Seite
und die Verbindungsstrecke ist halb so lang wie
die zweite, d. h. TM = 12 P0V.“
Abb. 198
„Gut gelernt“, lobte John Wye, „dann
kann ich ja fortfahren. Und zwar vergleiche ich
das Dreieck P0MP mit dem Dreieck P0RP.“
„Beide werden durch RM in zwei flächengleiche Dreiecke zerlegt; denn die Dreiecke P0RT und PRT haben die
gemeinsame Grundseite RT und gleichlange Höhen. Entsprechendes gilt für die Dreiecke P0MT und PMT. Da ist TM
die Grundseite. Und weil TM doppelt so lang ist wie TR, ist auch das Dreieck P0MP doppelt so groß wie das Dreieck
P0RP.“
„Stimmt, und Dreieck P0VP ist doppelt so groß wie P0MP...“
„Gleiche Höhe, doppelte Grundseite“, bemerkte Jean lakonisch.
„Ja, und da auch die Dreiecke P0VP und P0VQ flächengleich sind, gilt DP0QP = 8DP0RP.“
Jean betrachtete eingehend die drei Zeichnungen. Der Flächeninhalt des Parabelsegments PP0Q war größer als
der des Dreiecks PP0Q. Führte man die entsprechende Konstruktion für das Dreieck P0VQ durch, so erhielt man R' und
damit das Fünfeck PRP0R'Q. Erfreut blickte John Wye auf die Zeichnung, die Jean anfertigte (Abb. 199).
„Bezeichnen wir mal den Flächeninhalt von DPP0Q mit A, dann ist der des Fünfecks A + 2DP0RP = A + 14 A“,
schlug Dr. Wye vor.
„Und wenn ich die gleiche Konstruktion in den Segmenten PRP0 und QR'P0 durchführe, also die Sehnen noch
mal halbiere, dann hat das entstandene 9-Eck den Flächeninhalt A + 14 A + 14 ( 14 A).“
Jean dachte nach.
448
„Wir wollten den Flächeninhalts des ursprünglichen Segments, den ich mal mit AS bezeichnen will, bestimmen.“
John Wye schaute Jean fragend an.
„Wenn wir immer weiter halbieren“, meinte sie, „dann erhalten wir eine geometrische Reihe mit dem Anfangsglied A und dem Quotienten
1
4
. Der Unterschied zwischen AS und der Summe der Reihe, also AS - A
immer kleiner. AS ist der Grenzwert von
4
3
[
A1−
1−
(14 )n
1−
1
4
wird
(14 )n ] für n → ∞ und das
ist A.“
„Und das ist auch das Ergebnis von Archimedes“, lachte Jeans
Vater, der aufmerksam zugehört hatte, „nur das er keine Grenzwertbetrachtung angestellt hat.“
Etwas verblüfft schaute Jean zwischen John Wye und ihrem
Vater hin und her.
„Ja, wie schon gesagt, Grenzwerte haben die griechischen
Mathematiker nicht gekannt. Archimedes zeigt statt dessen, daß AS nicht
größer und auch nicht kleiner als 43 A sein kann.
Er geht aus von einer Folge von Flächen A, B, C, ..., Z, von
denen jede ein Viertel der vorhergehenden ist, also B = 14 A, C = 14 B
usw., und beweist die Gleichung A + B + C + ...+ Z +
1
3
Z=
4
3
A.
In unserer heutigen Schreibweise sähe das wie folgt aus:
(1 + 14 +
1
42
4
3
1
4 n −1
)A +
1
3
⋅
1
4 n −1
A=
1−
(14 )n A+ 1
1−
3
1
4
⋅
1
4 n −1
A
()
n
= 43 A 1 − 14 + 1 n  = 43 A .

