test + technik

Transcrição

test + technik
t e s t + t e c h n i k
Impression Retro-Bikes
2-Zylinder
BMW R nineT
Moto Guzzi Griso 1200 8V S.E.
4-Zylinder
Yamaha XJR 1300
Honda CB 1100
Gefühlsecht
Wenn zwischen Bürostuhl und heimischer Garage noch ein ganzer Arbeitstag liegt, braucht man ein besonderes Motorrad, um die Vorfreude bis zur
Feierabendtour aufrechtzuerhalten. Fernab von Kurven-ABS und Traktionskontrolle beweisen diese vier luftgekühlten Retro-Bikes, dass Motorrad­
fahren vor allem eines hervorbringen muss: Gefühle.
Von Roman Engwer; Fotos: jkuenstle.de, Gargolov (1), fact (1)
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test+Technik
8/2014
w w w. m otor r ad onl i ne.d e
test+Technik
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Impression Retro-Bikes
O
bwohl sich zu dieser Jahreszeit
nur wenige Touristen an die
Côte d’Azur verirren, bleiben vor
dem Café im südfranzösischen
Cassis immer mehr Menschen stehen.
Das Interesse gilt nicht leicht bekleideten
Frauen, sondern vier luftgekühlten, nackten
Retro-Bikes, deren Motoren sich knisternd
und knackend von der Arbeit erholen. Das
bringt einen Motorrad-Tester schnell zum
Grübeln. Denn eifern die Zweirad-Hersteller
mit technologischen Neuheiten um die
Wette, begeistern gerade die Puritaner der
Modellpaletten die Passanten.
Ob die Seele beim Blick auf das eigene
Motorrad jubiliert, entscheidet keine Griffheizung – das weiß man schon lange.
Aber welch unheimliche Anziehungskraft
die BMW R nineT, Moto Guzzi Griso, Yamaha
XJR 1300 und Honda CB 1100 in Südfrankreich auslösen, öffnet einem abermals
die Augen dafür, was Motorradfahren so
intensiv macht: Gefühle. Das mag zwar
kitschig klingen, trifft aber den Kern. Dass
jener Kern stets anders ausgefüllt sein kann,
beweist jedes dieser vier Motorräder auf
jeweils eigene Weise.
BMW R nineT – der Edel-Roadster
Selbst wenn man mit den Bayern auf
Kriegsfuß steht, muss man beim Blick auf
die R nineT eingestehen, dass die Münchner mit ihr das bisher schönste Motorrad
abliefern. Ketzerische Stimmen sagen:
ihr erstes schönes. Gut, das könnte sein.
Die konsequente Umsetzung des EdelRoadsters beginnt zur Freude vieler beim
Fahrwerk. Endlich erhält man neben der
Supersport-Rakete S 1000 RR und der nackten Kanone S 1000 R eine BMW, die ohne
Telelever an den Start geht. Mit konventioneller Upside-down-Gabel ausgestattet,
kommt sie nun für all jene in Frage, für
die ein glasklares Feedback von der Front
genauso u
­ nverzichtbar ist wie der Ketchup
auf der Currywurst.
Genussvoll saust man nun mit dem
luftgekühlten Boxer auf eine enge Kurve
zu, greift zunächst kräftig in die mit einem
tollen Druckpunkt versehene Vorderradbremse, gibt sie mit dem Einlenken ins Eck
sukzessive frei, um sie erst in tiefer Schräglage völlig zu lösen. Herrlich, wie euphorisierend sich ehrliche und transparente
Technik auf den Organismus auswirkt. Mit
jeder Kurve beginnt die Perfektion dieses
Handlungsablaufs von vorn, der Fahrer
grinst nach jeder Kurve breiter durchs Visier.
Die Conti-Schlauchreifen unterstützen
das Feedback dabei hervorragend und verzahnen sich selbst bei kühlen Bedingungen
energisch mit dem Asphalt. Nie braucht
man als Fahrer über die Beschaffenheit der
Haftverhältnisse zu zweifeln. Gleiches gilt
für das Hinterrad, über dessen Kontakt zur
Fahr­bahn ein eher straff ausgelegtes Zen­
tralfederbein wacht. Da es zudem nicht mit
einem feinen Ansprechverhalten ausge­
stattet ist, poltert man auf welligem Fahrbahnbelag langfristig die Bandscheibe zum
Vorfall. Wer noch nicht mit altersbedingten
Krankheitssymptomen zu kämpfen hat,
erntet dafür ein traditionelles Fahrgefühl
par excellence. Und mehr als das: Wen
schert schon der mäßige Federungskom-
fort, wenn man dem Boxer an jedem Scheitelpunkt genau so kräftig die Sporen geben
kann, wie es der Grip gerade noch zulässt?
