Das therapeutische Bündnis in Medizin und Pflege – wie lange noch?

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Das therapeutische Bündnis in Medizin und Pflege – wie lange noch?
Ethique
LE JOURNAL
Das therapeutische Bündnis in Medizin
und Pflege – wie lange noch?
Die Gefährdung der Bündnistradition in Medizin und Pflege durch verschiedene gesellschaftliche und gesundheitsökonomische Entwicklungen wächst.
Was können die beiden Professionen dieser Entwicklung entgegenhalten?
Silvia Käppeli
Korrespondenz:
PD Dr. Dr. Silvia Käppeli
Leiterin Zentrum für Entwicklung
und Forschung in der Pflege
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100 (SON 6)
CH-8091 Zürich
Tel. 044 255 39 54
Fax 044 255 43 95
[email protected]
Einleitung
Das therapeutische Bündnis ist das Paradigma,
das der Beziehung zwischen Arzt und Patient
oder Pflegeperson und Patient zugrunde liegt. Es
ist die moralische Vereinbarung zwischen der
Medizin, der Krankenpflege und den Mitgliedern der Gesellschaft und gewährleistet einen
verantwortungsvollen Umgang mit ihnen, wenn
diese ihrer Hilfe bedürfen. In der Medizin hat
das therapeutische Bündnis säkulare Wurzeln.
Sie finden sich im hippokratischen Eid. Die
Krankenpflege führt es auf ihre biblischen Ursprünge zurück. Verschiedene Entwicklungen im
schweizerischen Gesundheitswesen gefährden
die Bündnistradition beider Professionen. Eine
Reflexion über absehbare Konsequenzen aktueller gesellschafts- und wissenschaftspolitischer
sowie gesundheitsökonomischer Strömungen
drängt sich deshalb auf. Ebenso nötig sind Überlegungen bezüglich dessen, was die Medizin
und die Krankenpflege – die beiden wichtigsten
Caring-Professionen – ihnen entgegenzusetzen
haben.
Herleitung, Begründungen und
Funktionieren des Bündnisses
in Medizin und Krankenpflege
Der Theologe und Bioethiker William F. May
stellt in seinem Standardwerk zum therapeutischen Bündnis in der Medizin fest, dass ein
Bündnispartner (covenator) zu sein, die primäre
Rolle aller Berufsangehörigen und das therapeutische Bündnis das Gemeinsame aller heilenden Berufe sei [1, 2]. Der Bund – so May – enthält
drei zentrale Elemente: Ein Geschenk, das dem
Bund vorausgeht, ein Versprechen, das sich auf
das Geschenk bezieht und das eigentliche Bündnis ausmacht, und Verpflichtungen, die aus dem
Versprechen (der Profess) abgeleitet werden. Aus
dem Bündnis ergibt sich eine gegenseitige Schuldigkeit der Bündnispartner. Diese «moralische
Konvention» ist bereits im hippokratischen Eid
angelegt [3]. Dort bekennt der Arzt, dass er sich
in den Dienst seiner Kranken stelle und dass er
aus Dankbarkeit für alles, was er von seinem Lehrer erhielt, diesem in Zukunft unentgeltlich zur
Seite stehen wolle. Aktualisiert auf die heutige
Zeit heisst dies – gemäss May –, die Ärzteschaft erhält von der Gesellschaft ein initiales Geschenk
in Form einer teuren Ausbildung. Es setzt sich
fort in der Gewährleistung eines hohen Grades
an beruflicher Autonomie und grosser finanzieller Investitionen [1, 4]. In der klinischen Situation besteht das Geschenk darin, dass sich ein
kranker Mensch einem Arzt anvertraut und ihm
dadurch das Privileg gewährt, ihn zu behandeln
und durch ihn seine professionelle Kompetenz
zu erweitern. «Despite all flattering impressions to
the contrary, professionals undertake their responsibilities not as godly benefactors but as those who,
first and foremost, benefit. The human activities of
healing, teaching, parenting, and the like, do not
create – that is God’s work – but, from beginning to
end, respond. Only within a fundamental responsiveness do professionals undertake their secondary
little initiatives on behalf of others.» [1]. Wird die
ärztliche Tätigkeit also als reaktiver Akt auf die
Bereitschaft von Patienten, sich behandeln zu
lassen, betrachtet, rechtfertigt dies von seiten des
Arztes Dankbarkeit und einen ausserordentlichen
Einsatz.
