‚guter` Literatur soll ihre „Mehrdeutigkeit“ oder „Polysemie“ sein. D

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‚guter` Literatur soll ihre „Mehrdeutigkeit“ oder „Polysemie“ sein. D
OLV 2 – WS 2008/09 – 1. Dezember 2008 – Jörg Türschmann – Literaturwissenschaft
Mehrdeutigkeit – Polysemie
Ein Merkmal von ‚guter‘ Literatur soll ihre „Mehrdeutigkeit“ oder „Polysemie“ sein. Dieses
Merkmal zeichnet aber auch Texte aus, die nicht unbedingt als Literatur angesehen werden.
Als Beispiel gebe ich ein Rätsel: “¿Qué es lo que se repite en un minuto, dos veces en un
momento y nunca en diez meses?” Zu deutsch: „Was wiederholt sich in einer Minute,
zweimal in einem Moment und nie in zehn Monaten?” Sie können das Rätsel nicht lösen,
wenn Sie mit der deutschen Übersetzung arbeiten. Das mag an der Übersetzung liegen. Sie ist
zwar gemäß der Bedeutung der einzelnen Wörter korrekt, jedoch nicht im Sinne der
Fragestellung des Rätsels. Übersetze ich allerdings das Rätsel im Sinne der gewünschten
Fragestellung, dann verrate ich wahrscheinlich auch schon die Lösung des Rätsels. Ich werde
es dennoch tun. Hier also: „Was wiederholt sich in einem minuto, zweimal in einem momento
und nie in zehn meses?“ Diese Übersetzung klingt merkwürdig. Ein weiterer Versuch: „Was
wiederholt sich einmal in minuto, zweimal in momento und nie in diez meses?“ Die Lösung
des Rätsels lautet selbstverständlich: der Buchstabe <o>. Im spanischen Original ist der
Übergang von der Metasprache zur Objektsprache nicht markiert. Es fehlen beispielsweise
Anführungsstriche. Das bedeutet Folgendes: In einer Metasprache wird über eine andere
sprachliche Äußerung, eben in der Objektsprache verhandelt, ohne die Grenzen zwischen
beiden in der Kette der sprachlichen Ausdrücke zu markieren, anders etwa so: “¿Qué es lo
que se repite en (un) ‘minuto’, dos veces en (un) ‘momento’ y nunca en ‘diez meses’?”. Das
Rätsel ist sogar so formuliert, dass der Wechsel verschleiert wird. Der unbestimmte Artikel in
„en un minuto“ und in „en un momento“ und die Zahlenangabe in „en diez meses“ lenken von
dem Übergang ab, was noch durch das „dos veces“ und das „nunca“ verstärkt wird, obwohl
doch diese letzten Hinweise direkt zur Lösung führen.
Witze verdeutlichen die Gegenwart mehrerer Isotopien, also durchgängiger thematischer
Ebenen – oder den berühmten ‚roten Fäden‘ –, meist durch ein Überraschungsmoment: „Wo
ist das Kino? – Das Kino ist geradeaus. – So ein Pech! Immer wenn ich ins Kinos gehen
möchte, ist es gerade aus.“ In der Schriftsprache fällt der Unterschied in „geradeaus“ und
„gerade aus“ auf. Es ist auch die Frage, welche Schreibweise die richtige ist. Vermutlich ist
die obige Fassung berechtigt, insofern sie die wechselnden Verständnisebenen des Zuhörers
nachvollzieht. Da Witze aber meist mündlich weitergegeben werden, besteht diese
Unterscheidungsmöglichkeit gewöhnlich nicht. Das Besondere an dem Beispiel ist, dass die
beiden Isotopien auf die Äußerungen der beiden Gesprächspartner verteilt werden. Die
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Isotopien sind in diesem Fall kommunikativ eingebunden. Der Zuhörer wird durch die
anfänglichen Repliken auf die Spur einer Isotopie gebracht. Hat er diese Bedeutungsebene
erfasst, wechselt einer der beiden Sprecher auf eine andere Isotopie über. Dies geschieht ohne
ersichtlichen Grund. Die fehlende Motivierung dieses Wandels der Fokussierung hin zu einer
anderen Isotopie wird überdeckt durch den Überraschungseffekt. Denn der Lautkörper des
mündlichen Ausdrucks erlaubt tatsächlich zwei Lesarten. Auch die Themen des Gesprächs,
die Topoi, das Kino als Aufführungsort und als Unterhaltungsprogramm, gestatten diese
Mehrdeutigkeit, obwohl sich beide Isotopien gegenseitig ausschließen. Der ‚Witz‘ besteht in
der Entdeckung der Uneindeutigkeit sprachlicher Ausdrücke. In dieser Hinsicht macht dieser
Witz ein bisschen klüger. Durch die fehlende Begründung des Wechsels der Aufmerksamkeit
von einer Bedeutungsebene mit den Bedeutungsmerkmalen [+ lokal], [– temporal] hin zu
einer mit den Bedeutungsmerkmalen [– lokal], [+ temporal] gibt es keine psychologische
Erklärung. In dieser Hinsicht besitzt der Witz keine sonderlich große „menschliche Tiefe“
oder Moral. Witze, Sprichwörter und andere „kleine Formen“ beruhen oft auf solchen Spielen
mit der Sprache. Sie sind vielfach nichts anderes als kurze Erzählungen oder Dramen, die uns
über das differenzierteste Kommunikationsmittel, die Sprache, informieren.
