Artikel lesen - Lebenshilfe Schwandorf
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Thomas Eichinger und seine Mama Christl kuscheln. Den Ring an seinem Finger hat Thomas vom Opa geerbt. Er legt ihn nie ab. Foto: Kräher Ein Chromosom mehr, na und? Thomas Eichinger tanzt gerne, hasst Rechnen, war verliebt in Daniela und hat Trisomie 21 – über ein Leben, das anders, aber nicht schlechter ist. in ihren Augen. Zwei Wochen später herrscht Gewissheit. Diagnose Trisomie 21. Ihr erstes Kind, ihr kleiner Thomas, hat das Downsyndrom. Das überflüssige Chromosom ist so winzig, dass man es unter dem Mikroskop gerade einmal bei tausendfacher Vergrößerung erkennt. Und doch sind es Mikrometer, die das Leben eines Menschen so anders machen. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Mikrometer, die entscheiden „Das Ergebnis der Chromosomenuntersuchung bekommen Sie dann in gut zwei Wochen“, hatte der Arzt gesagt. Christl Eichinger, damals 26, und ihr Mann Gert sahen einander an. Während der neun Monate Schwangerschaft hatten beide in keiner Sekunde an diese Option gedacht. Chromosomenuntersuchung? Christl ist gelernte Krankenschwester, ihr Mann Krankenpfleger. Beide wissen, dass diese Untersuchung bei Neugeborenen unüblich ist. Schon stehen Tränen Anders, aber nicht schlechter, sagt Christl Eichinger. Sie sitzt in der Küche. Ein Stockwerk höher hat ihr Sohn die Musik aufgedreht. „Jetzt tanzt er wieder“, sagt die Mutter und grinst. Ab und zu hört man ihn auch mitgrölen. Das macht er jeden Nachmittag. Das schwarze Loch im Boden, das sich einmal vor 18 Jahren auftat, ist längst geschlossen. Wenn sie heute andere Mütter von Kindern mit Downsyndrom trifft, die sagen, sie würden alles dafür geben, wenn ihr Kind „normal“ wäre, sagt sie nur: „Man muss annehmen, nicht nur hinnehmen. Da gibt es einen großen Unterschied!“ Keine Extrawurst für Behinderte ..... Thomas dreht beim Tanzen die Musik gerne etwas lauter. Aus den Boxen dröhnen die Songs des US-Musikfilms Highschool Musical. Zig mal hat er sich den Streifen schon angeschaut, die Tanzschritte bis ins kleinste Detail studiert. Hauptdarsteller Zac Efron – im Film spielt er Mädchenschwarm und Basketball-Ass Troy Bolton – ist sein Idol. Mit seinen schnellen und präzisen Bewegungen kann der junge muskulöse Mann aus Schwandorf dem US-Promi fast das Wasser reichen. Nur mit dem Singen tut der 18-Jährige sich schwer. Mit Sprache sowieso. Sein Publikum ist meist nur die Familie. Sein Lehrer wäre froh, wenn er sein Talent auch in der Theatergruppe zeigen würde. Thomas hat das Downsyndrom. Das Chromosom Nummer 21 ist bei ihm dreimal anstatt zweimal vorhanden. Eine Laune der Natur. Eine Genommutation, die seiner Mutter vor 18 Jahren den Boden unter den Füßen wegzog. SCHWANDORF. „Trisomie ist keine Krankheit“ „Das Erste, was ich sage? Ich gratuliere den Eltern zu ihrem Kind!“ CHRISTL EICHINGER. SIE BERÄT ELTERN, DEREN KIND DAS DOWNSYNDROM HAT. ..... ● VON LISA KRÄHER Karteikasten, hier sammelt sie alle wichtigen Nummern und Adressen. Auf den blauen Karteikarten stehen die Namen der Frauen, die sie in den letzten 18 Jahren beraten hat. Immer wieder verharrt sie bei einer Karte, erzählt eine kleine Anekdote, schleckt den Zeigefinger ab und kramt weiter. Gut 20 Eltern in Schwandorf und Weiden – Christl ist dort geboren – hat sie schon beraten. Mit einigen hat sie heute noch Kontakt. Ein Kind ist ein Geschenk. Und Trisomie 21 keine Krankheit. „Tun Sie uns einen Gefallen“, sagt Christl Eichinger. „Schreiben Sie bitte nicht, unser Sohn leidet am Downsyndrom.“ Ihr Mann fügt hinzu: „Unser Sohn ist so auf die Welt gekommen. Er kennt es nicht anders. Er hat noch nie gesagt, dass er gerne anders sein würde.“ Gert Eichinger erzählt von der Tochter eines Bekannten. Als junges Mädchen wiegte sie den frisch geborenen Thomas im Arm. Gert Eichinger erklärte ihr, dass Thomas Trisomie 21 hat. „Na und? Hauptsache er ist gesund“, entgegnete das Mädchen. ..... DOWNSYNDROM ..... Die Mutter taucht den Löffel in ihre Espresso-Tasse. Thomas betritt die Küche. „Ich will auch einen”, sagt er. „Dann mach dir doch einen”, sagt die Mutter. Thomas geht zum Kaffeeautomaten. Aber heute klappt es nicht. Mit ihrer Erfahrung hilft Christl Eichinger anderen Müttern, die ein Kind mit Downsyndrom zur Welt gebracht haben. Sie verteilt Prospekte in ArztPraxen. Die Ärzte und Hebammen im Schwandorfer Krankenhaus geben Betroffenen Eichingers Nummer. Doch was sagt man diesen Müttern und Vätern? „Das Erste, was ich sage? Ich gratuliere den Eltern zu ihrem Kind”, sagt Christl