(4 ) 
A. Wenn wir jetzt die besprochene Konstruktion durchführen, also das Halbieren so lan-
Abb. 199
„Angenommen, AS >
+ ... +
ge fortsetzen, bis die Summe der immer kleiner werdenden Segmente, die jeweils hinzugefügt werden, kleiner ist als AS
- 43 A, dann wäre der Flächeninhalt des entstandenen Polygons größer als 43 A. Der aber ist A + B + C + ...+ Z. Diese
Summe ist jedoch, wie Archimedes gezeigt hat, kleiner als
Angenommen, AS <
kleiner ist als
4
3
4
3
4
3
A, so daß sich ein Widerspruch ergibt.
A. Wieder führen wir die Halbierung so lange fort, bis die neu hinzukommende Fläche X
A – AS. Es gilt A + B + ...+ X + 13 X = 43 A. D. h.
Fläche, die kleiner ist als X, d. h.
4
3
4
3
A übertrifft die Summe A + B + ...+ X um eine
A – (A + B + ... + X) < X. Andererseits gilt nach Konstruktion
4
3
A – AS > X.“
Jean nahm einen Zettel und schrieb.
4
3
A – X < A + B + ... + X und 43 A – X > AS.
„Daraus folgt AS < A + B + ... + X. Das aber ist unmöglich.“
Sie machte eine Pause.
„Aber wenn beide Aussagen AS < 43 A und AS > 43 A falsch sind, dann muß AS = 43 A wahr sein.“
„Das meint auch Archimedes“, lachten Karl und John.
Als Jean am nächsten Tag nach Hause kam, übergab ihre Mutter ihr einen Brief.
„Den hat dein Vater von Onkel John mitgebracht.“
Jean ging auf ihr Zimmer und öffnete das Schreiben.
Liebe Jean,
in unserem gestrigen Gespräch über den Exhaustionsbeweis des Archimedes bin ich den Beweis für eine Behauptung schuldig geblieben, nämlich
P0V1
=
P1V1
2
.
2
P2V2
Die Bedeutung der Bezeichnungen kannst Du der nebenstehenden Zeichnung entnehmen .(Abb. 200) Da der
Scheitelpunkt der Parabel auf den Ursprung des Koordinatensystems fällt, kann ich von y2 = 2px als der Gleichung der
Parabel ausgehen.
Angenommen, wir haben zwei Parabelpunkte A(x1, y1) und B(x2, y2); dann gilt y12 = 2px 1 und y 22 = 2px 2 , also
P0V2
y12 − y 22 = 2p( x 1 − x 2 ) oder
y1 − y 2
2p
=
. Der linke Seiteterm dieser letzten Gleichung ist aber die Steigung m
x 1 − x 2 y1 + y 2
449
der Sehne durch A und B. Und da für die Ordinate y0 des Mittelpunktes einer Sehne gilt
y1 + y 2
p
gilt, folgt m =
2
y0
p
p
und mit Hilfe der Parabelgleichung x0 =
d. h. P0 besitzt das Koordinatenpaar
m
2m 2
von der Wahl der Punkte A und B.
Im folgenden seien x1, y1, x2, y2 die Koordinaten der
Punkte P1 und P2 (Abb. 200).
Auch die Abszissen r1 und r2 der Schnittpunkte R1 und
Abb. 200
R2, in denen die Parabelachse die Sehnen schneidet, sind
leicht zu berechnen, denn es gilt
y1
y2
=m
und
=m
x 1 − r1
x 2 − r2
und y0 =
oder
r1 = x1 -
y1
m
und
r2 = x2 -.
y2
m
(
p
2m2
)
; mp , unabhängig
.
Die Tangente in P0, die parallel zu den Sehnen verläuft, schneidet die Parabelachse in T(-
p
2m2
|0), wie ich gleich
noch zeigen werde.
Für das Verhältnis
P1V1
P2V2
Für
=
y1 −
y2 −
P0V1
P0V2
gilt
p
m
p
m
P1V1
P2V2
oder
P0V1
P0V2
=
folgt dann
P1V1
P2V2
R 1T
R 2T
=
=
y1 m − p
.
y 2m − p
(1)
y1
p
+ 2
m
2m
y
p
x 2 - m2 + 2
2m
x1 -
.
y12 m 2 − 2 y1mp + p 2
y12
y2 y
( y1m − p) 2
p
folgt dann 1 - 1 +
=
=
. Eine entsprechende Glei2p
2p m 2m 2
2m 2 p
2m 2 p
chung erhält man für den Index 2, so daß
( y1 m − p) 2
P0V1
=
(2)
P0V2
( y 2 m − p) 2
Aus (1) und (2) folgt dann die Behauptung.
