1 Die Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte Dietrich v

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1 Die Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte Dietrich v
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Die Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte
Dietrich v. Engelhardt (Lübeck)
I. Vorbemerkung
Das Thema "Suizid" ist keineswegs nur von aktueller Bedeutung, sondern durchzieht
die gesamte Menschheitsgeschichte, wurde immer wieder aufgegriffen und löste in
den
vergangenen
Jahrhunderten
überaus
unterschiedliche
Reaktionen
und
Beurteilungen aus.
Bereits in der Terminologie zeigt sich ein großes Spektrum: Selbstmord,
Selbsttötung, Selbstvernichtung, Freitod, Suizid betonen jeweils spezifische Aspekte
und stellen bereits abweichende Bewertungen dar, beziehen sich in ihrer Entstehung
auch auf unterschiedliche Epochen.
Über den Suizid, seine Voraussetzungen und Formen, seine Legitimationen und
Interpretationen kann nicht im Rahmen einer Disziplin entschieden werden. Auch im
historischen
Verlauf
ist
die
Selbsttötung
zum
Gegenstand
verschiedener
Wissenschaften gemacht worden: der Theologie, Jurisprudenz und Medizin, der
Philosophie und Psychologie, der Kultur- und Sozialgeschichte. Ebenso haben
Künste und Literatur den Suizid wiederholt zu ihrem Thema gewählt.
Aus der Geschichte sind zahlreiche reale Beispiele überliefert, denen eine noch
größere Anzahl namenloser Schicksale von Menschen, die ihr Leben aktiv beendet
haben, zur Seite gestellt werden können.
Erinnert seien aus der Literatur und Realität der Antike an Aias, Sokrates, Cato und
Seneca, aber auch an die Frauen Deianeira, Phaedra, Iokaste, Dido, Lucretia,
Kleopatra und Porcia. Sokrates und Seneca werden zu großen Vorbildern eines
"philosophischen" Freitodes bis in die Gegenwart. Deianeira tötet sich aus Trauer,
ihren Gemahl Herakles unwissentlich mit dem vergifteten Nessushemd den Tod
gebracht zu haben; Phaedra erhängt sich, um ihre Ehre in der unerwiderten Liebe
zu ihrem Stiefsohn Hippolytos zu retten; Iokaste beendet ihr Leben, nachdem sie
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erfahren hat, daß sie mit Ödipus ihren eigenen Sohn geheiratet hat, der ebenso
unwissentlich seinen Vater Laios erschlagen hat; Dido gibt sich den Tod aus
Kummer, von Aeneas verlassen worden zu sein; Lucretia tötet sich nach der
Vergewaltigung durch den römischen Königssohn Sextus Tarquinius; Porcia, die
Frau des Brutus, der selbst im Jahre 42 v. Chr. Suizid begeht, bringt sich aus
krankhafter oder psychotischer Verzweiflung um, wofür der autoaggressive Modus Verschlucken glühender Kohlen - spricht.
Das Mittelalter kann trotz theologischer Verurteilung den Selbstmord nicht
verhindern. Bewegend sind aus dem Alten Testament die Selbsttötungen von
Simson und Saul. Im Neuen Testament erhängt sich Judas nach seinem
verräterischen Kuß an Christus. In der Bibel wird nur von Männern berichtet, die sich
umbringen, von Frauen werden Absichten und Versuche überliefert, die allerdings
nicht zur Ausführung kommen. Charakteristisch für die Einstellung des Mittelalters
zum Suizid ist Dantes Divina Commedia (1306-21), die im siebten Kreis der Hölle die
Selbstmörder der Vergangenheit und Gegenwart versammelt. Vom Judentum, Islam
und Hinduismus wird der Suizid ebenfalls verurteilt. Indische Witwenverbrennungen
weisen auf Ausnahmen einer positiven Einschätzung des Selbstmords hin. Mehrfach
kommt es zu Massenselbstmorden von Juden und Ketzern im Mittelalter. Berühmt
und zugleich von der modernen Forschung für fraglich gehalten ist der kollektive
Selbstmord von 960 Juden nach dem gescheiterten Widerstand gegen die Römer in
der Bergfeste von Masada am 15. April 73 n.Chr., zu dem ihr Anführer Eleazar Ben
Jair sie in seiner Abschiedsrede aufgefordert hat: "Wir haben die für morgen
bevorstehende Einnahme der Festung offen vor Augen; frei aber bleibt uns die Wahl
eines edlen Todes gemeinsam mit unseren liebsten Menschen" (Flavius Josephus,
Der jüdische Krieg, 79-81 n.Chr.).
Reich ist die Neuzeit an entsprechenden Dokumenten aus dem realen Leben und
der Welt der Literatur: Shakespeares Ophelia, die an ihrer Liebe zu Hamlet (1600)
verzweifelt; Romeos und Julias Doppelselbstmord (1595). Goethes Werther (1774),
dessen Selbsttötung
vielleicht weniger in der Zahl als in der Begehungsart zur
Nachahmung anregt, auch wenn Madame de Staël in damaliger Zeit überzeugt ist:
"Werther hat mehr Selbstmorde verursacht als die schönste Frau der Welt." Ottiliens
Selbstmord in Goethes Wahlverwandtschaften (1809) durch Verzicht auf Nahrung
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und Gespräch. Die zur Abschreckung verfaßten Biographien der Selbstmörder
(1795/96) des Schriftstellers Christian Heinrich Spieß im Geist der Aufklärung.
