URBANISIERUNG UND STADTENTWICKLUNG IN BRASILIEN

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URBANISIERUNG UND STADTENTWICKLUNG IN BRASILIEN
URBANISIERUNG UND STADTENTWICKLUNG IN BRASILIEN
BRASILIEN
RIO DE JANEIRO
_ca. 190 Mio. Einwohner
_ca. 8,5 Mio. km2
_22,5 Einwohner pro km2
SÃO PAULO
URBANISIERUNG
URBANISIERUNG
100
Anteil urbaner Bevölkerung in %
65
RORAIMA
25
Grad der Vergroßstädterung
Metropolisierungsgrad
69
AMAPÁ
39
29
MARANHÃO
Belém
Manaus
Fortaleza
São Luís
52
PARÁ
AMAZONAS
54
40
68
34
15
Teresina
30
CEARÁ
Natal
RN
21
João Pessoa
PA
PIAUÍ
ACRE
TOCANTINS
RONDÔNIA
MATO GROSSO
62
GOIÁS
BAHIA
Campo Grande
PR
59
Duque de Caxias
São Gonçalo
Rio de Janeiro
4
1
5
93
São Paulo
Curitiba
96 87
ES
Nova
Iguaçu
2
Bevölkerungsdichte (Ew. pro qkm):
30 - 65
13
Belo Horizonte
3
10 - 30
37
MINAS GERAIS
MATO GR.
DO SUL
250.000 - < 500.000 Ew.
_Wandel einer agrarisch geprägten Gesellschaft zu einer städtisch dominierten
86
22
500.000 - < 1 Mio. Ew.
< 10
Salvador
78
1 - 2,2 Mio Ew.
_ca. 190 Mio. Einwohner
25
44
Goiâna
Brasilien zählt zu den am stärksten verstädterten Ländern Lateinamerikas
45
SE
18
Brasília
Rio de Janeiro: 5,6 Mio.
74
Recife
Jaboatão
Maceió
PE
AL
32
São Paulo: 9,8 Mio.
17
70
40
65 - 100
137
78
weit überdurchschnittlich
40
73
Porto
Alegre
> 300
Jährl. Zuwachsrate der Bev. 1991-96:
SC
RS
16
überdurchschnittlich
33
0
unterdurchschnittlich
_seit 1960 abwandern der Landbevölkerung
infolge der Industrialisierung
0
_immense Infrastrukturprobleme
AL
ALAGOAS
PE
PERNAMBUCO
RS
RIO GRANDE DO SUL
1
Osasco
4
Santo André
ES
ESPÍRITO SANTO
PR
PARANÁ
SC
SANTA CATARINA
2
Campinas
5
PA
PARAÍBA
RN
RIO GR. DO NORTE
SE
SERGIPE
3
Guarulhos
São Bernardo
do Campo
_80% der Bevölkerung lebt in Städten
_Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und
Armut führten zu sozialer Polarisierung
79
250
500
weit unterdurchschnittlich
44
1000 km
13
Abb. 2: Verstädterung und Städtenetz in Brasilien 1996
Die Angaben zur Bevölkerungszahl der Städte beziehen sich nur auf die Kernmunizipien; Angaben zur Verstädterung nur für Bundesstaaten mit mehr als 3 Mio. Einw. 1996;
Grad der Vergroßstädterung: Anteil der Bevölkerung in Städten > 100 000 Einw. 1996; Metropolisierungsgrad: Anteil der Bevölkerung in Städten > 500 000 Einw. 1996
Quelle: Eigener Entwurf nach IBGE 1997
sind (vgl. Abb. 2). Dementsprechend groß
ist die Konzentration an Städten über
Verstädterung und Städtenetz in Brasilien 1996
Unter Einbeziehung der drei anderen
ßert (vgl. Abb. 2). Fast jeder der verhältnisGroßregionen, des Nordens (mit den Bunmäßig kleinen Bundesstaaten – Ausnahme:
INFORMELLE SIEDLUNGEN
INFORMELLE SIEDLUNGEN
Der Begriff „Favela“ entstand in Rio de Janeiro
am Ende des 19. Jahrhunderts
_1897 Errichtung einer Hüttensiedlung ehemaliger Söldner, auf dem „Morro da Providência“
_Forderung nach Land, besetzter Hügel „Morro
da Favela“
_1902 Zerstörung preiswerter Mietwohnungen
durch Stadtumgestaltung
_vertriebene Bewohner lassen sich auf den
im Stadtgebiet versreuten Hügeln („morros“)
nieder
- Beginn des Favelawachstums in Rio de Janeiro
_1964 bis 1979, gewaltsame Umsiedlungsprogramme, Versuche die Favelas zu beseitgen
_ab 1983 erste Schritte zur Aufwertung der
Favelas
_20-40% der brasilianischen Bevölkerung in
den wichtigsten Städten, leben in Favelas
RIO DE JANEIRO
RIO DE JANEIRO
1991
zweitgrößte Stadt und Zentrum Brasiliens