Die Lösung des Rätsels ist nichts anderes als der Beleg dafür, dass eine Isotopie vorliegt, die
es erlaubt, dem Rätsel eben doch Textkohärenz, also einen Zusammenhang, zu unterstellen.
Die Suche nach der Lösung ist also nichts anderes als die Suche nach der Kohärenz des
Textes, was ich in anderen Worten bereits oben ausgedrückt habe, als es darum ging, ein
wiederkehrendes Bedeutungsmerkmal zu erkennen, das berechtigterweise für eine Isotopie
stehen kann. Anders als in dieser Lesart ergibt das Rätsel keinen „Sinn“. Wie eben schon
gezeigt wäre der Text sonst unsinnig. Wir unterstellen einem Text immer einen Sinn, und der
besteht auch in der Kohärenz des Textes, dem impliziten Thema, dem roten Faden. Ich
behaupte, dass der Weg zur Lösung die eigentliche Botschaft dieses Rätsels ist. Diese
Entdeckung ist allerdings sehr weit reichend. Das Rätsel scheint nicht mehrdeutig zu sein,
denn es existiert nur eine einzige mögliche Lösung. Aber die Lösung des Rätsels ist auch
nicht das Ziel der Botschaft. Mit einfachen Worten hätte sich sonst ausdrücken lassen, dass in
minuto, momento und diez meses mehrfach das <o> oder eben ein Kreis vorkommt.
Stattdessen inszeniert der Autor eine komplizierte Geschichte, die der Leser verfolgen muss,
um ans Ziel zu gelangen. Die Botschaft besteht in den Schwierigkeiten, die auf diesem Weg
zu bewältigen sind. Der Text verhilft zu einer Erfahrung. Anderes tun auch literarische Texte
nicht. Die Verschlüsselung der Lösung wirft eine Reihe von Hürden auf, deren Bewältigung
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eine Erfahrung für den Leser darstellt. Die Mehrdeutigkeit, die Polysemie, ist die eigentliche
Aussage des Rätsels und wirkt spannend. Die Lösung des Rätsels kann bekannt und daher
langweilig sein.
Insofern diese Erfahrungen auf die Lösung von Rätseln zurückgehen, sind sie allein in der
Textstruktur verankert und verstricken sich nicht in persönlichen Gefühlslagen wie bei der
alltäglichen
Rezeption
von
Liebesromanen,
deren
häufige
Inkonsistenz
erst
bei
rationalisierender Lektüre auffällt. Diese Entzauberung ist natürlich nicht gewünscht. Daher
können sich nicht-wissenschaftliche Leser und Literaturwissenschaftler oft eben nicht
miteinander austauschen. Es wird viel darum gestritten, welche Umgangsform mit solchen
Texten die richtige ist. Die Entdeckung von Isotopien kann zu einer Deutung eines
literarischen Werks vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit oder vor dem Hintergrund
der gegenwärtigen Rezeptionssituation führen. Doch zunächst kann sich zeigen, dass bereits
das Erkennen eines wiederkehrenden Bedeutungsmerkmals hilfreich sein kann, um einen Text
überhaupt zu verstehen. Wie bei dem Rätsel handelt es sich um einen kurzen Text und es liegt
ein vordergründiger Mangel an Textkohärenz vor. Ich zitiere das Gedicht Untergrundbahn
von Gottfried Benn aus dem Jahr 1913:
Untergrundbahn
(Gottfried Benn, 1913)
Die weichen Schauer. Blütenfrühe. Wie
Aus warmen Fellen kommt es aus den Wäldern.