Mit dem optimal in der Hand liegenden
Lenker und der harten Sitzbank lässt sich
die Straße förmlich erfühlen.
Das Gefühl, das diese BMW transportiert,
ist einmalig: ultradirekt, super ehrlich und
nichts für Wasserbett-Besitzer. Mehr Komfort bieten andere Modelle, nur steht keines
mit einer solch edlen Anmutung beim
Händler. Selbst nach drei Tagen intensiver
Aus­einandersetzung mit dem 222 Kilogramm leichten Edel-Boxer findet man
noch Schräubchen am Krad, an denen man
erkennen kann, wie viel Liebe in dieses
Motorrad geflossen ist. Vom geschmiedeten Aluminium-Handrad der hydraulischen
­Federbeinverstellung über die schicke,
ebenfalls geschmiedete Gabelbrücke mit
konisch zulaufenden Schraubdomen bis
hin zum selbstbewusst in Szene gesetzten
BMW-Emblem im Rundscheinwerfer. Wer­
tige Materialien treffen auf feine Verarbeitung, elegante Linienführung und sensationelles Finish. Wer immer noch kritisch auf
die Bilder äugt, muss in Gedanken nur mal
über den gebürsteten und mit Klarlack
überzogenen Alu-Tank streicheln. Danach
versteht man die Begeisterung, die sich
auch vor dem Café in Cassis bei den vorbeischlendernden Passanten breit macht.
Markant hängt der zwischen dem vorderen und hinteren Teil des Stahlgitterrohr-
„Ob die Seele jubiliert, entscheidet keine Griffheizung“
Puristisch, aber gefühlsecht:
Mit diesen vier Retro-Öfen
schmeckt Motorradfahren
wieder nach Freiheit
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Impression Retro-Bikes
BMW R nineT
„Abwinkeln, Hahn auf und
pures Glück Erfahren“
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rahmens als tragendes Element integrierte
Boxermotor im Wind. Das luftgekühlte
Herz­stück, das man letztes Jahr zugunsten
eines wassergekühlten Hochleistungs­
boxers kurzzeitig zur Geschichte erklärte,
erlebt in der R nineT seine Wiedergeburt.
Oder besser: seine Auferstehung in endgültiger Bestimmung.
Spätestens wenn der Startknopf die mächtigen zwei Zylinder in Wallungen versetzt,
erfolgt die symbiotische Vereinigung von
Motor und Fahrwerk als evolutionäres End­
stadium. Diese anregende Optik, dieses
Wachrütteln des gesamten Krads durch die
längsliegende Kurbelwelle und die hohen
Schwungmassen lassen das Fahrerherz im
Gleichtakt mit dem Boxer pulsieren. Der
unverfälschte Blick auf die seitlich herausragenden Zylinder unterstützt dieses Gefühl
ungemein. Wer die Liebe auf den ersten
Blick nie erfahren durfte, kann das ab sofort
für 14 500 Euro nachholen. Dass das Sitzpolster keine Mammut-Etappen erlaubt, der
Kniewinkel für Menschen über 1,85 Meter
sportlich ausfällt und der (ansonsten unauffällige) Kardanantrieb beim Runterschalten
ein stempelndes Hinterrad begünstigt, darf
getrost vernachlässigt werden. Ebenso die
nur befriedigende Handlichkeit. Denn mit
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Roadster mit Café-Racer-Anleihen: Die Linienführung ist perfekt, das kurze Heck ein Traum.
Echte Hingucker: das Emblem im Scheinwerfer,
hübsche Details, filigrane Bauteile
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Moto Guzzi Griso 1200 8V S.E.
„der V2 pulSiert, dAS herz
bebt im GleichSchritt:
die welt GehÖrt mir“
Kurzer Überhang des Kotflügels mit perfekt integriertem Rücklicht. die Steuerkopfmutter wirkt
edel, die Krümmerrohre sind ein selbstbewusstes
Statement und Alleinstellungsmerkmal
Impression Retro-Bikes
dem fulminanten Antritt des bis zu 115
Newtonmeter drückenden Aggregats sind
jegliche Zweifel wie weggeblasen. Schon
ab 1000 Umdrehungen nehmen die 1200
Kubik Hubraum ohne Murren den Ladungswechsel vor, machen das Fahren im sechsten Gang ab 40 km/h problemlos möglich.