_ca. 11 Mio. Einwohner
_Einwohnerdichte 4640 EW pro km2
_ca. 30% der Bevölkerung lebt in informellen
Siedlungen
_topographische Situation begrenzt die Siedlungsfläche
2000
Bevölkerungsdichte in Rios Favelas
jeder Punkt entspricht 100 Einwohner
PROGRAMME IN RIO DE JANEIRO
„Favela-Bairro“ Programm
Phase I
_ab 1993, Sanierungs und Infrastrukturmaßnahmen
_Schwerpunkt, technische Infrastruktur
_1994 Testphase mit städtischen Mitteln, in
15 kleineren Favelas
_300 Mio $ Kredit der „Banco Interamericano
de Desenvolvimente“ (BID)
Phase II
_ab März 2000, weitere 180 Mio. $ vom BID
_Schwerpunkte, Schaffung sozialer Einrichtungen, Maßnahmen zur Beschäfftigungsförderung,
Legalisierung des Grundbesitzes
Ziele
_Integration der Favelas in die städtebaulichen und sozialen Strukturen der formellen
Stadt
PROGRAMME IN RIO DE JANEIRO
„Favela-Bairro“ Programm
PROGRAMME IN RIO DE JANEIRO
Großes Favelas
_Große Favelas in Stadtbezirke Verwandeln
Bairrinho
_Favelas mit der übrigen Stadt verbinden
Morar Legal
_Legaliseirung des Grundbesitzes
Morar Sem Risco
_Umsiedlung in sichere Umgebung
Morar Carioca
_Förderung des Wohnungsbaus
Novas Alternativas
_Sanierung zur Aufwertung des Zentrums,
Ziel Mischnutzung
Regularização Fundiária
_Legalisierung der Siedlungsflächen
JORGE MARIO JÁUREGUI
Architekt und Stadtplaner
_Mitwirkend beim „Favela-Bairro“ Programm
_seit 1996 Mitarbeit an Favela-Programmen
_2003 ausgezeichnet mit dem „Veronica Mario Green Prize in Urban Design“
für die Urbanisierung von Favelas
JORGE MARIO JÁUREGUI
Favela do Vidigal
_Schaffung soziale Einrichtungen
_langfristig gesehen neuer Stadtbezirk
JORGE MARIO JÁUREGUI
Complexo Manguinhos
_Masterplan
_Infrarstrukturmaßnahme
_Hochbahntrasse
_Vernetzung
_Innstädtische Grünflächen
_öffentlich Einrichtungen
_Wohnungsbau
FRANK MÖHR
aus Berlin stammender Architekt
_Projektleiter Favela Manguinhos
byrinth der Elendsviertel wie Fische im Wasser. Von
den Dächern und Terrassen der Favelas überwachen
sie an
ihr Revier,
halten Ausschau nach
der Polizei und
_bessere Anbindung
den Nahverkehr,
Seilbahn
rivalisierenden Gangs.
Möhr führt die urbanistische Gegenoffensive an.
Sein Chef, der einer staatlichen Baufirma vorsteht,
_1300 bezahlte Jobshatte
fürihm
die
„favelados“
die Stelle angeboten; er hält große Stücke
auf ihn. Der Deutsche lebt seit 1996 in Rio, war mit
einer Brasilianerin verheiratet und spricht perfekt
Portugiesisch. Vor allem gilt Möhr als Organisationstalent und als Kommunikationsgenie. Sein
jetziges Gehalt beträgt nicht einmal ein Fünftel
dessen, was er in der Privatwirtschaft verdienen
würde. Doch nach einer schlaflosen Nacht schlug er
ein: „So eine Chance bekommt man nur einmal im
Leben.“
Es ist die Chance, einen Slum in ein normales
Wohnviertel zu verwandeln, die Chance, illegalen
Zuwanderern vom Land ein urbanes Zuhause zu
geben, die Chance, aus verängstigten Slum-Bewohnern selbstbewusste Bürger zu machen. Und es ist
gleichzeitig die Herausforderung, buchstäblich Licht
„Die Stadt
ins Dunkel zu bringen: mit Straßenlaternen, größemuss die Faveren Plätzen, offeneren, geraden Gassen, in denen
las zurücksich die Verbrecher nicht mehr verstecken können.
erobern, bevor
Sehr hehre Ziele sind das.
diese die Stadt
Aber können bessere Straßen und bessere Häuser allein dafür sorgen, dass bessere Menschen dort
einnehmen.“
Vizegouverneur
Luiz Pezão
wohnen?