Heinrich von Kleist und seine Freundin Adolfine Vogel, die am 21. November 1811,
zerbrochen am Zwiespalt zwischen alltäglicher Realität und den Idealen der
Schönheit und Sittlichkeit, gemeinsam aus dem Leben scheiden. Die Dichterin
Karoline von Günderode, die sich am 26.7.1806 mit einem Dolch am Ufer des Rheins
aus unglücklicher Liebe ersticht. Der Selbstmord des Empedokles in literarischphilosophischer Deutung bei Hölderlin. Die vielen Frauen der realistische Literatur
des 19. Jahrhunderts, die ihrem Leben ein Ende setzen: Anna Karenina (1873-76)
bei Tolstoj, Effi Briest (1895) bei Fontane, Emma Bovary (1857) bei Flaubert. Der
Freitod von
Kirillov in Dostoevskijs Die Dämonen (1871/72) als einer Art von
Gottesbeweis: "wenn es Gott gibt, so ist aller Wille sein und ohne seinen Willen kann
ich nichts tun, wenn es ihn aber nicht gibt, so ist aller Wille mein und ich bin
verpflichtet, eigenmächigen Willen zu beweisen", was für Kirillov das Leben selbst
beenden heißt.
Die Schriftsteller Montherlant und Hemingway bringen sich um, da sie mit dem
Verlust ihrer Männlichkeit und literarischen Vitalität keinen Sinn mehr in ihrem Leben
zu erkennen vermögen Die Schriftstellerinnen Virginia Woolf und Sylvia Plath
begehen aus psychotischem oder neurotischem Leiden Selbstmord. Zu vielen
bekannten und unbekannten Suiziden kommt es von verfolgten und gequälten Juden
im Dritten Reich. Zahlreiche Selbsttötungen finden immer wieder in Kriegen und im
Gefängnis statt. Der japanische Harakiri-Suizid dient als Beweis der Ehre. Wiederholt
begehen Sektenanhänger kollektive Selbstmorde, die ebensowenig der Idee des
"philosophischen" Freitodes entsprechen wie wohl auch nicht der Suizid von Jean
Améry, der in seiner Studie Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod (1976)
weit beachtet für diese Möglichkeit und ihre Berechtigung plädiert hat.
Aus diesen wenigen Beispielen wird die allgemeine oder genuin menschliche Natur
des Selbstmordes offenbar, ganz unabhängig von seiner quantitativen Verbreitung
und wertenden Beurteilung. Von Selbstmord kann im Tierreich nicht oder nur bedingt
gesprochen werden; bei den verschiedenen Formen der Selbsttötung als Angriff oder
Verteidigung, im Kontext der Fortpflanzung oder zum Erhalt des Stammes oder der
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Gruppe fehlen bei den Tieren bewußte Intentionalität und Todesbewußtsein mit
entsprechendem sprachlichen Ausdruck.
Im folgenden Beitrag sollen wesentliche Konzepte und vor allem Bewertungen des
Selbstmordes von der Antike bis in die Gegenwart vorgetragen werden. Auf
empirische Berichte und statistische Daten soll ebenso nur am Rande eingegangen
werden wie auf vergangene Ansätze der Prävention, Therapie und Rehabilitation.
Hingewiesen sei aber auf die von der Forschung beobachteten Tatsachen, daß in
islamischen, buddhistischen und hinduistischen Ländern die Selbstmordrate ungleich
niedriger als in den europäisch-christlichen Ländern liegt, in diesen wiederum
niedriger in den katholischen als in den protestantischen Länder und daß im übrigen
erhebliche Unterschiede in der Suizidrate zwischen den Geschlechtern, Altersstufen,
Jahreszeiten, historischen Epochen, Berufen und sozialen Schichten bestehen.
In Motivation und Legitimation, im Grad der Freiheit oder Unfreiheit, in der
Begehungsart wie in den sozialen Reaktionen zeigt sich in der Geschichte wie in der
Gegenwart ein großes Spektrum an Fragen. Theologie, Medizin und Jurisprudenz
wie Philosophie, Psychologie und Soziologie haben ihre jeweils spezifische
Perspektive, aus der sie ihre Antworten auf jene Fragen geben. Daß der Selbstmord
im historischen Verlauf und auch heute mit heftigen Auseinandersetzungen
verbunden ist, läßt sich aus der Radikalität und Unwiderruflichkeit dieses Aktes
unmittelbar einsehen. Der "erfolgreiche" Selbstmord kann nicht wiederholt oder
verhindert werden.
II. Antike
Die Vielfalt abweichender Beurteilungen oder Bewertungen des Suizids manifestiert
sich
schon
in
der
Antike
und
prägt
bereits
den
ältesten
Text
der
Menschheitsgeschichte über den Selbstmord, der sich in einem ägyptischen Papyrus
über den Dialog zwischen einem Misanthropen und seiner Seele aus der Ersten
Zwischenzeit (2280-2000 v.Chr.) findet.
Pythagoras, Plato und Aristoteles wenden sich gegen die Selbsttötung, vor allem
ohne "Erlaubnis der Götter" oder "Beschluß der Polis" und plädieren für eine harte
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Bestrafung dieser in ihren Augen feigen und ehrlosen Tat. Der Leiche kann in der
Antike eine Hand abgeschlagen werden, die dann für sich verscharrt wird. Auf
Ablehnung stoßen bestimmte Suizidarten, so das Erhängen, die in heutiger Zeit
häufigste Form des Suizids, weil auf diese Weise der Seele das Entweichen aus dem
Munde erschwert wird. Auf der Insel Keos soll es eine verbreitete Sitte der alten und
als - in sozialer oder eigener Einschätzung - "unnütz" geltenden Menschen gewesen
sein, sich allein oder vielleicht sogar gruppenweise von einem Felsen ins Meer zu
stürzen.