Wer von hier an das Gas aufzieht, wird nicht
nur mit stets ausreichendem Vortrieb belohnt, sondern auch mit einer einmaligen,
unnachahmlichen und keineswegs zurückhaltenden Soundkulisse aus dem linksseitigen Doppelschalldämpfer. Der dabei ausgebreitete, bassige Klangteppich lässt die
letzten Zweifler verblassen. Wer braucht
schon die 15 zusätzlichen PS aus dem modernen Wasserkocher? Mit in der Spitze bis
zu 110 PS steht immer genug Schmackes
zur Verfügung. So brät man mit der bayerischen Dame mitunter hastig durchs Geläuf,
als wäre man auf Partnersuche bei der
Hüttengaudi. Dabei kann man es mit dem
Motorrad durchaus gelassen angehen.
Ihren Charme versprüht die R nineT auch
ohne schnell zu sein. Sie schmeckt schon
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Der eine boxt, der andere pulsiert: Die beiden luftgekühlten Zweizylinder aus Europa besitzen viel Charakter, unterscheiden
sich in ihrer Leistungscharakteristik aber deutlich voneinander. Besser klingt überraschenderweise der BMW-Boxer
Impression Retro-Bikes
nach frühlingshaftem Freiheitsdrang, da
liegt außerhalb der Garage noch meterhoch Schnee. Ob das italienische Vorbild,
die Moto Guzzi Griso, diesen Gefühlsausbruch parieren kann?
Moto Guzzi Griso – massig, bassig
Sie kann. Bildlich gesprochen fährt Hersteller Moto Guzzi bereits seit 2007 in dem Zug,
auf den BMW erst jetzt aufspringt. Mit der
Griso 1200 8V Special Edition haben die
Italiener ein monumentales Kunstwerk im
Roadster-Look auf die Beine gestellt. Ganz
anders als die BMW, verzückt sie ihre Betrachter mit massiven und muskulösen
Elementen, die sich zu einem geradlinigen
Äußeren verbinden. Die Griso begeistert
mit einem systematischen Aufbau wie ein
Einfamilienhaus mit roter Klinkerfassade.
Unglaublich harmonisch fügen sich der
quer eingebaute V-Motor, die Kupplung, das
Getriebe und der mächtige Kardanantrieb
in ein stimmiges Gesamtbild. Jegliche Teile
sind fein verarbeitet, wirken wie für die
Ewig­keit gemacht. Die schwarzen Speichenräder, der schwarze Rahmen und der Sitzbankbezug unterscheiden die SE-Version
von der bisherigen Standardversion, die seit
2013 nicht mehr im Programm ist.
Beim Blick auf das Bike bleibt man stets
bei dessen dominantem Herzstück hängen,
dessen Zylinderköpfe bis heute „Quattro-
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valvole“ zieren. Ein Hinweis darauf, was
mittlerweile gang und gäbe ist: vier Ventile
pro Zylinder. Selbstbewusst und in einem
Winkel von 60 Grad ragen die Zylinder
rechts und links aus dem Stahl-Brückenrahmen heraus. Trotz weit nach hinten verlagerter Sitzposition werden die Beine des
Fahrers wegen der platzbedürftigen Motorkonstruktion stark gespreizt. Und auch die
Arme müssen sich trotz hoher Riser weit
nach vorn strecken, um den Lenker richtig
anpacken zu können. So klassisch wie
ihr Look ist eben auch die lang gestreckte
Sitzposition. Dafür hockt man als Fahrer
ganz nahe am Geschehen, wenn das Triebwerk die Arbeit aufnimmt und sich beim
An­lassen von links nach rechts schüttelt.
An Schwungmasse mangelt es der Guzzi
jedenfalls nicht.
Mit schlürfendem Ansauggeräusch
geht sie manierlich ans Gas und pulsiert
sich auf den ersten Metern noch etwas unrhythmisch warm. Macht aber nix, denn die
montierten Pilot Road 3 von Michelin benötigen ebenfalls eine kurze Warmknetphase.