Für den Beweis der Behauptung über T benötige ich die Gleichung der Tangente an die Parabel mit der GleiWegen x1 =
chung y2 = 2px im Punkt P0. Wir hatten y0 =
p
m
, also m =
p
y0
. Aus
y − y0
x −x 0
= m folgt dann yy0 - y 02 = p(x – x0) und wegen
y 02 = 2px0 für die Gleichung der Tangente: yy0 = p(x + x0) Wegen yT = 0 ergibt sich xT = -x0.
Ich hoffe, daß damit die Beweislücke geschlossen ist, und grüße Dich herzlich
Dein Onkel John
Zufrieden legte Jean den Brief beiseite. Es war also möglich, daß eine nicht geradlinig begrenzte Fläche zu einem Quadrat kommensurabel war.
Sie ging hinunter zu ihrem Vater und bedankte sich für den Brief. Als sie die Frage der Kommensurabilität erwähnte, bemerkte Karl Icks, daß schon vor Archimedes der griechische Mathematiker Hippokrates von Chios19, nicht
zu verwechseln mit dem berühmten etwas jüngeren Arzt Hippokrates von Kos20,
solche Flächen angegeben habe, und zwar die Möndchen, die lunulae Hippokratis.
Vielleicht sei das ja der Ausgangspunkt für die Suche nach der Quadratur des
Kreises durch die Jahrhunderte. Er blickte in das fragende Gesicht seiner Tochter.
„Ja, also von diesen lunulae Hippokratis wissen wir durch einen Kommentar des Simplicius21 zur Physik des Aristoteles22. Er erwähnt darin die Geschichte
der Geometrie des Eudemos (um 320 v. Chr.), aus der er wörtlich zitiert. Seine
Ausführungen über die Entdeckung des Hippokrates stützen sich auf einen verloren gegangenen Kommentar zur Physik des Aristoteles, den Alexander von
Aphrodisias23 um 200 n. Chr. verfaßt hat. Ich will dir den Gedankengang des
Hippokrates an einer Zeichnung erklären (Abb. 201). Zunächst zeichne ich einen
Kreis um M und den Durchmesser AB. Dann einen weiteren um C mit dem Radius AC, wobei C der Schnittpunkt des ersten Kreises um M mit der Senkrechten
auf AB in M ist. Mit Hilfe des Satzes des Pythagoras findet man für das Verhält450
nis der beiden Radien MB : CB = 1 :
2 . Ferner gilt, wenn man den Zentriwinkel α im Bogenmaß mißt, für den Fläα
2
r 2 , d. h. bei gleichem Zentriwinkel verhalten sich die Flächeninhalte wie die
Quadrate der Radien. Da die Winkel AMC und ACB beide 90° betragen, gilt dann Sektor ACB = 2 Sektor AMC.
Nimmt man von dem Sektor ACB das Dreieck ACB weg, so bleibet das hellgrau getönte Segment übrig (Abb. 202).
Entsprechendes gilt für die Sektoren AMC und BMC, es verbleiben die dunkelgrau getönten Segmente. Da die Dreiekke AMC und BMC zusammen das Dreieck ACB bilden, gilt, daß die beiden dunklen Segmente zusammen das helle
Segment ergeben. Nimmt man nun in dem unteren Halbkreis die dunklen Segment weg und im oberen das helle, so muß
das Dreieck ABC der Mondsichel mit den Spitzen A und B flächengleich sein.“
„Und die beiden Dreiecke lassen sich leicht zu einem Quadrat zusammensetzen“, ergänzte Jean, „die Mondsichel
ist also quadriert worden, aber wieso spricht man von den Möndchen des Hippokrates?.“
„Das rührt wohl von einer anderen Zeichnung her“, meinte Karl Icks und begann sogleich eine neue Figur zu
skizzieren (Abb. 203).