Wer ohne staatlichen Richtspruch, qualvolles Unglück oder ausweglose Schmach
sich vielmehr "aus Schlaffheit und unmännlicher Feigheit" umbringt, soll nach Plato
"an unbebauten und namenlosen Plätzen ruhmlos" bestattet werden (Gesetze, ca.
347 v.Chr. IX, 873c-d). Der Selbstmord verstößt nach Aristoteles vor allem gegen die
Gemeinschaft, aber auch gegen das Individuum (Nikomachische Ethik, 335-323 v.
Chr.). Stimmt der Staat der Bitte um Selbstmord zu, gilt die Handlung aber als
ehrenwert; wer sich umbringen möchte, muß seine Gründe vortragen, über die dann
von den Behörden entschieden wird.
Anders urteilen die Anhänger der stoischen und epikureischen Philosophie, die dem
Menschen die Freiheit einräumen, sein Leben aktiv zu beenden - allerdings, was
besonders von den Stoikern betont wird, nur unter bestimmten Voraussetzungen, die
sich vor allem auf den Verlust des freien und vernünftigen Bewußtseins beziehen,
wozu auch Krankheiten und Schmerzen führen können. "Nichts Besseres hat das
ewige Gesetz geleistet, als daß es uns einen einzigen Eingang in das Leben
gegeben, Ausgänge aber viele. Ich soll warten auf einer Krankheit Grausamkeit oder
eines Menschen, obwohl ich in der Lage bin, mitten durch die Qualen ins Freie zu
gehen und Widerwärtiges beiseite zu stoßen? Das ist das einzige, weswegen wir
über das Leben nicht klagen können: niemanden hält es", heißt es bei Seneca
(Moralische Briefe an Lucilius, 62-65 n.Chr.). Nach Plinius ist der Selbstmord nur
dem Menschen, nicht aber der Gottheit möglich: "denn sie kann sich nicht selbst den
Tod geben, selbst wenn sie es möchte, was sie den Menschen als bestes Geschenk
in den so großen Mühen seines Lebens verliehen hat" (Naturkunde, 77 n. Chr.). Der
Kaiser Marc Aurel hält den Selbstmord für gerechtfertigt, wenn dem Menschen der
geistige Selbstvollzug nicht mehr möglich ist; in "Ruhe und Heiterkeit" solle man das
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Leben von sich werfen, "ohne sich einzubilden, etwas Schlimmes zu erleiden"
(Selbstbetrachtungen, 170ff n.Chr.). Der Philosoph Plotin gestattet den Selbstmord
bei unerträglichen Schmerzen und beginnendem Wahnsinn (Enneades, 253-269
n.Chr.). Die Schule der Kyniker kann in der Selbsttötung sogar den höchsten Akt der
Freiheit oder ein hohes Zeichen der Tugend erkennen.
Der mögliche Zusammenhang von Selbstmord und Krankheit ist ein durchgehendes
Thema der Geschichte und wird bereits in der Antike vertreten. Im Corpus
Hippocraticum wird Epilepsie als Ursache des Suizids - mehr bei Frauen als Männern
- angeführt. Ehelosigkeit soll
ebenfalls über somatische Folgeerscheinungen -
Erkrankungen des Blutes – zu Suizidversuchen führen; die entsprechende
Prävention legt sich nahe: "wenn sie schwanger werden, genesen sie" (Die
Krankheiten von den Jungfrauen). Auch der Mediziner Galen zählt zu den möglichen
Ursachen des Selbstmordes eine "widernatürliche Aufwallung" der Körpersäfte.
Unter der Bezeichnung "Euthanasie" wird in der Antike aber die Kunst des Sterbens
verstanden mit dem Ziel eines glücklichen und ehrenwerten Todes ("mors felix et
honesta"), nicht aber der Selbstmord oder die Tötung durch den Arzt. Eine Beihilfe
des Arztes beim Selbstmord ("physician assisted suicide") bei infauster Prognose
oder tödlicher Erkrankung ist aus der Antike nicht überliefert, wohl aber bei politisch
Verfolgten - so bei Seneca, dem sein Arztfreund Statius Annaeus im Jahre 65 n. Chr.
diese Unterstützung gewährt.
Das staatliche Interesse am Selbstmord zeigt sich an den juristischen Reaktionen,
die aus verschiedenen Ländern überliefert sind. Wer als Soldat den Suizid überlebt,
kann im römischen Reich, wenn nicht körperliche oder seelische Erkrankung
vorliegen, mit dem Tode bestraft werden. Individuelle Tugend und Staatswohl
können in einen Konflikt geraten. Die ersten strengen Sanktionen des Staates
werden von dem römischen Kaiser Hadrian im 2. Jahrhundert n. Chr. erlassen; selbst
Sklaven, die den Selbstmord ihres Herrn nicht zu verhindern versuchen, werden mit
dem Tode bestraft. Hadrians Arzt, den der Kaiser um Beihilfe bei seiner geplanten
Selbsttötung gebeten hat, kann diesem Schicksal nur mit seiner eigenen
Selbsttötung zuvorkommen. "Diese reine Seele, die kein Zugeständnis kannte, hatte
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es fertiggebracht, ihrem Eid treu zu bleiben, ohne mir etwas zu versagen"
(Yourcenar, Mémoires d'Hadrien, 1951).
III. Mittelalter
Im
christlichen
Mittelalter
wird
der
Selbstmord
-
wie
auch
der
Schwangerschaftsabbruch oder genauer die Tötung des Ungeborenen - abgelehnt.
In der Bibel findet sich allerdings eine klare Verurteilung des Suizides nicht. Der
altruistische Selbstmord, die eigene Tötung, um das Volk zu retten (Simson), und der
Selbstmord als Beweis der Gläubigkeit (Märtyrer) werden sogar positiv eingeschätzt.