„Wachgerüttelt fährt es
sich besser“
Ausreichend Zeit also, um sich am sonor
schnaufenden Auspuffsound zu erfreuen,
der eine Spur dezenter, aber keineswegs
weniger emotional als der der BMW ausfällt.
Verkehrte Welt, könnte man meinen: Vor
­einigen Jahren war es noch undenkbar,
dass eine BMW lauter stampft als eine Moto
Guzzi. Und wo man schon den direkten Vergleich bemüht: Die höhere Gesamtmasse
der Griso von insgesamt 248 Kilogramm
fällt nicht nur sprichwörtlich ins Gewicht.
Mit deutlich mehr Muckis muss die Guzzi
ins Eck gewuchtet werden. Sie lässt sich
zwar über den gesamten Bereich neutral in
Schräglage bringen, hält von kurzfristigen
Kurskorrekturen allerdings wenig.
Die Abstimmung der Upside-down-Gabel
und des Federbeins, die beide von Showa
stammen, können dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Beide taugen sowohl
für die flotte Landstraßenhatz als auch für
sinnliches Dahinbollern. Sie brillieren im
Vergleich zur BMW mit deutlich besserem
Ansprechverhalten. So gleitet man mit der
Italienerin genüsslich über Schlaglöcher,
wo der R nineT-Treiber einen Stoß nach
dem nächsten versetzt bekommt. Dass die
Guzzi in puncto Handling nicht vom besser
ab­gestimmten Fahrwerk profitiert, liegt
auch an ihrem langen Radstand von 1554
Millimetern. Mit etwas Zug am Lenkerende
kann man sie dennoch flott über verwinkelte Straßen scheuchen.
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Wussten sie schon?
‘’i have raced professionally
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but also half of the
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yamaha XJR 1300
„Am ende
erkennen Sie
jA dOch, dASS
pOwer eine
lAnGe trAditiOn hAt“
Impression Retro-Bikes
Dass man in Mandello weiß, was feine
Verarbeitung ist, erkennt man rasch – beispielsweise am elegant geschwungenen
Heck mit perfekt integriertem Rücklicht, der
gefrästen Steuerkopfmutter oder dem mit
Lufthutzen versehenen, seitlichen Ölkühler.
Die markentypischen, oberarmdicken
Krümmer sehen nicht nur erstklassig aus,
sondern stellen sogleich die Muskeln der
Griso zur Schau.
Etwas rustikaler präsentiert sich der ItaloTwin. Er quittiert jeden Gasstoß mit spürbaren Vibrationen. Doch das darf so sein:
Sie lassen den Fahrer die Einzigartigkeit
dieser Guzzi spüren. Verwunderlich bleibt
beim Rausbeschleunigen auf der Geraden
nur, dass die Leistungskurve immer noch
zwischen 3500 und 5000 in ein kleines
Drehmomentloch purzelt. Aber was soll’s?
Schließlich gibt der V2 vor und nach diesem Loch lebendig Zunder und brennt in
der Spitze auf dem Niveau der BMW durch
die Botanik.
Entsprechend stolz dürfen Griso-Besitzer auf ihr Bike sein. Es sieht klasse aus,
massiert mit seinem Klang die Fahrerseele
und bleibt dabei ein exklusives, wertig
gefertigtes Motorrad. Mit 14 590 Euro leistet
die Griso der BMW in finanzieller Hinsicht
Gesellschaft. Eine Guzzi ist eben nicht für
jedermann. Auch das stärkt den Charakter.
Und wer mit Exklusivität nichts am Hut
hat, sondern auf echtes Muscle-Bike-Feeling Wert legt, wäre mit der Yamaha eh
besser bedient.
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Die auffälligen Öhlins-Stereofederbeine sind ein
Augen­schmaus, ebenso die klassischen Rundinstrumente. Das Heck spricht eine sportliche Sprache
Honda CB 1100
„entSpAnnunGSkur GefälliG?
einfAch eine
runde drehen!“
Impression Retro-Bikes
Yamaha XJR 1300 – das Original
Dieses Bike verdient sich vorab eine Verneigung. Nicht weil es irgendwelche Superlative verkörpert oder Rekorde gebrochen
hat, sondern weil es eine Yamaha XJR
ist. Mittlerweile schon seit 19 Jahren im
Programm (davon 13 Jahre als 1300er),
bekommt dieses Motorrad vor Lachen fast
Tränen in die Augen, wenn es den Begriff
Retro-Bike hört. Schließlich pumpt sie mit
ihrem sahnigen Vierzylinder-Kraftprotz
seit ewigen Zeiten als echtes Original über
die Straßen der Welt. Was das heißt?