„Nach dem Satz des Pythagoras ist bekanntlich die Summe der
cheninhalt AS eines Kreissektors AS =
Quadrate über den Katheten AC und BC gleich dem Quadrat über der
Hypotenuse AB.“
„Dann muß doch auch die Summe der Halbkreise über den Katheten
gleich dem Halbkreis über der Hypotenuse sein, denn aus a2 + b2 = c2 folgt
(a2 )2 ⋅ π + (b2 )2 ⋅ π = (2c )2 ⋅ π .“
„Ja,“ bestätigte Karl Icks, „und
wenn du jetzt auf beiden Seiten dieser
Gleichung die nicht getönten Segmente
über den Katheten wegnimmst ...“
„Dann bekomme ich auf der linken
Seite die Möndchen und rechts das Dreieck“, freute sich Jean.
„Und das heißt, die Möndchen sind quadriert.“
„Es gibt also nichtgeradlinig begrenzte Flächen die zu geradlinig begrenzten kommensurabel sind“, stellte Jean
fest, „man kann den Flächeninhalt angeben. Aber wie ist es, wenn keine geradlinig begrenzte kommensurable Fläche
existiert? Was versteht man dann überhaupt unter dem Flächeninhalt?“
„Das ist“, lächelte Jeans Vater, „wie sagt man so schön, eine gute Frage. Aber für heute reicht’s. Der letzte Satz
übrigens stammt in der Form wohl nicht von Hippokrates, und natürlich auch nicht der Beweis.“
Er ging hinüber zu seinem Bücherregal und zog eine Mappe aus einer Schublade.
„Hier ist noch eine Kopie eines Auszugs aus dem Bericht des Simplicius, die ich mir mal gemacht habe, eine
Übersetzung ist angefügt. Wenn es dich interessiert, kannst du es dir ja mal anschauen. Immerhin handelt es sich hier
wohl um die älteste mathematische Arbeit, die im griechischen Kulturkreis entstanden ist, über die eine gesicherte
schriftliche Überlieferung vorliegt, der etwas weitschweifige Beweis für die Mondquadratur nach dem Zeugnis des
Alexander von Aphrodisias24.“
¹ d de‹xij toiaÚth.
”Estw, fhsi, perˆ t¾n AB eÙde‹an ºmikÚklion perigegrammšnon tÕ AGB. kaˆ tetm»sqw ¹ AB d…ca
kat¦ tÕ D. kaˆ ¢pÕ toà D tÍ AB prÕj Ñrq¦j ½cqw ¹
DG, kaˆ ¢pÕ toà G ™pezeÚcqw ¹ GA, ¼tij ™stˆ tetragènou pleur¦ toà e„j tÕn kÚklon ™ggrafomšnou, oá
™stin ¹mikÚklion tÕ AGB. kaˆ perˆ t¾n AG ¹mikÚklion
perigegr£fqw tÕ AEG. kaˆ ™peˆ œsti tÕ ¢pÕ tÁj AB
‡son tù te ¢pÕ tÁj AG kaˆ tù ¢pÕ tÁj ˜tšraj toà
tetragènou pleur©j toà e„j tÕ AGB ¹mikÚklion
™ggrafomšnou, toutšsti tÁj GB (œsti g¦r Ñrqogwn…ou
trigènou Øpote…nousa ¹ AB: æj d œcei t¦ ¢pÕ tîn
diamštrwn tetragèna prÕj ¥llhla, oÛtwj kaˆ oƒ perˆ
aÙt¦j kÚkloi prÕj ¢ll»louj œcousi kaˆ t¦ ¹mikÚklia,
æj dšdeiktai ™n tù ib/ bibl…ù tîn Stoice…wn), dipl£sion
¥ra ™stˆ tÕ AGB ¹mikÚklion toà AEG ¹mikukl…ou. œsti
d tÕ AGB ¹mikÚklion dipl£sion kaˆ toà AGD
tetarthmor…ou. ‡son ¥ra ™stˆ tÕ tetarthmÒrion tù AEG ¹mikukl…J. koinÕn ¢fVrhsqw tÕ ÙpÕ tÁj toà
tetragènou pleur©j kaˆ tÁj AG perifere…aj periecÒmenon tmÁma. loipÕj ¥ra Ð AEG mhn…skoj ‡soj ™stˆ
tù AGD trigènJ, tÕ d tr…gwnon tetragènJ.
