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Lösungsblatt (ausführlich)
Aufgabe 1
Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre
Thema:
Heinrich von Kleist (1777-1811): Michael Kohlhaas
Franz Kafka (1883-1924): Der Proceß
Quellen:
Für die Teilaufgaben A und C haben wir folgende Ausgaben herangezogen:
Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas, Stuttgart, Reclam 2003. (A und C)
Franz Kafka: Der Proceß, Stuttgart, Reclam 2011. (C)
Teilaufgabe B bezieht sich auf den zur Aufgabenstellung vorliegenden Textausschnitt.
Teilaufgabe A:
Skizzieren Sie die vorangegangene Handlung, soweit dies zum Verständnis der vorgelegten Textstelle
nötig ist.
Die Novelle Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist handelt von dem gleichnamigen Rosshändler,
”
welcher sich, nachdem ihm ein Unrecht widerfahren ist, gegen die Obrigkeit auflehnt. Veröffentlicht im
Jahr 1810, spielt die Geschichte in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Im Folgenden möchte ich näher auf
den Text und die Aufgabenstellung eingehen.
Michael Kohlhaas lebt als gerechter und angesehener Rosshändler im Brandenburgischen und gilt lange
als das Muster eines guten Staatsbürgers“ (S. 3, Z. 6). Als er eines Tages auf dem Weg nach Dresden ist,
”
um dort seine Pferde zu verkaufen, wird er an der sächsischen Grenze von einer Schranke aufgehalten.
Der alte Schlossherr ist gestorben und so hält der Junker Wenzel von Tronka Einzug in die Tronkenburg.
Obwohl Kohlhaas schon mehrfach diese Grenze passiert hat, wird diesmal ein Passschein von ihm verlangt, von welchem er noch nie gehört hat.
Nach langen Verhandlungen mit Vogt und Junker wird ihm schließlich der Durchgang gewährt, jedoch
muss er zwei seiner schönsten Rappen als Pfand hinterlassen, damit er nach Dresden weiterreisen darf.
In Dresden angekommen, verkauft er seine Pferde auf dem Markt und erkundigt sich bei der Stadtverwaltung nach einem solchen Passschein, den es aber, wie erwartet, nicht gibt.
Nachdem er seine gesamte Pferdekoppel verkauft hat, kehrt er wieder zur Tronkenburg zurück, wo er
mit Erschrecken feststellen muss, dass seine Pferde geschändet und abgemagert sind und außerdem der
Knecht, den er zur Pflege abgestellt hatte, vertrieben wurde. Als der Rosshändler daraufhin den Vogt
und den kurz darauf eintreffenden Junker befragt, weisen diese jegliche Schuld von sich. Obwohl Kohlhaas sehr erzürnt ist, beschließt er, aufgrund seines Rechtsgefühls, das einer Goldwaage glich“ (S. 9, Z.
”
15/16) zunächst auf seinen Hof zurückzukehren, um dort seinen Knecht zu befragen.
Der Knecht, welcher schwer verwundet nach Kohlhaasenbrück zurückgekehrt ist, erzählt Kohlhaas,
welche Ungerechtigkeiten sich auf der Tronkenburg abgespielt haben. Kohlhaas, welcher von der Unschuld seines Knechtes überzeugt ist, entscheidet nun, rechtliche Schritte gegen den Junker einzuleiten.
Zu Kohlhaas’ Pech ist es nun so, dass die Klage auf jeglichen Instanzen niedergeschlagen wird, aufgrund
der verwandtschaftlichen Beziehungen des Junkers. Sogar seine Frau versucht bei einem alten Bekannten, dem Landesherren von Berlin, eine Bittschrift vorzulegen, wird jedoch bei diesem Versuch schwer
verletzt und stirbt einige Tage später in Kohlhaas’ Armen. Selbst in dieser Situation glaubt Kohlhaas
noch an die Gerechtigkeit und schreibt direkt an den Junker Wenzel von Tronka. In diesem Schreiben
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räumt er diesem eine Dreitagesfrist ein, um für den Schaden an den Tieren aufzukommen. Als auch
dieses letzte Schreiben ignoriert wird, verkauft Kohlhaas seinen Hof und brennt mit seinen Knechten
die Tronkenburg nieder und tötet jeden, den er finden kann. Unglücklicherweise gelingt es dem Junker
selbst, zu fliehen.
Daraufhin verfasst Kohlhaas sein erstes, so genanntes Kohlhaasisches Mandat“, in welchem er die Aus”
lieferung des Junkers fordert. Auf einen Hinweis hin sucht er ihn im Kloster Erlabrunn, bei der Äbtissin
Antonia von Tronka, dessen Tante. Diese versichert Kohlhaas, dass sich der Junker nicht mehr bei ihr
befinde, sondern nach Wittenberg geflohen sei. Auf diese Nachricht hin verfasst er sein zweites Mandat,
in dem er erneut die Auslieferung fordert und ebenfalls eine Belohnung verspricht.
Nach der Verfassung dieses Mandates steckt er die Stadt Wittenberg in Brand, um so die Auslieferung
zu erzielen. Trotz mehrerer Feldzüge gegen Kohlhaas und dessen immer größer werdenden Haufen
gelingt es diesem, die Stadt noch ein zweites und sogar ein drittes Mal anzuzünden und zu plündern,
wobei die dritte Brandschatzung die verheerendste ist.
Diese erheblichen Schäden führen dazu, dass das Volk immer mehr für die Auslieferung des Junkers
plädiert und ebenfalls dazu, dass ein Stadtmann Wittenbergs behauptet, dass der Junker in Leipzig zu
finden sei.
Auf diese Nachricht hin zündet Kohlhaas mit seinem Haufen auch Leipzig an und verkündet in seinem
dritten Mandat, in welchem er sich als einen Statthalter des Erzengels Michael bezeichnet, dass er die
Stadt dem Erdboden gleichmachen werde, wenn man ihm nicht sage, wo er den Junker finde.
Auf dieses Schreiben hin schaltet sich Martin Luther in das Geschehen ein und verfasst ein öffentliches
Plakat, adressiert an Kohlhaas. In diesem greift er den Rosshändler massiv für seine Taten an und stellt
ihn als einen gottlosen Mörder dar.
Teilaufgabe B:
Interpretieren Sie die Textstelle; beziehen Sie die sprachliche und erzählerische Gestaltung ein.
Zu Beginn der Textstelle plant Kohlhaas gerade die Einäscherung Leipzigs, als zwei seiner treuen Knechte das Plakat Luthers entdecken. Keiner der beiden traut sich, Kohlhaas deswegen zu stören und so
warten die beiden ab, dass er es in den nächsten Tagen von alleine entdecken werde. Jedoch vergeblich.
Kohlhaas erscheint nur zu den Abendstunden und wirkt stets finster und in sich gekehrt“ (Z. 7), wenn
”
er seine Befehle verkündet. Hier lassen sich bereits zwei Veränderungen an Kohlhaas zeigen. Kohlhaas
ist total in seinen Kampf gegen die Obrigkeiten verstrickt, da dieser immer größere Formen annimmt.
Aus diesem Grund nimmt er auch das Plakat nicht war. Außerdem fällt durch die Angst der Knechte auf, dass sich irgendwas an Kohlhaas geändert haben muss, dass sogar seine treusten Knechte ihn
fürchten. Durch seine Selbstüberschätzung (Hybris) als Statthalter des Erzengels Michaels, verbreitet er
Angst unter seinen Knechten. Dies wird besonderes daran deutlich, dass er Knechte, die seinem Willen
nicht folgen, einfach aufknüpfen“ lässt. Er möchte dadurch Gerechtigkeit walten lassen, hat aber als
”
Anführer eines Haufens von Mordbrennern keinerlei Rechte dazu.
Diese Hybris wird durch sein Auftreten auf die Spitze getrieben. So wird ihm ein großes Cherubs”
schwert“ vorangetragen und zwölf Knechte folgen ihm mit brennenden Fackeln. Diese biblischen Symbole lassen auch erahnen, dass Kohlhaas alles andere als erfreut sein wird, wenn er den Brief Martin
Luthers entdecken wird.
Als die beiden Knechte sich endlich trauen, Kohlhaas das Plakat zu zeigen, wird dieser auf einmal aus
seinen Gedanken gerissen. Der ihm teuerste und verehrenswürdigste“ (Z. 19) Mann bezichtigte ihn
”
der Ungerechtigkeit. Diese Situation stellt sowohl für Kohlhaas als auch für die Handlung einen Wendepunkt dar. Kohlhaas’ Bestürzung äußert sich sowohl in Gestik als auch Mimik. So liest er das Blatt
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mehrfach durch und blickt sich zunächst sprachlos um (Z. 20-22), während eine dunkle Röte“ in seinem
”
Antlitz empor steigt. Erst nach einigen Augenblicken kann er wieder einen klaren Gedanken fassen und
befehligt seine Männer. Er übergibt den Haufen an seine treusten Männer und macht sich verkleidet auf
den Weg nach Wittenberg.
Kohlhaas ist schwer getroffen von dem Plakat, was durch sein sofortiges Reagieren gezeigt wird. Luther
hatte ihn mit seinen Vorwürfen entwaffnet“ (Z. 25), aber da Kohlhaas sich immer noch im Recht fühlt,
”
sucht er das Gespräch mit ihm.
Die Veränderung nach Erhalt der Nachricht spiegelt sich auch in Kleists Sprache wider. Zu Beginn der
Textstelle finden wir den für das gesamte Buch typischen hypotaktischen Satzbau. Dieser verlangsamt
den Leseprozess und bildet die Geschehnisse, welche sich gleichzeitig ereignen, auch auf syntaktischer
Ebene ab. Nachdem Kohlhaas jedoch die Nachricht gelesen hat, beschleunigen sich die Geschehnisse.
Die Befehle Kohlhaas’ kommen Schlag auf Schlag“ und auch die weiteren Handlungen werden nahtlos
”
aneinander gereiht aufgezählt.
Kohlhaas, welcher davor noch in einer großen Prozedur auftrat, verkleidet sich nun als thüringischer
Landpächter und lässt seinen Haufen zurück.
Dieses Ablegen seiner Kluft stellt gleichzeitig auch ein Ablegen seiner selbsternannten Rolle des Statt”
halter Michaels“ dar. Dies wird im anschließenden Gespräch mit Luther deutlich, in welchem sich Kohlhaas dem selbigen geradezu unterwirft und versucht, sein Handeln zu erklären. Diesen Einfluss Luthers
erkennt man auch an der Tatsache, dass er es war, der Kohlhaas dazu bewegte seinen Haufen aufzulösen.
Teilaufgabe C:
Kleists Michael Kohlhaas“ und Kafkas Der Proceß“ : Untersuchen Sie in einer vergleichenden Betrach”
”
tung, inwieweit Kohlhaas und Josef K. selbstbestimmt handeln.
Das Auflösen von Kohlhaas’ Haufen geschieht von ihm aus freiem Willen und stellt somit eine selbstbestimmte Handlung dar. Jedoch lässt sich davon nicht auf alle Taten Michael Kohlhaas’ schließen,
weshalb es hier einer genauerer Betrachtung bedarf.
Ebenso weist Josef K. aus dem Roman Der Proceß“ unterschiedliches Handeln auf, welches sich nicht
”
anhand einer einzelnen Tat erklären lässt. Aus diesem Grund möchte ich im folgenden Text die beiden
Werke bezüglich des selbstbestimmten Handelns der Protagonisten vergleichen.
