Typisch Mann – Typisch Frau?
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Typisch Mann – Typisch Frau?
September 2011 Wenn die Eltern älter werden Wie erwachsene Kinder den Rollenwechsel erleben Kollege Roboter Robotermedizin kann helfen, wo besondere Präzision gefragt ist Typisch Mann – Typisch Frau? Heute haben alle die gleichen Chancen. Oder etwa doch nicht? Anzeigen Editorial Inhalt Vorgestellt 4Lachen statt leiden Kinder- und Jugendpsychiatrie „Don Bosco Klinik“ 34St. Mocca – ein christliches Begegnungscafé Von leckerem Kaffee und einem besonderen Geist Therapie 6 K leptomanie Der unbezwingbare Drang zu stehlen ist eine Krankheit 8Irgendwo im Niemandsland Wer unter schwerem Gedächtnisverlust leidet, braucht Unterstützung und Beistand Gesund bleiben 11Wenn der Ellenbogen streikt Nicht nur Tennisspieler leiden am Tennisarm Im Blick 12Neugierde und Nervenkitzel Sensationslust steckt in jedem Menschen Liebe Leserinnen und Leser, Frauen sind am Ball: Bei der diesjährigen Fußball-Weltmeisterschaft begeisterten die Damen in einer Disziplin, die man sonst eher den Männern auf die Fahne schreibt. Noch nie haben mehr Zuschauer in Deutschland Frauen-Fußballspiele live und vor dem Fernseher verfolgt als im Juli. Mehr als 17 Millionen Menschen fieberten mit. Das Geschlechterkarussell scheint sich zu drehen. In unserer Titelgeschichte „Typisch Mann – Typisch Frau?“ beschäftigen wir uns mit dem viel diskutierten Thema der Chancengleichheit. Wie in dem ersten im Juni erschienenen Gleichstellungsbericht der Bundesregierung geht es unter anderem um Karrierechancen, Kindererziehung und Gehälter. Dass sich Rollen ändern können, zeigt auch unser Beitrag über das Älterwerden der eigenen Eltern. Dabei geht es nicht zwangsläufig um eine schwere Pflegebedürftigkeit, vielmehr um schleichende Prozesse. Wie erleben erwachsene Kinder die Veränderung, wenn Vater oder Mutter zunehmend auf Hilfe angewiesen sind und Unterstützung bei alltäglichen Dingen benötigen? Wir haben zwei Kinder und eine Expertin befragt. Lesen Sie mehr dazu ab Seite 26. Titel 14Typisch Mann – Typisch Frau? Heute haben alle die gleichen Chancen. Oder etwa doch nicht? Medizin 22Kollege Roboter Die Robotermedizin ist auf dem Vormarsch Alexianer vor Ort 24Die wichtigsten Alexianer- Nachrichten bundesweit Brennpunkt 26Wenn die Eltern älter werden Wie erwachsene Kinder den Rollenwechsel erleben Kurz notiert 30Aufge-lesen Herz IV: Aus dem Alltag einer rechtlichen Betreuerin Robotergestützte Operationstechniken sind auf dem Vormarsch. Die technischen Möglichkeiten von Robotern werden immer besser, die Behandlungserfolge auch. Wir haben Mensch und Roboter im Prostatazentrum Nordwest in Gronau bei einem Eingriff über die Schulter geschaut. Beeindruckend, wie präzise und schonend die Operation verläuft. Werfen Sie einen Blick in die spannende Welt der Hightechmedizin (ab Seite 22). Gute Therapiemöglichkeiten für Menschen mit sozialer Angst Konfrontation mit der Angst ist hilfreich Eine interessante Lektüre wünscht 31Herzenswünsche e. V. Ihr Fakt Bruder Benedikt M. Ende CFA Provinzial der St. Alexius-Provinz Deutschland Matt von der Mattscheibe Zu viel Fernsehkonsum macht krank Seitenwechsel 32Hygiene und das neue Infektionsschutzgesetz Das richtige Maß ist entscheidend 35 Rätsel / Impressum 3 4 Den Garten in der Don Bosco Klinik können die Patienten derzeit selbst gestalten Vo r g es t e l lt Lachen statt l eiden Die Kinder- und Jugendpsychiatrie „Don Bosco Klinik“ Hell, freundlich und bunt sind die Räume in der neuen Don Bosco Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Münster. Der grüne Garten mit seinen zahlreichen Winkeln lädt ein zum Spielen und Entspannen. Und doch ist den jungen Patienten, die hierherkommen, nicht nach Toben oder Entspannen zumute. Die Kinder und Jugendlichen, die sich in der Don Bosco Klinik aufhalten, sind psychisch erkrankt. Sie leiden unter verschiedenen Formen und Ausprägungen von Störungen, die das junge Leben alles andere als frei und unbefangen – wie es eigentlich in der Kindheit sein sollte – machen. Seit drei Monaten stationär in der Don Bosco Klinik ist Lukas Lintsch*. Der 18-Jährige ist einer der älteren Patienten in der Einrichtung. „Depressionen und Anpassungsstörungen“ lautet seine Diagnose. Er selbst spricht von „ständigen Kopfschmerzen und Schlafstörungen“. Der schlanke junge Mann spricht offen über seine Zeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und macht nicht den Eindruck, als ob er ein seelisches Leiden hat. Und doch berichtet er, sei die Phase, in der ihm ständig übel war und ihn Schmerzen plagten, erst wenige Wochen her. Raus aus dem Teufelskreis „Es war ein Teufelskreis“, erinnert sich Lukas. Sein Vater starb, als er noch ein kleines Kind war, erste Schulprobleme bekam er in der neunten Klasse. Damals gingen sie los, seine Kopfschmerzen. Er sei immer schon recht groß gewesen, erzählt er, und habe deshalb oft *Name von der Redaktion geändert „dumme Sprüche“ seiner Klassenkameraden zu hören bekommen. Doch er wehrte sich nicht, stattdessen wurde er immer stiller: „Ich habe die Wut in mich hineingefressen“, sagt er heute. Mit zunehmenden Schmerzen und Schlafstörungen versäumte er mehr und mehr Unterricht. Durch seine Fehlzeiten verpasste er viel Lernstoff. Den nachzuholen, verursachte noch mehr Stress. Sein Hausarzt fand keine Ursachen für die Symptome des jungen Patienten. „Mein Kopf wurde genau unter die Lupe genommen, meine Wirbelsäule – mein ganzer Körper wurde untersucht“, erzählt Lukas Lintsch. Letztlich blieb nur ein Schluss: Sein Leiden ist psychosomatisch. Eine Therapeutin gab ihm den Tipp, sich stationär aufnehmen zu lassen und empfahl die Don Bosco Klinik. Vo r g es t e l lt Letztlich sorgte die angenehme Atmosphäre dafür, dass der Jugendliche sich in die Hände des Don Bosco-Teams um den ärztlichen Leiter Dr. Bernd van Husen begab. 5 arbeiten und für den Patienten und seine Angehörigen dauerhafte Hilfestellungen zu vermitteln. Besondere Therapien für Kinder Dem Team ist besonders wichtig, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht als ein Ableger der Erwachsenen-Psychiatrie wahrgenommen und umgesetzt wird, sondern eine eigene medizinische Fachrichtung ist. „Bei den Erkrankungen der Kinder handelt es sich weniger um Geisteskrankheiten, sondern um reaktive psychische Störungen, Fehlentwicklungen der seelischen Reife und Folgezustände körperlicher Schäden, die sich in charakterlichen Auffälligkeiten und sozialen Unangepasstheiten zeigen“, erklärt van Husen. Konkret bedeutet das, dass Konzentrationsstörungen, Aggressionen oder andere Auffälligkeiten im Kindesalter andere Ursachen haben können und anders therapiert werden müssen als die der Erwachsenen. Für Lukas Lintsch war der regelmäßige Sport einer der Dreh- und Angelpunkte seiner Therapie. „Ich habe aber auch sehr viele Termine mit Dr. van Husen gehabt. Was mich bewegte, habe ich direkt angesprochen.“ Boxen, klettern oder reiten sind nur einige der sportlichen Möglichkeiten, die die Klinik bietet. Malen, musizieren, Gartenarbeit oder Gesprächsrunden gehören ebenso zum Programm wie ein enger Bezug zu Pflegekräften und Therapeuten. Verlassen die Heranwachsenden die Klinik, gibt es drei Möglichkeiten: Zum einen ist die Rückkehr in die Familie möglich, mit oder ohne weitere Behandlung oder ambulante Weiterbetreuung. Zweitens kann der Patient in andere Institutionen überwiesen werden, etwa in ein Heim, ein Internat oder eine klinische Einrichtung. Die dritte Möglichkeit ist die Weiterbetreuung oder -behandlung in Pflegefamilien. Welcher Weg der richtige ist, wird individuell von Fall zu Fall entschieden. Die Therapie endet also nicht am Klinik-Ausgang, sondern wird auch nach der Entlassung der Patienten weiter unterstützt. Gestärktes Selbstbewusstsein „Wenn Kinder sich auffällig verhalten, so hat das nichts mit Dummheit oder Intelligenz zu tun“, auch das ist van Husen wichtig, „das soziale Umfeld neigt dazu, solche Kinder falsch einzuschätzen.“ Neben den psychischen Merkmalen können auch körperliche Probleme wie Funktions- und Bewegungsstörungen auf eine Erkrankung des jungen Menschen hinweisen. Die Therapeuten haben jederzeit ein offenes Ohr „Ich fühle mich viel besser“, erklärt Lukas Lintsch kurz vor dem Ende seines stationären Aufenthaltes. „Mein Selbstbewusstsein ist gestärkt. Ich habe gelernt, meine eigene Boxtraining mit dem Sporttherapeuten Ärztlicher Leiter Dr. Bernd van Husen Besonders in den vergangenen Jahren hat der Bedarf an ausgebildeten Kinder- und Jugendtherapeuten stark zugenommen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeiten Psychologen, Diplom-, Heil- und Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Motopäden, Logopäden und Sprachtherapeuten, Lehrer, Erzieher und Krankenschwestern eng mit den Ärzten zusammen. Die multidisziplinäre Zusammenarbeit ist eines der wesentlichen Merkmale der Kinder- und Jugendpsychiatrie und spiegelt sich in Aufbau und Arbeitsweise der Don Bosco Klinik wider. Meinung zu vertreten und mich durchzusetzen.“ Für seine Zukunft hat der junge Mann viele Pläne. So steht als Erstes der Führerschein auf dem Programm, dann die Berufsschule mit der Ausbildung zum Indus triekaufmann und natürlich seine Hobbys: Bogenschießen und die Jung-Feuerwehr. Dass dabei auch die Eltern und weiteren Angehörigen mit ins Boot geholt werden, ist selbstverständlich. Den Patienten werden psychotherapeutische Verfahren angeboten, die geeignet erscheinen, ihre Problematik zu lindern, familiäre Beziehungsstörungen aufzu- Text: Carmen Echelmeyer Fotos: Kai Schenk 6 Therapie Hinzu kommt die Situation vor Gericht: „Ein krimineller Dieb könnte auf Strafminderung spekulieren und eine psychische Störung vortäuschen. Einem Kleptomanen könnte hingegen eine psychische Störung peinlicher erscheinen als ein krimineller Diebstahl, und er könnte deshalb seine psychischen Beweggründe verschweigen. Dadurch kann es sowohl zu falsch-positiven als auch zu falsch-negativen Diagnosen kommen“, erklärt die Fachfrau. Kleptomanie Der unbezwingbare Drang zu stehlen ist eine Krankheit Als der Richter drohte, ihm seine Kinder wegzunehmen, wusste Jochen Wyss (48)*, dass er etwas gegen seine Kleptomanie tun musste. Und handelte: „Ich hatte im Supermarkt heimlich etwas in den Kinderwagen gelegt und war erwischt worden. Damals hat der Richter gesagt: ‚Wenn ich Sie hier noch mal sehe, sind Ihre Kinder weg!’ Da habe ich begriffen: So geht es nicht weiter.“ Seit er sich aus der Kleptomanie befreit hat, hilft Wyss anderen Betroffenen. Die Erkrankung in Zahlen Kleptomanie, auch als „zwanghaftes Stehlen“ bezeichnet, ist eine Impulskontrollstörung. Die Erkrankung ist selten. Wie viele Personen betroffen sind, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die bisher einzige nicht klinische Stichprobe ergab neun Betroffene pro 1.000 Einwohner. In der Studie waren 80 Prozent der Betroffenen Männer. Generell ist jedoch umstritten, ob mehr Männer oder Frauen betroffen sind. Behandelt werden eher Frauen, was daran liegen kann, dass sich Frauen eher Hilfe suchen. Experten gehen davon aus, dass etwa fünf Prozent aller entdeckten Ladendiebstähle von Kleptomanen begangen werden. Dr. Antje Bohne hat zuletzt in Münster eine Ambulanz für Impulskontrollstörungen geleitet. In zahlreichen Forschungsprojekten hat sie sich mit dem Themenkreis beschäftigt, so auch mit Kleptomanie. Die Psychologin beschreibt die mögliche Dunkelziffer: „Kleindiebstähle werden nicht unbedingt bemerkt, und Betroffene und Justiz wissen in manchen Fällen möglicherweise nicht, dass Diebstahl auf eine psychische Erkrankung zurückgehen kann.