Zu Beginn des Mittelalters sind die Standpunkte allerdings noch nicht einheitlich, der
Tod Christi kann sogar - so bei den Kirchenvätern Tertullian und Origenes - als eine
Art Selbstmord angesehen werden. Zunehmend etabliert sich aber die theologische
Verurteilung des Selbstmordes. Der Mensch soll im Prinzip als ein Geschöpf Gottes
sein Leben nicht eigenmächtig beenden dürfen. Der Mensch besitzt ein Nutzungs-,
nicht aber ein Verfügungsrecht über seinen Leib; seine Gottebenbildlichkeit soll den
Menschen vor dem Staat, vor den Mitmenschen und auch vor sich selbst schützen.
Augustinus bezieht das 5. Gebot ausdrücklich auch auf den Suizid: "Denn wer sich
selbst tötet, tötet auch einen Menschen." Auch eine drohende oder geschehene
Vergewaltigung durch Selbstmord vermeiden oder sühnen zu wollen, kann nach dem
Kirchenvater nicht anerkannt werden, "da die Heiligkeit des Leibes auch bei seiner
Vergewaltigung nicht verlorengeht, wenn die Heiligkeit des Geistes bewahrt bleibt"
(Vom Gottesstaat, 413-27 n.Chr., 1. Buch, Kap. 20 und 18). Wenn Augustinus in
diesem Zusammenhang von "Irrgeistern", die den "eigenen Leib töten", oder die
"wider sich selber wüten und toben" in diesem Zusammenhang spricht, wird im Geist
der Zeit der Blick auf psychopathologische Voraussetzungen gerichtet.
Im
6.
und
7.
Jahrhundert
kommt
es
zu
verschiedenen
verurteilenden
Konzilsbeschlüssen des Selbstmordes durch die Kirche. Das Zivilrecht folgt über
lange Zeit diesen theologischen Entscheidungen; das Eigentum des Selbstmörders
wird konfisziert, an seinem Leichnam werden physische Strafen vollzogen. In
Frankreich steht das unter Ludwig XIV. im Jahre 1670 erschienene Strafrecht noch in
dieser Tradition, die erst von der Französischen Revolution von 1789 aufgegeben
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wird. In Preußen wird die Bestrafung des Selbstmörders bereits 1751 durch Friedrich
II. aufgehoben, wozu es in vielen Ländern Europas erst im 19. und 20. Jahrhundert
kommt (England 1961).
Bei dem Scholastiker Thomas von Aquin werden - im Anschluß an Aristoteles und
Augustinus - drei Gründe genannt, die eine Selbsttötung verbieten und die im
weiteren Verlauf der Geschichte wiederholt in Zustimmung oder Ablehnung
aufgegriffen werden: Verstoß gegen Gott, gegen die Gesellschaft und gegen sich
selbst. Der Selbstmord sei darüber hinaus auch zu verwerfen, da mit ihm die Sühne
unmöglich gemacht werde: "Sich den Tod antun, um den anderen Elendigkeiten
dieses Lebens zu entgehen, heißt somit, zur Vermeidung eines kleineren Übels das
größere hernehmen" (Summa Theologica, 1267-73). Nach Duns Scotus darf sich
ohne Befehl Gottes niemand selbst töten, Giordano Bruno erklärt die Selbstmörder
zur "Märtyrern Satans", Bonaventura hält den Selbstmord für einen unerlaubten Akt
maßloser Selbstliebe.
Ein beispielhafter Text für die Auffassungen des Mittelalters über den Selbstmord
stellt Dantes Göttliche Komödie (1306-21) dar. Die Selbstmörder sind in die unterste
Abteilung der Hölle verbannt, die aus dem siebten, achten und neunten Kreis
besteht. Dort befinden sich die wirklich Bösen, die bewußt gesündigt haben und nicht
nur aus Unwissenheit oder Unkeuschheit. Dabei ist den Gewalttätern, zu denen auch
die Selbstmörder gehören, der obere siebte Kreis vorbehalten, da sie, verführt von
heftiger Leidenschaft, weniger schwer gesündigt haben als die Betrüger und
Verräter, die kalten Blutes ihre Vernunft mißbrauchten. Aufgeteilt ist der siebte Kreis
selbst wieder in drei Stufen oder Ringe nach Art der verübten Gewalt. In der obersten
Stufe halten sich die Mörder und Räuber auf, dann folgen die Selbstmörder und
Verschwender, auf der untersten Stufe sind die Sodomiter versammelt. Im siebten
Kreis befinden sich also diejenigen, die Gewalt entweder am Nächsten und seinem
Hab und Gut, an sich und dem eigenen Hab und Gut oder schließlich an Gott verübt
haben. Die Selbstmörder werden deswegen als niedriger oder verdammenswerter
eingestuft als die Mörder, weil sie dem stärksten Trieb des Menschen, dem
Selbsterhaltungstrieb,
zuwidergehandelt
haben
und
sich
damit
gegen
ein
Naturgesetz oder Gottes ausdrückliches Gebot vergangen haben. Die Strafe der
Selbstmörder besteht darin, daß ihr Geist, den sie naturwidrig befreit haben, in einen
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Baum oder Strauch gefesselt wird, an dessen Laub sich Harpyen weiden und
unaufhörliche Qualen der Gewissenbisse bereiten: Nie wird nämlich der Geist der
Selbstmörders mit ihrem Leib wieder vereint werden, da Gott nicht zurück gibt, was
der Mensch sich selbst nahm; vielmehr müssen die Selbstmörder ihren Leib selbst
an den Ort der Strafe hinschleppen und an den Baum hängen, an dem er ewig
gefesselt oder eingekerkert ist.