Als letzte Überlebende einer aussterbenden Art hält sie tapfer die Fahne der Big
Bikes hoch. 1300 Kubikzentimeter Brennraum, verteilt auf vier luftgekühlte Zylinder
in Reihe, das Ganze muskulös verpackt in
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einem stattlichen Stahlrohrrahmen: Die
90er-Jahre-Big-Bike-Ära lebt in Gestalt dieser Yamaha weiter. Gut so, denn optisch
materialisiert sich in ihr, was Menschen als
Bild im Kopf haben, wenn sie den Begriff
„Motorrad“ hören. Okay, das mag von Generation zu Generation leicht differieren,
die XJR verbindet aber zahlreiche traditionelle Elemente unterschiedlicher Epochen
zu einem sinnhaften Ganzen.
Man schaue sich nur mal die edlen ÖhlinsStereofederbeine an, die kein Zweirad
schöner in die Luft stellt. Der tropfenförmig gestaltete 21-Liter-Tank, der nur leicht
gekröpfte Alu-Lenker, die klassischen, in
Chrom eingefassten analogen Rundinstrumente, ja, vor allem der stets im Mittelpunkt
stehende, massiv verrippte Vierzylinder
verbinden Vergangenheit und Gegenwart
so wunderbar, dass man sich beim Blick in
die Zukunft weiterhin auf der XJR durch
die Weltgeschichte brummen sieht.
Und selbst hinterherfahrende Mopedpiloten werden an die wohligen Zeiten
ihrer Geschichte erinnert. Wer das Heck der
1300er vor sich sieht, hat unweigerlich die
ersten R1-Superbike-Granaten vor Augen.
Doch ganz so sportlich wie das Heck suggeriert, düst der 251 Kilogramm schwere
Mohikaner erwartungsgemäß nicht über
die Hausstrecke. Braucht er aber auch nicht.
Mit den polierten Zylinderkopfdeckeln, dem
lauten Knacken und Tickern des sich abkühlenden Motors und der erstklassigen Verarbeitung triumphiert man am nächsten BikerTreff sowieso. Außerdem darf man sich mit
diesem Moped noch als echter Macker fühlen, muss ordentlich schuften, um die Fuhre
in Wechselkurven schnell umzuklappen.
Dafür bedient man das hervorragend
rastende Getriebe nur in sehr seltenen Fäl-
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Verchromte Kotflügel, schnuckeliges
70er-Jahre-Heck, grün unterlegte
Analoguhren und ein herrlich schmaler und flacher Tank machen die CB
1100 zum echten Publikumsmagneten
Impression Retro-Bikes
len: losfahren, fünften Gang einlegen und
rollen lassen. Das ist die Devise der Yamaha.
Ob langsame Etappen oder flotte Überholvorgänge, dem Triebwerk ist das ganz
und gar schnuppe. Es schaufelt in jedem
Drehzahlbereich ausreichend Power an
die Kurbelwelle und erhebt das Fahren mit
der XJR zu einem souveränen Staatsakt.
Dabei blieb der Motor seit 2007 unverändert. Damals erhielt er eine elektronische Einspritzung, eine klappengesteuerte
4-in-1-Auspuffanlage und drei Katalysatoren, die sich seitdem um die Euro-3-konforme Abgasreinigung kümmern. Dass das
dem Motorcharakter nicht schadete, verdeutlicht die Prüfstandskurve. In weiten
Teilen überflügelt die XJR nicht nur die drei
anderen Gefährten, sondern auch ihre vom
Hersteller angegebene Nominalleistung. Ein
Kult-Objekt kann sich Understatement eben
leisten. Und wer aufgrund der gestreckten,
aber noch komfortablen Sitzposition Probleme hat, mit den Fingern den Lenker zu
umgreifen, muss einfach zwei- bis dreimal
voll durchladen, bis die Extremitäten den
115 Newtonmetern nachgegeben haben.
Wie die Honda steht die Yamaha auf
Aluminium-Gussrädern. Die montierten
Dunlop Roadsmart 2 harmonieren dabei
„Der Traum meiner Jugend: ein
luftgekühlter Vierzylinder“
bestens mit der XJR, lassen sie herrlich
neutral um Radien jeder Art zirkeln. Die voll
­einstellbare Telegabel liegt in der Grundabstimmung zwar auf der komfortablen
Seite, passt aber prima zum gemütlichen,
urigen Charakter des Motorrads. Diesen
fetten Brummer scheucht man eben nicht
nonchalant durchs Geläuf wie einen Supersportler. Man geht mit ihm spazieren, als
hätte man die britische Queen an der Hand.