Ein Rot schwärmt auf. Das große Blut steigt an.
Durch all den Frühling kommt die fremde Frau.
Der Strumpf am Spann ist da. Doch, wo er endet,
ist weit von mir. Ich schluchze auf der Schwelle:
laues Geblühe, fremde Feuchtigkeiten.
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Oh, wie ihr Mund die laue Luft verprasst!
Du Rosenhirn, Meer-Blut, du Götter-Zwielicht,
du Erdenbeet, wie strömen deine Hüften
so kühl den Gang hervor, in dem du gehst!
Dunkel: nun lebt es unter ihren Kleidern:
nur weißes Tier, gelöst und stummer Duft.
Ein armer Hirnhund, schwer mit Gott behangen.
Ich bin der Stirn so satt. Oh, ein Gerüste
von Blütenkolben löste sanft sie ab
und schwölle mit und schauerte und triefte.
So losgelöst. So müde. Ich will wandern.
Blutlos die Wege. Lieder aus den Gärten.
Schatten und Sintflut. Fernes Glück: ein Sterben
hin in des Meeres erlösend tiefes Blau.
Zuerst hilft der Titel „Untergrundbahn“. Er gibt einen möglichen Handlungsort an. Als
Nächstes stellt sich die Frage, ob es so etwas wie eine Handlung in dem Gedicht, also eine
Geschichte gibt. Dafür werden Protagonisten benötigt. Sie bestehen aus einem „ich“, das
häufig in Fällen solcher Gedichte als „lyrisches Ich“ bezeichnet wird. Und es gibt „die fremde
Frau“, ein Gegenüber, welches das lyrische Ich vermutlich als einen Mann ausweist.
Grundsätzlich lässt sich die Entwicklung der Wahrnehmung dieses Mannes als eine
Entwicklung von einem positiven Ausgangspunkt – „Blütenfrühe“ – hin zu einem
zwiespältigen Ende hin beschreiben, das nicht einfach negativ ist, sondern resignativ: „Fernes
Glück: ein Sterben“. Die Isotopien ergeben sich aus dem Nachweis von wiederkehrenden
Bedeutungsmerkmalen wie [+ erotisch], [+ frühlingshaft]. Entscheidend aber ist die
Gegenüberstellung des Männlichen und des Weiblichen. Der männliche Part wird mit der
Ratio – „armer Hirnhund“ – in Verbindung gebracht. Das Weibliche, das durch die Worte
„die fremde Frau“ sehr allgemein angelegt ist – der bestimmte Artikel kennzeichnet eher
einen Gattungsbegriff als ein Individuum –, wird als „Rosenhirn“ bezeichnet. Dieser
Ausdruck muss als Gegensatz zum männlichen „Hirnhund“ verstanden werden. In anderen
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Gedichten
verwendet
Benn
die
Ausdrücke „rosenschößig“
für
die Sonne oder
„Rosenmöwenlied“ oder „Rosenrotte“. Immer geht es um die Ablehnung der Ratio und um
die Suche nach dem Rauschhaften und Emotionalen, für das die Frau und die Sexualität
stehen sollen. In Anbetracht des historischen Kontextes ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg ist
der resignative Unterton bedeutsam. Zukunftsgestaltung schien ausgeschlossen, ein
Eingreifen in die Geschichte unmöglich. Vor allem die vernunftbetonten, aufklärerischen,
linken Gesellschaftsentwürfe bildeten einen Gegensatz zu diesem Weltbild. So ist es kein
Zufall, dass Benn sich zunächst auch unter dem NS-Regime als Schriftsteller behaupten
konnte, bis die Erotisierung der Außenwelt durch die NS-Kritik als „widernatürliche
Schweinereien“ gebrandmarkt wurden. Hier haben wir es bereits mit dem historischen
Kontext und einer ideologiekritischen Einschätzung des Werks zu tun. Der historische
Hintergrund, auf den sich ein Text bezieht, erlaubt viele Deutungen eines Textes. Dieser so
genannte Kontext muss rekonstruiert werden. Eine letzte Bedeutung ist aber nicht zu
formulieren, sondern ist ein Ideal, dem man sich annähern kann. Jedoch kann man durch den
Kontext überhaupt erst eine Deutung rechtfertigen und nachvollziehbar machen. Historische
Situationen gestatten mit guten Gründen mitunter sogar widersprüchliche Deutungen ein und
desselben Textes. Im Grunde besteht aber kein Unterschied zum Rätsel, das ich zuerst
erwähnt habe. Der Impuls zum Eintritt in den Prozess des Erkennens einer durchgängigen
Bedeutungsebene macht die Qualität eines literarischen Textes aus. Besonders reizvoll oder
anspruchsvoll ist ein Text aber dann, wenn die Lösung offen bleibt, die Suche danach
merkwürdigerweise dennoch Erfolg verspricht.