“ *Name von der Redaktion geändert Die Kleptomanie, also der unbezwingbare Drang zu stehlen, kann in jedem Lebensalter erstmals auftreten. Der Impuls ist sehr unterschiedlich ausgeprägt und hängt unter anderem von der aktuellen Lebenssituation ab. So können Betroffene den Drang zu stehlen mehrmals täglich oder wöchentlich verspüren. Es ist aber auch möglich, dass der Impuls nur episodisch auftritt und Phasen ohne jeglichen Stehldrang folgen. Gestohlen werden üblicherweise nutzlose Dinge, die hinterher weggeworfen, versteckt oder verschenkt werden. Jochen Wyss gibt ein Beispiel: „Man steckt die Illustrierte in die Tageszeitung, geht aus dem Laden und schmeißt die Illustrierte in den nächsten Mülleimer.“ Schwierige Situationen erhöhen den Druck Sowohl privat als auch beruflich können schwierige Situationen entstehen, die schwer oder gar nicht lösbar erscheinen. Bei von Kleptomanie Betroffenen können solche Situationen den Drang zu stehlen auslösen. Die Sozialpädagogin Bärbel Marbach-Kliem leitet in Augsburg beim Sozialdienst katholischer Frauen die Beratungsstelle für Frauen und betreut auch eine Kleptomanie-Selbsthilfegruppe. „Das Stehlen hängt immer mit einer speziellen Situation zusammen“, sagt sie. „Die Betroffenen können sie nicht bewältigen, und das Stehlen dient als Ventil, um Druck loszuwerden.“ Therapie Das Stehlen geht auf einen unwiderstehlichen Impuls zurück. Vor dem Stehlen kommt es zu einem Spannungsanstieg, nachher zu einem Spannungsabfall. Marbach-Kliem beschreibt diesen Effekt: „Die Betroffenen fühlen sich sehr minderwertig. Werden sie nicht erwischt, haben sie einen kurzen Kick: ‚Ich habs geschafft!’ Danach folgt aber immer der Katzenjammer, und die Realität holt sie ein. Werden sie erwischt, bricht eine Welt zusammen. Das äußert sich meist auch körperlich, zum Beispiel durch Zittern. Und sie schämen sich sehr. Manchmal haben sie sogar Sehnsucht nach dem Gefängnis, weil man dort nicht stehlen kann.“ Wege aus der Kleptomanie Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Kleptomanie zu therapieren. Die Meinungen über die Wirksamkeit der Therapien gehen auseinander. Jochen Wyss empfiehlt, nicht mehr allein einkaufen zu gehen. „Es hilft, dem Betroffenen auf die Finger zu gucken. Und man muss lernen, den Druck unter Kontrolle zu halten. Bis zu einem dreiviertel Jahr muss jemand mit einkaufen gehen, zumindest wenn vor dem Einkaufen Druck aufgebaut war – nach bösen Erlebnissen zum Beispiel.“ Er betont: „Der Kampf ist nervenaufreibend, man muss einen sehr starken Willen haben.“ Er hat dabei die Perspektive im Blick: „Wenn man klaut, verliert man oft alles, Wohnung, Partner, Arbeit, weil man ins Gefängnis muss.“ Dr. Antje Bohne berichtet, dass zur Behandlung sowohl Medikamente als auch psychotherapeutische Methoden eingesetzt werden können. Leider stehen kontrollierte Studien noch aus. Gemeinsam mit dem Psychologen Dr. Stephan Stevens aus Gießen hat sie 7 ein „Teufelskreismodell“ entwickelt: Ein Spannungsgefühl führt zum Stehldrang, dieser führt zum Stehlen. Negative Konsequenzen folgen, die wiederum ein Spannungsgefühl auslösen, wodurch der Kreis geschlossen wird. Die beiden Experten entwickelten aus diesem Modell einen komplexen Behandlungsplan. Er umfasst viele Teilschritte, die von Selbstbeobachtungsprotokollen über Handlungskontrolltraining (wie begleitetes Einkaufen) bis zu Entspannungs- und Stressmanagementtraining sowie Rückfallvorbeugung reichen. Für die Frauen der Augsburger Selbsthilfegruppe ist die Kombination von Selbsthilfegruppe und Einzeltherapie eine große Hilfe. Aufgrund eines schlechten Selbstbildes schämen sie sich und empfinden sich gewöhnlich als schlechte Menschen und als „nicht normal“. Daher erleichtert es sie sehr, mit Gleichgesinnten zu sprechen. Die Therapie hilft ihnen, Ursachen zu bearbeiten. Die betroffenen Frauen weisen darauf hin, dass in der Kindheit Pro blemlösungsstrategien gelernt und geprägt werden. Sie gehen also davon aus, dass die Kindheit einen Einfluss auf die Entwicklung einer Kleptomanie hat. Auch ihnen hilft es, wenn sie jemand in Phasen großer Anspannung beim Einkaufen begleitet. Ob Kleptomanie heilbar ist, können die Frauen aus der Augsburger Selbsthilfegruppe nicht sagen. Auch nach Jahren ohne Rückfall haben sie immer noch Angst davor, falls etwas Außergewöhnliches passiert. Sie bestätigen, was Jochen Wyss abschließend sagt: „Wenn man darüber redet, therapiert man sich selbst.“ Text: Daniela Böhle, Fotos: Damian Zimmermann 8 Therapie Irgendwo im Niemandsland Die Welt dreht sich weiter, aber das Leben steht still. Wer unter schwerem Gedächtnisverlust leidet, braucht Unterstützung und Beistand „Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf irgendeiner Bühne und sollen irgendein Stück mitspielen. Es gibt kein Drehbuch, Sie wissen nicht, worum es geht. Aber Sie müssen mitspielen …“ Was wie ein schlechter Traum klingt, wurde für Manfred Braun (60) zur bitteren Wahrheit. In seinen Aufzeichnungen „Innenansicht einer Amnesie“ beschreibt er beeindruckend, was ihm 1971 passierte. Ein Autounfall in Paris stellte sein Leben auf den Kopf. Nach einer Gehirnquetschung lag er einen Monat lang im Koma. Manfred Braun konnte sich an nichts erinnern – weder an die Vergangenheit noch an die Gegenwart. Seine Identität war wie vom Erdboden verschluckt. Diagnose: Totalamnesie. Eine Amnesie (Gedächtnisstörung) ist der Verlust einer zeitlichen und inhaltlichen Erinnerung. Die Ursachen können unterschiedlich sein: ein Schädelhirntrauma, ein Herzinfarkt, ein epileptischer Anfall, ein Hirntumor, ein psychisches Trauma, eine Vergiftung, eine Hirnhautentzündung oder Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch. Schwere Kopfverletzungen sind die häufigste Ursache. Bei einer Gehirnblutung setzt die Sauerstoff- und Nährstoffzufuhr in bestimmten Hirnregionen aus. Schon nach wenigen Minuten sterben Nervenzellen ab. Sind es Areale, die für die Gedächtnisbildung oder Erinnerung zuständig sind, kommt es zur Amnesie. Erinnerungsinseln im Hirn wie Eisschollen auf dem Meer Professor Hans Joachim Markowitsch ist Gedächtnisforscher und Neurowissenschaftler am Zentrum für Physiologische Psychologie der Universität Bielefeld. „Gedächtnis ist nicht gleich Gedächtnis. Es gibt unterschiedliche Systeme“, erklärt er. Entsprechend zahlreich sind auch die Formen einer möglichen Störung. Die Gedächtnissysteme sind verschiedenen Neuronetzen zugeordnet. „Nach Hirnschäden ist das bewusste Gedächtnis beein- Der Experte Hans Joachim Markowitsch (62) ist Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld und Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsgebieten zählen unter anderem das Gedächtnis und Gedächtnisstörungen. trächtigt, das unbewusste läuft meist normal weiter“, sagt Experte Markowitsch. Beim bewussten Gedächtnis handelt es sich in erster Linie um Fakten (Wissenssystem), persönliche Erlebnisse und emotionale Erinnerungen (episodisches Gedächtnissystem). Das unbewusste Gedächtnis speichert automatisch ablaufende Programme, etwa Rad fahren, Klavier spielen oder schwimmen. Markowitsch gibt ein Beispiel: „Was müssen Sie beim Autofahren zuerst tun, wenn Sie vom zweiten in den dritten Gang schalten müssen? Die meisten Leute antworten: Kupplung drücken. Obwohl man zuerst mit dem rechten Fuß vom Gaspedal muss.“ In den meisten Fällen ist bei der Amnesie das Langzeitgedächtnis betroffen. Häufig werden Amnesiepatienten mit Demenzpatienten verwechselt. Bei einer Alzheimerdemenz aber kommt das Vergessen schleichend und unwiderruflich, während eine Amnesie meist vorübergehend ist und der Intellekt unverändert erhalten bleiben kann. Außen erwachsen – innerlich ein Kleinkind Manfred Braun traf es besonders hart. Sowohl das Langzeit- als auch das Kurzzeitgedächtnis waren betroffen. Als er aus dem Koma erwachte, kannte er weder sein Therapie Spiegelbild noch die Mutter, Schwester und Freundin. Nur bruchstückhaft erinnerte er sich an seine Kindheit. „Meine Schwester kannte ich nur als Mädchen mit Kniestrümpfen – und nun stand sie vor mir als erwachsene Frau“, erzählt Manfred Braun. „Bei der kleinsten Ablenkung verschwand das aktuelle Bild im Kopf wie bei einer Zaubertafel für Kinder.“ Was der damals 20-jährige Abiturient erlebte, ist nur schwer vorstellbar. „Ich musste den Unterschied zwischen Merken, Fühlen und Schmerz neu erfahren. Es war, als hätte man mir die Batterie herausgenommen“, berichtet er. Sonst Alltägliches wie Schuhe zubinden, den Rasierapparat benutzen und Kaffee zubereiten wurde zur Herausforderung. Noch Jahre später litt Braun unter Sehstörungen. Auch das Gespür für Takt, Anstand, Ernst und Ironie musste neu austariert werden. Besonders schwer war der Verlust sozialer Kontakte. „Man ist sozial beziehungsunfähig, traut sich selbst nicht über den Weg – das spiegelt sich in den anderen.“ Beziehungen gingen kaputt, doch seine Schwester blieb. Erst einmal glauben, wer man selbst ist Eine Odyssee begann: Nach dem Krankenhausaufenthalt in Paris kam er in Deutschland in eine geschlossene psychiatrische Abteilung. Eine spezielle Behandlung und Rehabilitation gab es damals nicht. Zu gering war das Wissen über das Krankheits- 9 bild der Amnesie. Und auch heute noch sind die unterschiedlichen Formen zu wenig bekannt. Das beklagt auch Professor Markowitsch: „Es gibt keine Lobby für Betroffene. Man traut ihnen meistens nicht zu, dass sie sich wieder funktionell erholen können.“ Der Experte plädiert für mehr materielle Unterstützung, damit auch lange Rehabilitationsphasen gewährleistet sind. Braun trainierte damals aus eigener Kraft seinen Geist. Er schaffte sich Lehrbücher an und erinnerte sich Stück für Stück an sein bisheriges Wissen. Manfred Braun gab Nachhilfe und vertiefte dadurch eigene Kenntnisse. „Langsam kam wieder Leben in meine Erinnerungen. Informationen und Erfahrungen vernetzten und ergänzten sich“, beschreibt Braun den Prozess. Der 10 Therapie Das Gehirn: die komplexe Schaltzentrale Erfolg spricht für sich: Zehn Jahre nach dem Unfall hielt er sein Maschinenbau-Diplom in den Händen. Wieder an Deck Was Braun aus eigener Kraft schaffte, kann heute durch verbesserte Diagnostik und Therapie erreicht werden. Markowitsch spricht von einer „Profilbildung“, die eine Hirntomografie und neuropsychologische Untersuchungen umfasst. Neben der Testung von Kurz- und Langzeitgedächtnis werden zum Beispiel auch die Sprachfunktion, Intelligenz, Konzentrations- und Merkfähigkeit, Handlungs- und Planungsfähigkeit sowie die Bereiche der Emotion und Motivation untersucht. Die Therapien sind individuell. „Nach einer Stabilisierung der Persönlichkeit und des Selbstwertgefühls kann eine Kombination von Psychotherapie, Hirnleistungstraining und Ergotherapie sinnvoll sein“, so der Professor. Bewährt habe sich das MEMO-Programm, ein alltagspraktisches und motivationsförderndes Gedächtnistraining. Die Heilungschancen sind unterschiedlich und abhängig von der Art der Hirnschädigung, dem Alter der Patienten, der Bildung und der eigenen Motivation. Manfred Braun hat es geschafft, auch wenn seine Konzentration oder die Feinmotorik ihm ab und zu noch einen Strich durch die Rechnung machen. „Mein Leben ist mir im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden. Wer zum Licht hin schaut, hat die Schatten hinter sich“, zieht er Bilanz. Text: Britta Ellerkamp Fotos: Mascha Lohe Das Gehirn ist ein hoch komplexes Netzwerk von Milliarden Nervenzellen. Es bildet das Zentrum unserer geistigen und seelischen Fähigkeiten und bestimmt das