Ehre bekommt, wem Ehre gebührt. So ist
das eben. Wenn dieser Traditionalist dann
noch zu einem Spottpreis von 8995 Euro
im ­Handel steht, spricht nichts gegen eine
Investition in die geschichtsträchtige Vergangenheit, turbulente Gegenwart und gefühlsintensive Zukunft zugleich. Höchstens
man will definitiv ein japanisches Bike mit
ABS haben. Dann kommt eher die Honda
CB 1100 infrage.
Honda CB 1100 – die Entspannte
Zahlen lügen nicht. Zumindest dann, wenn
sie ohne Schummelei ermittelt wurden.
Bei der Zulassungsstatistik des Kraftfahrt-
bundesamtes kann man das getrost voraussetzen und somit der CB 1100 Glückwünsche überbringen. Knapp 400 Garagen
beherbergen seit dem letzten Jahr das erste
luftgekühlte Motorrad von Honda nach
zwei Jahrzehnten. Das als Hommage an
die CB 750 Four konzipierte Retro-Bike war
ursprünglich nur für den japanischen und
australischen Markt vorgesehen. Erst als
die Stimmen der hiesigen Importeure laut
genug schallten, entschied man in der
Konzernzentrale, das Modell nachträglich
auch nach Europa zu bringen. Für die
leistungsverwöhnten EU-Bürger hielt man
das Motorrad mit 90 PS Spitzenleistung
für zu schwachbrüstig. Dass hier die Uhren
längst anders ticken, hat man nun allerdings verstanden.
Wie die zahlreichen interessierten
Blicke am Café in Cassis beweisen, hat
sich das Warten gelohnt. Zart hört man es
aus der Nähe des Triebwerks knistern. Die
nur zwei Millimeter dünnen Kühlrippen
sind deutlich filigraner ausgeführt als die
der Yamaha. Markiert die XJR auch optisch
Die mächtigen Kühlrippen des luftgekühlten Yamaha-Triebwerks deuten dessen Power schon an. Der filigran verrippte
Honda-Motor besticht hingegen durch seine Smoothness und Gelassenheit
dATen
Bauart Motor
Gemischaufbereitung
Kupplung
Getriebe
Sekundärantrieb
Bohrung x Hub
Hubraum
Verdichtung
leistung
drehmoment
Gewicht vollgetankt
Höchstgeschwindigkeit
Preis
nebenkosten
BMW
R nineT
Luft-/ölgekühlter ZweizylinderViertakt-Boxermotor, zwei obenliegende, kettengetriebene
Nockenwellen, vier Ventile pro
Zylinder, Schlepphebel, E-Starter
Einspritzung, Ø 50 mm
Einscheiben-Trockenkupplung
Sechsgang
Kardan
101,0 x 73,0 mm
1170 cm³
12,0:1
81,0 kW (110 PS) bei 7750/min
119 Nm bei 6000/min
222 kg
217 km/h
14 500/15 5971 Euro
390 Euro
Honda
CB 1100
Luftgekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, zwei obenliegende, kettengetriebene
Nockenwellen, vier Ventile pro
Zylinder, Tassenstößel, E-Starter
Einspritzung, Ø 32 mm
Mehrscheiben-Ölbadkupplung
Fünfgang
O-Ring-Kette
73,5 x 67,2 mm
1140 cm³
9,5:1
66,0 kW (90 PS) bei 7500/min
93 Nm bei 5000/min
249 kg
180 km/h
10 990 Euro
265 Euro
Moto Guzzi
Griso 1200 8V S.e.