Nächstes Beispiel aus der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts: Splendeurs et misères
des courtisanes von Honoré de Balzac (1838-1847). Der Romantitel verspricht Großes. Seine
Übersetzung ins Deutsche steht dem in nichts nach: Glanz und Elend der Kurtisanen. Der
Roman erzählt die Geschichte der jüdischen Kurtisane Esther Gobseck, die sich in den
mittellosen Poeten Lucien de Rubempré verliebt. Lucien hat einen Pakt mit dem rätselhaften
Vautrin alias Jacques Collin alias Carlos Herrera alias Trompe-la-Mort geschlossen, dem
Lucien seine Seele verspricht, und der Lucien in die hohe Pariser Gesellschaft einführen und
dort zu Ruhm und Reichtum bringen möchte. Lucien soll für seinen sozialen Aufstieg Clotilde
de Grandlieu heiraten, Tochter des Herzogs und der Herzogin de Grandlieu. Für die Hochzeit
benötigt Lucien eine Mitgift. Vautrin will seinem Schützling dieses Geld mit Hilfe von Esther
besorgen. In sie hat sich ein Bankier, der reiche Baron de Nucingen, verliebt, er soll als
Geldquelle dienen. Da Esther Lucien liebt, ist sie bereit, auf den Baron einzugehen, bringt
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sich aber schließlich um, weil sie sich nicht mehr prostituieren möchte. Dieses Ereignis erregt
die Öffentlichkeit. Lucien und Vautrin, die der Polizist Correntin schon länger beschattet,
werden schließlich verhaftet. Im Gefängnis gesteht Lucien, wer Vautrin ist. Vautrin versucht
zwar Lucien mit Hilfe eines Gefängnisaufstands zu retten, doch Lucien hat sich zuvor
erhängt. Vautrin gelingt es, seine Freilassung zu erwirken. Er überführt den Chef der
Geheimpolizei eines Verbrechens und tritt schließlich selbst in die Polizei ein, bis er sich
1845 zurückzieht.
Vor dem Hintergrund des bürgerlichen Liberalismus ist auch die Entstehung des Romans zu
sehen, der über den Zeitraum von 1838 bis 1847 zu seiner abschließenden Form fand, also in
neun langen Jahren. Diese Entstehungsgeschichte spiegelt im Kleinen wider, was Balzacs
gesamte Comédie humaine mit ihren letztlich 137 Romanen auszeichnet, nämlich die
Wiederverwertung
von
früheren
Erzählungen
und
Romanen
in
einem
größeren
Zusammenhang. Sein gesamtes Erzählwerk beginnt Balzac noch zu seinen Lebzeiten in einer
Gesamtausgabe mit dem Titel Comédie humaine von 1842 bis 1848 zu veröffentlichen. Die
Figuren bilden ein gewaltiges Beziehungsgeflecht und treten in verschiedenen Einzelromanen
immer wieder auf. Dies ist auch bei den Splendeurs et misères des courtisanes der Fall. Der
Roman entsteht keineswegs in einem Stück, und auch die verschiedenen Teile werden nicht in
der Reihenfolge der Handlungsentwicklung geschrieben.
Der Titel Splendeurs et misères des courtisanes enthält einen Verweis auf die
Gesellschaftstheorie, die Balzac seiner gesamten Comédie humaine zugrunde gelegt hat. Im
Pariser Akademiestreit von 1830 wurde heftig die Theorie des Zoologen Etienne Geoffroy
Saint-Hilaire diskutiert. Saint-Hilaire ging von der Annahme aus, dass es nur ein einziges Tier
gibt, das allen Lebewesen zugrunde liegt, und dass die Arten, wie wir sie kennen,
„Phänotypen“
dieses
Tieres
seien.