Michael Kohlhaas wehrt sich mit seinem Handeln stets gegen die Ungerechtigkeiten der Obrigkeit. So
leitet er zu Beginn der Novelle rechtliche Schritte gegen den Junker Wenzel von Tronka ein, damit er den
Schadensersatz für seine Pferde erhält. Bis hierhin handelt Kohlhaas vollständig selbstbestimmt. Nach
dem Tod seiner Frau jedoch ändert sich sein Handeln. Von hier an ist Kohlhaas auf Vergeltung aus,
da allein der Wert der verbrannten Tronkenburg und der geplünderten Schätze den Wert der Rappen
übersteigen. Im Zeitraum seines aktiven Kampfes gegen die Obrigkeit, in welchem er mehrere Städte in
Brand setzt und diverse Feldzüge führt, handelt er zwar bewusst, jedoch nicht ganz selbstbestimmt, da
diese Taten allesamt eine Reaktion auf die ihm widerfahrenden Ungerechtigkeiten sind. Sein Rechts”
gefühl machte ihn zum Räuber und Mörder“ (Kohlhaas: S. 3, Z. 15/16).
Nachdem er jedoch, dank Luther, Amnestie erhält, handelt er wieder selbstbestimmt, da sein Anliegen
wieder ernst genommen wird und der gerechte Prozess in greifbarer Nähe liegt.
Obwohl sich aufgrund der Nagelschmidt-Affäre seine Handlungsmöglichkeiten einschränken, bleibt
Kohlhaas’ Handeln von nun an selbstbestimmt. Dabei ist es Kohlhaas immer wichtig, seinem Rechtsgefühl nachzukommen. So bevorzugt er den Fluchtversuch durch Nagelschmidt, anstatt in seiner ungerechten Situation zu verharren, in welcher er wenigstens sicher wäre. Ebenso bevorzugt er später sein
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gerechtes Todesurteil, anstatt auf den Rat der Zigeunerin einzugehen und sich mit der Kapsel freizukaufen. Dieses selbstbestimmte Handeln sorgt auch letzten Endes für den gerechten Ausgang von Kolhaas’
Prozess.
In Kafkas Der Proceß“ verhält sich der Protagonist Josef K. jedoch deutlich anders. Zu Beginn scheint
”
Josef K. ein junger, erfolgreicher Geschäftsmann zu sein, welcher sich seines Handelns sehr sicher ist. So
zum Beispiel während der Verhaftung. K.’s Handeln wirkt sehr selbstsicher, zum Teil arrogant, jedoch
zeigt sich hier schon die Fremdbestimmtheit seines Handelns. So sagt ihm der Aufseher: Ich kann Ih”
nen auch durchaus nicht sagen, dass Sie angeklagt sind oder vielmehr ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie
sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht.“ (Proceß: S. 17, Z. 8-12). K. steigt voll und ganz auf
den Prozess ein, obwohl dieser von keinerlei offiziellen Beamten durchgeführt wird, sondern von dubiosen Männern, welche morgens in seine Wohnung eingedrungen sind und selbst sagen, dass sie nicht
wissen, ob er angeklagt sei oder nicht. Die Tatsache, dass K. trotzdem auf den Prozess eingeht, zeigt
schon hier am Anfang, dass sein Handeln fremden Einflüssen unterliegt, wobei diese nicht näher bestimmt werden können. Es ist möglich, dass sie von einer ominösen, nicht näher bestimmbaren Macht
von außen kommen; andererseits könnte sich vieles, was der Leser erfährt, auch nur in K.s Unterbewusstsein abspielen.
So möchte K. zum Beispiel auch seinen Bekannten, den Staatsanwalt Hasterer anrufen, welcher ihm sicherlich bezüglich seiner Situation hätte helfen können. Dieser Anruf wird ihm auch gestattet. Als der
Aufseher jedoch dann sagt, dass es sinnlos sei, verwirft K. sofort dieses Vorhaben. Als der Aufseher
ihn daraufhin noch bestärkt, dass er den Anruf doch tätigen solle, reagiert K. nur mit einem infantilen
Nein, ich will nicht mehr“ (Proceß: S. 18, Z.10).
”
Sein Handeln bei der ersten Untersuchung wirkt zunächst selbstbestimmt, doch bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass er sich von den Anwesenden dazu hat treiben lassen. Er lässt sich durch die Zwischenrufe zu einer Hassrede“hinreißen, anstatt den Beamten des Gerichtes zuzuhören. Dadurch be”
raubt er sich des Vorteils eines Verhöres.
Eine der wenigen wirklich selbstbestimmten Handlungen K.s ist die Kündigung des Advokaten. Dies
geschieht aus K.s freiem Willen, den Prozess zügig zu beenden, jedoch ist es fraglich, ob das eine gute
Entscheidung war, hinsichtlich seines Prozesses. Generell kann man sagen, dass K.s Fremdbestimmtheit mit der zunehmenden Vereinnahmung durch den Prozess zunimmt. Dies steigert sich soweit, dass
K. bei seiner Tötung von seinen Henkern getragen wird, was geradezu das Höchstmaß an Fremdbestimmtheit darstellt. So lässt er auch jegliche Chance verstreichen, sich zu befreien oder Hilfe zu holen.
Das Gegenteil ist der Fall: Als die Polizisten auf ihn und seine Henker aufmerksam werden und Anstalten machen einzuschreiten, ist es K. selbst, der von sich aus reagiert, um sie los zu werden.
Im Vergleich zu Josef K. handelt Michael Kohlhaas aus freien Stücken, um seine Situation zu verbessern
und/oder seinen Prinzipien treu zu bleiben. Kohlhaas beeinflusst aktiv seine Zukunft und seinen Prozess, wohingegen K. von seinem zunehmend vereinnahmt wird. K. wird zunehmend fremdbestimmt,
wohingegen Kohlhaas bis zum Ende hin sein Schicksal selbst bestimmt.
Hier muss man jedoch auch bei den Prozessen differenzieren. Während Kohlhaas sich physisch gegen die Obrigkeiten auflehnt, was ein eindeutig äußerer Prozess ist, hat K. einen vielleicht deutlich
stärkeren Gegner. So kann man seinen Prozess auch als rein innerlichen, psychischen Vorgang ansehen,
welcher durch die dubiose Gerichtswelt dargestellt wird. Sein unüberwindbarer Gegner wäre damit
er selbst. Geht man davon aus, zeigt der Prozess K.s gesamte psychischen Schwächen auf, wie z.B.
sein Unvermögen Beziehungen einzugehen oder sich selbst Fehler einzugestehen. Seine zunehmende
Fremdbestimmtheit im Prozess zeigt somit seinen voranschreitenden psychischen Verfall auf, welcher
trotz Gegenmaßnahmen unausweichlich war.
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Aufgabe 2
Gestaltende Interpretation
Thema:
Friedrich Schiller (1759 - 1805): Die Räuber
Quelle:
Für Teilaufgabe A haben wir folgende Ausgabe herangezogen:
Friedrich Schiller: Die Räuber, Stuttgart, Reclam 2001.
Teilaufgabe A:
Erläutern Sie kurz die Situation, in der diese Unterhaltung stattfindet. Greifen Sie dabei auf das zum
Verständnis Notwendige aus der vorangegangenen Handlung zurück.
Karl Moor, einer der Protagonisten von Schillers Drama Die Räuber“ (1781), studiert in Leipzig, fern
”
vom väterlichen Anwesen. Er fällt auf eine Intrige seines eifersüchtigen Bruders Franz herein, der einen
Brief des Vaters an Karl gefälscht hat. Karl fühlt sich daher von seinem Vater ungerecht behandelt und
grundlos verstoßen. Er schließt sich daraufhin aufgrund seiner Enttäuschung und seines gekränkten
Gerechtigkeitsempfindens einer Räuberbande an, um gesellschaftliches Unrecht zu rächen. Karl Moor
will das Racheschwert der obern Tribunale“ regieren (II, 3, S. 72, Z. 14) und raubt nicht um des Raubes
”
”
willen“ (II, 3, S. 64, Z. 21). Für sein Leben als Räuber lässt er seine geliebte Amalia und seinen früher
von ihm verehrten Vater zurück.
Mit der Zeit erkennt Karl aber, dass sein Plan nicht aufgeht, dass seine Mittel unkontrollierbar werden
und Unschuldige zum Opfer seiner Bande werden. Ihr seid nicht Moor – ihr seid heillose Diebe! Elende
”
Werkzeuge meiner größeren Pläne“ (II, 3, S. 79, Z. 36f.). Daraufhin will er sich von der Bande distanzieren, sieht aber durch seinen Treueschwur den Räubern gegenüber und durch seine Missetaten keine
Möglichkeit, zurück in sein altes Leben zu kehren. Ich bin so elend, dass ich auch die Herrschaft über
”
mein Leben verloren habe“ (II, 3, S. 80, Z. 16f.). Er unterwirft sich also seinem Schicksal und erkennt,
dass er angeschmiedet [ist] an das Laster mit eisernen Banden“ (III, 2, S. 87, Z. 16).
”
Als der Graf von Kosinsky, der in die Bande aufgenommen werden will, ihm erzählt, dass er seine Geliebte Amalia durch eine Intrige verloren hat, wird Karl Moor an seine Freundin Amalia erinnert und
eine tiefe Sehnsucht nach ihr und seiner Heimat geweckt. Entgegen aller Zweifel entscheidet sich der
sentimentale Karl schließlich, mit seiner Bande nach Franken zu reiten. Dort angekommen gibt er sich
als Graf von Branden aus und trifft sich zu einem Essen mit Amalia und seinem Bruder Franz. Bei dieser
Gelegenheit erkennt er, dass Amalia ihn noch immer liebt und sieht das Bild seines totgeglaubten Vaters
in der Ahnengallerie. Sein Bruder Franz aber wird dem Fremden gegenüber misstrauisch und erkennt
ihn schließlich als seinen Bruder. Um Karl aus dem Weg zu schaffen, erpresst Franz seinen Diener Daniel, den Fremden zu vergiften. Doch bevor dieser zur Tat schreiten kann, erkennt Daniel, dass es sich
bei dem Grafen um seinen Herren Karl von Moor handelt. Als treuer Diener deckt er Karl gegenüber
in Andeutungen die Intrige von Franz Moor auf und deutet sogar die Mordpläne an Karl an. Diesem
wird endlich bewusst, dass er Opfer einer Intrige ist, dass er sich blind hat täuschen lassen und dadurch
sein Lebensglück verspielt hat. Anstatt sich selbst an Franz zu rächen, beschließt er, dass Schloss zu
verlassen.
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Teilaufgabe B:
Gehen Sie von folgender Annahme aus:
Nach dieser Szene treffen Karl und sein Bruder Franz unvermutet aufeinander. Es kommt zu einer
grundsätzlichen Auseinandersetzung über ihr Denken und Handeln. Gestalten Sie diesen Dialog.
Karl eilt aus dem Zimmer in Richtung Garten davon und stößt dabei auf Franz, der eben das Schloss betritt.
Franz (heuchlerisch): Graf von Brand, wohin des Weges? Wollen Sie uns etwa schon wieder verlassen?“
”
Karl: Graf von Brand? Tu doch nicht so, du elender Hund! Du kannst dein lächerliches Versteckspiel
”
ein für alle Mal beenden!“
Franz (überspielt den Schreck): Graf, ich weiß nicht wovon Sie sprechen.“
”
Karl (empört): Du weißt ganz genau, wovon ich spreche. Welch lächerliches Spiel! Und du hast nicht
”
einmal den Mut, zu deinen Missetaten zu stehen. Du feiger Hund sollst mein Bruder sein...“
Franz: Bruder, Bruder ... Ich war dir und dem Alten doch immer egal, war nur der niedere Zweitge”
borene. Du dagegen, du konntest ein lasterhaftes Leben fernab in Leipzig führen und warst trotzdem
immer in Vaters Herz.“
Karl: Ach, und da dachtest du, du könntest mich mit einem gefälschten Brief auf immer aus deinem
”
Leben verbannen. Dachtest, du könntest hier der alleinige Herrscher sein und das Erbe für dich einstreichen. Aber das Schlimmste: Du Lump erklärtest mich sogar für tot! Ich tot! Wie muss das unseren Vater
geschmerzt haben? Wie sehr meine geliebte Amalia verletzt?“
Franz: Deine Amalia? Welche Frau von Ehre würde je einem Räuberhauptmann ihre Liebe schenken?