Luft-/ölgekühlter ZweizylinderViertakt-90-Grad-V-Motor, eine
obenliegende, kettengetriebene
Nockenwelle, vier Ventile pro
Zylinder, Kipphebel, E-Starter
Einspritzung, Ø 50 mm
Einscheiben-Trockenkupplung
Sechsgang
Kardan
95,0 x 81,2 mm
1151 cm³
11,0:1
78,0 kW (106 PS) bei 7100/min
107 Nm bei 6600/min
248 kg
210 km/h
14 590 Euro
inklusive
yamaha
XJR 1300
Luftgekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, zwei obenliegende, kettengetriebene
Nockenwellen, vier Ventile pro
Zylinder, Tassenstößel, E-Starter
Einspritzung, Ø 34 mm
Mehrscheiben-Ölbadkupplung
Fünfgang
O-Ring-Kette
79,0 x 63,8 mm
1251 cm³
9,7:1
72,0 kW (98 PS) bei 8000/min
108 Nm bei 6000/min
251 kg
213 km/h
8995 Euro²
180 Euro
inkl. Aluminium-Höckersitzbank (395 Euro), Heizgriffen (282 Euro), Custom-Fahrersitz (280 Euro) und LED-Blinkern (140 Euro); ²Angebotspreis bis 30.06.2014
1
Leistungs-Messung
90 120
BMW R nineT
81,1 kW (110 PS) bei 7500/min
80 110 115 Nm bei 6200/min
100 Moto Guzzi Griso 1200 8V S.E.
90
60 80
Motorleistung
50 70
60
40
50
30 40
79,6 kW (108 PS)
bei 7800/min
112 Nm bei 6500/min
Yamaha XJR 1300
78,4 kW (107 PS)
bei 7800/min
115 Nm bei
5800/min
Honda CB 1100
68,0 kW (92 PS)
bei 7500/min
96 Nm bei 5200/min
20 30
20
10
10
kW PS
0 1 2 3 4 5 6
Motordrehzahl in 1/min x 1000
Drehmoment in Nm
70
120
110
100
90
80
70
7
8
9
10 11
Der subjektive Eindruck bestätigt sich: Die
BMW und die Yamaha haben Druck ohne
Ende. Dass der Vierzylinder hinsichtlich der
Laufkultur Pluspunkte verbuchen kann, mag
bei diesen Bikes bedingt nebensächlich sein.
Vibrationen sind ja durchaus willkommene
Lebensäußerungen. Diese bietet selbstverständlich auch der Guzzi-V2, der zwischen
2000 und 4000 Umdrehungen zwar bärig
anschiebt, dann aber eine Verschnaufpause
benötigt. Erst wenn der Drehzahlmesser auf
die Fünf zurennt, brennt der Mandello-Twin
ein Feuerwerk ab. Dennoch bleibt er stets
unterhalb des Niveaus der BMW, deren
Schaffenspause bei 5500 Touren unbemerkt
bleibt. Die Honda macht die paar fehlenden
PS und Nm durch ein tolles Getriebe und
die vermittelte Gelassenheit wett. Im Fahrbetrieb fühlt sie sich nicht so schwach an,
wie es die Leistungskurve suggeriert.
Impression Retro-Bikes
die Speerspitze der Big Bikes, verwöhnt
die Honda mit puristischer GentlemanAttitüde. Sie schmeichelt der Seele durch
ihre optische Klarheit, ihre technische
Reduktion auf das Nötigste.
Die Honda sieht einfach nicht aus wie ein
Retro-Bike, sie könnte tatsächlich ein gut
erhaltener Oldtimer sein. Klar dass das nur
gilt, wenn man die 249 Kilogramm von
Weitem betrachtet. Dann lebt die Designsprache der 70er-Jahre wieder auf. Der klassische Rundscheinwerfer, der flache Tank,
die niedrige Sitzbank und Heckpartie unterstreichen diesen Anspruch der Honda. Mit
ihren verchromten Kotflügeln vorn und hinten, den silbernen Stereofederbeinen und
Leistung an der Kurbelwelle. Messungen auf dem Dynojet-Rollenprüfstand 250, korrigiert nach 95/1/EG, maximal mögliche Abweichung ± 5 %
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8/2014
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Impression Retro-Bikes
dem traditionell um den Motor herumgeführten Stahlrohrrahmen lässt sie die Erinne­
rungen an die CB 750 wieder wach werden.
Nur der ABS-Kranz an der Vorderradbremse, das verzichtbare LCD-Display zwischen den beiden grün unterlegten Analoguhren und die fehlenden Speichenräder
entlarven den Oldtimer – für manchen
schneller als gewünscht – als Retro-Bike.
Doch spätestens beim Aufsteigen freut
man sich, dass man es mit einem modernen Moped im klassischen Gewand zu tun
zu hat. Die CB 1100 präsentiert sich dem
Fahrer mit einer ausgeklügelten, herrlich
komfortablen Ergonomie, die alle Gliedmaßen in ein perfektes Arrangement bringt.