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artei,l biblischen und nachbiblischen Schriften
des Judentums [5] und des Christentums [6],
also auch die Schriften der Diakonie [7] und der
Caritas [8], legen der Ethik der Pflege die imitatio
Dei nahe. Das heisst, Gott, der – gemäss der Dogmatik – aus Liebe zu den Menschen mit ihnen
leidet und sich aus diesem Mit-Leiden heraus mit
ihnen verbündet, um ihnen bedingungslos beizustehen, soll nachgeahmt werden [9]. Diese religiöse Herleitung des Bündnisses in der Pflege
wurde im 18. Jahrhundert in den humanitären
Grundsätzen des Roten Kreuzes [10] aktualisiert.
Im anglo-amerikanischen Raum wird die Tradition in den Konzepten «compassion» und «caring»
fortgeschrieben [11]. Mitunter wird caring relationship mit covenant relationship gleichgesetzt
[12, 13].
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Gemäss den konventionellen Ethikkodizes
von Medizin und Pflege ist das therapeutische
Bündnis berufsimmanente prinzipielle Vorgabe
für alle Berufsangehörigen, auch wenn es nicht
in jeder Behandlungssituation gleichermassen
zum Tragen kommt und nicht von allen Kranken
erwartet wird. Die Medizin und die Krankenpflege begründen die Notwendigkeit des therapeutischen Bündnisses mit der transzendenten
Konnotation, die ihrer Tätigkeit anhaftet, also
mit dem, was sie von allen nichttherapeutischen
Berufen unterscheidet [14–18]. Dazu gehört,
wie der Mensch durch Krankheit, Krisen und
Alter betroffen ist. Wenn diese Zustände professionelle Hilfe erfordern, machen sie abhängig.
Sie können das sonst selbstverständliche Vertrauen in den eigenen Körper und in die eigene
Psyche untergraben sowie soziale Beziehungen
belasten. Behandlung, Pflege und Hospitalisation können Betroffene einschüchtern. All dies
konstelliert ihr Vertrauen in ihre Betreuer und
fordert von diesen eine bewusste moralische
Haltung [19].
Zusätzlich leitet sich die Verpflichtung der Betreuer zur Bündnisbeziehung aus der Asymmetrie der Beziehung zwischen Arzt/Pflegeperson
und Patient ab. Die Abhängigkeit des Patienten
bedingt auf seiten des Betreuers eine moralische
Verpflichtung zur Anteilnahme und zur Sorge.
Denn ausser einer solchen Verpflichtung gibt es
nichts, das den Arzt und die Pflegeperson dazu
motivieren könnte, auch unattraktive, unbequeme, undankbare, nicht mehr behandelbare,
schlecht versicherte oder gefährliche Personen
zu behandeln [9, 20–22]. In der Regel hat der Patient über seine Behandlungsmöglichkeiten weniger Kontrolle als der Arzt. Auch dies zwingt
ihn, sich auf jenen zu verlassen, was diesen wiederum dazu verpflichtet, kompetent zu sein und
seine Expertise im besten Interesse des Patienten
zu nutzen [23].
Eine weitere Notwendigkeit für die Bündnistreue seitens der Betreuer liegt im sachlichen
Charakter medizinischer und pflegerischer Entscheidungen und Handlungen. Nur wenn sich
ein Kranker auf die moralische Integrität von
Arzt und Pflegeperson verlassen kann, kann er
ertragen, dass diese an ihm Dinge tun, die infolge
ihrer Intimität in keiner anderen Beziehung zwischen Fremden möglich sind: z.B. auf verschiedenste Weise in ihr Körperinneres einzudringen,
sie zu kneifen oder intime Frage zu stellen. Häufig tangieren medizinische Entscheidungen die
ganze Lebenssituation eines Kranken und seiner
Familie. Der Bündniskontext der Beziehung bewirkt, dass diese Phänomene, die eigentlich Intrusionen der Privatsphäre und des Territoriums
des Patienten darstellen, nicht als solche erlebt
werden. Das Bündnis schützt vor Missbrauch
[16–18].