”
Meine Frau wird sie werden, meine allein!“
Karl: Du irrst. Amalia wird nie die deine Amalia sein, nie! Ihr Herz gehört noch immer mir, ich spüre es.
”
Dich aber nannte sie stets den hölzernen Franz“! Sie hat dein kaltes Herz schon damals durchschaut.“
”
Franz (aufgebracht): Du hinterhältiges, überhebliches Biest! Dass du dich noch über meine Taten wun”
derst! Mein Leben neben dir war die Hölle. Du standest immer an erster Stelle, bei unserem Vater, bei
Amalia, ja selbst bei Daniel. Aber nicht genug, dass der Alte dich stets verhätschelte, auch die Grafschaft
sollte dein werden. Mit welchem Recht? Erstgeborener, pah! Du hast es doch nicht anders verdient! Ich
würde jederzeit wieder so handeln. Ja, ich wünschte sogar, du wärest tot!“
Karl: Ich traue meine Ohren kaum. Wie kannst du nur so etwas sagen? Nein, wie kannst du nur daran
”
denken, mich zu töten? Hast du denn überhaupt kein Herz? Wir sind doch Brüder! Brüder!“
Franz (spottet): Brüder ... Was heißt das schon? Nichts haben wir gemeinsam, sind nur aus dem selben
”
Weib gekrochen. Sind beide das Ergebnis eines tierischen Triebes. Doch unser beider Leben war von
Kind an ein anderes: Der vergötterte Erstgeborene und der missratene Zweitgeborene. Mein ganzes,
elendes Leben lang habe ich mir all das angesehen, habe ertragen, dass ich immer an zweiter Stelle stehe. Selbst als du in Leipzig studiertest, sprach der Alte nur von dir. Und da soll ich dich lieben? Soll aus
Bruderliebe dein Leben ehren? Pah Karl, du irrst! Da ist keine Liebe, da ist nur Hass. Hass auf dich und
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den Alten. Also habe ich mich nicht gescheut, endlich meinem Glück nachzuhelfen.“
Karl (ungläubig): Wie kannst du glücklich werden, mit dieser Schuld auf deinem Rücken? Hast mein
”
Leben zerstört, hast deinen Bruder verleugnet. Hast unseren Vater betrogen, dass er vor Kummer starb.“
Franz (höhnisch): Du eitler Kerl! Glaubtest du wirklich, der Alte starb deinetwegen? Versteh doch end”
lich: Es dreht sich nicht mehr alles um dich. Ich hab jetzt alles in der Hand, ich allein“
Karl (packt Franz am Arm): Was sagst du da? Du Hund, was hast du mit Vater gemacht? Wo ist er?“
”
Franz: Lass mich los, du kannst nichts mehr für ihn tun. Zu spät, zu spät.“
”
Karl (zückt sein Schwert): Sprich auf der Stelle! Wo ist Vater?“
”
Franz: Tot im Verlies. Seit drei Monaten liegt er dort, hatte weder Essen noch Trinken. Die gerechte
”
Strafe!“
Karl (schockiert, lässt das Schwert sinken): Den eigenen Vater zu Tode krepieren lassen. Wie kann ein
”
Mensch nur so kaltherzig sein? Hast du denn kein Gewissen?“
Franz: Welches Gewissen? Es gibt kein Gewissen, das mich strafen kann. Ebenso wenig wie einen Gott,
”
der über mich urteilen kann. Alles nur Ammenmärchen! Erfindungen der Mächtigen, um die kleinen
Leute zu ängstigen, sie in Schach zu halten. Aber ich lasse mich nicht blenden, ich kämpfe für mein
Recht.“
Karl: Ach, was hinderte dich denn dann daran, mich schon vor Jahren zu vergiften? Oder mir einen
”
Dolch ins Herz zu rammen?“
Franz: Bisher wars nicht nötig, ließest du dich doch von einem gefälschten Brief so leicht blenden. Ich
”
wusste, dass dein Stolz dich vom Schloss fernhält. Einen Fußfall vor Vater hätte es dich gekostet, mehr
nicht. Doch du ließest dich von deinem lodernden Geist leiten.“
Karl (aufgebracht): Du Bestie, du schreckst vor nichts zurück!“
”
Franz: Ach Bruder, spar dir deine Moralpredigt. Kannst doch selbst nicht auf ein braves Leben zurück”
blicken. Oder wie sieht es bei dir aus, Räuberhauptmann? Hast du stets tugendhaft gehandelt? Kannst
du reinen Gewissens vor das letzte Gericht treten? Wohl kaum als Räuber ...“
Karl: Nenn mich nicht Bruder! Und maße dir nicht an, über mein Tun zu urteilen. Ich raubte nie um
”
des Raubes willen, hatte zu jeder Zeit die besten Absichten. Ja, ich wollte die Ungerechtigkeiten auf der
Welt bekämpfen, wollte das Racheschwert der oberen Tribunale regieren. Dass auch Unschuldige dabei
Opfer wurden, war nie gewollt. Ich bin freilich nicht auf alle Taten meiner Bande stolz, aber ich weiß
um Recht und Unrecht!“
Franz: Und trotzdem hast du Unrecht verschuldet, bist ein Räuber geworden und wirst auf ewig einer
”
bleiben.“
Karl: Ich bin ein Räuber geworden, weil du mich dazu machtest! Du hast ebensoviel Schuld daran wie
”
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ich, du hast mich meiner Heimat, meiner Familie und meiner Geliebten Amalia beraubt. Ohne deine
boshafte Intrige wäre ich heute glücklich! Glücklich zu Hause, mit Amalia, mit Vater! Und als wäre das
nicht genug: Jetzt hast du mir auch die letzte Chance geraubt, mich mit Vater zu versöhnen. Hast unseren armen Vater sterben lassen wie ein Tier! Nein, dich will ich nie wieder Bruder nennen! Ich verfluche
unsere Blutsverwandtschaft, verfluche das brüderliche Band zwischen uns!“
Franz: Fluche nur, aber es ist zu spät! Du hast verloren!“
”
Karl: Nein Franz, noch nicht! Ich werde kämpfen, kämpfen um Amalia. Werde ihr erklären, dass meine
”
Zeit als Räuber ein Fehltritt war, dass ich durch deine Intrige zum Räuber wurde. Wenn ich ihr erkläre,
dass ich mich ausgestoßen fühlte aus der Gesellschaft durch dich, so wird sie mir verzeihen. Und ich
werde als rechter Erbe aufs Schloss zurückkehren.“
Franz (zückt sein Schwert): Das wirst du nicht tun! Du wirst meinen Plan nicht vereiteln, nicht jetzt!“
”
Franz will Karl mit dem Schwert töten, doch Karl ist schneller, zückt ebenfalls sein Schwert und kämpft.
Karl (keuchend): Ich lasse mir mein Glück nicht von dir nehmen! Du wirst mich nicht töten!“
”
Franz, für einen Augenblick unachtsam, weicht Karls Schwert im Kampf zu langsam aus und wird tödlich verletzt. Er sackt zusammen und stirbt.
Karl (blickt auf ihn nieder): Du hast es so gewollt. Für Vaters Rache nehme ich diese Schuld auf mich, ich
”
musste es tun!“
Anders als im Drama bringt Franz sich nicht selbst um, sondern stirbt im Kampf mit seinem Bruder. Dennoch
kann der Verlauf des Dramas wie in der Vorlage weitergehen.
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Aufgabe 3
Literarische Erörterung
Quelle:
Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein?,
in: ZEITmagazin Leben 32/2007, S. 27.
Aufgabenstellung:
Setzen Sie sich mit dem dargestellten
Verständnis von Literatur anhand Ihrer Leseerfahrung auseinander.
Goethe und Schiller in Weimar.
Kann Literatur die Menschen auch auf der Gefühlsebene bilden?
Quelle: flickr.com – Martin Aka Maha (CC BY-SA 2.0).
Lösungsvorschlag
Schiller, Goethe, Lessing oder Fontane – wer deren Werke liest, kennt ein breites Spektrum an verschiedenen Personen, Charakteren und Situationen und gilt als gebildet. Ja, Literatur fördert das Allgemeinwissen und das Sprachverständnis. Aber kann Literatur die Menschen auch auf der Gefühlsebene bilden?
Dieser Meinung ist Peter Bieri. In seinem Artikel Wie wäre es, gebildet zu sein?“ im Zeitmagazin
”
Leben Nr. 32/2007 schreibt der Autor, dass das Lesen die Menschen in ihrem Einfühlungs-vermögen
schult. Um klären zu können, inwieweit dieser Auffassung von Lektüre zugestimmt werden kann, muss
zunächst das vorliegende Zitat genauer untersucht werden.
Peter Bieri unterteilt die bildende Wirkung von Literatur in seinem Artikel in vier Aspekte. Im ersten
Schritt lerne der Leser, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt
”
ist“ (Z. 2-3). Der Leser lernt laut Bieri also neue Empfindungen und Gefühle kennen, die er so in seinem
Leben noch nicht verspürt hat. Außerdem würde durch Lektüre der Wortschatz eines Menschen vergrößert, er lerne neue Wörter und Metaphern für seelisches Geschehen [...] und kann, weil sein begriff”
liches Repertoire größer geworden ist, nuancierter über sein Erleben reden“ (Z. 3-4). Im zweiten Schritt
ermöglicht Literatur in Bieris Sinne, durch einen größeren Wortschatz differenzierter über die eigenen
Gefühle zu sprechen. Gleichzeitig folgt für ihn daraus im dritten Schritt ein neues seelisches Erleben
der Leser: Der größere Wortschatz ermöglicht [dem Leser], differenzierter zu empfinden“ (Z. 5). Wer
”
so nuanciert empfinden kann, ist, so glaubt Bieri, dazu in der Lage, sich besser mitzuteilen und andere
besser zu verstehen. Das hat zur Folge, dass auch seine Beziehungen zu den Anderen differenzierter
”
und reicher werden“ (Z. 5-6). Das liege daran, dass durch die Lektüre das Einfühlungsvermögen der
Menschen im vierten Schritt besonders geschult würde.
Menschen, die viel lesen, kennen folglich mehr Gefühle als Nicht-Leser, sie haben ein differenzierteres
Ausdrucksvermögen und daher auch eine höhere Empfindungsfähigkeit und ein größeres Einfühlungsvermögen. Diese These klingt aber, zumindest in einigen Punkten, etwas überspitzt. Im Folgenden sollen daher die einzelnen Aspekte auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden.