Der Beweis ist folgender.
451
Es sei, sagt er25, AGB der Halbkreis über dem Durchmesser AB mit dem Mittelpunkt D, DG die Senkrechte auf
AB in D, die den Halbkreis in G trifft. Die Strecke AG, die A mit G verbindet, ist dann Seite des Quadrats, das dem
Kreis mit dem Durchmesser AB einbeschrieben ist, von dem AGB ein Halbkreis ist. Über AG als Durchmesser werde
ein Halbkreis AEG konstruiert. Das Quadrat über AB ist nun gleich dem Quadrat über AG, zuzüglich des Quadrats über
der anderen Seite des dem Halbkreis AGB einbeschriebenen Quadrats, d.h. über GB. (Die Seite AB ist nämlich Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks. Wie sich aber die Quadrate über den Durchmessern zueinander verhalten, so verhalten sich auch die über ihnen errichteten Kreise und Halbkreise, wie im 12. Buche der Elemente bewiesen ist.26) Daher ist der Halbkreis AGB doppelt so groß wie der Halbkreis AEG. Der Halbkreis AGB ist aber auch doppelt so groß
wie der Kreisquadrant AGD. Also ist der Quadrant flächengleich dem Halbkreis AEG. Nimm das gemeinsame Flächenstück weg, das von der Quadratseite und dem Kreisbogen AG eingeschlossen wird. Übrig bleibt dann das Möndchen
AEG , das zum Dreieck AGD flächen gleich. Das Dreieck aber ist flächengleich einem Quadrat.
452
1
National Association for the Advancement of Colored People.
2
Underwood Dudley, Mathematical Cranks, Washington, 1993.
3
Carl Louis Ferdinand von Lindemann, 1852 – 1939, deutscher Mathematiker.
4
Ausschnitt aus Absatz 2 des Gesetzes:
It is impossible to compute the area of a circle on the diameter as a linear unit without trespassing upon the area outside the circle to the extent of including one-fifth more area than is contained within the circle’s circumference, because
the square of the diameter produces the side of a square which equals nine when the arc of ninety degrees equals
eight....
Es ist unmöglich, die Fläche eines Kreises mit Hilfe des Durchmessers als linearer Einheit zu berechnen, ohne sich
unerlaubt auf die Fläche außerhalb des Kreises zu begeben, die ein Fünftel mehr Fläche umfaßt als die innerhalb des
Kreisumfangs, weil das Quadrat über dem Durchmesser die Seite eines Quadrates erzeugt, das gleich neun ist, wenn der
90°-Bogen gleich acht ist ....
5
Niels Hendrik Abel, 1802 – 1829, norwegischer Mathematiker.
6
Johann Heinrich Lambert, 1728 – 1777, Physiker und Mathematiker.
7
1. Buch der Könige, 7. Kapitel, Vers 23.
8
Salomo, 965 v. Ch. – 926 v. Chr., 3. König von Israel und Juda.
9
Altes und Neues Testament in der Endfassung der Einheitsübersetzung, Salzburg, 1975.
10
Euklid, Elemente, Buch I, Postulat 5.
Kaˆ ™¦n e„j dÚo eÙqe…aj eÙqe‹a ™mp…ptousa t¦j ™ntÕj kaˆ ™pˆ t¦ aÙt¦ mšrh gwn…aj dÚo Ñrqîn ™l£ssonaj
poiÍ, ™kballomšnaj t¦j dÚo eÙqe…aj ™p’ ¥peiron sump…ptein, ™f’ § mšrh e„sˆn aƒ tîn dÚo Ñrqîn
™l£ssonej.