Denken, Fühlen, Erinnern und Handeln. Die Verbindung der Nervenzellen läuft über Synapsen, so werden Informationen weitergegeben. Das Gehirn besteht aus vier Bereichen: dem Großhirn (Sehen, Sprechen und Denken), dem Zwischenhirn (Koordination des Körpers), dem Kleinhirn (vegetatives Nervensystem) und dem Stammhirn (Reflexe wie Atmung oder Herzschlag). Die Gehirnforschung (Neurowissenschaft) beschäftigt sich mit dem Verstehen von Gedächtnisfunktionen und der Verknüpfung der Hirntätigkeit mit unseren Gefühlen, unserer Wahrnehmung und unserem Denken. In der Hirnforschung spielen aufgrund der Kom plexität Fachgebiete der Medizin, Biologie, Psychologie und Informatik eine wichtige Rolle. Ges u n d b l e i ben 11 ten zusammenfasst, die durch ungewohnte oder ungünstige Belastungen des Armes entstehen können. Dazu gehören Sehnenscheidenentzündungen und Verschleißerkrankungen an Gelenken oder Wirbelsäule, bei denen Nerven geschädigt werden und in deren Folge Schmerzen entstehen können. Wenn der Ellenbogen streikt Nicht nur Tennisspieler leiden am Tennisarm – auch die PC-Maus verursacht Beschwerden War es früher das Spiel mit der Filzkugel, das den Tennisarm auslöste, ist es heute eher die Arbeit mit der PC-Maus. Eine Überbelastung der Muskulatur in Hand und Unterarm ist die Ursache für die lang anhaltenden Schmerzen. Daher wird der Tennisarm heute auch als Mausarm bezeichnet. Die Erkrankung entsteht durch monotone und immer wiederkehrende, annähernd gleiche Armbewegungen. Wer im Sport oder in der täglichen Arbeit dazu „verdammt“ ist, immer eine ähn liche Bewegung auszuführen, läuft schnell Gefahr, an einer Überbelastung zu erkranken. Hierdurch entstehen sogenannte muskuläre Dysbalancen, die mit verstärkten Muskelverkürzungen und Muskelabschwächungen einhergehen. Gerade die feinen, punktgenauen Bewegungen mit der PCMaus können leicht zu Verkrampfungen an Hand und Unterarm führen. Wichtig ist, zu vermeiden, dass die Beschwerden chronisch werden. Auch Vorbeugung ist möglich. Pausen und Bewegung, genauso wie ein ergonomischer Arbeitsplatz und gerade gehaltene Handgelenke durch eine Handballenauflage vor der Tastatur und dem Maus pad sind wichtige Utensilien, die an keinem PC-Arbeitsplatz fehlen sollten. Der Arm sollte entspannt aufliegen und immer wieder durch Dehnübungen verwöhnt werden. Therapiemöglichkeiten gibt es sowohl aus „Tennisarm“ (Epicondylitis humeri radialis) ist die Bezeichnung für Schmerzsyndrome mit sport- als auch aus arbeitsmedizinischer degenerativen oder entzündlichen Veränderungen an den Sehnen der Außenseite des Sicht. Wichtig sind Dehnübungen für Arm Oberarmknochens (Humerus). Es handelt sich um eine Entzündung bestimmter Sehnenan- und Hand, eine Haltungsschulung und Kräfsätze am Ellenbogen und der Knochenhaut. tigungsübungen für die Brust- und Schultermuskulatur. Neben einer medizinischen Falls es zu dieser Entzündung kommt, ist es wichtig, den Arm zu schonen. Bei akuten Therapie kommen häufig Massagen, GipsSchmerzen erfolgt durch Kühlung eine Linderung, während bei chronischen Schmerzen schienen, Ultraschallanwendungen und Wärme die Abheilung fördert. Bei ausgedehnten Symptomen werden Ellenbogen und eine Wärme- oder Kältetherapie zum EinHandgelenk für einige Wochen durch einen Verband ruhig gestellt. Neben Massagen und satz. Ganz ausgeschlossen werden kann Mikrowellenanwendung wird auch eine medikamentöse Behandlung mit schmerzstillen- eine operative Behandlung nicht, wenn den und entzündungshemmenden Mitteln empfohlen. Von einem Tennisarm betroffen sind chronische Schmerzen durch eine konserinzwischen mehr Nichtsportler als Sportler, insbesondere Erwachsene im Alter zwischen vative Therapie nicht beseitigt werden kön35 und 50 Jahren. nen. Aber: Wer seine Armmuskulatur stetig kräftigt und entsprechende HaltungsgrundMonotonie macht krank sätze beachtet, kann auf Dauer ernsthafte Streng genommen ist der Maus- oder Tennisarm an sich keine Erkrankung oder Verlet- Beschwerden vermeiden. Text: Georg Beuke zung. Er ist vielmehr eine Schädigung des Bewegungsapparates, die begrifflich Krankhei- 12 Im B l i c k Neugierde und Nervenkitzel Sensationslust steckt in jedem Menschen. TV-Sendungen bedienen sie in einem geschützten Raum. In der realen Welt wird der Schaulustige schnell zum Mitfühlenden Gleich ist es so weit. Der Sänger, der auf der Bühne mit viel Licht, Tänzerinnen und Effekten in Szene gesetzt wurde, nähert sich dem akustischen Ende seines Vortrages. Das bedeutet auch: Dieter Bohlen, Juror in der Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS), wird seine Meinung kundtun. Millionen Zuschauer vor den Fernsehbildschirmen warten gespannt. „Dabei sind sie nicht unbedingt ein Fan des Künstlers, sondern vielmehr daran interessiert, zu sehen, wie der Mensch vorgeführt wird“, erklärt Dr. Sonja Ganguin, Medienwissenschaftlerin an der Universität Paderborn. Dies hängt mit einem anthropologischen Grundbedürfnis des Menschen zusammen: der Sensationslust. Das Phänomen ist uralt ... Der Begriff Sensationslust leitet sich aus dem lateinischen Wort „sensus“ ab, was so viel wie „wahrnehmen“ bedeutet. „Sensationslust“, sagt Sonja Ganguin, „wird durch Dinge geweckt, die wir nicht erwartet haben. Es macht uns Spaß, Leute zu bestaunen. Dies ist zu erklären mit der Stabilisierung des eigenen Ichs, denn man vergleicht und sieht, dass es anderen schlechter geht als einem selbst.“ Die Wahrnehmung der Menschen werde in den TV-Shows bewusst auf ein aufsehenerregendes Ereignis gelenkt. Dieses Phänomen gab es bereits in der Antike bei Olympischen Spielen oder Gladiatorenkämpfen. Auf Jahrmärkten etwa wurden Menschen mit Missbildungen „vorgeführt“. Durch die offensichtliche Benachteiligung dieser Personen vergewisserte man sich seiner selbst. Bis heute ist dieses Empfinden geblieben. Wir sind umzingelt Sich der Sensationslust zu entziehen, wird immer schwieriger. Nicht zuletzt, weil wir von Medien und medialen Eindrücken geradezu umzingelt sind. „Private TV-Sender inszenie- ren Ereignisse mit bestimmten Strategien“, erklärt Sonja Ganguin. Dazu gehören Emotionen, Skurrilitäten, Tabubrüche. Mit der Gesellschaft verändern sich diese Komponenten. Eine nackte Frauenbrust im Nachmittagsprogramm errege heute kaum noch Aufsehen. Würde dagegen eine Werbung die heutige Frau einzig auf ihre Rolle als Hausfrau reduzieren, die nur ans Putzen und Kochen denke, wäre die Empörung hingegen groß, vermutet die Expertin. Eine Die Expertin Die Medienwissenschaftlerin der Universität Paderborn Dr. Sonja Ganguin (32) hat sich auf den Lehrbereich Medienpädagogik und empirische Medienfor- schung spezialisiert. Sie ist Mitherausgeberin der Publikation „Sensationen, Skurrilitäten und Tabus in den Medien“, die im VS Verlag für Sozialwissenschaften erschienen ist. Im B l i c k Wahrnehmung, die sich in den vergangenen 60 Jahren in ihr komplettes Gegenteil verkehrt hat. Die Emotion ist bei jeglicher Sensationslust ein wesentlicher Aspekt. Bei Fernsehformaten wie DSDS, „Germany’s next Topmodel“ oder dem „Dschungelcamp“ setzen die Produzenten und Regisseure auf einen emotio nalen Rahmen, weil sie wissen, dass der Zuschauer auf diese Weise Informationen besser behält. Die Sendungen sind darauf ausgelegt, dass sich die Zuschauer an den Teilnehmern erfreuen, mitfiebern und darüber reden. „Die einzige Möglichkeit, hier gegen die Sensationslust anzugehen, ist, das Format nicht zu schauen“, sagt Sonja Ganguin. Doch für viele ist das Wohnzimmer ein geschützter Raum. Der Bildschirm schafft Distanz. Der Zuschauer selbst ist unbeobachtet und kann sich seiner Sensationslust hingeben. Im Ernstfall wahrt der Mensch Distanz Dieses Verhalten ändert sich, wenn aus der virtuellen eine reale Situation wird. „Die Gefahr ist eine andere“, erklärt Sonja Ganguin. Man sei dann zwar neugierig, aber versuche, eine gewisse Distanz immer zu wahren. Mario Hell* ist einer, der diese Distanz immer wieder überwindet. Der Pressefotograf hält insbesondere Ereignisse wie Unfälle, Brände oder Hochwasser bildlich fest. Verschiedene Medien kaufen sein Material. Nahezu ohne Unterlass ist er unterwegs, um mit als Erster am Geschehensort zu sein. Ein „knallhartes Geschäft“ sei das manchmal. Gute Kontakte zu verschiedenen Behörden erleichtern ihm das Alltagsgeschäft. Er wird über Unfälle informiert, kommt problemlos durch Absperrungen – viele Beamte kennen ihn bereits. Die Einsatzbereitschaft, Unglücksfälle bildlich festzuhalten, bringt nicht jeder Pressefotograf mit. Und doch sind es scheinbar *Name von der Redaktion geändert 13 diese Bilder, die bei den Lesern großes Interesse hervorrufen. „Die Mischung aus Information und dem Stillen der eigenen Neugier“, vermutet Mario Hell, bestimmten die Reaktion des Betrachters. Es ist eine Beobachtung, die Sonja Ganguin bestätigt. „Ein Bild vermittelt eine Information, es wird darüber geredet, ein Diskurs entsteht und darüber die Sensationslust, was dazu führt, dass der Betrachter immer mehr Informationen erhalten möchte.“ Dass mittlerweile auch seriöse Medien Bilder von großen Unfällen veröffentlichen, hängt mit der Informationsflut zusammen. Die Expertin erklärt: „Um mehr Aufmerksamkeit zu erreichen, müssen Medien immer mehr machen, damit sie aus der Flut ausbrechen und auffallen.“ Mitgefühl bleibt Es ist keine Sensationslust, die Mario Hell zu den Unfallorten führt, sondern vielmehr sein Beruf. Bis heute empfindet er Mitgefühl, wenn er Schwerverletzte sieht. „Da bleibt die Kamera auch mal ausgeschaltet“, sagt er. Eine gewisse Privatsphäre der Involvierten wolle er wahren. An den Unfallorten trifft Mario Hell häufig auf Menschen, die durch Zufall von dem Unglück erfahren haben. „Bei Bränden oder Tötungsdelikten gibt es meist eine kleinere Gruppe von Anwohnern, die sich um das Absperrband der Polizei versammelt haben“, berichtet er. Die Arbeit der Einsatzkräfte beeinträchtigten sie meist nicht. Vielmehr zeige sich in den Gesichtern der Schaulustigen Entsetzen und Mitgefühl für die Opfer. Ähnlich sei es bei Unfällen auf Straßen und Autobahnen. Fahrer werden langsamer, werfen einen Blick auf die Szenerie, und es geschehen in ihnen zwei Dinge: Das Grundbedürfnis Sensationslust wird befriedigt, und sie beantworten sich selbst die Frage, ob Hilfe benötigt wird. „Eine gewisse Neugier“, sagt Sonja Ganguin, „steckt in jedem Menschen – und die ist nicht verwerflich.“ Text: Elisa Zander/Manuela Wetzel, Fotos: Klaus Wohlmann 14 Titel Typisch Mann – Typisch Frau? Die Geschlechterrollen sind in Bewegung. Besonders die heutige Generation der Jungen und Mädchen definiert die Rollen neu. „Bei Mädchen sind die Anforderungen in Schule und Ausbildung gestiegen, Jungen machen sich vermehrt Gedanken um Körper und Aussehen.“ So resümiert der Soziologe Dr. Klaus Hurrelmann, langjähriger Professor der Universität Bielefeld, seine Auswertung der Anrufe von Ratsuchenden beim anonymen Kinder- und Jugendtelefon „Nummer gegen Kummer“ zwischen 2000 und 2009. Machos sind out Dass überhaupt 40 Prozent der Jungen zum Hörer greifen und Rat suchen hält Hurrelmann für bedeutend, denn „Rat und Hilfe zu suchen ist traditionell unmännlich.“ Bei jungen Männern macht sich mangels fehlender Vorbilder für die neue Männlichkeit eine große Unsicherheit breit: Nicht Macho und nicht weiblich sollen sie sein. Mädchen haben dagegen die typisch männlichen Eigenschaften wie Stärke, Durchsetzungskraft und Leistung angenommen. Doch sind die Erwartungen an junge Frauen heute äußerst hoch: Super-Job, Super-Mami und dabei gut aussehen! In der Schule geht’s los Sind Mädchen und Jungen unterschiedlich begabt oder spielen soziale Faktoren eine Rolle bei den Schulleistungen? Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen nehmen im Laufe der Bildungskarriere zu. Dass diese durch geschlechtsspezifische Vorurteile beeinflusst werden, zeigt eine OECD-Studie auf Basis der PISA-Erhebungen von 2006. So erzielen in der Grundschule beide Geschlechter fast die gleichen Ergebnisse in Mathematik; unter 15-Jährigen allerdings schneiden die Jungen besser ab, obwohl Mädchen im „Problemlösen“ gleich stark sind. Beim Lesen haben Mädchen zwar von Beginn an die Nase vorn, jedoch verstärkt sich dieser Unterschied noch in der weiteren Schullaufbahn. Laut Experten sind diese Unterschiede deshalb eher auf Stereotype von Eltern und Lehrern zurückzuführen als auf eine unterschiedliche Begabung von Mädchen und Jungen. Insgesamt machen seit den 1990er-Jahren mehr Mädchen als Jungen das Abitur. 56 Prozent der Hochschulabsolventen sind Frauen. Doch wie sieht es danach im Berufsleben aus? Titel 15 16 Titel Frauenquote & Co. Obwohl Frauen Männer bei Schul- und Studienabschlüssen mittlerweile überholt haben, sind Frauen in Führungspositionen immer noch rar, ungleiche Gehälter für gleiche Arbeit weit verbreitet. Im Schnitt verdienen Männer nach einer Online-Befragung des LohnSpiegel.de in Führungspositionen etwa 1.000 Euro mehr als ihre Kolleginnen. Über alle Berufsgruppen hinweg beträgt die Differenz derzeit 23 Prozent des Bruttogehalts. Dass hier noch viel zu tun ist, hat auch die Politik erkannt. So das Ergebnis der Ende Juni vorgestellten vierten Bilanz der Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern zwischen der Bundesregierung und der Privatwirtschaft. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen fordert, die Frauenquote für Großkonzerne gesetzlich festzulegen. Nach zehn Jahren fruchtloser Lippenbekenntnisse und einem bisher noch blamablen Frauenanteil von drei Prozent in den Vorständen der 200 größten deutschen Unternehmen, brauche es echte Ziele und Zeitleisten. Die Einführung der Quote bis 2017 verlangen ebenfalls die Frauen- und Gleichstellungsminister der Länder. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnet den derzeitigen Zustand zwar als „ziemlichen Skandal“, spricht sich aber gegen die Quote aus. Eine einheitliche Frauenquote lehnen zudem sowohl die Wirtschaftsverbände als auch das Bundesfamilienministerium ab. Familienministerin Dr. Kristina Schröder setzt auf die eher moderate Lösung eines Stufenplans, der gesetzlich eine auf die Unternehmen zugeschnittene Selbstverpflichtung festlegt, deren Ziele bis 2013 erreicht sein müssen. Ab 2015 soll es von EU-Seite aus eine 30-prozentige Frauenquote für die Besetzung von Aufsichtsräten geben. Bisher sind nur in sechs der 30 Dax-Unternehmen Frauen im Vorstand. Vorreiter ist hier die Deutsche Telekom, bei der drei von sieben Vorstandsposten mit Frauen besetzt sind. „Mit mehr Frauen an der Spitze werden wir einfach besser“, denn Frauen bringen „neue Denkweisen und Handlungsmethoden mit“, begründet Telekom-Chef René Obermann die Entscheidung für die weiblichen Vorstandsmitglieder. Karriere oder Kind? Die Mehrheit der Frauen in Deutschland ist für die Einführung der Frauenquote in Führungsetagen der Wirtschaft, das ergab eine Befragung des Forschungsinstituts YouGov. Spätestens wenn Kinder im Spiel sind, stoßen Frauen ganz schnell an Grenzen der Vereinbarkeit. „Beim Thema Kind geraten Frauen heutzutage in eine Planungsfalle. Es wird von ihnen erwartet, Mutterschaft möglichst unauffällig und effizient neben Bildung und Beruf zu organisieren“, erklärt die Soziologin Dr. Elisabeth Beck-Gernsheim, langjährige Professorin an der Universität Erlangen-Nürnberg, das Dilemma. Denn Anwesenheitswahn oder familienfeindliche Arbeitszeiten sind im Berufsleben die Grundpfeiler einer männlich geprägten Unternehmenskultur. Die Hamburger Karriereberaterin Svenja Hofert weiß: „Die Grundüberzeugungen mancher Karriereherrscher sind frauenkarrierefeindlich.“ Die Quote sei deshalb notwendig, um einen Kulturbruch in den Unternehmen zu erzwingen. Neue Väter braucht das Land Aber nicht nur in den Unternehmen geraten Rollenklischees langsam ins Wanken, sondern auch im privaten Bereich werden die Geschlechterverhältnisse in der Partnerschaft neu definiert. Der 35-jährige Kain Victor, Controller in einer Bankenzentrale, genießt gerade seine achtmonatige Elternzeit mit seiner Freundin und der kleinen Linea. Was bedeutet für ihn die Möglichkeit, Elternzeit zu nehmen? „Ohne Elternzeit hätte ich nicht all diese ersten Momente mit meiner Tochter erleben können und hätte nicht die Chance, eine so intensive Bindung zu ihr aufzubauen“, erklärt Victor. Mit dieser Einstellung ist er nicht allein. Immer mehr Väter nehmen mittlerweile Elternzeit in Anspruch. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nahm sich 2009 jeder vierte Vater eine berufliche Auszeit für den Nachwuchs. Geschlechterrollen neu aufgerollt „Erst mit einer positiven gesellschaftlichen Anerkennung und Wertschätzung gewinnen neue Rollen von Männern und Frauen mit einer veränderten Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit in der Gesellschaft Vorbildcharakter“, heißt es im ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung „Neue Wege – gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf“, der Ende Juni vorgestellt wurde. Ziele für eine geschlechtergerechte Politik sind demnach gleiche Chancen für Männer und Frauen in allen Phasen des Lebensverlaufs. Konkret meint das: Beschäftigungsfähigkeit durch Ausbildungssicherung, gleiche Anerkennung im Beruf und Lohngleichheit, Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Kinderbetreuungsstrukturen, Erziehung und Pflege, flexible Arbeitszeiten und flexibilisierte Erwerbsverläufe. Die Nutzung der Optionen soll keinen Nachteil in der Alterssicherung mit sich bringen. Nicht zuletzt drehen in Zukunft demografischer Wandel und damit einhergehender Fachkräftemangel am Geschlechterkarussell. Text: Jacqueline Maria Rompf Fotos Titel insgesamt: Barbara Bechtloff Titel Den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung gibt es auf den Internetseiten des Bundesfamilien ministeriums zum Download: www.bm fs fj.de 17 18 Titel Allein unter Frauen Marc-Oliver Schlichtmann (35) ist es gewohnt, allein unter Frauen zu sein. Schon in der Schule machte ihn sein Sprachtalent zum Hahn im Korb in den Leistungskursen Englisch und Französisch. Auch als Deutschlands „Sekretär des Jahres 2008“ war er der einzige Mann unter 500 Bewerberinnen um den begehrten Titel, der von dem Büroausstatter Leitz jährlich als Wettbewerb ausgeschrieben wird. schen in solche Schubladen zu stecken.“ Jeder und jede solle das tun, was den Fähigkeiten am besten entspreche, meint das Sprachund Organisationstalent. Er weiß aber, dass es noch nicht in allen Köpfen angekommen ist, jeden nach seiner Fasson glücklich werden zu lassen. Als er Ende der 1990er-Jahre nach der Ausbildung auf Stellensuche ging, begegnete ihm schon der eine oder andere Chef – „meist ein älterer Herr“ –, der sich partout nicht vorstellen mochte, in seinem Vorzimmer einen Mann zu postieren. Die Gesellschaft muss umdenken Laut Statistik sollen es immerhin zwei Prozent Männer sein, die den typischen Frauenberuf „Sekretärin“ ausüben. „Selbst das kann ich nicht glauben, mir begegnen kaum andere Männer in meiner Funktion“, sagt Schlichtmann. Er muss es wissen, engagiert er sich doch auch im internationalen Bundesverband European Management Assistants, gibt Seminare und schreibt Fachartikel. Bei einigen Absagen sei schon sehr deutlich gewesen, dass es nicht die Qualifikation gewesen sei, die die Einstellung verhindert habe, erinnert sich Schlichtmann. Auch heute gibt es ab und zu noch ein verwundertes „Oh, ich wollte eigentlich das Sekretariat“, wenn er sich mit sonorer Stimme am Telefon meldet. „Aber es lässt nach“, lacht er. Er selbst hat vor 13 Jahren keinen Gedanken daran verschwendet, dass er sich einen „typischen Frauenberuf“ aussuchte, als er nach dem Abitur die Ausbildung zum „Kaufmännischen Assistenten für das fremdsprachliche Sekretariat“ begann. Seine Mutter arbeitete erfolgreich als Sekretärin. Daher wusste Schlichtmann schon recht gut, wie man in dem Job Karriere machen kann. Denn das war ihm wichtig. Die Familie legte ihm keine Steine in den Weg, und auch im Freundeskreis gab es viel Zuspruch. „Die kannten mich und wussten um meine Talente“, erklärt Schlichtmann. Heute sitzt er im Vorzimmer einer international führenden Wirtschaftskanzlei in Hamburg und arbeitet dort für den Niederlassungsleiter. Gesellschaftlichen Nachholbedarf sieht Schlichtmann aber durchaus. „Der Blick richtet sich zu sehr auf ‚die armen Frauen’ in Männerberufen“, meint er. Dabei stoßen Männer in Frauenberufen, etwa als Florist, Kosmetiker oder Erzieher, immer noch auf Skepsis. Als Folge seines Titels „Sekretär des Jahres“ lernte er einige Männer in diesen Berufen und ihre Probleme kennen. Er selbst ist sehr froh, dass er in seinem direkten Umfeld nur auf positives Echo stößt. Mit seinen Kolleginnen hat er nie Probleme gehabt: „Den berüchtigten Zickenterror habe ich jedenfalls noch nie erlebt.“ Weg mit den Klischees Einen „typischen Frauen- oder Männerberuf“ gibt es für Schlichtmann persönlich nicht. „Ich halte das für völlig antiquiert, Men- Nach aufreibenden Jahren in einem Job „von 9 bis 23 Uhr“ legt Schlichtmann inzwischen Wert auf ein wenig Privatleben. Und darauf, sich in seinem Berufsverband zu engagieren. „Das Image der Kaffee kochenden Büroperle ist genauso antiquiert wie die Idee, dass nur Frauen ein Büro managen können.“ Titel 19 Unterwegs in einer Männerdomäne Die Frage „Können Sie auch Reifen wechseln?“, hört Uschi Lennartz (56) häufiger. Aber weil auch männliche Kollegen selbstverständlich den Pannendienst in Anspruch nehmen, hat sie kein schlechtes Gewissen, zuzugeben: „nur theoretisch.“ Zum Wechseln selbst kommen eben Fachleute mit den nötigen Hilfsmitteln. „Die Reifen sind einfach zu schwer, das schafft auch ein Mann allein nicht.“ Seit 1986 ist Uschi Lennartz in großen Fahrzeugen unterwegs auf Europas Straßen. Zuerst als Truckerin im 40-Tonner, seit fünf Jahren nun in Reisebussen. Das Fahren an sich war immer ihre Leidenschaft. Lediglich der zunehmende Stress beim Be- und Entladen der Lkws machte ihr zu schaffen. „Die Atmosphäre ist im Bus natürlich eine ganz andere. Die Leute sind im Urlaub und deshalb meistens gut gelaunt.“ Die Branche wirbt um junge Frauen Die Berufskraftfahrerbranche ist immer noch fest in Männerhand. Das Statistische Bundesamt zählte 2009 im Mikrozensus 94,2 Prozent männliche Berufskraftfahrer. Allerdings bemüht sich die Branche verstärkt um weiblichen Nachwuchs. Die Kraftfahrer-Berufsverbände BGL (Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung) und SVG (Straßenverkehrsgenossenschaft) etwa haben eine gemeinsame Imagekampagne aufgelegt, mit der gezielt junge Frauen für die Branche geworben werden sollen. Für Uschi Lennartz war es keine Frage, sich in eine Männerdomäne vorzuwagen. Ihre erste Ausbildung absolvierte sie zwar als Einzelhandelskauffrau im Dekorationsgewerbe, „aber Kraftfahrerin war immer mein Traumberuf“, sagt sie. Irgendwann bot sich die Chance, den entsprechenden Führerschein zu machen. Sie griff sofort zu und hat es seither nie bereut. Der „kleine Unterschied“ spielt nur ganz selten eine Rolle Bei Freunden und der Familie stieß ihre Berufswahl auf positives Echo. Die Entscheidung, das geregelte Leben im Laden gegen die unregelmäßigen Arbeitszeiten auf dem Truck einzutauschen, fanden „die daheim“ gut und unterstützen sie noch heute. „Meinen Kater versorgen meine Eltern gern, wenn ich in Spanien, Portugal oder Frankreich unterwegs bin“, freut sie sich. Von ihren Fahrgästen hört sie manchmal ein erstauntes „Ach, eine Fahrerin?