Viertens erfordert die persönliche und nichttransferierbare Verantwortung jedes Betreuers
gegenüber jedem Patienten moralische Standards. Der einzelne Arzt muss wegen dieser Verantwortung – ungeachtet der Verlockungen
von Gesundheitsmärkten, trotz des Drucks von
Regierungs- und Parteiprogrammen, Versicherungssystemen und Managementstilen in Krankenhäusern, trotz der bürokratischen Überlagerung seiner beruflichen Tätigkeit – dem Wohl des
Patienten Priorität geben [24]. Für die Pflegeperson gilt analog, dass sie den moralischen Fragwürdigkeiten, die sich aus ihrer organisatorischen
Unterstellung unter die Medizin manchmal
ergeben, widerstehen.
«Last but not least» liegt der Medizin und der
Pflege eine Berufung zur Bewahrung der Schöpfung zugrunde. Beide müssen ihren Handlungsspielraum so nutzen, dass die Würde und Heiligkeit des Lebens – desjenigen der Kranken als auch
ihres eigenen – bewahrt bleiben. Beide müssen
die Endlichkeit des Lebens und die Grenzen ihres
Wirkens anerkennen. Auch dies ist eine Frage der
Ethik [16, 18].
Die Bedeutung des therapeutischen
Bündnisses für Kranke, Ärzte und
Pflegende
Das therapeutische Bündnis ist besonders dort
von Bedeutung, wo der Beistand des Arztes und
der Pflegeperson über das vertraglich geregelte
Leistungsminimum hinaus erforderlich ist. Beispielsweise wenn für einen Patienten medizinisch
nichts mehr getan werden kann. Hier gewährleistet das Bündnis, dass ihm das Leben trotzdem
möglichst erträglich gemacht wird. Zwar ändert
dies nichts an seinem Gesundheitszustand, aber
es verändert den menschlichen Kontext, in dem
die Krankheit ihren Lauf nimmt.
Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass sich das Transzendieren von
Eigeninteressen oder der Interessen eines Krankenhausbetriebs aufgrund der Bündnisbeziehung als unschätzbares Potential für die Betreuung von Menschen erweist, die besonders
schwer oder lange Zeit krank sind. J. S. Lowenberg stellte innerhalb von Bündnisbeziehungen
mehr Menschlichkeit, besseres Verstehen der
Patienten seitens der Betreuer, mehr Aushandlungsprozesse zwischen Patienten und Betreuern
und somit bessere klinische Entscheidungen
fest als in distanzierten Beziehungen [25]. Eine
Bündnisbeziehung wirkt der institutionsinduzierten Tendenz zur Verdinglichung Leidender
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entgegen [11]. Sie verhindert die soziale Isolation
von Langzeit- und Chronischkranken [26]. Das
Bündnis erhöht die Sorgfalt und Kreativität von
Pflegenden und verbessert ihre Auswahl pflegerischer Interventionen. Sie gehen weniger Kompromisse ein und nehmen zugunsten ihrer Kranken mehr Unannehmlichkeiten und Konflikte
auf sich als Pflegende mit einer distanzierten
Haltung [27–36].
Eine Bündnisbeziehung ist nicht nur für die
Pflegebedürftigen, sondern auch für die Betreuer
vorteilhaft. Sie können unverständlich und
sinnlos erscheinendes Leid besser akzeptieren.