Der erste Aspekt, dass die Leser neue Empfindungen kennenlernen, klingt im ersten Moment sehr logisch und nachvollziehbar. In der Tat ist es so, dass der Leser durch die Lektüre von Büchern Situationen
entdeckt, die er in seinem Alltag so vielleicht nie erlebt hätte. So kommt es sicher nicht allzu oft vor, dass
der Leser Geld dafür geboten bekommt, einen Menschen zu töten, wie es in Friedrich Dürrenmatts Der
”
Besuch der alten Dame“ der Fall ist. Er wird sich also nur durch die Lektüre mit dem Thema Moral und
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Käuflichkeit beschäftigen. Denn durch das Buch wird er dazu angeregt, über die Gefühle und Beweggründe der Protagonisten nachzudenken. Er wird versuchen, sich in die Personen hineinzuversetzen
und kann somit mit ihnen mitfühlen. Es ist aber fraglich, ob dieser Prozess immer automatisch stattfindet. Ist es nicht eher so, dass der Leser offen sein muss für diese Erfahrung? Nur wenn er sich auf
die Lektüre einlässt und über das Buch nachdenkt, kann er neue Gefühle kennenlernen. Er muss die
Gefühle zulassen, um sie richtig entdecken zu können. Sonst wird er sie nur auf dem Papier lesen, kann
ihnen aber keine realen Signale zuordnen, wie es z.B. ein Film auch ohne Mitfühlen ermöglicht. Außerdem ist es in manchen Fällen doch sehr schwer, die Fantasiewelten der Autoren auf die Realität zu
übertragen. So ist es oftmals das Ziel von Autoren, extrem überspitzte Charaktere und Situationen zu
entwerfen, die keinen Bezug zum Alltag haben. Ob dem Leser im realen Leben tatsächlich einmal eine
so schlechte Person wie Mathilde von Zahnd aus Friedrich Dürrenmatts Die Physiker“ begegnen wird,
”
ist fraglich. Im Großteil der Fälle ist es offenen und reflektierenden Lesern aber sicher möglich, durch
die Lektüre von Büchern und durch das Lesen als fiktives Erleben, neue Gefühle zu entdecken.
Auch dem zweiten Aspekt, dass Lesen den Wortschatz für das seelische Empfinden vergrößert, kann
zunächst zugestimmt werden. Wer liest, lernt neue Begriffe und Symbole. Autoren sind schließlich sehr
darauf bedacht, abwechslungsreich und eindrucksvoll zu schreiben. Durch feine, bildhafte Beschreibungen versuchen sie, jede noch so kleine Regung der Gefühle schriftlich abzubilden. So beschreibt
Johann Wolfgang von Goethe in seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers“ die innersten
”
Gefühle Werthers mit einer eindrucksvollen Sprache. Der Leser lernt also eine feinere Unterscheidung
der Gefühlsbegriffe, da in der Literatur in Bildern und Symbolen gesprochen wird, während im Alltag
eine einfache, unverschnörkelte Sprache vorherrscht. Es bleibt aber wiederum dem Leser überlassen,
ob er sich auf diese Sprache einlässt und die Begriffe richtig interpretiert. Außerdem muss hier eingewendet werden, dass nicht nur Literatur den Wortschatz vergrößert. Auch der Umgang mit anderen
Menschen oder das Schauen von Filmen kann einer Person neue Begriffe beibringen. Grundsätzlich ist
der Punkt aber durchaus richtig.
Kritisch erscheint die These, dass das bessere Ausdrucksvermögen einen Wandel des seelischen Erlebens bei Lesern bedinge. Laut Bieri ist ein großer Wortschatz Voraussetzung dafür, dass die Leser differenzierter empfinden. Es ist sicher richtig, dass Menschen mit einem großen Wortschatz ihre Gefühle
dadurch besser und nuancierter ausdrücken können. Vielleicht lässt sich sogar sagen, dass ein viel belesener Mensch seine Gefühle durch die vielen Abstufungsbegriffe, die er kennt, besser erkennen kann.
Es ist auch bewiesen, dass die Sprache die Gedanken beeinflusst. In der Forschung wurde nachgewiesen, dass nur Menschen, die eine Sprache gelernt haben, dazu in der Lage sind, komplexe Gedankenkonstrukte zu bilden. Aber kann der Wortschatz wirklich auch neue Gefühle bedingen? Empfindet ein
Mensch Schmerz wirklich anders, nur weil er durch die Lektüre der Die Leiden des jungen Werthers“
”
mehrere Begriffe dafür kennt? Der Leser lernt durch die Lektüre, wie oben genannt, andere Gefühlsarten
kennen und schult sein Urteilsvermögen. Die Gefühle sind aber doch sehr persönlich und selbstbestimmt. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass ein größerer Wortschatz das Empfinden verändert.
Dies trifft nur dann zu, wenn Bieri Empfinden im Sinne von differenziertem Wahrnehmen ansieht und
nicht als Fühlen.
Auch Bieris vierter Aspekt, dass Viel-Leser reichere“ Beziehungen und ein besseres Einfühlungsver”
mögen haben, ist in einigen Punkten schwierig. Zwar kann durch Lektüre die Urteilskraft und das
Verständnis für Andere ausgebildet werden und damit ein besseres Einfühlungsvermögen bedingen.
Allerdings ist es auch hier wieder die Leistung des Lesers, sein fiktives Wissen aus Büchern auf reale Menschen zu übertragen. Wenn ein Leser aber nur die Charaktere aus der Literatur kennt und im
realen Leben andere Menschen meidet, ist es sicher unwahrscheinlich, dass er bessere Beziehungen hat
als ein Nicht-Leser. Außerdem sind Leseratten“ oftmals Einzelgänger, die in der Literatur versinken
”
und reale Freundschaften vernachlässigen. Menschen dagegen, die nicht gerne Lesen, haben oft mehr
soziale Kontakte. Durch diesen Kontakt lernen auch sie, andere Menschen besser einzuschätzen und
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Verständnis zu haben. Bieris These ist zwar sicher in einigen Fällen richtig, in anderen Fällen aber eben
nicht. Es kann daher nicht verallgemeinert werde, dass Leser ein besseres Einfühlungsvermögen haben,
da dies auch durch Filme oder Kontakt zu Menschen geschult werden kann.
Zusammenfassend stellt Bieri die These auf, dass die Literatur die Menschenkenntnis fördert und damit das Einfühlungsvermögen schult. Auch wenn einige vorher genannte Aspekte nur bei einer aktiven
Mitarbeit“ der Leser zutreffen, kann ich dieser Ansicht zustimmen. Dazu möchte ich nun einige expli”
zite Beispiele aus der Literatur aufzeigen. Diese führen dem Leser interessante, ungewöhnliche Charaktere vor Augen, zeigen deren nicht immer verständlichen Verhaltensweisen und fördern dadurch ein
erweitertes Verständnis für die unterschiedlichsten Menschen.
Heinrich von Kleist zeigt mit seinem Werk Michael Kohlhaas“, wie sehr sich ein Mensch verändern
”
kann. Der eigentlich sehr rechtschaffene, bodenständige und bescheidene Pferdehändler Michael Kohlhaas wird durch das ihm angetane Unrecht schließlich zu einem grausamen Verbrecher. Da ihm auch
nach dreimaliger Klage nicht Recht zugesprochen wird und bei dem Versuch, sich trotzdem Gehör
zu verschaffen, sogar seine Frau stirbt, greift der enttäuschte und verletzte Kohlhaas zur Selbstjustiz.
Sein Schmerz und Zorn sind so groß, dass es ihn auch nicht mehr stört, dass auch Unschuldige verletzt werden. Aber während es noch verständlich ist, dass der Pferdehändler aus Rache irgendwann
mit Gewalt sein Recht einfordert, ist es wenig nachvollziehbar, dass der einst so bescheidene Mann
plötzlich überheblich wird. Er spricht von sich als Statthalter des Erzengels Michael und will die Arglist
bekämpfen, die auf Erden herrscht. Diesen Größenwahn vergisst Kohlhaas erst wieder bei einem Treffen
mit Martin Luther. Hier wird deutlich, dass die extreme Situation des Unrechts und der Verzweiflung
aus Kohlhaas einen Schuldigen gemacht haben, der er nie sein wollte. Er selbst hätte anfangs wohl auch
nie vermutet, dass er einmal so enden würde. Dem Leser wird vor Augen geführt, dass sich Menschen
verändern können, ohne dies selbst zu wollen.
Auch im Buch Die Räuber“ von Friedrich Schiller kann der Leser viel über Menschen lernen, so zum
”
Beispiel an der Person des Karl Moor. Der Sohn des regierenden Grafen ist anfangs ein ehrlicher und
charismatischer Mann, ein idealistischer Rebell. Als Lieblingssohn genießt er die Zuneigung seines Vaters, ist als Erstgeborener als Erbe vorgesehen und hat eine entzückende Verlobte. Während er in Leipzig
studiert, schmiedet sein eifersüchtiger Bruder eine Intrige, durch die sein Vater ihn verbannt. Als Karl
hört, dass sein Vater ihn verstoßen hat – ohne den wahren Grund dafür zu kennen – schließt er sich einer
Räuberbande an. Er wird in der Bande immer mehr zum Verbrecher, erkennt zwar die Skrupellosigkeit
seiner Gesellen, lässt sich aber selbst zu immer mehr Brutalität verleiten, um ihr Ansehen zu erhalten.
Erst als Karl erfährt, dass seine Verbannung eine Intrige seines Bruders war und dass seine Verlobte ihn
noch liebt und ihm verzeihen würde, gerät er in einen Gewissenskonflikt. Auf der einen Seite will er in
sein altes Leben zurück, auf der anderen Seite aber steht sein Schwur, dass er die Räuberbande nie verlassen werde. Völlig verzweifelt, da es keinen Ausweg gibt, bringt er auf deren Wunsch seine Geliebte
um und liefert sich der Justiz aus. Hier hat die angebliche Zurückweisung des Vaters Karl zum Räuber
gemacht, da er sich in der Bande einen Ersatz für die Liebe seines Vaters suchte. Die Verzweiflung und
Erkenntnis, dass er Opfer einer Intrige wurde und Unrecht getan hat, rüttelt Karl wach, sodass er sich
selbst opfert. Dieses Gefühl der enorme Verzweiflung kann der Leser aktiv mitempfinden und muss
sich Gedanken darüber machen, wie er in dieser Situation handeln würde.
Einen widersprüchlichen Charakter entwirft auch Georg Büchner in Woyzeck“. Der Soldat Franz Woy”
zeck zeigt sich zu Beginn des Dramas als verantwortungsbewusster und aufopfernder Mensch. Er arbeitet hart, um seine Freundin und das gemeinsame uneheliche Kind versorgen zu können, lässt sich
als Nebenverdienst sogar von einem skrupellosen Arzt zu Forschungszwecken anstellen. Im Laufe der
Geschichte wird der arme Soldat aber immer mehr Opfer der Gesellschaft und seines Standes. Sein
Hauptmann demütigt ihn, der Arzt nutzt ihn aus und seine Freundin Marie betrügt ihn schließlich mit
einem Major. Als Woyzeck von der Affäre seiner Freundin erfährt, hört er eine innere Stimme, die ihm
befiehlt, Marie zu töten. Er kauft ein Messer und ersticht Marie, um die er sich zuvor noch aufopfernd
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kümmerte. Die Eifersucht, die Demütigung in der Gesellschaft und das medizinische Experiment lassen
Franz zum Mörder werden. Dabei war es immer sein Ziel, aus dem unteren Gesellschaftsstand auszubrechen, um seine Familie zu ernähren. Doch das Streben nach Materialismus machte ihn körperlich
und geistig krank. Sein Umfeld machte ihn somit zu einem Opfer und Verbrecher. Der Leser kann hier
nachempfinden, wie es sich anfühlen muss, von so vielen Emotionen übermannt zu werden. Gleichzeitig muss er hinterfragen, ob der Mord an Marie gerechtfertigt ist.
All diese Beispiele führen dem Leser verschiedene Gefühlsregungen vor Augen und zeigen, wie ein
Mensch sich verändern kann, wozu er fähig sein kann und wozu Verzweiflung, Schmerz oder Einsamkeit führen können. Der Leser lernt also neue Gefühle kennen, lernt neue Begriffe und Symbole für diese Empfindungen und kann sein Verständnis für diese Gefühle erweitern. Unter Berücksichtigung der
oben angesprochenen Einschränkungen kann der These von Bieri abschließend zugestimmt werden.