“ Aber spätestens, wenn sie die erste knifflige Situation souverän gemeistert hat, ist das Stirnrunzeln verschwunden. „Sie fahren sehr besonnen und sicher“, ist ein Kompliment, das sie oft zu hören bekommt. Die meisten Kollegen haben Uschi Lennartz von Anfang an akzeptiert, nur wenige waren zunächst ein bisschen skeptisch. Problematisch war, als sie noch Lkw fuhr, eher die mangelnde Hygiene in den Sanitäranlagen an den Raststätten. Im Reisebus – mit eigenem WC an Bord – spielt das nun keine Rolle mehr. Durchaus ein Problem ist jedoch das Familienleben, wie Uschi Lennartz im Kolleginnenkreis mitbekommt. Die Arbeitszeiten stellen eine Partnerschaft vor große Herausforderungen. Männer in „normalen Berufen“ haben auf Dauer nicht genug Verständnis: „Die Frauen der Kollegen scheinen da belastbarer zu sein“, meint die ledige Berufskraftfahrerin. Sie selbst genießt die knappe Freizeit daheim – und ihre Unabhängigkeit, die ihr erlaubt, auch spontan mehrtägige Fahrten zu übernehmen. Texte: Maria Meurer / Manuela Wetzel 20 Titel Spieglein, Spieglein an der Wand … Die Expertin Anja Kirig (34), Diplom-Politologin, Trendund Zukunftsforscherin am Zukunftsinstitut von Matthias Horx in Kelkheim, hat mit drei weiteren Autoren 2008 die „Männerstudie“ verfasst. Auch wenn immer noch die meisten Mädchen und Jungen in „typische“ Berufe drängen: Die traditionellen Geschlechterrollen lösen sich auf. Die Zukunftsforscherin Anja Kirig hat diesen Trend genauer untersucht. Frau Kirig, werden wir uns in 20 Jahren noch über eine Maurerin wundern? Wahrscheinlich nicht. Rollenmodelle und Rollenauffassung von Männern wie Frauen haben sich immer wieder maßgeblich verändert, etwa mit dem Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft, dem Wechsel von der feudalistischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Den wohl deutlichsten – und für unsere heutige Situation bedeutendsten – Schnitt haben in den letzten zwei Jahrhunderten die Frauen gemacht, die sich von dem bürgerlichen, auf Abhängigkeit beruhenden Frauenverständnis weitgehend emanzipiert haben. Bedeutet das, dass unsere Gesellschaft „weiblicher“ wird? Nein, die Sache ist komplizierter. Der Megatrend heißt „Individualisierung“. Er führt dazu, dass sich sowohl Männer als auch Frauen nicht mehr in Schubladen zwingen lassen wollen, auch nicht in eine Geschlechterkategorie. Die einst klassisch-weiblichen „K“-Domänen (Küche, Kinder und Konsum) werden von den neuen Männertypen nach und nach erobert, wie einst Frauen begannen, die männlichen Wirkungsfelder zu besetzen. So wie sich Frauen die letzten öffentlichen Plätze im Alltag einverleiben, so experimentieren die Männer mit „privaten“ Räumen. nen und Eliminieren männlicher Machtstrukturen oder die Dekonstruktion von Geschlecht, sondern um eine neue Vereinbarkeit der Geschlechter. Denn moderne Frauen haben das Kriegsbeil längst begraben. Sie wollen gar kein neues Schubladendenken, keine neuen Grabenkämpfe gegen das Patriarchat führen, sondern viel lieber gemeinsam mit den neuen Männern neue Wege gehen. „Neue Männer“ hat das Land also schon? Ja, zumindest die Vorstellung von dem, wie „neue Männer“ sind. Allerdings sind die Frauen den Männern voraus. Sie haben im Alltag den Prozess in Gang gesetzt, den man als Feminisierung der Kultur beschreiben kann. Seit die ersten Frauen auf die Barrikaden gingen und für ihre Rechte antraten, verändern sie nachhaltig die Gesellschaft mit ihren Werten, Vorstellungen und Normen. Und damit nicht zuletzt auch die Männer. Frauen überdenken, reflektieren und erfinden seit knapp zwei Jahrhunderten ihre Rolle als Frau ständig neu. Aber erst jetzt sind Männer wirklich gezwungen, ihre Geschlechterrolle zu ändern, wenn sie mit der neuen „Eva-lution“ mithalten wollen. Und es ist ja nicht so, dass sie nicht lernwillig oder wissbegierig sind: Haben sie erst mal erlebt, dass der neue ganzheitliche Lebensstil ihnen selbst, der Paar-Beziehung und dem Umfeld gut tut, werden sie quasi zu neuen Männern. Was bedeutet das für die Gesellschaft? Verlagert sich der „Kampf der Geschlechter“ nun ins Privatleben? Das sehe ich nicht so. Frauen sind längst weiter. Die klassische Arbeitsteilung hat völlig ausgedient. Männer wie Frauen entwickeln ständig neue Lebensmodelle und damit auch Geschlechteridenti täten. Morgens Vater, mittags Businesspartner und abends Genussmensch: Männern eröffnen sich ganz neue Chancen. Es geht nicht mehr vorrangig um „Gender Trouble“, um das Erken- Interview: Maria Meurer/Manuela Wetzel Titel 21 22 Medizin Kollege Roboter Die Robotermedizin ist auf dem Vormarsch. Sie kann helfen, wo besondere Präzision gefragt ist Surrend nähern sich die vier Arme des Roboters dem narkotisierten Patienten. Präzise arbeiten sie an der Entfernung eines bösartigen Tumors der Prostata. Zwei Meter neben dem Operationstisch steuert der Chirurg an einer Bedienkonsole mit Händen und Füßen den eigent lichen Roboter. Über fünf Pedale und zwei Handgriffe werden die Handbewegungen des Operateurs millimetergenau übertragen. Der Roboter wird zum „Komplizen“ des Mediziners: Der Mediziner steuert, der Roboter führt aus. Hightech an den Mann gebracht Was nach Science-Fiction klingt, ist in dem kleinen deutschen Städtchen Gronau nahe der niederländischen Grenze längst Alltag. Das „Prostata Zentrum Nordwest“ (PZNW) der St. Antonius-Hospital Gronau GmbH ist, gemessen an der Zahl computergestützter Eingriffe, weltweit federführend in der „da Vinci“-Technik, einem besonderen Verfahren der Robotermedizin. Mehr als 1.000 Patienten werden hier jährlich mithilfe der Robotertechnik operiert. Prostatakrebs ist bei Männern die häufigste Tumorerkrankung, etwa 60.000 Neuerkrankungen gibt es pro Jahr in Deutschland. Die Prostata (Vorsteherdrüse) ist ein Fortpflanzungsorgan des Mannes. Sie liegt unterhalb der Blase, umschließt die Harnröhre und produziert einen wesentlichen Teil der Samenflüssigkeit. Der Operationsroboter da Vinci hat die Nase vorn in der Robotermedizin. Der amerikanische Hersteller Intuitive Surgical besitzt eine Monopolstellung und brachte Mitte der 1990er-Jahre den ersten Roboter an den Mann. In den USA werden 85 Prozent aller Prostatatumoren mit dieser Methode behandelt, in Europa bislang nur drei bis vier Prozent. Die hohen Kosten, die Notwendigkeit präziser Einarbeitung und auch die anfänglich nicht ganz ausgereifte Technik einiger Robotersysteme hinterließen bei manchen Experten zunächst Skepsis. Doch inzwischen stehen die Zeichen gut für die technischen Helfer. Live dabei: Wege durch den Körper Dr. Jörn Witt (52) ist Chefarzt der Urologischen Abteilung am St. Antonius-Hospital Gronau und setzt auf das da Vinci-System. Nach intensivem Training in den USA konnte er in Deutschland 2006 erfolgreich die erste da Vinci-Prostaektomie, also die Entfernung des Tumors, vornehmen. „Sie haben das Gefühl, im Inneren des Patienten zu sein. Sie können besser sehen als bei einer herkömmlichen Methode wie der offenen Operation“, erklärt er begeistert. Medizin Wer ihm bei der Operation über die Schulter schaut und einen Blick in das Linsensystem des Gerätes wirft, weiß, was er meint. Das Besondere ist die Dreidimensionalität. Die stark vergrößerte Sicht auf das Operationsgebiet kann auch kleinste Bindegewebsschichten, Nerven- und Blutgefäße als Strukturen erkennen. Die Roboterarme übertragen die Handbewegungen, die der Arzt an der Konsole ausführt, in das Innere des Körpers, sodass sich Zange und Schere den Weg bahnen können. Die Instrumente an den Armen lassen sich um 90 Grad abwinkeln und um 560 Grad drehen, das ist eine wesentlich höhere Bewegungsfreiheit, als die menschliche Hand leisten kann. Zitterbewegungen, die bei einer herkömmlichen Operation durch die Hand des Chirurgen ausgelöst werden können, entfallen bei diesem Verfahren. Erst Mensch, dann Roboter Braucht die Medizin in Zukunft überhaupt noch einen menschlichen Operateur? Die meisten Mediziner sind sicher, dass es auch bei robotergestützten Operationen nicht ohne menschliches Zutun geht. Das meint auch Experte Witt: „Diese Verfahren wer- den künftig Standard im klinischen Alltag sein. Doch letztendlich operiert nicht das Gerät, sondern der Mensch!“ Dass auch das Team für den Erfolg einer Operation stehe, betont der Chefarzt. „Wir sind eine Mannschaft und müssen uns wie bei einer Flugzeugcrew aufeinander verlassen. Jeder ist hier wichtig und muss wissen, was zu tun ist.“ Wie eingespielt das Team des PZNW ist, spürt man im Operationssaal. Die Kommunikation verläuft ruhig und strukturiert. Neben dem Operateur gibt es noch einen zusätzlich ausgebildeten Chirurgie-Assistenten, eine weitere Pflegekraft und einen Narkosearzt. Schonend zum Erfolg Über drei Roboter verfügt das PZNW, die Kosten sind hoch. Rund 1,5 Millionen kostet ein da Vinci, allein die Wartung liegt bei 150.000 Euro jährlich. Die Schulungen und das Training erfordern ebenfalls einen hohen Einsatz von allen Mitarbeitern. Doch was hat der Patient davon? Die Erfolge sind nicht von der Hand zu weisen. Die da Vinci-Technik vereint die Vorteile der offenen Operation mit denen der minimalinvasiven Opera- An der Bedienkonsole steuert der Operateur die Arme des Roboters Der Experte 23 Dr. Jörn Witt ist Chefarzt der Urologischen Abteilung am St. Antonius-Hospital Gronau. Mehr als 1.000 Roboter-Operationen jährlich führen er und sein Team durch. tion, der sogenannten Schlüssellochtechnik. Somit kann der Operateur so viel sehen wie bei einem Bauchschnitt und gleichzeitig noch präziser arbeiten als bei der bereits erfolgreichen minimalinvasiven Operation. Der fehlende Hautschnitt führt zur schnelleren Erholung des Patienten, und er kann das Krankenhaus schon nach einer Woche wieder verlassen. Besonders wichtig ist für die betroffenen Männer, dass das Risiko der Inkontinenz und Impotenz, das durch eine Prostataentfernung wahrscheinlich ist, geringer wird. „Mit da Vinci können wir das Nervengeflecht an der Prostata, das für die Kontinenz und Potenz der Männer eine entscheidende Rolle spielt, besser sehen. Wir können also schonender behandeln“, sagt Dr. Witt. Zudem sind Bluttransfusionen fast nie nötig, da der Blutverlust bei diesen Eingriffen allgemein geringer ist. Auch Komplikationen wie etwa Arterienverletzungen oder Thrombosen gehen fast gegen Null zurück. Die Entwicklung in der Hightechmedizin geht weiter. Auch bei Operationen etwa der Niere oder Blase kommen die Roboter infrage. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Behandlungserfolge steigen – vorausgesetzt der Mediziner versteht sein Handwerk, denn das Verfahren ist komplex und erfordert ein hohes Maß an Lernbereitschaft. Das Team im PZNW setzt weiterhin auf den da Vinci. Nicht weil es ein Trend ist, sondern um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Text: Britta Ellerkamp Fotos: Prostata Zentrum Nordwest 24 A l ex i a ne r vo r O r t In dieser Rubrik finden Sie wichtige Nachrichten der Alexianer bundesweit. Egal ob innovative Projekte, Veranstaltungen und Feste oder Baumaßnahmen – wir halten Sie auf dem Laufenden „Haus Thomas“ eröffnet Münster. „Ein schönes Gebäude, ein ein- Einweihung von Haus Thomas an das Betreu- ladender Garten – das ist ein Teil der Pflege. ungsteam. Seit dem Frühjahr bietet die Einrich- Warmherzige Mitarbeiter wie unsere aber tung am Standort Münster 54 Plätze für geistig sind der andere, viel wichtigere Teil.