IV. Neuzeit
In den ersten Jahrhunderten der Neuzeit wird zunächst weiterhin am Verbot des
Selbstmordes festgehalten. Zunehmend werden aber von verschiedenen Denkern
Legitimationen des Selbstmords vorgetragen. Gilt der Selbstmord im Mittelalter als
ein sittliches wie juristisches Delikt, werden nun die Ebenen der Ethik und
Jurisprudenz mehr und mehr auseinandergehalten. Die lateinische Form "suicidium"
(sui = selbst und caedes = Mord) findet sich gedruckt zum ersten Mal in Thomas
Brownes 1642 veröffentlichten Religio medici und wird dann auch in anderen
Sprachen aufgegriffen, kommt aber bereits im ausgehenden 12. Jahrhundert in einer
Handschrift von Gauthier (1177/78) des Klosters von Saint-Victor vor. 1643 ist die
erste Nennung des deutschen Wortes "Selbstmord" bei dem Theologen Johann
Conrad Dannhauer belegt. Das englische "suicide" ist in A New world of english
words (1657, 21662) von Edward Philips mit klarer Ablehnung nachgewiesen: "a
barbarous word, more appropriated derived from sus, a sow, than from the pronoun
sui, as if it were a swinish part for a man to kill himself." 1752 erscheint "suicide" zum
ersten Mal in der französischen Sprache (Dictionnaire de Trevoux).
Thomas Morus rechtfertigt in seiner Utopia (1516) den Selbstmord und auch die
aktive Euthanasie in aussichtslosen Erkrankungen unter Beihilfe des Arztes und
priesterlicher wie staatlicher Erlaubnis: "Wen sie damit überzeugt haben, der endigt
sein Leben freiwillig durch Enthaltung von Nahrung oder wird eingeschläfert und
findet Erlösung, ohne vom Tode etwas zu merken." Auch Francis Bacon analysiert
den Selbstmord in seinem Essay Of death (1607), ohne ihn zu verurteilen. Der
Theologe und Humanist John Donne wendet sich gegen die verbreiteten Argumente
gegen den Selbstmord in der 1608 verfaßten und zu seinen Lebzeiten bewußt von
ihm nicht veröffentlichten Monographie Biathanatos (1648), setzt sich für eine
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individuelle Beurteilung und christliche Güte ein und berichtet von eigenen suizidalen
Neigungen seit seiner Jugend.
Für Hobbes, Descartes und Spinoza stellt der Selbstmord einen Akt der Unfreiheit
dar, da es dem Menschen fundamental um Selbsterhaltung geht. Das Gesetz der
Natur verbietet es dem Menschen nach Hobbes, etwas zu tun, "was sein Leben
vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann" (Leviathan, 1651).
Wer sich selbst tötet, sei "unvermögenden Gemütes" ("animo impotens"), heißt es
bei Spinoza, da er "von Gründen, die seiner Natur widerstreben, ganz und gar
überwunden" werde (Ethica, 1677, 4. Teil, propositio 18). Luther und Calvin lehnen
den Selbstmord ebenfalls ab, sehen in ihm ein Werk des Satans. John Sym stellt die
Verbindung zur Geisteskrankheit her (Lifes preservative against self-killing, 1637),
unterscheidet zwischen direktem und indirektem Selbstmord und gibt im Blick auf
spezifische Anzeichen Hinweise zur Prävention.
Verständnis und Rechtfertigung findet der Suizid in jenen Jahrhunderten dagegen bei
Montaigne, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Beccaria und Hume. Pro und Contra
werden im Dialog von Pyrocles und seiner Geliebten Philoclea im Roman Arcadia
(1590) des Schriftstellers Philip Sidney entfaltet; nicht die Argumente, sondern die
Liebe Philocleas halten Pyrocles allerdings von seinem geplanten Suizid ab.
Für Montaigne, der mehrfach in seinen Schriften und vor allem in den Essais (158095) auf den Selbstmord eingeht und von zahlreichen Schicksalen der Vergangenheit
berichtet, ist der Tod "ein Mittel für alle Mühen", der sich auch wesentlich, was die
Freiheit des Menschen angeht, von der Geburt unterscheidet; die Natur "hat uns nur
einen Eingang ins Leben, aber hundert tausend Wege hinaus angewiesen." Zugleich
lehnt Montaigne jeden leichtfertigen Umgang mit dem Selbstmord ab, der nur in
äußersten Notfällen zu rechtfertigen sei. Montesquieu läßt in den Lettres persanes
(1721) den Perser Usbek die juristische Bestrafung des Suizids kritisieren und die
Auffassung der sozialen und religiösen Schuld zurückweisen, urteilt dagegen in
anderen Schriften sehr viel zurückhaltender über die Berechtigung oder Freiheit des
Suizids, weist auch auf historische Unterschiede der Verursachung hin: "Bei den
Römern war diese Tat eine Wirkung der Erziehung und entsprang ihrer Denkweise
und ihren Gewohnheiten. Bei den Engländern ist sie die Folge einer Krankheit, sie
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hängt mit dem physischen Zustand des Organismus zusammen und mangelt
irgendeines sonstigen Grundes" (De l'esprit des lois, 1748).