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Aufgabe 4
Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich
Thema:
Hermann Hesse (1877 - 1962): Der Liebende
Dagmar Nick (*1926): Früher
Quellen:
Hermann Hesse: Der Liebende, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1970, S. 82.
Dagmar Nick: Früher, in: dies.: Wegmarken. Ausgewählte Gedichte, Aachen, Rimbaud 2003 (2. Aufl.), S. 19.
Aufgabenstellung
Interpretieren und vergleichen Sie die beiden Gedichte.
Seit jeher sind die Menschen auf der Suche nach der einen, wahren Liebe, die ihr Leben vollkommen
macht. Manch einer findet sie, aber viele andere suchen über Jahre hinweg. In unserer heutigen Zeit haben daher schon viele Menschen den Glauben an die große Liebe verloren. Liebe heißt heute oft einfach
gemeinsam Abenteuer erleben und sich körperliche Nähe zu schenken. Aber was ist Liebe wirklich?
Die beiden Gedichte Der Liebende“ von Hermann Hesse und Früher“ von Dagmar Nick beschreiben
”
”
solche Liebeserfahrungen. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Auffassung von Liebe den Gedichten zugrunde liegt.
Das Gedicht Der Liebende“, das 1921 erschienen ist, besteht aus 18 unterschiedlich langen Versen, die
”
nicht in Strophen unterteilt sind. Sie sind lediglich in drei Sätze untergliedert. Hermann Hesse nutzt
ein wechselndes Reimschema, das die einzelnen Sinnabschnitte voneinander trennt. Ein männliches lyrisches Ich (vgl. Der Liebende“, männlicher Artikel) beschreibt voller Euphorie und Emotionen ein
”
Liebeserlebnis, das ihn alles um ihn herum vergessen lässt. In einer Art Ansprache spricht er zu seiner
schlafenden Geliebten und gesteht ihr seine überwältigenden Gefühle.
Das Gedicht beginnt mit einer romantischen Beschreibung der Szene. Das lyrische Ich schildert in der
dritten Person die vergangene Liebesnacht, spricht von sich selbst als dein Freund“ (V. 1) und macht
”
dadurch deutlich, dass das Gedicht an seine Geliebte gerichtet ist. Er stilisiert eine romantische Situation, indem er gefühlsbetonte Begriffe wie milde Nacht“ (V. 1), dein Duft“ (V. 2) und blaue Nebelluft“
”
”
”
(V. 4) benutzt, die aus der Literatur der Romantik bekannt sind. Mit seiner Aussage Noch warm von
”
dir, noch voll von deinem Duft, von deinem Blick und Haar und Kuss“ betont er die körperliche Vereinigung mit seiner Geliebten, die ihn erfüllt hat, und erinnert an die sinnliche Sprache der barocken
Liebeslyrik. Die Wiederholung noch“ (V. 2) und das Polysyndeton und“ (V. 3, 4) verdeutlichen auf
”
”
sprachlicher Ebene den Überschwang der Gefühle. Mit dem Ausruf O Mitternacht, o Mond und Stern
”
und blaue Nebelluft!“ (V. 4-5) wird die Euphorie des Sprechers noch klarer. Er ist von seinen Gefühlen
vollkommen erfüllt, könnte seine Liebe herausschreien und kommt kaum aus dem Schwärmen heraus.
Im zweiten Satz wechselt das lyrische Ich in die erste Person Singular ( mein Traum“, V. 5) und spricht
”
die Geliebte nun direkt an. In einer Art Monolog – die Geliebte antwortet nicht und scheint zu schlafen
– träumt der Sprecher von der Liebe und der vergangenen Nacht. In dich, Geliebte, steigt mein Traum
”
tief wie in Meer, Gebirg und Kluft hinein“ (V. 5-6). Der Sprecher fühlt sich auch im Traum mit seiner Geliebten verbunden, sein Traum steigt“ in sie hinein und die Gefühle sind dabei so tief wie Meer, Gebirg
”
”
und Kluft“ (V. 6). Dieser Vergleich ( Meer, Gebirg und Kluft“, V. 6) könnte außerdem metaphorisch für
”
die körperliche Nähe zu seiner Geliebten stehen und die Rundungen ihres Körpers beschreiben. Dass
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die Liebe verspritzt in Brandung und verweht zu Schaum“ (V. 7) ist, spiegelt die wilde, stürmische
”
Liebe wider, die der Sprecher in der Liebesnacht erlebt hat. Die Alliteration verspritzt“ und verweht“
”
”
(V. 7) verdeutlicht die Vereinigung der beiden Liebenden auf sprachlicher Ebene ebenso wie das Enjambement in Vers 7, das diesen auf formaler Ebene mit dem folgenden Vers verbindet. Das lyrische Ich
vergisst, erfüllt von der Liebe und dem Traum von der körperlichen Vereinigung, alles um sich herum:
Verspritzt in Brandung und verweht zu Schaum, ist Sonne, Wurzel, Tier“ (V. 7-8). Die Akkumulation
”
Sonne, Wurzel, Tier“ (V. 8) steht für die ganze Natur und Welt, die der Liebende ausblendet, nur um
”
”
bei dir“ (V. 9) zu sein. Er denkt nur an seine Geliebte, fühlt eine große Sehnsucht nach ihrer Nähe. Dies
wird durch die Anapher Nur um bei dir, um nah bei dir zu sein“ (V. 9-10) verstärkt, mit der er seinen
”
intensiven Wunsch gleich zweimal äußert.
Dass der Sprecher die ganze Realität um sich herum ausblendet, wird auch im dritten Satz deutlich:
Saturn kreist fern und Mond, ich seh sie nicht, seh nur in Blumenblässe dein Gesicht“ (V. 11-12). Das
”
lyrische Ich schaut nicht in den Sternenhimmel, sondern nur auf seine Geliebte im Mondlicht. Dass
er durch die Gefühlswallungen vollkommen aus der Realität gerückt ist und sich in einer Art Rausch
befindet, wird auf formaler Ebene durch das Anakoluth Saturn kreist fern und Mond“ (V. 11) versinn”
bildlicht. In der Liebe zu seiner Freundin findet sich der Sprecher zu einem wir“ vereinigt wieder, was
”
der Neologismus Blumenblässe“, der zwei Worte mit einer Alliteration verbindet, ausdrückt. Gleich”
zeitig spricht er hier zum ersten Mal in Ich-Form von sich selbst und nimmt die Wirkung der Gefühle
auf sich bewusst wahr. In seinem Zustand der Euphorie sind für den Sprecher alle Widersprüche des
Lebens aufgehoben, seine Gefühle können vom Verstand nicht mehr geordnet werden und gipfeln in
einer extremen Liebe. Das lyrische Ich lacht und weint, empfindet weder Glück noch Leid und versinkt
ins All und Meer (vgl. V. 13-16). Diese extreme, zeitlose und erfüllende Liebe wird auf sprachlicher und
formaler Ebene durch Wiederholungen, Antithesen, ein Oxymoron und eine Parenthese verdeutlicht.
Der Sprecher wird durch die Liebe ganz und gar von der Welt isoliert und nur du, nur ich und du“ (V.
”
15) vereinigen sich zu einem wir“ (V. 17). Das Paar verliert sich in der Liebe und versinkt, die Realität
”
als Erde vollkommen vergessend, ins tiefe All, ins tiefe Meer“ (V. 16). Aber auch, wenn die Individua”
lität der Liebenden verloren geht ( Drin sterben wir“, V. 18), so werden sie durch die gemeinsame Liebe
”
und Zuneigung neugeboren“ (V. 18) und können gemeinsam ein erfülltes, liebevolles Leben führen.
”
Auch in dem Gedicht Früher“ von Dagmar Nick geht es um eine Liebeserfahrung, allerdings aus einer
”
vergangenen Liebe, was schon im Titel Früher“ deutlich wird. Ein lyrisches Ich, das nicht auf sein Ge”
schlecht festgelegt werden kann, spricht über eine gescheiterte Beziehung. Die 18 unterschiedlich langen
Verse sind nicht in Strophen gegliedert und bilden nur zwei Sätze. Der erste, lange Satz mit hypotaktischem Aufbau verdeutlicht auf syntaktischer Ebene die schnelle, abenteuerliche Beziehung. Auch der
schnelle Rhythmus des Werkes unterstützt diese Funktion. Der zweite, kurze Satz bildet dann das knappe Fazit, dass die Liebe erloschen ist. Dies wird auch dadurch deutlich, dass das Gedicht im Präteritum
gehalten ist. Das Gedicht kommt ohne Reimschema aus und wirkt hauptsächlich durch seine starke
Symbolik. Das lyrische Ich berichtet von all den abenteuerlichen Erlebnissen und von den exotischen
Orten, an denen es mit seinem Partner war. Dabei spricht es konsequent im Plural von wir“, obwohl
”
die Beziehung beendet ist. Hier lässt sich lediglich vermuten, ob der Sprecher der Liebe nachtrauert
oder ob die Trennung so aktuell ist, dass das wir“ die Gegenwart noch immer bestimmt.
”
Dass es sich um eine eher ungewöhnliche und beinahe gefährliche Liebe handelt, wird schon zu Beginn
des Gedichtes deutlich. Früher liebten wir uns über dem Abgrund, wo anderntags der Orientexpress
”
von der Brücke sprengte“ (V. 1-4). Der Abgrund ist hier ein Symbol für Gefahr, wer zu nahe am Abgrund
steht, droht hinunter zu stürzen. Genau an diesem gefährlichen Ort liebte sich das Paar, suchte dort das
Abenteuer. Die Brücke bietet dabei nur eine trügerische Sicherheit, sie symbolisiert das Schweben in der
Luft über dem Abgrund. Die Liebenden wähnten sich in ihrer Vereinigung außer Gefahr, fühlten sich
fest miteinander verbunden wie die zwei Enden der Brücke. Dennoch ist ihre körperliche Verbindung,
ihre persönliche Brücke, später eingebrochen. Das Verb sprengte“ spiegelt hier die extreme Dynamik
”
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der Beziehung und das anscheinend überraschende Ende wider.
Die Wüsten Arabiens durchrasten wir ohne Kompass und kamen doch auf den erkorenen Gipfel“
”
(V. 5-7), erinnert sich der Sprecher. Auch hier wird wieder der exzentrische Charakter der Beziehung
deutlich. Die Wüste steht als Symbol für einen brennend heißen Ort, den das Paar ohne Kompass, ohne
genauen Plan für ihre Beziehung, durchraste. Die Liebe der beiden ist so brennend heiß und lodernd,
wie die Temperaturen in der Wüste. Voller Leidenschaft erreichten sie den erkorenen Gipfel“ (V. 6/7),
”
der als sexueller Höhepunkt gedeutet werden kann. Auch hier signalisiert wieder ein dynamisches Verb
( durchrasten“, V. 5) das hohe Tempo der Beziehung und verdeutlicht, dass die Liebe und speziell die
”
sexuelle Nähe sehr intensiv erlebt werden.