“ Dieses behinderte und psychisch kranke Senioren. Sie Lob schickte Stephan Dransfeld, Geschäfts- finden dort neben optimalen äußeren Bedin- führer der Alexianer Münster GmbH, bei der gungen liebevolle Zuwendung. Geschäftsführung, Seelsorge, Unterstützer und Messdiener bei der Eröffnung Woche der Seelischen Gesundheit Berlin. Die fünfte Berliner Woche der See- unter anderem Workshops, Ausstellungen und lischen Gesundheit startet mit dem Welttag Filmvorführungen. Aktiv dabei sind wieder die für Seelische Gesundheit am 10. Oktober und Alexianer-Kliniken, das St. Joseph-Krankenhaus steht unter dem Motto „Wissen schafft Ver- Berlin-Weißensee, das St. Hedwig-Kranken ständnis: Seelische Gesundheit in kultureller haus und das Krankenhaus Hedwigshöhe. Das Vielfalt“. Die Veranstaltungen für die breite Programm ist abrufbar unter: Öffentlichkeit und das Fachpublikum umfassen www.seelischegesundheit.net Ministerieller Besuch Landkreis Diepholz. Mitte Juli besuchte Nie- Besuch in den Klinik Diepholz und Sulingen dersachsens Sozialministerin Aygül Özkan den fest. Bei ihrem Besuch konnten mit Ministerin St. Ansgar Klinikverbund. Sehr interessiert war Aygül Özkan auch Probleme der Patientenver- sie an den im St. Ansgar Klinikverbund aus sorgung im ländlichen Bereich angesprochen dem Konjunkturpaket II finanzierten baulichen und diskutiert werden. Özkan lobte die medi- Veränderungen. „Das Geld aus dem Programm zinische Ausrichtung des Klinikverbundes und wurde sehr gut eingesetzt. Patienten und Mit- zeigte sich sicher, dass die Struktur zukunfts- arbeiter profitieren direkt“, stellte sie bei ihrem fähig sei. Geschäftsführer Thomas Pilz zeigte Ministerin Aygül Özkan die durchgeführten Baumaßnahmen Neuromonitoring der neuesten Generation OP-Team bei Schilddrüsenoperation Krefeld. „Neuromonitoring“ ist bei Schilddrü- gischen Kliniken am Krankenhaus Maria-Hilf, senoperationen unverzichtbar. Die Alexianer und sein Team minimieren durch die neue Krefeld GmbH hat jetzt ein Gerät der neues- Messtechnik das vergleichbar hohe Risiko der ten Generation angeschafft, um die Sicherheit Verletzung der Stimmbandnerven während der der Patienten noch besser zu gewährleisten. Operation, weil das Verfahren es erleichtert, Dr. Bernhard Mallmann, Direktor der Chirur- die Stimmbandnerven aufzufinden. Bezugspflege Psychotraumatologie Berlin/Krefeld. Im Frühjahr startete das Deutschland einzigartig. Teilnehmer kommen Alexianer-Institut für Psychotraumatologie aus den Alexianer-Einrichtungen, aber auch (AIFP) in Berlin und Krefeld die ersten Kurse von extern. Besonderes Interesse finden die der neuen Zusatzqualifikation „Bezugspflege Kurse bei den Bundeswehrkrankenhäusern. Psychotraumatologie“. Die Kurse qualifizieren Die Leitung des Instituts liegt bei Dr. Iris Hauth, Pflegekräfte für die anspruchsvolle pflegeri- Privatdozent Dr. Robert Behring und Dr. med. sche Arbeit mit Patienten, die unter Trauma- Meryam Schouler-Ocak. folgestörungen leiden. Dieses Angebot ist in Die ersten Kursteilnehmer in Berlin mit Dr. Angelika Pillen (1. Reihe, 2. v. r.), Leiterin des Alexianer Instituts für Fort- und Weiterbildung in Berlin A l e x i a ne r vo r O r t Prävention gegen Gewalt 25 ven Fortbildungen werden alle Mitarbeiter mit tungsmuster, Ursachen aggressiven Verhaltens, Aachen. Die Wahrscheinlichkeit für das Auf- dem professionellen Deeskalationsmanage- verbales Deeskalationstraining, Abwehr- und treten aggressiver Verhaltensweisen und ange- ment PRODEMA® vertraut gemacht. Es setzt Fluchttechniken bei An- und Übergriffen, spannter Situationen ist in Einrichtungen für auf sieben Deeskalationsstufen: die Verhinde- Immobilisations- und Fixierungstechniken, kol- psychiatrische Patienten erhöht. Die Alexianer rung aggressiver Verhaltensweisen, die Ver- legiale Ersthilfe sowie die Nachsorge und Nach- Aachen GmbH setzt auf Prävention. In intensi- änderung der Wahrnehmungs- und Bewer- bearbeitung von Vorfällen. Agamus ist Vier-Sterne-Arbeitgeber Berlin. Im Wettbewerb „Berlins Bester Arbeit- teil. „Ich bin sehr glücklich über die hohe Mit- geber“ wird die Agamus Dienstleistungs GmbH arbeiterbeteiligung. So können wir heraus- für hervorragende Arbeitgeberqualitäten prä- finden, was im Arbeitsalltag gut funktioniert miert. Damit rangiert der interne Dienstleister und was zukünftig besser laufen soll“, erläu- der Alexianer unter den Top-Ten-Arbeitgebern tert Henk Vliem, Geschäftsführer der Agamus Berlins. Anfang des Jahres nahmen 200 Aga- Dienstleistungs GmbH. Ein Jahr lang darf Aga- mus-Mitarbeiter an einer externen Befragung mus das Gütesiegel führen. Agamus-Geschäftsführer Henk Vliem und -Betriebsrätin Monika Dalaker (2. und 3. v. l.) bei der Prämierung Mit dem Patienten auf Augenhöhe Oberärztin Dr. Lieselotte Mahler (r.) und Pflegedienst leitung Ina Jarchov-Jadi sind Ansprechpartnerinnen für das „Weddinger Modell“ Berlin. Mit dem „Weddinger Modell“ setzt die wohlwollende, unterstützende Atmosphäre. Psychiatrie im St. Hedwig-Krankenhaus auf fla- Durch optimale, bedürfnisorientierte Behand- che Hierarchien und stärkere Einbeziehung des lung wird den Patienten ein positives Selbstbild Patienten. Therapeuten stehen als „Berater“ vermittelt. Auch die Mitarbeiter erleben durch zur Seite und stärken den Patienten als „Exper- die Partizipation und die transparenten Abläufe ten“ in eigener Sache. Angehörige erleben eine eine höhere Arbeitszufriedenheit. Richtfest für neues Bettenhaus Berlin. Das St. Hedwig-Krankenhaus fei- im Herbst 2012 in Betrieb gehen. Das neue erte im Mai Richtfest für das neue Betten- Gebäude wird drei Stationen mit insgesamt haus „Haus Vinzenz von Paul“. Das unter 114 Betten der Fachrichtungen Innere Medizin dem Arbeitstitel „Westspange“ geplante und Gerontopsychiatrie sowie ein Nierenzen „Haus Vinzenz von Paul“ wird voraussichtlich trum aufnehmen. Richtfest am St. Hedwig-Krankenhaus Gütesiegel Familienzentrum Kindertagesstättenleiterin Kirsten Müller: „Wir profitieren von den vielen neuen Netzwerkkontakten, um Familien in Zukunft noch umfassender unterstützen zu können“ Köln. Die Mühe hat sich gelohnt: Seit dem 30. Ministerium für Familie, Kinder, Jugend und April ist die Kindertagesstätte „Heilige Dreifal- Sport NRW verliehen und gibt Aufschluss über tigkeit“ der Alexianer Köln GmbH nun auch die Angebote im Bereich Bildung, Beratung Familienzentrum. Das Gütesiegel Familienzen- und Betreuung für Eltern und Kinder. trum Nordrhein-Westfalen (NRW) wird vom Im Zeichen der Geschichte Wittenberg. Ende Mai feierte die Klinik des Klinikgründers Dr. Paul Bosse. Zum Jubi- Bosse Wittenberg ihr 75. Jubiläum in der läum fand auch ein Tag der offenen Tür statt, St. Marienkirche. Angereist waren neben Bru- bei dem eine Ausstellung zur Geschichte der der Benedikt M. Ende, Provinzial der Ordens- Klinik sowie eine Ausstellung mit Stillleben des gemeinschaft der Alexianerbrüder, und Bruder Grieboer Künstlers Klaus Leupold zu sehen Bonifatius Pumpe auch zahlreiche Nachfahren waren. Petra Stein, Geschäftsführerin der Klinik Bosse Wittenberg, und Ulrich Bosse, Enkel des Gründers der Klinik 26 B r enn p u nk t Wenn Vater und Mutter hilfsbedürftig werden Wenn die Eltern älter werden, verändern sich oft die Rollen: Nicht mehr die Eltern kümmern sich um die Kinder, sondern die Kinder um die Eltern. Wie erleben Kinder diese Veränderung? B r enn p u nk t 27 Morgens, 5.30 Uhr, die Tür zur Wohnung öffnet sich leise, und über das Gesicht von Marianne Miklosch* (68) huscht ein Lächeln. Wie jeden Morgen zur gleichen Zeit kommt ihre Tochter Andrea herein und bereitet das Frühstück vor. Immer derselbe Ablauf, aber für Marianne Miklosch und ihren Ehemann heißt das, zu Hause bleiben zu können und nicht nach anderen Lösungen suchen zu müssen, weil es ihnen mit zunehmendem Alter schwerer fällt, allein zurechtzukommen. Bereits in jungen Jahren erkrankte Marianne Miklosch an Multipler Sklerose. Früher konnte sie sich und ihre Familie noch selbst versorgen. Wenn sie Hilfestellung benötigte, stand ihr Mann ihr zur Seite. Seit mehr als zwei Jahren werden die Eheleute jetzt von Tochter Andrea versorgt. Dazu gehören neben den gemeinsamen Mahlzeiten auch notwendige Hilfestellungen im Haushalt und das regelmäßige Einkaufen, die Begleitung bei Arztbesuchen und vieles mehr. Jede Situation ist anders Tochter Andrea wohnt mit ihren Eltern im eigens dafür gebauten Haus. Die Eltern unten, sie oben. Sie empfindet die Situation, sich um die Eltern zu kümmern, nicht als etwas Besonderes. Gemeinsames Essen, füreinander da sein, das eigene Leben rund um die Familie organisieren war für alle Familienmitglieder stets eine Selbstverständlichkeit. In die Rolle des „Kümmerers“ ist die Tochter ganz sanft geschlüpft. Fragen wie „Könnte ich mir vorstellen, meine Eltern zu pflegen?“ oder „Wie fühlt sich der stets starke Vater dabei, wenn jetzt die Tochter den Zeittakt in der Familie vorgibt?“ kamen dabei nie auf. „Plötzlich ist man erwachsen, ist die ‚Starke’, die Rollen kehren sich einfach um“, sagt Andrea Miklosch. „Es fühlt sich schon ein wenig seltsam an, wenn man plötzlich in der Position des Erwachsenen ist, obwohl man doch viel jünger ist als die Eltern.“ Andrea Miklosch ist ganztägig berufstätig. Vor einem Jahr schloss sie die Weiterbildung von der Chemielaborantin zur Chemie-Ingenieurin ab. Für sie und auch ihren Bruder ist klar: Die Eltern werden bis zu ihrem Tod zu Hause versorgt. Sie gehören zum Verbund der Familie, werden mit einbezogen bei der Planung von Familienfesten und wenn möglich trifft sich die ganze Familie jeden Sonntagnachmittag am Kaffeetisch, solange es geht. Manchmal geht es langsam, manchmal schnell Bei Udo Grün* (51) sieht die Familiensituation anders aus. Dass der Vater allmählich älter wird und vielleicht mehr Unterstützung benötigt, hat der erfolgreiche Manager erst vor einigen Wochen am Flughafen festgestellt. „Wer begleitet denn Ihren Herrn Vater auf die Urlaubsreise?“, fragte die freundliche Dame am Check-in*Name von der Redaktion geändert 28 B r enn p u nk t Schalter lächelnd. Erst da wurde Grün bewusst, dass sein Vater einfach älter geworden ist: „Plötzlich sieht man den Vater mit anderen Augen, und plötzlich bemerkt man und erschrickt dabei, wie hilfsbedürftig er ist.“ In den Urlaub geflogen ist der Vater noch allein, und es hat auch alles gut geklappt. Um ihn zu Hause zu unterstützen, helfen jetzt Udo Grüns Sohn und Tochter mit. Selbst noch nicht ganz „flügge“, kümmern die beiden sich abwechselnd um ihren Opa, schauen täglich nach ihm, erledigen Einkaufdienste und auch die notwendige Hausarbeit, allerdings nur bis zum Studienbeginn nächstes Jahr. Dann wird nach einer anderen Lösung gesucht. Dirk Bahnen, Leiter der Beratungsstelle für Alterserkrankungen in Krefeld in Zusammenarbeit mit der Alexianer Krefeld GmbH, weißwelche Gedanken sich Angehörige machen. „Oft sind die Angehörigen mit dem Rollenwechsel und den neuen Pflichten überfordert. Unsicherheit stellt sich ein. Besonders die Frage nach externer Hilfestellung macht den Angehörigen oft Angst. Sie fragen sich: ‚Kann ich es auch ohne fremde Hilfe schaffen? Was kommt noch auf uns zu?’“ Bahnen versucht, diese Fragen in einem persönlichen Gespräch mit den Angehörigen zu klären. „Insbesondere wenn aus dem allgemeinen Hilfebedarf eine Pflegebedürftigkeit wird, kann es leicht zu einer Überforderung der Angehörigen kommen bis hin zur Selbstaufgabe und vollkommenen Hilfslosigkeit“, weiß Bahnen aus der Praxis. Dann brauchen die Angehörigen selbst Unterstützung. „Wer sich entscheidet, einen Menschen, der ihm nahe steht, zu pflegen, übernimmt eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe. Spätestens dann ist eine Beratung durch Fachleute sehr hilfreich“, stellt Bahnen fest, „auch um zu klären: Kann ich das? Und passt das Vorhaben in meine eigene Lebenssituation?