11
T. L. Heath, The Works of Archimedes, New York, Dover Publications, p. 309 f.; Book of Lemmas, Proposition 8.
12
Antiphon, the Sophist. The Fragments ed. Gerald J. Pendrick, Cambridge 1996
13
Joannes Philoponus, griechischer Philosoph, lebte um 600 n. Chr.
14
Ð d 'Antifîn kaˆ aÙtoj ™pece…rhse tetragwn…sai tÕn kÚklon, ¢ll' oÙ sózwn t¦j gewmetrik¦j ¢rc£j.
™pece…rhse d oátwj. ™¦n, fhs…, poi»sw kÚklon kaˆ gr£yw ™ntÕj tetr£gwnon, tšmw d t¦ tm»mata toà
kÚklou t¦ genÒmena ™k toà tetragènou d…ca, eta ¢g£gw eÙqe…aj ¢pÕ tÁj tomÁj ˜katšrwqen ™pˆ t¦ pšrata toà tm»matoj, poiî Ñkt£gwnon scÁma. ™¦n d p£lin t¦ perišconta t¦j gwn…aj tm»mata tšmwmen
d…ca, kaˆ p£lin ¢g£gwmen ¢pÕ tîn tomîn eÙqe…aj ˜katšrwqen ™pˆ t¦ pšrata tîn tmhm£twn, poioàmen
polÚgwnon scÁma. ™¦n oân ™pˆ polÝ toàto poiîmen, g…netai polugwnÒtaton scÁma mikr¦j p£nu œcon t¦j
gwn…aj, ¤j aƒ perišcousai eÙqe‹ai di¦ tÕ smikr¦j p£nu enai ™farmÒsousi tù kÚklJ. ™peˆ oân dšdotai p©n
tÕ doqn eÙqÚgrammon scÁma tetragwn…sai, ™¦n tetragwn…sw tÕ polÚgwnon toàto, ™peid¾ ™farmÒzei tù
kÚklJ, tetragwn…saj œsomai kaˆ tÕn kÚklon. oátoj oân ¢naire‹ t¦j gewmetrik¦j ¢rc£j: ¢rc¾ g£r ™sti
gewmetrik¾ mhdšpote ™farmÒzein eÙqe‹an perifere…v, oátoj d d…dwsi, di¦ smikrÒthta, tin¦ eÙqe‹an
™farmÒzein tinˆ perifere…v.
Auch Antiphon versuchte ebenso den Kreis zu quadrieren, aber nicht ohne die Prinzipien der Geometrie zu verletzen.
Hierbei ging er folgendermaßen vor: Wenn ich, so sagt er, einen Kreis zeichne und ihm ein Quadrat einbeschreibe und
die Kreissegmente, die durch das Quadrat entstanden sind, halbiere, darauf Sehnen zeichne auf jeder Seite jeweils vom
Teilungspunkt zu den Endpunkten der Segmente, so erhalte ich ein Achteck. Wenn wir dann wieder die Segmente,
welche die Winkel einschließen, halbieren und wieder Sehnen jeweils vom Teilungspunkt zu den Endpunkten der Segmente ziehen, erhalten wir ein Vieleck. Wenn wir dies nun wiederholt machen, entsteht ein Vieleck, das ganz kleine*
Winkel besitzt, und die Sehnen, welche die Winkel begrenzen, werden wegen ihrer Kleinheit mit dem Kreis zusammenfallen. Falls ich jetzt , wobei ich voraussetze, daß jede geradlinig begrenzte Figur quadriert werden kann, dieses Vieleck
quadriere, werde ich auch den Kreis quadriert haben, denn es fällt ja mit dem Vieleck zusammen. Damit aber hebt er die
Prinzipien der Geometrie auf, denn es ist ein geometrisches Prinzip, daß eine Gerade niemals mit einem Kreisbogen zur
453
Deckung kommt. Antiphon aber nimmt an, daß die Sehne gewissermaßen wegen ihrer Kleinheit mit dem Kreisbogen
zusammenfällt.