Auch die Arche, die in der Bibel Noah, seiner Familie und vielen Tieren Schutz geboten hat vor der Flut,
konnte dem Paar keine Sicherheit bieten, denn sie hatte keine Planken mehr (vgl. V. 8). Doch das hinderte die Liebenden nicht daran, mit dem Schiff in See zu stechen, sondern forderte sie wohl geradezu
zum Abenteuer auf. Das Meer, hier ein Symbol für Sehnsucht und Leidenschaft, spiegelt die tiefe Liebe und das wogende Verlangen des Paares wider. Genau davor wollten die Liebenden nicht durch ein
sicheres Schiff geschützt sein, sie haben vielmehr diese Erfahrung gesucht. Außerdem wird die Dynamik der Liebe wiederum durch ein Verb, hier kreuzten“ (V. 9), versinnbildlicht. Diese Rastlosigkeit des
”
Paares konnte auch im Hafen angekommen nicht beendet werden. Der Hafen, eigentlich ein Symbol für
Angekommen-Sein und Ruhe, wird durch den Zusatz der Albatrosse“ (V. 11) ins Gegenteil verkehrt.
”
Denn ein Hafen voller Zugvögel kann kein Ort für Ruhe und Rast sein, sondern lediglich eine kurze
Atempause vor der nächsten Etappe. Dass der personifizierte Frühling das Paar dort ansteckte (vgl. V.
11/12), macht eine Phase der Ruhe noch unmöglicher, schließlich steht der Frühling für Wandel und
Erwachen. Das Paar wurde von Frühlingsgefühlen angesteckt, verspürt nach wie vor eine frische Verliebtheit und erotische Leidenschaft. Das machte es dem Paar aber eben auch unmöglich, in einer festen
Beziehung anzukommen und eine verbindliche, tiefere Liebe zu spüren.
Das Paar war immer vollkommen auf die erotischen Momente der Liebe fixiert. Das wir“ besteht nur
”
auf einer sexuellen Vereinigung der Partner, als Individuen ich“ und du“ lernten sie sich aber wohl
”
”
nie richtig kennen. Dies wird daran deutlich, dass an keiner Stelle im Gedicht von ich“ oder du“ die
”
”
Rede ist. Der Sprecher erinnert sich lediglich in Form eines erotischen wir“ an die Beziehung, das mit
”
”
den Hinterleibern der Leuchtkäfer um die Wette [phosphoreszierte]“ (V. 13). Die explizite Nennung der
Hinterleiber der Insekten ist hier als Anspielung auf den Paarungsakt zu verstehen, der dem Paar wohl
besonders wichtig war (vgl. um die Wette“, V. 14).
”
An den Höhepunkt der Liebe erinnern auch die Verse eine einzige steingemeißelte Quetzalfeder genügte
”
uns, abzuheben von dieser Welt“ (V. 14-17). Das Paar erlebte gemeinsam eine Ekstase, die es die Welt
vergessen ließ. Diese Ekstase reichte aber nicht aus, um die Liebe im Alltag, abseits der abenteuerlichen, exotischen Erlebnisse, halten zu können, da das Paar den Bezug zur Realität verloren hat. Auch
der Widerspruch der eigentlich leichten Feder, die in Stein gemeißelt sein soll und damit schwer wird,
versinnbildlicht das Scheitern der körperlich erfüllten Liebe. So kommt der Sprecher schließlich auch
zu seinem sehr gefühlslosen Fazit: Früher liebten wir uns“ (V. 17-18). Der Schluss stellt damit eine
”
Wiederholung des Anfangs dar und macht die Endgültigkeit der Trennung dadurch noch deutlicher.
Die sachliche Bekräftigung steht in einem Widerspruch zur abenteuerlichen, intensive Liebe, die zuvor
beschrieben wurde. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass die Beziehung für den Sprecher im Nachhinein betrachtet eben doch nicht mehr war, als ein flüchtiges Abenteuer, das notgedrungen irgendwann endet.
Eine eindeutige Antwort dazu, wie der Sprecher angesichts der Trennung empfindet, gibt es allerdings
nicht.
Nachdem nun beide Gedichte einzeln betrachtet wurden, sollen sie im nächsten Schritt miteinander
verglichen werden. Wie schon bei den Interpretationen deutlich wurde, verarbeiten Hesse und Nick
das Thema Liebe auf vollkommen unterschiedliche Weise. Während Hesse noch dem Mythos der einen
wahren Liebe verhaftet ist, scheint Nick die Liebe als Befriedigung der sexuellen Lust in flüchtigen
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Affären zu verstehen. Diese unterschiedlichen Ansichten werden auch dadurch deutlich, dass Hesse
ein Bild der Ruhe und Harmonie entwirft, während Nick die Rastlosigkeit und Hektik versprachlicht.
Beide Dichter behandeln ihr Thema in 18 Versen, die nicht in Strophen unterteilt sind. Während Hesse
seine Verse in drei Sätze gliedert und ein wechselndes Reimschema nutzt, um die Verse in Sinnabschnitte zu trennen, verzichtet Nick auf ein Reimschema. Sie verdeutlicht mit einem hypotaktischen Satz über
17 Verse den schnellen Charakter der beschriebenen Beziehung und lässt in einem zweiten, kurzen Satz
ein knappes Fazit als Abschluss wirken.
Hermann Hesse lässt seinen Sprecher voller Euphorie eine Liebesnacht schildern, die von romantischen
Momenten geprägt ist. Der Liebende verliert sich in seinen Gefühlen und vergisst die Welt um sich
herum. Er spricht zu seiner schlafenden Geliebten und macht in dieser Ansprache deutlich, dass er sich
durch ihre Liebe vollkommen und neugeboren fühlt. Im Gegensatz dazu erinnert sich das lyrische Ich in
Früher“ an eine vergangene Liebe. In einer Art innerem Monolog beschreibt der Sprecher die abenteu”
erliche, brennende Beziehung. Diese war für ihn aber wohl nur ein flüchtiges Liebes-Abenteuer, denn
die Beziehung war auf körperliche Nähe fixiert, nicht auf eine Vereinigung auf persönlicher Ebene.
Das Gefühl der Neugeburt durch die Liebe verdeutlicht das männliche lyrische Ich in Der Lieben”
de“, indem er zuerst in dritter Person von sich spricht, dann zur ersten Person Singular wechselt und
später von wir“ spricht. Es wird deutlich, dass er zu Beginn von der Liebesnacht überwältigt ist und
”
sich seinen Gefühlen schließlich ganz hingibt. Er verliert sich in der Liebe, findet aber zugleich eine
neue Individualität“ durch die körperliche und seelische Vereinigung mit der Geliebten. Während
”
der Sprecher hier von einer romantischen Liebe träumt, spricht das lyrische Ich in Früher“ von ei”
ner körperlichen Liebe. Es hat sich früher voll der brennenden Leidenschaft hingegeben, hat mit dem
Partner das Abenteuer gesucht. Das männliche oder weibliche lyrische Ich hat sich zwar im wir“ verlo”
ren, aber hauptsächlich auf sexueller Ebene. Eine seelische Vereinigung passt nicht in das Konzept von
Liebe, das in Früher“ entworfen wird.
”
Diese unterschiedlichen Ansichten von Liebe werden auch auf sprachlicher Ebene deutlich. Hermann
Hesse unterstützt seine Konzept der erfüllenden Liebe durch eine lyrische, empathische Sprache. Aus
der Romantik bekannte Begriffe wie Nebelluft“ oder Mond“ zeichnen eine romantische Situation und
”
”
Stilmittel wie ein Polysyndeton, Enjambements oder ein Neologismus spiegeln die Verbindung der Liebenden auf sprachlicher Ebene wider. Die sprachlichen Widersprüche wie lachen“- weinen“ (V. 13),
”
”
Glück“- Leid“ (V. 14), All“- Meer“ (V. 16) oder sterben“- neugeboren“ (V. 18) zeigen dabei, dass der
”
”
”
”
”
”
Liebende zwar seine Individualität verliert, dafür aber eine neue Existenz in der Liebe findet. Dagmar
Nick weicht von dieser lyrischen, romantischen Sprachform ab. Sie arbeitet stattdessen mit exotischen
und extremen Symbolen und Bildern, die den abenteuerlichen Charakter der Liebe verdeutlichen. Die
fast befremdlichen Begriffe wie Orientexpress“ (V. 3), Hafen der Albatrosse“ (V. 10/11) oder Quetzal”
”
”
feder“ (V. 15) zeigen, dass diese Liebe keine traditionelle Liebesbeziehung ist. Durch starke, dynamische
Verben veranschaulicht Nick explizit die Rastlosigkeit und Leidenschaft des Paares. Metaphorische Andeutungen verweisen immer wieder auf den großen Stellenwert der sexuellen Leidenschaft des Paares.
Bei diesem Vergleich stehen also zwei vollkommen gegensätzliche Liebes-Definitionen einander gegenüber. Die romantische Vorstellung einer Liebe, die von Nähe geprägt ist, beständig ist und das Ich“
”
im wir“ vollendet, trifft auf die körperliche Leidenschaft, die rastlose, schnelle Liebe, mit dem Wunsch
”
nach Abenteuern und sexueller Befriedigung. Während Hesse das eher traditionelle Konzept mit einem
lyrische Stil und Begriffen aus der Romantik umschreibt, weicht Nick von traditioneller Lyrik ab. Genau
wie ihr Konzept von Liebe ist auch ihre Sprache exzentrisch und voller Dynamik. Ganz bewusst scheint
sie auf ein Reimschema zu verzichten, um durch den dadurch entstehenden schnellen Rhythmus die
neue, rastlose Form der Liebe zu symbolisieren. Diese entspricht immer mehr dem modernen Konzept von Liebe. Die Menschen haben heute mehr sexuellen Freiraum und nutzen diesen in Affären und
flüchtigen Liebschaften gerne aus. Aber auch das Konzept der wahren Liebe ist noch aktuell, schließlich
träumen noch immer viele Menschen – angeregt von Happy-Ends im Film – von der wahren Liebe.
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◮ Abitur 2009 | GESAMTE PRÜFUNG
Lösungsblatt (ausführlich)
Aufgabe 5
Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte
Thema:
Matthias Drobinski: Der Verlust der Zeit, Süddeutsche Zeitung, Nr. 4 (5./6./7. Januar 2007), S. 4.
Teilaufgabe A:
Arbeiten Sie die Kernaussagen des Textes heraus und analysieren Sie seine sprachliche Gestaltung.
Hektik, Stress, Zeitnot – Begriffe, die aus unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind.
Ohne Terminkalender kommt wohl kein Mensch mehr aus. Neben der Arbeit müssen Termine mit der
Familie gefunden werden, der Freizeitstress wird immer größer und ständig müssen E-Mails, Nachrichten und Facebook-Posts gelesen werden. Sogar Kinder können heute kaum mehr spontan sein, da ein
Termin den nächsten jagt. Wie man seine Zeit sinnvoll nutzen kann, ist heute ein wichtiges Thema in
unserer Gesellschaft. Mit Zeitmanagement-Büchern lässt sich daher jede Menge Geld verdienen. Doch
trotz aller Ratgeber und Tipps haben wir einfach nicht mehr Zeit.
Mit dem Problem der Zeitnot beschäftigt sich auch Matthias Drobinski in seinem Leitartikel oder Kommentar Der Verlust der Zeit“ aus der Süddeutschen Zeitung vom 5., 6. und 7. Januar 2007. In einer
”
essayistischen Form weist er darauf hin, dass Zeit ein immer knapper werdendes Gut darstellt. Durch
die Beschleunigung unseres Alltags bleiben den Menschen immer weniger Atempausen. Gemeinsame
Freizeit zu finden, ist dadurch kaum mehr möglich. Die Entwicklung stellt somit ein gesellschaftliches
Problem dar, das aber auch jeden Einzelnen von uns betrifft.
Als Anlass für seinen Artikel nutzt Drobinski die freien Tage zwischen Weihnachten und Dreikönig.