“ Das Verhältnis der Generationen verschiebt sich, manchmal langsam, manchmal schnell. Das emotionale Netz Eltern/Kind wird sich über kurz oder lang bei jedem verändern. Eine professionelle Beratung und der Blick von außen helfen dabei, die eigenen Gefühle zu ordnen, und geben Unterstützung. Text: Barbara Krause, Fotos: Mascha Lohe B r enn p u nk t 29 Das Alter zulassen Eine erfahrene Seniorenberaterin rät zu mehr Gelassenheit im Umgang mit Fragen des Älterwerdens Frau Müller, muss jeder von uns Angst haben vor der Feststellung: „Oh, meine Eltern werden alt“? Nein, auf keinen Fall. Es gibt eine Fülle von Hilfs- und Beratungsangeboten, die immer noch meist erst dann aufgesucht werden, wenn konkreter Hilfsbedarf entstanden ist. Andererseits bietet die Auseinandersetzung mit dem Älterwerden die Chance, sich rechtzeitig mit dem eigenen Alter zu befassen. Was will ich selbst meinen Kindern zumuten? Was sollen sie für mich tun? Wie will ich mich ihnen gegenüber verhalten? Wann kommen Angehörige zu Ihnen, um Rat zu suchen? Meist erst dann, wenn die Probleme schon so groß sind, dass konkrete Maßnahmen erforderlich sind. Etwa wenn eine Haushaltshilfe nötig wird, weil die Mutter die Wohnung nicht mehr allein sauber halten kann oder man sich Sorgen macht, weil der Vater zunehmend „merkwürdig“ reagiert. Wir bemühen uns zwar auch, die Prävention zu stärken, aber tatsächlich erreichen wir die Menschen erst dann, wenn die Situation schwierig geworden ist. Das liegt auch daran, dass wir das Altsein an sich nicht zulassen. Heute sollen 75-Jährige noch sportlich aktiv sein, in Urlaub fahren, das Leben genießen. Dass man auch Lebensfreude hat, wenn man nicht mehr stundenlang bergwandern oder Rad fahren kann, kommt in der Vorstellung der meisten Menschen nicht vor. Alles hat seine Zeit, auch das Nicht-mehr-so-fit-Sein. Den Rollenwechsel akzeptieren Sie sind schon sehr lange Seniorenberaterin. Was hat sich in Ihrer Arbeit verändert? Der viel zitierte demogra fische Wandel ist da: Die „Kinder“ von heute, die um Rat für ihre Eltern bitten, sind selbst älter geworden. Es hat sich alles nach hinten verschoben. Heute habe ich 60-Jährige im Gespräch sitzen, die selbst schon erste körperliche Beeinträchtigungen spüren. Das macht vielen Angst. Sie sorgen sich, ob sie die 90-jährige Mutter so versorgen können, wie es nötig wäre. Eltern bekommen sollen, etwa in finanziellen Dingen – und rechtzeitig für ein tragfähiges soziales Netzwerk zu sorgen. Aber vor allem, denke ich, ist eine andere Sicht auf „das Alter“ und alte Menschen nötig. Was nimmt die Angst? Was sind die größten Probleme, die Ihnen in der Praxis begegnen? Der anstehende Rollenwechsel vom Kind, für das gesorgt und entschieden wird, zu demjenigen, der sorgt und entscheidet, belastet psychisch. Es fällt vielen einfach schwer, emotio nal zu verarbeiten, was rein rational klar ist: Dass die Mutter nicht mehr die starke Frau ist, die einem hilft, sondern dass sie jetzt selbst immer mehr Hilfe braucht. Aber auch die Frage, wie viel man selbst helfen kann, beschäftigt die Kinder. Die Lebensumstände haben sich stark verändert. Man wohnt nicht mehr selbstverständlich unter einem Dach. Das bedeutet: Die praktische Unterstützung wird aufwendiger. Das heißt aber auch, dass man schleichende Veränderungen nicht ebenso schleichend wahrnimmt, sondern manchmal ganz plötzlich damit konfrontiert wird. Die Nähe ist einfach nicht mehr da. Und da fühlen sich viele zu plötzlich mit Schwierigkeiten konfrontiert, die sie im eigenen Lebensgefüge nicht eingeplant haben. Offenheit und Mut, auch Tabus anzusprechen. Etwa über die Frage, ob „wenn es gar nicht mehr geht“ ein Pflegeheim infrage kommt. Selbst über die Beerdigung sollte man reden. Die älteren Menschen sind da oft viel zugänglicher, als man meint. Welchen Rat geben Sie Kindern, die sehen, dass ihre Eltern „abbauen“? Abgesehen von den schon genannten Tipps: Ich kann nur zu mehr Gelassenheit raten. Es ist doch nicht tragisch, wenn der Vater die zerschlissene alte Couch nicht rausschmeißen will. Oder die Mutter keine teuren neuen Kleider mehr kaufen möchte und das Unkraut im Vorgarten sprießen lässt. Solange keine Gesundheitsgefahren entstehen, sollte man die eigenen Ansprüche an Lebensstil und Lebensführung nicht als Maßstab für die Eltern nehmen. Alte Menschen sind langsamer, können und wollen bestimmte Dinge nicht mehr – und das ist völlig in Ordnung. Interview: Maria Meurer / Manuela Wetzel Keine Angst vor Tabus Was hilft, mit den offenkundigen Problemen besser fertig zu werden? Ein gutes, das heißt vertrauensvolles und respektvolles Verhältnis beider Seiten zueinander ist eine gute Grundlage. Genauso wichtig ist, rechtzeitig und offen die möglichen Probleme anzusprechen. Über die Patientenverfügung reden alte Menschen inzwischen von selbst, wissen aber meist nicht, dass diese sich nur auf den reinen Sterbeprozess bezieht. Wichtig ist auch, die Frage zu klären, welche Vollmachten Kinder von ihren Die Expertin Beate Müller (45) ist Diplom-Sozialarbeiterin. Beim Caritasverband Rhein-Kreis Neuss berät sie seit 1989 vor allem Angehörige, die mit den zunehmenden Alltags- problemen meist der eigenen Eltern konfrontiert sind und Hilfe suchen. 30 K u r z n ot i e r t Aufge-lesen Herz IV: Aus dem Alltag einer rechtlichen Betreuerin von Renate Fischer, BALANCE buch + medien verlag, Bonn 2011, 14,95 € Mitten im Leben steht Renate Fischer, wenn sie ihren Job als rechtlich bestellte Betreuerin ausübt. Ziemlich unbeschwert gewährt sie dem Leser in ihrem Buch „Herz IV“ Einblick in die eigengesetzlichen und teils unbeholfen anmutenden Lebenswelten von Menschen, die Sozialleistungen empfangen. Das spiegelt sich bereits im Titel „Herz IV“ wider, gewählt nach der unbe- absichtigten Wortschöpfung einer ihrer Anvertrauten (statt „Hartz IV“). nelle Reaktionen und Forderungen ihrer Klienten. Eine Art Helfersyndrom? Dieses Gefühl, das den Leser zwischendurch beschleicht, löst sich spätestens auf, wenn man Renate Fischer in den Ausschnitten einer Lesung auf YouTube live erlebt. Dass die Autorin nicht ausschließlich trockene Rechtsfürsorge betreibt, lässt sich aus dem Gleichgewicht von Engagement, Umgang mit sozialgesellschaftlichem Gegenwind und Respekt für die Prioritäten ihrer Klientel schließen. Dem alltäglichen Kampf im Dschungel der Bürokratie tritt sie ideenreich entgegen. Treffsicher kontert sie unkonventio Ihr Buch ist eine gelungene, humorvoll präsentierte Begegnung mit Menschen, die in sogenannten sozialen Randgesellschaften leben, das sich zu lesen lohnt. Text: Heike Christmann Gute Therapiemöglichkeiten für Menschen mit sozialer Angst Konfrontation mit der Angst ist hilfreich Wer unter sozialen Phobien leidet, hat oft übersteigerte Ängste, unangenehm aufzufallen, Kontakte zu knüpfen und zu versagen. Die Sorge, unangemessen aufzufallen, ist so groß, dass Einsamkeit und Isolation die Folge sind. Unbewältigte Ängste wirken sich häufig stark auf die persönliche und berufliche Situation aus. „Wie jede Angst kann eine soziale Phobie nur dadurch überwunden werden, dass man der Angst auslösenden Situation gegenübertritt und das ungünstige Vermeidungsverhalten ablegt“, sagt Christa RothSackenheim, Vorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Psychiater (BVDP) in Krefeld. Psychotherapie kann weiterhelfen. Bewährt haben sich besonders verhaltenstherapeutische Maßnahmen, Entspannungsübungen und angstlösende Medikamente. Matt von der Mattscheibe Zu viel Fernsehkonsum macht krank Wer mehr als zwei Stunden täglich fernsieht, erhöht sein Risiko für Diabetes und Herzerkrankungen um etwa 20 Pro- zent im Vergleich zu Menschen ohne starken TV-Konsum. Das berichtete im Juni die „Ärzte Zeitung“. Europäer verbringen durchschnittlich drei bis vier Stunden täglich vor dem Fernseher, US-Amerikaner sogar rund fünf Stunden Die Gründe liegen auf der Hand: Mangelnde Bewegung und ungesunde Kost wirken sich nachhaltig aus. Und es kommt noch dicker: Forscher der Harvard School of Public Health in Amerika stellten jüngst fest, dass mehr als drei Stunden TV-Konsum täglich sogar das Sterberisiko um fast 15 Prozent erhöhen. S e i t enwe c h se l Wera Röttgering, Gründerin und erste Vorsitzende, die seit zwei Jahrzehnten mit großer Empathie die G eschicke des Vereins leitet 31 alljährliche Auszeichnung mit dem Spendensiegel des DZI, das damit unsere Arbeit als beispielhaft und effizient würdigt. Therapieangebote Krankheitsbilder, Behandlungsmethoden, Vor- und Nachsorge unterliegen, um nur einige Bereiche zu nennen, einem ständigen Wandel. Dem trägt auch die Arbeit von Herzenswünsche e. V. in besonderem Maße Rechnung. Das betrifft sowohl die Organisation dauerhafter Therapieangebote wie Klinikclowns oder „Mukoviszidose-Klimakuren“ als auch Reaktionen auf akute Notstände, etwa Engpässe bei Organspenden. Herzenswünsche e. V. In der Rubrik Seitenwechsel stellen sich Organisationen selbst vor, diesmal Herzenswünsche e. V. Herzenswünsche e. V. ist ein gemeinnütziger, bundesweit tätiger Verein, der schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen lang gehegte Wünsche erfüllt. Zu den häufigsten Erkrankungen der Betroffenen zählen Krebs, Mukoviszidose und angeborene Herzfehler. Etwa 80 ehrenamtliche und drei hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen dazu bei, dass zu Eltern, Geschwistern, Ärzten, Pflegepersonal, Therapeuten und natürlich den betroffenen Kindern und Jugendlichen ein intensiver, oftmals langjähriger Kontakt aufgebaut wird. Auf diese Weise erfahren wir von den Herzenswünschen der jungen Patienten. Diese reichen vom privaten Treffen mit einem Prominenten über den Besuch eines Ponyhofs bis hin zum wagemutigen Fallschirmsprung aus den Wolken. Die Wunscherfüllungen geben immer wieder neuen Lebensmut und die nötige Kraft, um die schmerzvollen Therapien und den belastenden Klinikalltag bewältigen zu können. Das bestätigen nicht nur die Betroffenen, sondern auch Ärzte und Therapeuten, die von positiven, messbaren Ergebnissen sprechen. In diesem Zusammenhang spielt der ärztliche Beirat von Herzenswünsche e. V. eine herausragende Rolle. In der fast 20-jährigen Tätigkeit von Herzenswünsche e. V. haben renommierte Mediziner dem Verein mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Das gilt ebenso für die In intensiver Zusammenarbeit mit Medizinern und großen Kliniken hat Herzenswünsche e. V. einen neuen Organspendeausweis auf den Weg, aber vor allem in Umlauf gebracht. Der bislang einzige Organspendeausweis aus Plastik im Scheckkartenformat wird von uns mit zahlreichen praktischen und fachspezifischen Informationen intensiv beworben und im Ergebnis von Firmen, Vereinen, Interessengruppen und Privatpersonen in großer Zahl geordert. Wir hoffen, damit einen Beitrag zur größeren Akzeptanz in der Gesellschaft und zur besseren Versorgung von Patienten, die auf ein lebenswichtiges Organ warten, leisten zu können. Das „Herzenswünsche“-Büro Das „Herzenswünsche“-Büro befindet sich in Münster. Dort werden die Wünsche registriert, koordiniert und organisiert. Alle Beteiligten pflegen einen intensiven Austausch per E-Mail und Telefon. Persönliche Kontakte werden bei den regelmäßigen Treffen gepflegt. Alle Informationen werden zentral im „Herzenswünsche“-Büro gespeichert und finden Eingang in die halbjährlich erscheinende Zeitung „bärenstark“ und erscheinen tagesaktuell auf der Homepage des Vereins www.herzenswuensche.de Text: Andreas Linke, Öffentlichkeitsarbeit Herzenswünsche e. V. Foto: Herzenswünsche e. V. 32 Fa k t Serie Teil 6 Über das Gesundheitswesen wird viel geschrieben. In unserer Serie erklären wir Hintergründe, diesmal die neuen gesetzlichen Hygienevorschriften Dr. Viola Wilde ist Hausärztin in Berlin. Hygiene wird bei ihr selbstverständlich groß geschrieben: „Meine Patienten wissen zum Beispiel, dass ich ihnen in Hochzeiten von Grippe nicht die Hand gebe, um keine Keime weiterzuverbreiten.