Voltaire geht ausführlich im Essay Von Cato, dem Selbstmord und einem Buche des
Abbés St. Cyranne, das den Selbstmord legitimiert in seinem Dictionnaire
philosophique (1764) auf den Selbstmord ein, äußert Verständnis, lehnt juristische
Strafen ab, hält Zusammenhänge mit Krankheiten für möglich und plädiert zugleich
hier wie an anderen Stellen ausdrücklich für einen Verzicht auf die aktive
Lebensbeendigung. "Liebenswürdigen Menschen steht es nicht an, sich das Leben
zu nehmen, sondern nur ungeselligen Geistern wie Cato, Brutus", heißt es in einem
Brief von ihm an den Engländer Crawford. Ebenso rät Voltaire Friedrich II. von
Preußen vom Selbstmord ab. "Ich stimme zu, eine großartige Sache ist es nicht,
inmitten von Trübsal für einen Augenblick zwischen zwei Ewigkeiten, die uns
verschlingen, zu existieren; doch es obliegt der Größe Ihres Muts, die Last des
Lebens zu tragen, und es bedeutet, wirklich König sein, wenn man die Fährnisse als
großer Mann erträgt." (13.11.1757). Rousseau gesteht dem Menschen seinerseits
das Recht auf Selbsttötung zu: "Wenn unser Leben ein Übel für uns und kein Gut für
jemand ist, so ist es erlaubt, sich seiner zu entledigen", lenkt andererseits auf das
pflichtgemäße Leben im Kreise der Mitmenschen. "Weißt Du nicht, daß Du nicht
einen Schritt auf der Erde tun kannst, ohne dort irgendeine Pflicht zu finden, die es
zu erfüllen gilt, und daß jeder Mensch der Menschheit schon dadurch nützlich ist,
daß er ist." (Julie ou la nouvelle Héloïse, 1761).
Der von dem Philosophen David Hume im Geist der Aufklärung verfaßte klassische
Text On suicide erscheint erst 1783 nach seinem Tode; der Verfasser hat die
geplante Veröffentlichung noch unmittelbar vor dem Druck offensichtlich aus Sorge
über die zu erwartende Kritik verhindert. Für Hume stellt der Suizid weder eine
Verletzung der Pflichten gegen Gott noch die Mitmenschen oder gegen den
Selbstmörder dar. Der Suizid sei vielmehr ein Akt der Freiheit und könne "ohne
irgend welche Schuld oder Tadel begangen werden" (S. 140). Die göttliche Gnade
werde durch den Selbstmord nicht aufgehoben, mit ihm werde der Gesellschaft kein
Leid angetan, sondern nur Gutes entzogen, auch der Verantwortung gegenüber sich
selbst widerspreche diese Handlung nicht, da "Alter, Krankheit oder Unglück das
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Leben zu einer Last und selbst schlimmer als seine Vernichtung machen können" (S.
148).
Madame de Staël unterscheidet in ihrer Studie De l'influence des passions sur le
bonheur des individus et des nations (1796) drei Arten von Selbstmord, den sie
grundsätzlich billigt: der unmittelbar einleuchtende Selbstmord aus Liebe, der seltene
philosophische Selbstmord und der Selbstmord des Verbrechers aus Reue. "In der
Selbsttötung liegt etwas Empfindsames oder Philosophisches, das dem verderbten
Menschen völlig fremd ist." Zurückhaltender fällt das Urteil der Französin in den
Réflexions sur le suicide aus dem Jahre 1813 aus, in denen auch auf nationale
Unterschiede hingewiesen wird.
Von den
Philosophen des Deutschen Idealismus um 1800 wird der Selbstmord
dagegen wiederum entschieden verworfen. Kant erinnert noch einmal an die drei
Gründe,
die
traditionell
gegen
den
Selbstmord
vorgebracht
werden:
die
Verantwortung des Menschen für seinen eigenen Körper, seine Verpflichtung
gegenüber der Gesellschaft, seine Abhängigkeit von Gott. Das Verbot des
Selbstmordes ergibt sich nach Kant aus ethischen und nicht aus juristischen
Gründen. Der Selbstmord des Menschen bedeute im Prinzip eine "Herabsetzung
seiner inneren Würde unter die Tierheit" und widerspreche dem kategorischen
Imperativ, da er nicht die Grundlage eines
allgemeinen Naturgesetzes abgeben
könne (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785; Die Metaphysik der Sitten,
1797).
In der Linie Kants lehnt auch Fichte den Selbstmord in seinem System der
Sittenlehre (1798) ab: "Mein Leben ist die ausschliessende Bedingung der
Vollbringung des Gesetzes durch mich ... Mithin ist mir schlechthin geboten, zu
leben; inwieweit dies von mir abhängt ... Ich will nicht länger leben, heisst daher: ich
will nicht länger meine Pflicht tun...es kann vom Menschen nichts höheres gefordert
werden, als dass er ein ihm unerträglich gewordenes Leben dennoch ertrage." Das
Individuum besitzt ebenfalls nach Hegel kein Recht zur Selbsttötung, da es die
sittliche Idee zu verwirklichen habe. "Wenn der Staat daher das Leben fordert, so
muß das Individuum es geben. Ohne diese Forderung, lediglich dem eigenen Willen
folgend, hat der Mensch kein Recht zur Selbsttötung. Dieses Recht kann er nie
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besitzen, denn er kann nicht über sich selbst richten" (Grundlinien der Philosophie
des Rechts, 1821, § 70).
Arthur Schopenhauer, der die Bezeichnung "Freitod" prägt und in seinen
Überlegungen auch auf den erweiterten Selbstmord eingeht, hält den Suizid nicht für
die im Rahmen seiner Philosophie erstrebenswerte Verneinung des Willens als
vielmehr seine Bejahung: "Denn die Verneinung hat ihr Wesen nicht darin, daß man
die Leiden, sondern daß man die Genüsse des Lebens verabscheut." Wohl trifft
diese positive Einschätzung nach Schopenhauer aber bei dem "aus dem höchsten
Grade der Askese freiwillig gewählten Hungertod" zu, weil hier der Wille zum Leben
wirklich zum Erliegen gekommen sei (Welt als Wille und Vorstellung, 1819/44, Teil I,
§ 69, vgl.a., Teil II, § 157-160). Eine zustimmende Einschätzung des Suizids findet
sich bei Friedrich Nietzsche: "Viele sterben zu spät und einige sterben zu früh. Noch
klingt fremd die Lehre: Stirb zur rechten Zeit" (Also sprach Zarathustra, 22. Rede,
1883).