Möhr kennt das Risiko, zu scheitern, es ist nicht
sein erstes Favela-Projekt. Vor sechs Jahren hat er in
Jacarezinho, Rios Favela mit dem euphemistischen
Namen „Krokodilchen“, an einem Projekt des Dessauer Bauhaus mitgewirkt. Die Deutschen stellten
den Favela-Bewohnern ein tolles Bürgerzentrum
hin, sie lockerten die Bebauung einiger Straßenzüge
auf und errichteten ein Kino, das der Bürgermeister
von Rio persönlich einweihte.
Heute sitzen Drogenhändler in den schönen Räumen. Besucher trauen sich nur mit Polizeischutz
oder auf Einladung der Mafia in den Slum. Möhr:
„Stadtplanung zur Vorbeugung von Kriminalität
funktioniert nur, wenn der Staat dauerhaft Präsenz
zeigt.“
Dass es funktionieren kann, weiß er aus Medellín,
der einstigen Drogenmetropole Kolumbiens. Wie in
Rio herrschten die Drogenhändler und Jugendgangs
dort auch in den Slums, und wie in Rio wuchsen diese an den Hängen am Stadtrand empor – bis die Regierung die schlimmsten Elendsviertel sanierte. Man
baute eine Seilbahn, legte Wasser- und Stromleitungen, säumte Plätze und Straßen mit Bänken,
Bäumen, Schaukeln. Die Einwohner wurden in die
Bauarbeiten miteinbezogen, ihr Engagement wurde
von der Stadtverwaltung entlohnt.
Heute hat sich die einstige Hauptstadt des Mordens in eine blühende, lebenswerte Stadt verwandelt; die Verbrechensrate ist deutlich gesunken. „Aus
den Slum-Bewohnern von einst sind Mitbürger geIn RioViertel
de Janeiro
eines der größten Slum-Sanierungsprojekte
worden, die sich in ihrem
heimischist
fühlen“,
schwärmt Möhr. So angelaufen.
ein Wunder schwebt
ihm auch
Der brasilianische
Staat will die Elendsviertel
für Manguinhos vor.von den herrschenden Drogengangs befreien – und zwar ohne
Doch in Medellín hatte der Frieden seinen Preis:
von schickte
Gewalt.KolumDie Betroffenen sind skeptisch.
Vor dem Beginn derEinsatz
Bauarbeiten
biens Präsident das Militär in die Slums. 200 Menschen kamen damals, 2002, ums Leben, bei wochenlangen Schießereien. Als Ruhe herrschte, kamen die Architekten.
In Brasilien scheut die Regierung vor dem Einsatz
der Streitkräfte zurück, sie überlässt den Drogenkrieg der Polizei. Doch die ist überfordert: Viele Beamte sind korrupt und schlecht ausgerüstet. Sie trauSpiegel Spezial Nr.4 2008
en sich nur im Panzerwagen in die Hüttenlabyrinthe.
Mit Baggern
gegen Revolver
FOTOS: ANJA KESSLER
ARMENVIERTEL
wasserleitungen und teeren neue Straßen. Dabei beschäftigen
Nach
lebt
_nurSchätzungen
angekündigte
Besuchesie Anwohner: Etwa 1300 bezahlte Jobs
winken den „favelados“. Auf dem „Morro do
mehr als ein Viertel
Alemão“, dem Elendshügel mit dem kuriosen Naaller Brasilianer – rund
men „Berg des Deutschen“, lässt die Regierung eine
52 Millionen Menschen
_fotographieren
und
vermessen wird gestattet,
Schneise für eine Seilbahn freischlagen, die bis zum
– in illegalen SiedlunGipfel führt. Stararchitekt Oscar Niemeyer, 100, hat
gen, in Favelas.
keine
FotosDie
von Drogenhändler
der Favela Rocinha den Entwurf einer Fußgängermeisten kommen vom
brücke gestiftet. Und auch Manguinhos soll besser
Land. Irgendwo in den
an den Nahverkehr
angeschlossen
werden.