“ Aber sie legt auch Wert darauf, dass ihre Patienten bei der Hygiene ein vernünftiges Maß finden: „Viele versuchen, ihre Kinder klinisch rein aufwachsen zu lassen – aber dadurch wird das Immunsystem nicht mehr trainiert. Im Krankenhaus und in der Praxis ist Hygiene extrem wichtig. Aber draußen darf das nicht übertrieben werden.“ Die normale Hygiene fasst Dr. Wilde knapp zusammen: „Beim Nachhausekommen, nach dem Toilettengang und vor dem Essen die Hände waschen!“ Hygiene und das neue Infektionsschutzgesetz Das richtige Maß ist entscheidend Jährlich erkranken etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit einer medizinischen Maßnahme an einer Infektion. Das bedeutet: Sie infizieren sich in Krankenhäusern oder Arztpraxen, die sie wegen einer anderen Erkrankung aufgesucht haben. Fachleute gehen davon aus, dass sich bis zu 30 Prozent dieser Infektionen durch Hygienemaßnahmen vermeiden ließen. Sie weist ihre Patienten außerdem ausdrücklich darauf hin, verordnete Antibiotika nicht vorzeitig abzusetzen: „Sie müssen das Antibiotikum bis zum Ende nehmen! Sonst gewöhnen sich die Bakterien daran, bauen es in ihr Erbgut ein, und beim nächsten Mal wirkt das Antibiotikum nicht mehr.“ Dr. Wilde beschreibt damit, wie sich im Laufe der Jahre besonders widerstandsfähige Keime entwickeln konnten. Der sorglose Umgang mit Antibiotika – sowohl durch zu großzügige Verschreibung als auch durch zu kurze Einnahme – hat Bakterien wie MRSA hervorgebracht, sogenannte resistente Erreger, die nur noch schwer durch Medikamente eingedämmt werden können. Das neue Gesetz Durch das neue Infektionsschutzgesetz, das der Bundestag im März 2011 beschlossen hat und das für Krankenhäuser und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens gilt, sollen die Voraussetzungen verbessert werden, Krankenhausinfektionen und resistente Erreger zu verhüten und zu bekämpfen. Neben einer bundesweiten Vereinheit lichung der Hygienevorschriften werden Qualifikationen des Personals im Gesund- FA K T 33 heitswesen verbindlich. Krankenhäuser müssen künftig sowohl Fachärzte für Hygiene als auch Pflegekräfte mit Zusatzausbildung (Hygienefachkräfte) vorweisen. Ebenfalls verbindlich werden jährliche Qualitätsberichte, anhand derer Patienten demnächst überprüfen können, wie erfolgreich die Hygienemaßnahmen im Krankenhaus und in ambulanten Einrichtungen ihrer Wahl umgesetzt werden. Drehscheibe Robert-Koch-Institut Das Robert-Koch-Institut (RKI) beschäftigt sich mit der Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere von Infektionskrankheiten. Künftig werden dort auch die bundesweiten (anonymen) Daten zu Krankenhausinfektionen gesammelt und ausgewertet. Am RKI werden außerdem Kommissionen eingerichtet – eine für „Krankenhaushygiene und Infektionsprävention“ und eine Kommission „Antiinfektiva, Resistenz und Therapie“. Diese werden für medizinische Einrichtungen Empfehlungen erarbeiten, die sich unter anderem mit resistenten Erregern beschäftigen. Man erhofft sich dadurch beispielsweise, dass künftig Infektionen besser diagnostiziert und Antibiotika sachgerechter verordnet werden. Ein Beispiel aus der Praxis MRSA ist ein resistenter Keim Medizinische Einrichtungen werden zur Befolgung modernster Hygienemaßnahmen verpflichtet – auch die Verhängung von Bußgeldern ist künftig möglich. Im ambulanten Bereich wird die Behandlung infizierter Patienten besser bezahlt. Das Auftreten von MRSA ruft meist große Sorge hervor – zu Recht. Doch worum handelt es sich dabei eigentlich genau? Doch es gibt auch kritische Stimmen. Dazu gehört Gabriele Kirchner, Geschäftsführerin des Verbands der Krankenhausdirektoren Deutschlands e. V. (VKD): „Ein Gesetz ohne ausreichende materielle und personelle Voraussetzungen ergibt leider wenig Sinn.“ Als Beispiel verweist sie darauf, dass auf dem Arbeitsmarkt nicht genügend Hygieneärzte für alle Krankenhäuser zur Verfügung stehen und Hygiene-Lehrstühle fehlen. Bakterien werden aufgrund ihrer Form und Anordnung voneinander unterschieden. Staphylococcen sind kugelförmige Bakterien, die sich in Haufen anordnen. MRSA ist die Abkürzung für „methicillinresistenter Staphylococcus aureus“, also Staphylococcen, gegen die die Antibiotika Methicillin und Oxacillin kaum oder gar nicht wirken. Es bleiben kaum Antibiotika, die gegen MRSA eingesetzt werden können. Die Grenzen der Hygiene Professor Hilmar Lemke, Biochemiker an der Universität Kiel, beschäftigt sich seit Jahren mit den Grenzen der Hygiene: „In der Geschichte war Hygiene etwas sehr Gutes, sie hat viele, viele Menschenleben gerettet. Aber heute stellt man fest: Krankheiten haben zugenommen, doch nicht die Krankheiten, die man vorher bekämpft hat.“ Diese Krankheiten seien Allergien, Autoimmunerkrankungen und Tumoren. Zwei Beispiele: Morbus Crohn ist eine Autoimmunerkrankung des Darms, die vor allem in Regionen mit hohem hygienischem Standard vorkommt. Seit einigen Jahren versucht die Medizin in Studien, Morbus Crohn sehr unkonventionell zu behandeln: mit Eiern des Schweine-Peitschenwurms. Winzige Schweine-Peitschenwürmer schlüpfen im Darm und werden nach einigen Tagen wieder ausgeschieden. In der Zwischenzeit aber können sie ein Abklingen der Crohnschen Krankheit bewirken. Und vor Allergien schützt nachgewiesenermaßen am besten, wenn Kinder die ersten fünf Lebensjahre auf einem Bauernhof verbringen. Leider ist unklar, wie viel Hygiene sinnvoll und wie viel übertrieben ist. Professor Lemke verweist auf Skylla und Charybdis, zwei Ungeheuer aus der griechischen Mythologie, zwischen denen Seefahrer hindurchmussten: „Wo der optimale Weg liegt, ist schwer zu sagen.“ Text: Daniela Böhle Fotos: Olivier Pol Michel Bei gesunden Menschen ist MRSA selten gefährlich. Infektionen entwickeln sich vor allem bei immungeschwächten Personen: MRSA tritt bei Menschen mit Vorerkrankungen auf, auf Intensivstationen und bei Langzeittherapie mit Antibiotika. Entdeckt man im Krankenhaus bei einem Patienten MRSA, wird dieser gewöhnlich in ein Einzelzimmer verlegt. Personal und Besucher müssen sich an strenge Hygienevorschriften halten, zu denen vor allem eine konsequente Händedesinfektion zählt. Der Einsatz der wenigen wirksamen Antibiotika erfolgt mit großer Vorsicht, damit MRSA nicht gegen weitere Medikamente unemp findlich wird. 34 Vo r g es t e l lt St. Mocca – ein christliches Begegnungscafé Von leckerem Kaffee und einem besonderen Geist Markus Losse, der Geschäftsführer von St. Mocca, serviert einen Espresso. Zwischen antiken Möbeln im Landhausstil schaut eine ältere Dame von ihrem Buch aus der gut sortierten Leihbibliothek auf: „Irgendwas ist hier doch anders, machen Sie Feng Shui?“ Losse lacht: „Hier schwingt ein anderer Geist mit!“ lich. Vor einiger Zeit kam ein Mann aus der Nachbarschaft mit rot verweinten Augen herein. Seine Frau lag schwer krank im Krankenhaus. Dass sich eine Mitarbeiterin eine Dreiviertelstunde lang Zeit nehmen konnte fürs Gespräch und anschließende Gebet entspricht dem Konzept und ist dem Einsatz von 70 Ehrenamtlern zu verdanken. Das St. Mocca in Köln-Bickendorf ist ein Begegnungscafé, betrieben von einem christlichen, ökumenischen Trägerverein. Einfach gemütlich einen Espresso trinken oder stundenlang klönen, Losse sieht seine Arbeit als Gottesdienst: „Weil Gott Begegnungen schafft und Menschen begegnet.“ Kuchen, Frühstücke und der täglich wechselnde Mittagstisch werden selbst zubereitet. Weine, Tee und Kakaosorten sind sorgfältig ausgewählt. Losse schwört auf die angebotenen handverlesenen Kaffeevarietäten aus Kölns ältester Kaffeerösterei: „Wir glauben an die beste Botschaft der Welt, da wollen wir doch nicht nur den zweitbesten Kaffee verkaufen.“ Als das St. Mocca am Rande von Bickendorf restauriert wurde und im August 2008 die Türen öffnete, war das wie ein Umbruch für die ehemalige Arbeitersiedlung. Vor vielen Einfamilienhäusern an den gepflasterten Straßen stehen jetzt Baugerüste. Traditionell sind die meisten Menschen hier katholisch und zum Teil misstrauisch gegenüber Neuem. „Sie sind doch keine Sekte?“, wurde Losse kurz nach Eröffnung von einer älteren Dame angesprochen. Nach eingehender Prüfung der redlichen Absichten und des preiswerten Angebotes war sie schließlich zufrieden und erklärte: „Fünf Freundinnen warten auf meinen Bericht!“ Ehrenamtler tragen das Konzept Im St. Mocca ist der christliche Hintergrund präsent, ohne aufdringlich zu sein. „Missio niert wird hier nicht!“, macht Losse deut- Mit der stetig wachsenden Akzeptanz drohte in der Anfangsphase eine Überforderung der Mitarbeiter. Losse: „Ein muslimischer Stammgast öffnete uns die Augen. Er merkte an, dass wir sieben Tage die Woche geöffnet hätten, und zitierte die Bibel mit den Worten: ‚Am siebten Tage sollst du ruhn.’ Kurz danach haben wir den Montag als Ruhetag eingeführt.“ Ergänzend zum Cafébetrieb lädt St. Mocca an jedem zweiten Wochenende seine Gäste zum Essen ein, man feiert gemeinsam christliche Feste, trifft sich bei der Klamottentauschbörse für Frauen, der ComputerHilfe, zu Filmabenden, Kaffeeverkostungen oder wie zuletzt zu einem Zeitzeugenbericht polnischer Überlebender deutscher Konzentrationslager. Am „St. Mocca Ring“, einer vierspurigen Carrera G0-Bahn, vermittelt der mehr fache Deutsche Meister Losse, worauf es ankommt: „Bei den Rennen kann man etwas fürs Leben lernen, Fairness, Entscheidungskraft und auch mal zu verlieren. Bevor es losgeht, beten wir dafür, dass es fair zugeht, dass man die Nerven behält und dass es Spaß macht.“ Text: Kristof von Fabeck-Volkenborn Foto: Markus Losse Kontakt & Info Café St. Mocca e. V. Am Rosengarten 2 / Ecke Sandweg 50827 Köln-Bickendorf www.sankt-mocca.com R ät se l / Im p r ess u m 35 Impressum Herausgeber Alexianer GmbH Alexianerweg 9, 48163 Münster V.i.S.d.P. Gerald Oestreich, Geschäftsführer Redaktion Britta Ellerkamp (verantwortliche Redakteurin), Georg Beuke, Carmen Echelmeyer, Kristof von FabeckVolkenborn, Anja Große Wöstmann, Frank J ezierski, Barbara Krause, Jacqueline Maria Rompf, Dr. Ralf Schupp Anschrift der Redaktion Alexianer GmbH Redaktion „Alexianer“, Kölner Str. 64, 51149 Köln Tel. 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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns gegen eine durchgängige Verwendung männlicher und weiblicher Begriffe entschieden. Begriffe wie „Patienten“ und „Mitarbeiter“ usw. sind daher auch im Sinne von „Patientinnen“ und „Mitarbeiterinnen“ zu verstehen. Liebe Leserin, lieber Leser, die Redaktion des Alexianer-Magazins freut sich, dass so viele Menschen bereit sind, aus ihrer Lebens geschichte und von ihren Erfahrungen mit Krankheit und gesellschaftlichen Veränderungen zu berichten. Oft gehen diese Berichte den Betroffenen sehr nah. Deshalb sind in manchen Beiträgen in diesem Magazin die Namen der Betroffenen verändert, um ihre Privatsphäre zu schützen. Dafür bitten wir um Ihr Verständnis. Dennoch sind die berichteten Fälle selbstverständlich alle authentisch. Die Redaktion Auflage: 7.000 Anzeige