*Genau genommen, werden die Winkel immer größer. Gemeint ist wohl, daß die beiden zusammenstoßenden Sehnen,
die den Winkel bilden, sich immer weniger von einer Geraden unterscheiden.
.
Joannis Philoponi in Aristotelis Physicorum libros tres priores commentaria, Berlin 1887, p. 31, 9 - 29.
15
vgl. T. L. Heath, a. a. O. p. CXLII f.
...the Greek geometers shrank from the use of such expressions as infinitely great and small and substituted the idea of
things greater or less than any assigned magnitude.
16
kaˆ mšntoi tšmnwn ¢eˆ tÕ metazÝ tÁj eÙqe…aj kaˆ tÁj toà kÚklou perifere…aj ™p…pedon oÙ dapan»sei
aÙtÕ oÙd katal»yeta… pote t¾n toà kÚklou perifšreian, e‡per ™p' ¥peirÒn ™sti diairetÕn tÕ ™p…pedon. e„
d katalamb£nei, ¢nÇrhta… tij ¢rc¾ gewmetrik¾ ¹ lšgousa ™p' ¥peiron enai t¦ megšqh diairet£.
Und auch wenn man immer wieder die Fläche zwischen der Geraden und dem Kreisumfang unterteilt, wird man sie
nicht ausschöpfen, noch wird die Gerade jemals mit dem Kreisumfang zur Deckung kommen, denn die Fläche ist unendlich oft teilbar. Wenn es aber doch zur Deckung kommt, dann wird ein geometrische Prinzip aufgehoben, welches
besagt, daß Größen unbegrenzt teilbar sind.
Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor posteriores commentaria, Berlin 1882, p. 55, 19 – 23.
17
Euklid, Konika. Laut Pappus gab es vier Bücher, die aber verloren gegangen sind.
18
Aristaios, griechischer Mathematiker, 370 (?) bis 300 (?) v. Chr. Seine fünf Bücher über Kegelschnitte, die Pappus
erwähnt, sind verloren gegangen.
19
Hippokrates von Chios, griechischer Mathematiker, um 450 v. Chr.
20
Hippokrates von Kos, um 460 - um 370 v. Chr., der Begründer der Medizin als Wissenschaft und berühmteste griechische Arzt.
21
Simplicius, griechischer Philosoph, geboren um 490 n. Chr. in Kilikien, gestorben um 560 n. Chr. wahrscheinlich in
Athen, schrieb Kommentare zu den Werken des Aristoteles.
22
Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor posteriores commentaria, ed. Diels, Berlin 1882, p. 55, 25 sqq.
23
Alexander von Aphrodisias in Karien lebte an der Wende vom 2. zum. 3. Jahrhundert. Er schrieb wichtige Kommentare zu den Werken des Aristoteles.
24
Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor posteriores commentaria, ed. Diels, Berlin 1882, p. 55f.
25
Gemeint ist Alexander.
26
Euklid, Elemente, XII, 2
Oƒ kÚkloi prÕj ¢ll»louj e„sˆn æj t¦ ¢pÕ tîn diamštrwn tetr£gwna.
Kreise verhalten sich zueinander wie die Quadrate über den Durchmessern.
An anderer Stelle seines Berichts schreibt Simplicius (a.a.O . p. 61), daß Eudemos in seiner Geschichte der Geometrie
berichtet, schon Hippokrates habe diesen Satz bewiesen, auf welche Weise ist allerdings nicht überliefert. Der Beweis,
den Euklid führt, geht nach Ansicht von T. L. Heath auf Eudoxos* zurück.
Toàto d ™de…knuen ™k toà t¦j diamštrouj de‹xai tÕn aÙtÕn lÒgon ™coÚsaj dÚnamei to‹j kÚkloij.
Dies** bewies er aber dadurch, daß er zeigte, die Quadrate der Durchmesser verhalten sich wie die Kreise.
* T. L. Heath, Euclid’s Elements, New York, Dover Publications, Vol. 3, p. 374.
** Gemeint ist der Nachweis, daß Kreissegmente sich zueinander verhalten wie die zugehörigen Sehnen zum Quadrat.
454

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