Merkt man im Stand noch das stattliche
Gewicht, scheint die Honda beim Losfahren
schlagartig einen Zentner Masse abge­
worfen zu haben. Keines der Bikes lässt sich
so spielerisch, so narrensicher dirigieren.
Ob langsames Flanieren durch die engen
Gassen südfranzösischer Kleinstädte oder
zü­giges Vorankommen auf verwinkelten
Passstraßen: Die CB 1100 quittiert alle Aufgabenstellungen mit Wohlgefallen. Der
Fahrer braucht keinen Gedanken an das
Motorrad zu verschwenden, er kann befreit
seinem Freiheitsdrang folgen. Die schmalen
18-Zoll-Räder haben daran einen großen
Anteil. Zusammen mit den montierten
Bridgestone BT 54, hinten in 140er-Breite,
machen sie die Honda zur handlichsten
Maschine des Quartetts. Erst bei Geschwindigkeiten jenseits der 120 km/h stößt das
überaus kommod ausgelegte Fahrwerk
langsam an seine Grenzen. Macht aber nix,
denn die CB bügelt bis dahin jedes Schlagloch, jede Bodenwelle so sauber weg, dass
das Fahren mit der Honda als Entspan-
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test+Technik
nungskur der gesetzlichen Krankenkassen
angeboten werden könnte. Der maximal
96 Newtonmeter stemmende Motor
harmoniert dabei hervorragend mit dem
Retro-Jugend­traum. Mit dem enorm elastischen Drehzahlband wirbelt man den
anderen Kontrahenten trotz schlechtesten
Leistungsgewichts spielerisch hinterher.
Von 2000 bis 8000 Umdrehungen baut der
Vierer ein langes Drehmoment-Plateau
auf, das stets zwischen 80 und 96 Newtonmetern liegt. Das reicht allemal. Zumal das
Getriebe butterweich rastet und die Kupplungsbetätigung nur geringe Handkraft benötigt. Unabhängig vom Drehzahlbereich
surrt der Motor sanft, lastwechselarm und
mit feinem Ansprechverhalten der vorausfahrenden Meute hinterher. Und genau diese Eigenheiten charakterisieren die CB 1100
am besten. Ihr Old-School-Styling, diese
unverwüstlich wirkende Technik und die
Unbeschwertheit, die sie dem Fahrer beim
Aufsitzen sofort ins Hirn pflanzt, macht ihre
besondere Faszination aus. Für 10 990 Euro
kann man sich den Entspannungskünstler
nach Hause holen.
Es wird dunkel am Cafe in Cassis. Zeit um
ein Resümee zu ziehen: Wer auf gefühlsechte Produkte steht, liegt mit diesen vier
Kandidaten goldrichtig. Jeder von ihnen
entwickelt einen speziellen Charme, vermitteln dem Fahrer seine individuelle Geschichte. Neben den ganzen Hightech-Rennsemmeln präsentieren sie sich grundsolide,
ehrlich und sehr ästhetisch. Damit treffen
die Hersteller zielsicher ins Mark der Szene.
Bleibt nur zu hoffen, dass künftige Abgasvorschriften nicht das Aus der luftgekühlten,
schön verrippten Motoren mit sich ziehen.
Es würde mehr verloren gehen als ihr wohliges Knistern nach dem Absteigen.
Fazit BMW R nineT
Ein so sinnliches Bike aus München hätte man nicht erwartet.
Die R nineT besticht durch detailverliebte Verarbeitung und den
erstklassigen Boxermotor.
Moto Guzzi Griso 1200 8V S.E.
Die italienische Interpretation
des Roadsters gleicht einem
monumentalen Kunstwerk:
alles massiv, wertig – wie aus
einem Guss. Und dann dieser
V2-Puls…
Honda CB 1100
Die Unbeschwertheit der Honda,
ihre traditionelle Optik und
das einfache Handling sind kaum
zu toppen. Der Vierzylinder
schnurrt wie ein Kätzchen.
Yamaha XJR 1300
Als einziges Original neben den
Retro-Öfen zieht die XJR die
­Blicke auf sich. Ein Big Bike eben,
das mit tollen Details, einem
druckvollen Motor und attraktiven Preis begeistert.
www.motorradonline.de/vergleichstests
8/2014