Großstädten
errichten
_wurde von
der Regierung
mit 107
Mio. Euro
Mit der Sanierung der Slums will die Regierung
sie ihre provisorische
ausgestattet
die Herrschaft der Drogengangs brechen. „Die Stadt
Bleibe auf der Suche
muss die Favelas zurückerobern, bevor diese die
nach Arbeit, AusbilStadt einnehmen“, sagt Rios Vizegouverneur Luiz
dung, Anschluss an die
Pezão. Bislang
bewegen sich die
Verbrecher
Moderne.
_Krankenhäuser, Schulen,
Kindergärten
und
Parks im La-
ARCHI 5 ARQUITETOS ASSOCIADOS
Favela de Parque Royal
_Durchlässigkeit des Straßensystems
_Öffentliche Gebäude und Plätze
_Neubelebung des Uferstreifen
SÃO PAULO
SÃO PAULO
_Stadtgründung 1554 durch die Jesuiten
_urbane Struktur gleicht portugiesischer
Dorfstruktur
_20er Jahre, Peripherie hat keinen Anschluss
mehr an das öffentlich Verkehrsnetz
_50er Jahre, Symbol der modernen brasil.
Gesellschaft
_ca. 18 Mio. Einwohner
_eine der reichsten Städte des globalen
Südens
Fast eine Million Einwohner der Stadt
São Paulo wohnen in Favelas genannten Armenvierteln und nahezu
zwei Millionen in informellen Siedlungen. Seit den 1970er Jahren sind
dies die Stadtteile mit der größten Dynamik und dem größten Wachstum;
sie haben die Informalität und das
Ungeregelte von der Ausnahme zur
Regel werden lassen. Das Wachstum
der informellen Siedlungen übertrifft
dasjenige der formellen Stadt bei
Weitem. Dennoch hält sich der Glaube beharrlich, die städtischen Armutssiedlungen seien Ausnahmeerscheinungen in der Stadtlandschaft.
Ein paradigmatisches Beispiel
dieser dualen Stadt ist das Viertel
Morumbi/Paraisópolis im Südwesten
São Paulos. Hier koexistieren und kollidieren zwei Situationen miteinander
und ignorieren sich dennoch gegenseitig – trotz des Bewusstseins gegenseitiger Abhängigkeit. Morumbi liegt
südwestlich des Pinheiros-Flusses und
gilt als eines der exklusivsten Viertel
São Paulos. Dort findet man riesige
Favela Paraisópolis
Privatvillen, luxuriöse gated communities mit ausgefeilten Sicherheitssystemen und elegante Hochhäuser mit
privaten Grünanlagen. Paradoxerweise gibt es jedoch ebendort, mitten
in Morumbi, auch eine der größten
rechtswidrig errichteten Siedlungen
der Stadt: die Favela Paraisópolis.
Auf einem Gelände, das ein Gefälle
von bis zu 35 Prozent aufweist und
von verschiedenen offenen Abwasserkanälen durchzogen ist, zählt
dieses Konglomerat von ein- bis
dreigeschossigen Bauten annähernd
82.000 Einwohner, von denen
SÃO PAULO PROJEKT
Wegenetz mit Straßen und kompletter Infrastruktur. Der für Favelas
auffällig sorgsame Umgang mit den
angrenzenden Gebäuden, ablesbar
durch private Investitionen, sowie die
sichtbare Vielfalt von Typen und
Gebrauchsformen lässt einen Zusammenhang zwischen privilegierter
Lage und Verantwortung erkennen.
Doch bereits im Inneren der hier
angrenzenden Häuserblöcke verschlechtert sich der Zustand der
Häuser.
Die an das bestehende Wegenetz angrenzenden Häuser zeigen sich deutlich selbstbewusster
Die Favela Paraisópolis im Bezirk Morumbi, umgeben von Luxusvillen
FAVELA PARAISÓPOLIS
Die Urbanisierung der Favela Paraisópolis,
Héctor Vigliecca
FAVELA PARAISÓPOLIS
Die Urbanisierung der Favela Paraisópolis,
Héctor Vigliecca
FAVELA PARAISÓPOLIS / MORUMBI
_eines der exklusivsten Viertel São Paulos
_luxuriöse gated communities