Eichinger. Sie kramt in ihrem Umso mehr stört es die Eltern, wenn Thomas wegen seiner Behinderung anders behandelt wird. Dabei geht es viel mehr um positive Diskriminierung, denn um Behindertenfeindlichkeit. Darum, besonders nett zu sein, nur weil einer Trisomie 21 hat. Oft müssen Gert Eichinger und seine Frau andere in ihrem Bekanntenkreis darauf aufmerksam machen, dass sie noch einen zweiten Sohn haben. Thomas kleiner Bruder Bernd ist 15 und besucht die Realschule in Schwandorf. Er ist ein ruhiger Typ. Spielt Schach und kegelt gerne. Trotz seines jungen Alters attestieren ihm die Eltern großes Verantwortungsbewusstsein. Das habe sicher mit der Behinderung seines Bruders zu tun, sagen die Eltern. Streit gibt es selten zwischen den Brüdern. Kinder mit Downsyndrom entwickeln sich in der Regel langsamer als andere. Die ersten Schritte gehen sie später, fangen später das Sprechen an. An diesem Donnerstag haben Thomas und Daniela Praxis-Tag. Während Daniela im Klassenzimmer Filzperlen rollt, hämmert Thomas bei Lehrer Ludwig Weidel im Werkraum. Der alte Koffer für die Schulgitarre muss repariert werden. Thomas und sein Freund Tobi verkleiden sie mit Lederfetzen. Wie beim Tanzen ist er auch hier sehr feinmotorisch. Geduldig biegt Thomas die Metall-Klammern um, mit denen Herr Weidel das Leder angetackert hat. „Thomas lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen“, sagt sein Klassenlehrer Florian Beck. Er sei praktisch sehr versiert. Beim Lesen, Schreiben und Rechnen allerdings fehle ihm die Motivation, so Beck. Das sei typisch bei Downsyndrom. In einem Jahr schließt Thomas die Schule ab. Danach will er in einer Werkstätte arbeiten. Während Thomas kräftig hämmert, fragt Kumpel Tobi, ob der am Freitag nicht mit ihm ins Basketballtraining der Schule gehen möchte. Thomas hält kurz inne. Warum eigentlich nicht? Troy Bolton tut es schließlich auch. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! Christl Eichinger gibt zu, dass es in den 18 Jahren immer wieder Momente gab, in denen sie traurig war. Als sie sah, wie weit die anderen Kinder waren. Und wie ist das heute? Andere 18Jährige haben in diesem Alter schon Freundinnen, den ersten Sex. Auch Behinderte haben Bedürfnisse. „Wir reden mit unserem Sohn ganz offen über seine Sexualität. Man kann nicht immer alles tabuisieren“, sagt die Mutter. Mit dem Rad zur Liebsten Eine Freundin hatte Thomas noch nicht. Aber da gab es ein Mädchen, das ihm den Kopf verdreht hat. Daniela. Eines Nachmittags hatte Thomas seinen Eltern einen großen Schrecken eingejagt. Er hatte sich einfach ein Fahrrad geschnappt und ist zu ihr geradelt. Daniela hat langes schwarzes Haar. Ihre dunkelbraunen, schmalen Augen lachen, wenn sie über Thomas redet. Wie Thomas besucht sie die RupertEbenberger-Schule in Amberg, eine Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Jeden Tag fahren sie gemeinsam mit dem Bus zur Schule. Daniela hat Thomas sehr gern. Er ist sehr nett und hilfsbereit, sagt sie. Warum sie kein Paar sind? Daniela hat einen anderen Freund. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ➜ Was tun bei Diagnose Downsyndrom? Beratung bei Christl Eichinger, Virchowstraße 2, Schwandorf Tel. (0 94 31) 6 25 56 DAS DOWNSYNDROM/TRISOMIE 21 ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ➤ Menschen besitzen in der Regel 23 Chromosomenpaare, also 46 Chromosomen. Das 23. Paar sind die sogenannten Gonosomen (die geschlechtsbestimmenden Chromosomen– beim Mann XY, bei der Frau XX). Die anderen Chromosomenpaare heißen Autosome. ➤ Beim Downsyndrom handelt es sich um eine Genommutation. Das Chromosom 21 ist dreimal anstatt zweimal vorhanden. Deshalb verwendet man für das Downsyndrom auch häufig das Synonym Trisomie 21. Statistisch gesehen, ist jede 700. Geburt betroffen. Das Risiko, dass ein Kind Downsyndrom hat, steigt mit dem Alter der Mutter an. ➤ Diese relativ seltene Verdreifachung ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● des Erbgutes geschieht durch einen unüblichen, zufälligen Prozess während der Zellteilung. ➤ Menschen, die von Trisomie 21 betroffen sind, haben nicht nur typische körperliche Merkmale, sondern sind in der Regel auch bei ihren kognitiven Fähigkeiten beieinträchtigt. ➤ Der britische Neurologe John Langdon-Down befasste sich 1866 zum ersten Mal wissenschaftlich mit dem Syndrom. Der genetischen Ursache allerdings ging der französische Genetiker Jérôme Lejeune zum ersten Mal auf den Grund. Im Jahre 1959 entdeckte er, dass alle Menschen mit Downsyndrom 47 Chromosomen besitzen, anstatt 46. (lk)