Der Selbstmord ist seit dem 19. Jahrhundert aber zunehmend nicht mehr nur ein
Thema für Theologen, Philosophen und Dichter, sondern findet Beachtung auch bei
Medizinern, Psychologen und Soziologen. Es kommt bei aller Fortführung des
überlieferten Deutungs- und Bewertungsspektrums zu einer Akzentverschiebung von
der theologisch-philosophischen auf die medizinische und psychosoziale Seite. Jean
Etienne Dominique Esquirol (Des maladies mentales, 1838), Wilhelm Griesinger (Die
Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, 1845) und Samuel Alexander
Kenny Strahan (Suicide and insanity, 1894) sind mit ihrer Zurückführung des
Selbstmordes auf Geisteskrankheiten, worauf
im 16. und 17. Jahrhundert
Paracelsus, Felix Platter, John Sym und Robert Burton bereits hingewiesen haben,
repräsentative Beispiele.
1813 erscheint von dem Mediziner Friedrich Benjamin Osiander die Abhandlung
Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten, medicinisch-gerichtliche Untersuchung
und die Mittel gegen denselben. Jean Pierre Falret gibt in seiner Studie De
l'hypochondrie et du suicide von 1822 auch statistische Daten an und unterscheidet
fünf Ursachen des Selbstmordes im Spektrum von Biologie und Kultur. In der
statistischen Ebene bewegen sich auch die Veröffentlichungen von Johann Ludwig
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Casper (Über den Selbstmord und seine Zunahme in unserer Zeit, 1825), Gustave
François Etoc-Demazy (Recherches statistiques sur le suicide, 1844) und Alexandre
Brierre de Boismont (Du suicide, 1856). Enrico Agostino Morselli (1881) analysiert
den Selbstmord bei Verbrechern (Il suicidio nei delinquenti, 1875) sowie in der
Perspektive der Evolutionslehre (Il suicidio, 1879). William James
(Is life worth
living?, 1897) bringt den Suizid in eine Verbindung mit der Religion, insofern ihr
Verlust zu seiner Ausbreitung beitragen soll.
Eine klassische Bedeutung besitzt gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Studie Le
suicide (1897) von Emile Durkheim, der sich in weitgespannter Weise mit dem
Selbstmord
auseinandersetzt
und
den
Blick
vor
allem
auf
empirische
Zusammenhänge lenkt, auch der Biologie, aber besonders der Gesellschaft.
Hervorgehoben werden historischen Veränderungen und
sozial-wirtschaftliche
Verhältnisse, unterschieden werden die Typen des egoistischen, altruistischen und
anomischen Selbstmordes, darüber hinaus werden praktische Folgerungen gezogen
oder entsprechende Vorschläge gemacht. "Wenn heute mehr Menschen in den Tod
gehen, so liegt das nicht daran, daß erschöpfendere Anstrengungen zur
Lebenserhaltung nötig sind, noch daran, daß wir berechtigte Bedürfnisse nicht mehr
voll befriedigen könnten, sondern daran, daß uns das Wissen verlorengegangen ist,
wo die Grenze unserer berechtigten Bedürfnisse liegt und wir den Sinn unserer
Anstrengungen nicht mehr einsehen" (1983, S.459).
Das 20. Jahrhundert ist von unterschiedlichen Auffassungen und zahlreichen
Initiativen bestimmt. Eine Synopsis biologischer, psychologischer und sozialer
Dimensionen findet sich 1905 in der Schrift Über den Selbstmord des Psychiaters
Robert Gaupp, der sich auch mit dem Massenmord beschäftigt. 1927 veröffentlicht
Hans Rost eine Bibliographie des Selbstmords mit 3775 Titeln. Die medizinische
Perspektive wird in Studien von Alfred Hoche (Vom Sterben, 1919), der den Begriff
"Bilanzselbstmord" einführt und im Suizid ein "Privileg des Humanen" sieht, Kurt
Schneider (Selbstmordversuche, 1933), Hans Walther Gruhle (Selbstmord, 1940)
analysiert.
Weite und anhaltende Resonanz gewinnen die Interpretationen des Selbstmordes in
der Psychoanalyse - bei Freud, Jung, Adler und den weiteren Entwicklungen dieser
15
Bewegung. Nach Sigmund Freud kann Suizidalität den Endpunkt einer depressivmelancholischen Entwicklung als Wendung der Aggressivität gegen das Ich
(Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1917) oder als Ausdruck des
Todestriebes (Jenseits des Lustprinzips, 1920) darstellen; die sich in dieser
Perspektive nahelegende Agressionsumkehr als präventiver Maßnahmen wird heute
bei Psychologen kritisch beurteilt oder für überholt gehalten. Der Zwiespalt zwischen
infantilen und primitiven Ansprüchen und Forderungen der Kultur kann nach Jung
nicht nur zu Neurosen, sondern auch zum Selbstmord führen (Psychologische
Typen, 1921). Alfred Adler sieht im Selbstmord wie in Neurosen Reaktionsformen auf
kindliche Überschätzungen von Motiven oder soziale Herabsetzungen und
Enttäuschungen (Selbstmord, 1937). Wichtige Anregungen verbinden sich mit den
Forschungen und institutionellen Initiativen von Erwin Ringel (Der Selbstmord, 1953)
nach dem 2. Weltkrieg in der Perspektive der Psychoanalyse von Alfred Adler, zu
denen das Konzept des präsuizidalen Syndroms (Einengung, Autoaggression,
Suizidphantasien) und die "Internationale Gesellschaft für Selbstmordverhütung"
gehört.