Diese beschreibt er zu Beginn seines Artikels besonders bildlich. Es wird deutlich, dass die stade Zeit“
”
(Z. 2), die in Bayern herrscht, für ihn eine positive Erfahrung ist. Das Land hält den Atem an“ (Z. 6)
”
und es öffnet sich der Raum für die glücklichen Momente des Zweckfreien“ (Z. 8-9). In dieser Zeit
”
der erzwungenen kollektive Atempause muss man Bayern lieben“ (Z. 1), denn diese sind so selten
”
”
geworden“ (Z. 10).
Ausgehend von seiner Beobachtung beginnt Drobinski, die aktuelle Situation und den Umgang der Gesellschaft mit der Zeit zu analysieren. Dabei stößt er auf einen großen Widerspruch: Schließlich haben
die Menschen heute so viel Zeit – genauer Lebenszeit – wie nie zuvor. Anhand von Statistiken zeigt der
Autor auf, dass heute 40-Jährige noch 40 Jahre zu leben haben, Kinder werden wohl im Durchschnitt sogar 90 Jahre alt. Trotz allem beklagen die Menschen heute, dass sie weniger Zeit hätten und Freizeit ein
Ausnahmezustand sei. Aus dieser Situation schließt Drobinski, dass die industrialisierte Gesellschaft
heute die Zeitnot“ (Z. 13) als Problem empfindet. Diese Aussage belegt der Autor mit der immens
”
großen Menge an Zeit-Ratgebern, die auf Amazon angeboten werden. Eine Ausnahme bilde lediglich
die Gruppe der Arbeitslosen. Diese hätten ein vollkommen anderes Zeitempfinden, würden von den
ungenutzten Monate[n], Tage[n], Stunde[n]“ (Z. 14-15) regelrecht bedrückt, was der Autor durch die
”
Personifikation der Zeit verstärkt wird.
Drobinski versucht außerdem, den Widerspruch zwischen messbarem Zeitgewinn und der gefühlten
Zeitnot zu klären. Durch neue Entwicklungen und moderne Technik wie Computer wird im Vergleich
zu früher viel Zeit eingespart. Trotzdem bleibt kein Raum fürs Zweckfreie“ (Z. 19), da immer neue
”
Zeitfresser hinzu kommen. So rauben uns beispielsweise E-Mails und das Internet auch nach Feierabend die Zeit. Aus diesen Möglichkeiten hat sich eine neue Lebensform entwickelt, die Drobinski als
Multitasking-Existenzen“ (Z. 26) bezeichnet. Die Menschen konzentrieren sich nicht mehr auf ein Ding
”
und erledigen stattdessen immer mehrere Dinge gleichzeitig. Sie widmen ihre rare Zeit Job, Familie,
Freunden und Freizeit einfach parallel. Der Autor kritisiert diese merkwürdige“ (Z. 25) Verhaltenswei”
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se und die Tatsache, dass sie von der Gesellschaft und von der Wirtschaft gewünscht, ja sogar gefördert
wird. Daraus sei ein fragwürdiges Idealbild vom flexibilisierten Menschen“ (Z. 28) entstanden.
”
Dieses neue Menschenbild hat laut Drobinski einen Verlust an gemeinsam verbrachter Zeit und an kol”
lektiven Auszeiten“ (Z. 30-31) zur Folge. Die Menschen würden immer mehr Zeit alleine verbringen, da
die gemeinsame Zeit heute schwer koordinierbar sei. Wie nervend das werden kann“ (Z. 32), wissen
”
Schichtarbeiter, die frei haben, wenn andere arbeiten, so Drobinski. Er gesteht aber auch ein, dass ein
Zuviel an gemeinsamer Zeit auch nicht gut ist. Früher sei dies als Sonntagslangeweile“ (Z. 35) empfun”
den worden. Allerdings sei heute ein Vakuum spürbar, das neu mit kollektiver Freizeit gefüllt werden
müsse.
Während sich die Menschen früher fragen mussten, wie sie mit der Zeitarmut“ (Z. 37) umgehen müssen,
”
stellt sich heute die Frage, wie mit dem Zeitwohlstand in einer beschleunigten Welt“ (Z. 39-40) umge”
gangen werden muss, so Drobinski. Die Langsamkeitspropheten“ (Z. 42) hätten das Thema bereits in
”
den 80ern entdeckt, allerdings waren ihre Vorstellungen romantisch“ (Z.43) und nicht ganz ernstzu”
nehmen, wie es schon Drobinskis ironischer Begriff vermuten lässt. In Zukunft muss das Thema ernster
behandelt werden, denn Drobinski ist sich sicher, dass die Beschleunigungsprozesse“ (Z. 45) anhalten
”
werden. Der Druck auf den Einzelnen, in einer Multitasking-Existenz zu leben, werde also noch stärker
wachsen. Als besonders interessant wertet Drobinski, dass ausgerechnet Ökonomen auf die Beschleu”
nigungsfalle“ (Z. 47) hinweisen, obwohl sie es waren, die den flexiblen Menschen gefordert haben. Sie
sehen besonders die Computer- und Softwarebranche bedroht, da durch die ständigen Unterbrechungen wie E-Mails, Anrufe oder Internet die Angestellten nicht mehr zum Arbeiten kommen“ (Z. 50).
”
Drobinski schließt mit einem Appell an den Leser und die Politik. So sei der Verlust der gemeinsamen Freizeit einerseits eine Frage der persönlichen Moral“ (Z. 52), was Drobinski mit dem Imperativ
”
(Z. 51f.) verdeutlicht. Er fordert den Leser dazu auf, sich dem Zeitdruck und dem Menschenbild zu widersetzen. Noch wichtiger sei andererseits allerdings die Verantwortung der Politik. Es sei die Aufgabe
der Politiker, freie Zeiten zu schützen und zu schaffen. Drobinski sieht in kollektiven, freien Zeiten die
Grundlage für die Gesellschaft: Gemeinsame Zeiten halten die Gesellschaft zusammen, sie sind der
”
Boden, auf dem Kultur und Religion entstehen“ (Z. 57-58).
Der Autor bringt seine Aussage in dem Artikel klar auf den Punkt und wiederholt die wichtigsten Begriffe wie z.B. stade“ (Z. 2, 31, 54). Drobinskis These und Argumente sind sachlich und gut mit Fakten,
”
Beispielen oder Tatsachen aus dem Alltag belegt, die dem Leser einleuchten. Im ersten Absatz entwirft
er ein Situationsbild, das speziell die bayerischen Leser anspricht. Er nutzt aber auch sonst eine bildliche
Sprache – wie Metaphern, Vergleiche und Personifikationen – und regt damit die Phantasie aller Leser
an. Während der Text von seiner Argumentationsstruktur her sehr sachlich ist, wirkt die Sprache fast
manipulativ. Mit Stilmitteln wie dem Imperativ, Wiederholungen und Neologismen lenkt der Autor die
Leser ganz bewusst und provoziert damit ein Nachdenken.
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Teilaufgabe B (Variante 1):
Der Umgang mit der Zeit“ ist ein echtes Zukunftsthema“ (Z. 45). Prüfen Sie die Gültigkeit der These.
”
”
Drobinski spricht in seinem Artikel von dem Verlust der Zeit und stellt die These auf, der Umgang
mit der Zeit sei ein Zukunftsthema. Aber trifft das wirklich zu? Wird das Thema Zeitmanagement in
der Zukunft noch wichtiger als heute?
Richtig scheint die Aussage, dass die Menschen immer weniger Zeit zur freien Verfügung haben, wie
ein kurzer Blick auf den hektischen Alltag der Menschen durch die neuen Entwicklungen und Techniken zeigt. Schon von Klein auf ist der Tag meist voll verplant. Immer mehr Babys werden von ihren
Eltern zu Krabbelgruppen, zum Babyschwimmen oder Babyturnen gebracht, nachdem sie aus der Kinderkrippe abgeholt wurden und ihren Mittagsschlaf gehalten haben. Für Kleinkinder heißt es pünktlich
aufstehen für den Kindergarten, essen und dann in den Musikunterricht oder zum Fußballtraining. So
wachsen schon Kleinkinder unter ständigem Zeitdruck auf.
Auch Schulkinder haben bereits in den unteren Klassenstufen einen vollen Stundenplan mit Nachmittagsprojekten oder Nachmittagsbetreuung. Sie müssen bereits früh lernen, sich an die Fahrpläne von
Bus und Bahn zu halten, um pünktlich in der Schule zu sein. Außerdem müssen sie ihre Hausaufgaben erledigen, bevor der Freund zum Spielen kommt oder die Musikschule beginnt. Jugendliche in
den oberen Klassenstufen haben einen noch volleren Terminkalender. Neben täglichem Nachmittagsunterricht bzw. Ganztagsschule müssen sie Hausaufgaben erledigen, für Klausuren lernen und sich für
Gruppenarbeiten treffen. Außerdem stehen in der Regel die Führerscheinprüfung oder Bewerbungen
an und viele sind in Vereinen ehrenamtlich tätig. Wer sich Geld für Freizeitaktivitäten dazu verdienen
will, muss außerdem noch in einem Nebenjob arbeiten. Gleichzeitig sind gerade in der Pubertät soziale
Kontakte wichtig; wer cool sein will, muss chatten, im Facebook posten und im Internet surfen. Um all
das zu schaffen, müssen Jugendliche ihre Zeit gut einteilen und organisieren lernen. Genaue Absprachen und Zuverlässigkeit sind dafür besonders wichtig.
Erwachsene müssen Beruf, Haushalt und Familie unter einen Hut bekommen. Direkt nach der Arbeit in
den Supermarkt hetzen, die Kinder abholen, danach zu Hause das Essen vorbereiten, die Wäsche machen und dann noch die Freundin zurückrufen, die auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen hat. Auch Elternabende und Vereinstermine stellen eine Verpflichtung im Alltag dar. Zusätzlich
besteht unterbewusst auch der Druck, für alle ständig erreichbar zu sein. Das alles ist nur möglich,
wenn vieles auf einmal erledigt wird und gipfelt oft in den von Drobinski erwähnten Multitasking”
Existenzen“.
Zeitdruck und Freizeitstress sind heute in der Tat an der Tagesordnung. Es ist eine große Herausforderung, allen Ansprüchen des modernen Lebens gerecht zu werden. Daher wird Zeitmanagement immer
wichtiger und sollte wohl schon in der Schule gelernt werden. Außerdem muss die Politik beispielsweise im Bildungswesen überdenken, ob den Schülern die Ganztagsschule wirklich zugemutet werden
kann und ob das Rentenalter tatsächlich erhöht werden sollte.
In Bezug auf den Verlust kollektiver Freizeiten ist Drobinskis These aber überspitzt. Hier gibt es verschiedene Kritikpunkte, die im Folgenden näher erläutert werden sollen. So kann beispielsweise nicht
behauptet werden, dass die gemeinsame Freizeit erst in der Gegenwart abgenommen hat. Es gibt bereits
seit etlichen Jahren Berufsgruppen, die andere Arbeitszeiten haben, als andere. So müssen zum Beispiel
Ärzte, Polizisten oder Maschinenarbeiter schon immer auch an Sonntagen oder Feiertagen ihrem Beruf
nachgehen. Auch Hausfrauen haben keine Freizeit, wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen; für sie beginnt die Hausarbeit dann meist erst. Eine allgemeine, kollektive Atempause“ konnte es
”
also noch nie geben.