Balzac
übertrug
diese
Vorstellung
auf
die
gesellschaftlichen Verhältnisse, wie er in der Vorrede zur Comédie humaine erklärt. Die
Menschen sind gesellschaftliche Phänotypen einer menschlichen Kreatur, die für alle das
Fundament bildet. Der Unterschied zwischen zoologischen und sozialen Gattungen besteht für
Balzac aber darin, dass die sozialen durchlässig sind, dass also ihre Angehörigen von einer
zur anderen wechseln können. Die Zugehörigkeit zu einer solchen ‚Gattung‘ sei nämlich
anders als bei den Tieren von historischen und persönlichen Umständen sowie von Zufällen
bestimmt. Liest man nun den Romantitel Splendeurs et misères des courtisanes, so zeugt er
mit den Worten „splendeurs et misères“ einerseits von der möglichen Bewegung durch die
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verschiedenen sozialen ‚Gattungen‘, fasst aber andererseits mit dem Plural in „courtisanes“
eine solche Gattung zusammen. Oder anders ausgedrückt: Das Kurtisanentum stellt so etwas
wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner dar, eine Gattung, deren Untergattungen sich in
diejenigen Vertreterinnen aufteilt, die auf der Schatten- oder eben auf der Sonnenseite der
Gesellschaft stehen.
Ein solch umfangreicher Roman kann selbstverständlich auch ganz anders gelesen werden.
Dennoch ist jede Lesart nicht beliebig, sondern muss einen Bezug auf einen Kontext
nachweisen, der sie nachvollziehbar macht. Bei dem Beispiel von eben kommt hinzu, dass der
Roman
in
Beziehung
zu
vielen
anderen
Romanen
von
Balzac
steht.
Dieses
Beziehungsgeflecht ist kaum zu überschauen. Dies erklärt auch, dass es so viele
Untersuchungen zu Balzacs Literatur gibt. Außerdem kann schon jeder einzelne Roman in
seinen einzelnen Teilen eine Untersuchung wert sein. Eines gilt aber auch hier: Die Lektüre
eines solchen Romans ist eine besondere Annäherung an die möglichen Aussagen, die aus den
Texten herausgelesen werden können. Es geht nicht nur um den bloßen Inhalt, die Handlung
und seine Bedeutung für seine und unsere Zeit. Die Lektüre ist eine echte leibliche Erfahrung.
Deshalb behaupten einige Literaturwissenschaftler, dass Literatur vor allem mit Emotionen,
mit Rhythmus, mit Faszination und Rätselhaftigkeit, ja sogar mit Demut vor einem letzten
nicht zu lüftenden Geheimnis zu tun hat. Diese Vermutung schließt aber nicht aus, dass man
sich über die verschiedenen Erfahrungen vernünftig und begründet austauschen kann.
Mehrdeutigkeit oder Polysemie bedeutet nicht „Dunkelheit“ und verlangt nicht ausschließlich
„Einfühlung“, wie es früher hieß. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung besteht in
einem Text, der ein literarisches Werk hinsichtlich eines Aspekts erklärt, es in dieser
Beziehung ‚übersetzt‘, ohne es eindeutig zu können. Die Mehrdeutigkeit bleibt bestehen.
Doch kann dieses Untersuchungsergebnis so aufschlussreich sein, dass es schließlich für
weitere Werke gilt. Der Romanist Erich Auerbach beschrieb diesen Zusammenhang
folgendermaßen: „Der Ansatz muss einen fest umschriebenen, gut überschaubaren Kreis von
Phänomenen aussondern; und die Interpretation dieser Phänomene muss Strahlkraft besitzen,
so dass sie einen weit größeren Bezirk als den des Ansatzes ordnet und mitinterpretiert.“ In
den Philologien ist die Problemlage meist so, wie von Auerbach dargestellt. Sie werden
bemerken, dass Sie bei der Auswahl Ihres Gegenstands immer mehr sagen wollen, als nur
eine Beschreibung dieses Gegenstands zu geben. Wenn Sie beispielsweise einen Roman eines
Autors X behandeln, werden Sie möglicherweise Ihre Untersuchung mit dem Anspruch
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verbinden, das gesamte Romanwerk dieses Autors exemplarisch untersucht haben zu wollen.
Dies wertet Ihre eigene Arbeit selbstverständlich auf und erspart dem Leser Ihrer Analyse die
mühselige Lektüre der wiederholten Darstellung ähnlicher Phänomene. Es wird beim
Verfassen von Hausarbeiten und Examensarbeiten immer um ein ‚geschicktes Verhältnis‘
zwischen Perspektive und Gegenstand gehen. Oder um mit Auerbach zu sprechen: Es geht um
die „Strahlkraft“ Ihrer Untersuchung, aus einer lokalen Mehrdeutigkeit eine weitreichende
Eindeutigkeit zu machen.
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