Auf philosophischer Seite stehen sich weiterhin abweichende Standpunkte
gegenüber. Entsprechende Beiträge stammen von Scheler, Heidegger, Sarte,
Jaspers, Camus, Löwith, Améry, Kamlah und vielen anderen. Max Scheler verurteilt
den Suizid aus ethischen Gründen und hält ausdrücklich an der Bezeichnung
Selbstmord fest: "Denn Handlungsintention auf Vernichtung von Person und
Personenwert im Töten macht sein Wesen aus. Das gilt für die eigene wie die fremde
Person; denn Fremdwert ist nicht höher als Eigenwert" (Der Formalismus der Ethik
und die materiale Wertethik, 1913/16). Für Sartre ist der Suizid im Gegensatz zu
Heideggers Interpretation "eine Absurdität, die mein Leben im Absurden untergehen
läßt" (L'être et le néant, 1943). Nach Karl Jaspers, der ebenfalls die Bezeichnung
Selbstmord im Gegensatz zu den verhüllenden Bezeichnungen Suizid und Freitod
beibehalten will und als Psychiater auch Zusammenhänge mit der Geisteskrankheit
im Auge hat, kann der Selbstmord "als Ausweg aus vernichtender Situation der
Ausdruck der entschiedensten Eigenständigkeit" respektiert werden - "Aber es bleibt
unser existentielles Schaudern" (Philosophie, Bd.2, 1932, S.300-314, vgl.a.
Allgemeine Psychopathologie, S. 234f, 621f; Psychologie der Weltanschauungen, S.
291-293). Albert Camus kennt "nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den
16
Selbstmord", da sich an ihm die Frage des Daseinssinnes stelle; die Absurdität des
Daseins könne durch die Beendigung des eigenen Lebens allerdings nicht
überwunden werden (Le mythe de Sisyphe, 1942). Karl Löwith plädiert wie Wilhelm
Kamlah (Meditatio mortis, 1976) und Jean Améry (Hand an sich legen. Diskurs über
den Freitod, 1976) für den Akt der Selbsttötung als Möglichkeit der Freiheit: "Der
Hang zum Freitod ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muß, wie von den
Masern. Der Freitod ist ein Privileg des Humanen" (Die Freiheit zum Tode, 1966).
Die Theologie des 20. Jahrhunderts setzt sich bei aller "Verurteilung" oder
prinzipiellen Ablehnung des Selbstmordes für ein Verständnis und die Suche nach
Hilfe ein – Unterschiede bestehen zwischen der katholischen und protestantischen
Theologie. "Du mußt ja nicht, du darfst leben", heißt es bei Karl Barth (Kirchliche
Dogmatik, 1965). "Den Verzweifelten rettet kein Gesetz, das an die eigene Kraft
appelliert, es treibt ihn nur noch hoffnungsloser in Verzweiflung; den am Leben
Verzweifelnden trifft nur die rettende Tat eines andern, das Angebot eines neuen
Lebens, das nicht aus eigner Kraft, sondern aus Goethes Gnade gelebt wird", urteilt
Dietrich Bonhoeffer (Ethik, 1949). "Die Kirche verweigert dem überlegten
Selbstmörder ihr Begräbnis, gewährt es aber bei unbehebbarem Zweifel an seiner
Zurechnungsfähigkeit", charakterisiert den katholischen Standpunkt im Lexikon für
Theologie und Kirche in der 2. Auflage von 1964 bei gleichzeitigem Plädoyer für eine
milde Bestrafung in Ländern, wo von der Justiz Reaktionen vorgesehen sind; in der
neuesten Auflage ist dieser Passus fallengelassen. In ihrer Schrift Menschenwürdig
sterben (1995) plädieren der katholische Theologe Hans Küng und der Germanist
Walter Jens für die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe.
V. Ausblick
Geschichte entfaltet die Möglichkeiten des Menschen in seinem Denken, seinen
Gefühlen und seinem Handeln – das trifft auch auf den Suizid und seine Beurteilung
zu. An einige Traditionslinien und repräsentative Standpunkte wurde in diesem
Beitrag erinnert, die zu einem besseren Verständnis des Selbstmordes in der
Gegenwart beitragen können.
Religiöse Orientierung und soziale Bindung, geistige Sinngebung des Daseins und
individuelle
Leidenstoleranz
können
als
wesentliche
Bedingungen
der
17
Suizidvermeidung
gelten.
Körperliche
Krankheit
und
seelischer
Schmerz,
wirtschaftliche Not und politische Verfolgung werden weiterhin Menschen in den
individuellen
oder
kollektiven
Selbstmord
treiben.
Die
freie
Selbsttötung
("Bilanzsuizid") wird von den empirischen Wissenschaften nicht ausgeschlossen,
aber doch für sehr selten gehalten. Depression schließt Zurechnungsfähigkeit nicht
zwingend aus.
Nur zu oft begehen Menschen Selbstmord aus Verzweiflung und Einsamkeit, nur zu
oft stellt diese Handlung einen Appell an die Umwelt dar und verlangt nach
persönlicher Zuwendung und sozialpsychologischem Engagement. Prävention und
Rehabilitation gehen mit ihren Initiativen von dieser Situation aus; Hilfe wird über
Verurteilung gestellt. Theorie und Praxis des Suizids stehen nicht in einem
Gegensatz; vom Dialog der Wissenschaften können Gegenwart und Zukunft ebenso
angeregt werden wie von den Erfahrungen und Positionen der Vergangenheit.
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