Des Weiteren gibt es auch heute noch viele Zeiten, in denen mehrere Menschen gemeinsam frei haben
und sich Raum fürs Zweckfreie“ bietet. Wer seinem Hobby in einer Gruppe nachgeht, hat zwar feste
”
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Zeiten für das Training oder den Kurs, trotz allem handelt es sich dabei um ein Freizeitvergnügen, das
Spaß bereitet. Außerdem wird dieses Vergnügen mit anderen im Rahmen einer kollektiven Veranstaltung geteilt. Vereine, Musikschulen und Co. ermöglichen somit gemeinsame Freizeit. Auch in der Schule
strukturiert der Stundenplan den Tag und bietet mit festen Pausen einen einheitlichen Zeitrahmen für
Entspannung und Erholung.
Das von Drobinski kritisierte Idealbild des flexibilisierten Menschen ermöglicht außerdem neue Freiheiten im Alltag, die früher so nicht denkbar waren. Die flexiblen Arbeitszeiten und Home-Office-Tage,
die in immer mehr Berufen angeboten werden, machen Beruf und Familie leichter vereinbar. Besonders
für berufstätige Frauen stellt diese Möglichkeit eine enorme Entlastung dar. Sie können sich dadurch
die Arbeitszeit so legen, dass sie frei haben, wenn auch die Kinder zu Hause sind. Wenn ein Journalist
mittwochs nicht arbeiten muss, weil er sonntags in der Redaktion ist, stellt das keinen Verlust kollektiver Zeit dar. Er kann dann seine Kinder in den Kindergarten bringen oder nachmittags Zeit mit ihnen
verbringen. Die flexiblen Arbeitszeiten ermöglichen einen selbstbestimmteren Umgang mit der Freizeit,
so kann die eigene Arbeit entsprechend der Arbeitszeiten des Partners oder der Freunde eingeteilt werden. Wer es sich finanziell leisten kann, hat außerdem die Option, nur auf Teilzeit zu arbeiten oder sich
selbständig zu machen.
Ein weiterer Kritikpunkt an der vorliegenden These ist, dass nicht behauptet werden kann, jede Zeitersparnis verschwinde durch einen neuen Zeitfresser. Wer weniger arbeitet, muss die neu gewonnene Zeit
nicht unbedingt mit neuen Terminen füllen. Schließlich kann jeder selbst über seine Zeit – zumindest
über einen Teil der Zeit – bestimmen. Jeder kann für sich entscheiden, wieviele Freizeitaktivitäten er sich
zumutet. Freizeitstress ist daher meist selbst verschuldet, bei Kindern oft durch den Druck der Eltern.
Im Beruf dagegen ist es leider nicht allen möglich, die Zeit selbst einzuteilen. Allerdings bleibt es jedem
Einzelnen überlassen, für wieviele Überstunden er sich bereit erklärt.
Ähnlich steht es auch um das Multitasking und die Nutzung der Medien. Wer sich die Zeit richtig einteilt, muss kein Opfer der Multitaskinggeneration werden. Dafür muss die Person nur ihre Ansprüche
herunterschrauben und sich selbst weniger Druck machen. Häufig rührt der Freizeitstress und der
Zwang zum Multitasking nämlich daher, dass man es allen Recht machen möchte, alles können will
und überall mitreden will. Dieses Perfektionsstreben und der Wunsch, immer besser zu sein als andere
und mehr zu erleben als andere, scheint ein Faktor zu sein, der in Zukunft beachtet werden muss. Außerdem sollte ein verantwortungsbewusster Umgang mit den neuen Medien gelehrt werden. Schließlich
ist es technisch durchaus möglich, Handy und Co. auszuschalten und es gibt – aus technischer Sicht –
keinen Grund dafür, ständig erreichbar zu sein. Wie stark die neuen Medien genutzt werden, hängt somit letztlich ebenfalls vom Einzelnen ab. Allerdings besteht gerade bei Internet und Smartphones ein
erhöhtes Suchtrisiko.
Abschließend kann der These von Drobinski nur in einigen Punkten zugestimmt werden. In der Tat
hat sich ein Wandel in der Gesellschaft vollzogen: Die Menschen wollen immer mehr und haben daher
immer mehr Verpflichtungen. Auch die technischen Veränderungen und Entwicklungen in der Politik
und Wirtschaft sind ein Grund dafür, dass der Alltag immer hektischer wird. Allerdings gibt es entgegen Drobinskis Ansicht noch immer kollektive Freizeiten, da durch die veränderten Arbeitszeiten neue
Möglichkeiten entstehen. Die Gefahr, dass irgendwann keine gemeinsamen Aktivitäten mehr geplant
werden können, sehe ich daher nicht. Es kann gleichzeitig aber auch niemand vorhersehen, wie die Entwicklung weitergehen wird. Doch egal was kommt, der Umgang mit der Zeit wird in unterschiedlicher
Art und Weise immer ein Thema sein.
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Teilaufgabe B (Variante 2):
Verfassen Sie einen Leserbrief, in dem Sie sich ausführlich mit Matthias Drobinskis Beitrag auseinandersetzen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
endlich spricht einmal jemand das Thema Zeitverlust und ständiges Multitasking an. Herr Drobinski hat
in seinem Artikel Verlust der Zeit“ in der Ausgabe Nr. 4 den Nagel auf den Kopf getroffen! Die Men”
schen haben heute einfach keine Zeit mehr, immer sind sie im Stress, hetzen durch die Straßen von einem Termin zum anderen. Und selbst in den freien Tagen zwischen Weihnachten und Dreikönig schafft
es kaum einer, einfach mal abzuschalten. Stattdessen werden Weihnachtsgeschenke umgetauscht, Geschenkgutscheine eingelöst oder die entfernt wohnenden Freunde abgeklappert. Was ist nur los mit
unserer Gesellschaft. Ist es denn wirklich so schwer, einfach einmal nichts zu tun?
Drobinski schreibt ganz zu Recht, dass die glücklichen Zeiten des Zweckfreien extrem selten geworden
sind. Dabei haben wir heute eine fast doppelt so hohe Lebenserwartung als die Menschen noch vor 100
Jahren. Bei dem ganzen Stress, den wir uns heutzutage zumuten, ist das eigentlich ein Wunder. Unser Körper kann kaum mehr zu Ruhe kommen, soll aber 90 Jahre lang funktionieren“. Die Menschen
”
scheinen das Geschenk des Lebens heute nicht mehr richtig wertzuschätzen. Während die Menschen
früher die kurze Zeit, die ihnen auf der Erde beschert war, glücklich und entspannt verbringen wollten,
scheint es heute nur noch darum zu gehen, so viel wie möglich zu erleben. Der Sonntag, der früher als
freier Tag fast heilig war, wird heute mit Freizeitaktivitäten verplant oder sogar für die Arbeit geopfert.
Die freie Zeit, die uns heute noch bleibt, ist also keine echte Freizeit“ mehr. Anstelle von Erholung steht
”
heute der Erlebnisdrang im Vordergrund. Ja, die Zeitnot scheint fast schon ein Statussymbol geworden
zu sein! Wer Zeit dazu hat, einfach einmal gar nichts zu tun, wird von Freunden, Kollegen und Bekannten schon komisch angeschaut und als Langweiler abgestempelt.
Wer das nicht glaubt, muss sich heute nur bewusst umschauen: Beim Joggen über das Headset mit der
Freundin telefonieren, fernsehen und nebenher im Online-Shop einkaufen, beim Einkaufen an der Kasse SMS verschicken, beim Essen die E-Mails abrufen und in der Bahn zur Arbeit frühstücken und die
Zeitung lesen – das alles ist heute ganz normal. Wer nicht mehrere Dinge gleichzeitig erledigt, kommt
mit den 24 Stunden, die ein Tag bietet, auch nicht mehr aus. Die Folge: Keiner konzentriert sich mehr
richtig auf eine Sache, alles wird nur noch halbherzig gemacht. Dadurch entstehen Fehler bei der Arbeit,
Missverständnisse mit Freunden und Familie oder die Erholung beim Sport oder beim Fernsehen bleibt
aus. Wer dagegen weniger macht, dafür das aber richtig, hat meiner Meinung nach viel mehr davon!
In unserer heutigen modernen Welt, in der ich aber die Möglichkeiten habe, fast alles überall zu machen, ist es in der Tat sehr schwer, sich diesem Druck zu entziehen. Das Idealbild des flexibilisierten
”
Menschen“, wie Drobinski es nennt, ist in der Tat jederzeit präsent. Wenn alle anderen flexibel sind,
muss man sich ja schon fast gezwungenermaßen anpassen. Und die Technik unterstützt das Idealbild
zusätzlich, indem beispielsweise unterwegs im Internet gesurft werden kann oder E-Mails über das
Handy empfangen werden können. Berufstätige müssen auch am Wochenende für den Chef oder für
Kollegen erreichbar sein. Auch ich als Schüler muss“ für meine Freunde zu jeder Zeit verfügbar sein
”
– über das Handy, über E-Mail, Chat oder SMS. Wir werden heute ständig von diesem unterbewussten
Kommunikationsdruck“ geplagt. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, gemeinsame Zeiten für Tref”
fen zu finden. Die Eltern abreiten auch am Wochenende, wir Schüler haben durch die verschiedenen
Kurse unterschiedliche Stundenpläne, die kleinen Geschwister haben festgelegte Kindergartenzeiten.
Schon eine Uhrzeit für ein Mittagessen mit der Familie, für einen Besuch bei den Großeltern, für die Geburtstagsfeier oder für Treffen mit den Klassenkameraden zu finden, endet meist in einer Katastrophe.
Ganz wie Matthias Drobinski bin auch ich der Meinung, dass sich das Problem nicht von selbst lösen
wird. Da die technische Entwicklung weitergehen wird und sich immer neue Möglichkeiten bieten, werc Karlsruhe 2013 | SchulLV
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den die Beschleunigungsprozesse“ auch in der Zukunft voranschreiten. Es ist also an der Zeit, dass die
”
Politik einschreiten muss. Der Autor schreibt zu Recht, dass es die Aufgabe der Politik ist, die Zei”
ten des dem unmittelbaren Zweck Entzogenen“ zu schützen. So sollte im Bildungsbereich noch einmal
überdacht werden, ob den Schülern das verkürzte Abitur und Ganztagsschulen wirklich zumutbar sind.
Auch die Frage, ob das Rentenalter wirklich erhöht werden sollte, muss unter Beachtung des Zeitverlustes neu bewertet werden. Außerdem sollte die Politik den Sonntag als freien Tag schützen und dies
beispielsweise im Ladenöffnungsgesetz regeln.
Doch auch wenn die Politik eingreift, liegt die Hauptaufgabe bei jedem Einzelnen von uns! Denn der
Verlust der Zeit ist in der Tat eine Frage der persönlichen Moral und Einstellung. Das ganze Dilemma
rührt nämlich in meinen Augen auch daher, dass die Menschen immer mehr wollen und nicht mehr zufrieden sein können. Der Freizeitstress ist ein angesehenes Statussymbol geworden, weil er zeigt, dass
eine Person viel unternimmt, erfolgreich ist, viele Freunde und tolle Hobbys hat. Die Menschen wollen
sich auf diese Art und Weise gegenseitig immer mehr übertrumpfen. Der Wettbewerbsgedanke in der
Freizeit ist dafür verantwortlich, dass immer mehr gleichzeitig erledigt werden muss. Dadurch entsteht
ein enormer Druck auf die Menschen, die Freizeit wird zum Pflichtprogramm und der Spaß und die
Erholung bleiben aus.
Die Menschen früher waren sicher glücklicher – und das, obwohl sie kein Handy und oft nur ein einziges Hobby hatten. Wir sollten endlich lernen, mit dem Wettbewerb aufzuhören, unsere Erlebnissucht“
”
bekämpfen und wieder mit weniger zufrieden sein. Denn das größte Geschenk ist doch die Zeit!
Vielen Dank an den Autor Matthias Drobinski, der uns mit seinem Artikel wach zu rütteln versucht!
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