Pflegende bestätigen, dass sie gerade die Momente innerer Erschütterung als dasjenige erleben, was ihnen die Kraft gibt, sich immer wieder
den Krisensituationen ihrer Kranken auszusetzen und sie mit ihnen durchzustehen. Sie erleben die Teilhabe an den existentiellen Erfahrungen ihrer Patienten als persönliche Bereicherung
und betrachten sie als berufliches Privileg. Weil
sie erleben, dass es auf sie ankommt, haben sie
den Mut, sich für ihre Patienten zu exponieren
und konventionelle Grenzen der Pflege zu überschreiten [27, 30, 35, 37–43]. Bündnisethik ist
also sinnstiftend und bietet möglicherweise
Schutz vor Burnout. In der medizinischen Fachliteratur werden weniger persönliche als standespolitisch positive Auswirkungen praktizierter
Bündnisethik angesprochen: Glaubwürdigkeit,
Vertrauenswürdigkeit und Ansehen der Profession [16, 44, 45].
Bei allen Vorzügen des therapeutischen Bündnisses scheint seine Begrenztheit darin zu liegen,
dass es keine pathologischen Prozesse stoppen
bzw. dass man dies vorläufig nicht im Sinn
schlüssiger Evidenz aufzeigen kann. Zum Problem wird es, wenn es ohne professionelle Exzellenz praktiziert wird, wenn Praktiker übersehen, dass es nicht nur um eine bestimmte Ideologie geht, und wenn sie vergessen, dass ein gelebtes Bündnis mitunter schwere körperliche
Arbeit und aufwendige Dienstleistungen bedeuten kann.
Gefährdungen der Bündnistradition
in Medizin und Krankenpflege
Gesellschaftliche Veränderungen
Ein zentrales Problem für das therapeutische
Bündnis in Medizin und Krankenpflege ist der
schwindende gesellschaftliche Konsens bezüglich des Werts von Bündnissen. Die an seine
Stelle getretene Tendenz zur Unverbindlichkeit
und die eher zur Konkurrenz als zur Kooperation
neigende Mentalität vieler Menschen untergraben die Solidarität mit Kranken, Behinderten
und Alten. Es ist unklar geworden, ob den therapeutischen Beziehungen zu ihnen ein moralisches, ein juristisches oder ein ökonomisches Paradigma zugrunde liegt, d.h., ob es dabei um ein
Bündnis, einen Vertrag oder um eine Businesstransaktion geht [47–49].
Entwicklungen in der Gesundheitspolitik
und -ökonomie
Die momentan grösste Herausforderung für die
Fortführung der Bündnistradition ist das einseitige Verfolgen marktwirtschaftlicher Interessen
seitens vieler Anbieter im Gesundheitswesen.
Krankenhäuser werden wie Wirtschaftunternehmungen geführt. Prinzipien der Wirtschaft (Gewinnmaximierung), der industriellen Produktion (Standardisierung) oder der Verwaltung
(Bürokratie) werden auf diagnostische und therapeutische Prozesse übertragen. Richtigerweise
tritt unter solchen Umständen ein Vertrag an
die Stelle des Bündnisses. In diesem Kontext werden Patienten zu Kunden, obwohl sie sich in der
Regel unfreiwillig in einer therapeutischen Beziehung befinden und meist nicht im vollen
Besitz ihrer gewohnten Autonomie sind [4, 25].
Ärzte und Pflegende werden zu Leistungserbringern, Behandlung und Pflege zum Produkt. Die
ärztliche und pflegerische Tätigkeit mutiert von
der individuell ausgerichteten, differenzierten
Handlung zur EDV-gesteuerten und verwalteten
Versorgungsstrategie. Die therapeutische Beziehung verkümmert zum Kurzkontakt [50]. Die
Situation vieler Patienten erfordert jedoch eine
Beziehung, die mehr als nur juristische Korrektheit garantiert. Und eine stärkere Garantie ist
nur eine, für die der Betreuer persönlich haftet.
Der Vertrag eignet sich zur Regelung von Standardsituationen, die in monetär berechenbare
Bedürfnis- und Leistungskategorien aufgeschlüsselt werden können und bereits bei Vertragsabschluss bekannt sind. Solche kommen jedoch bei
hospitalisierten Patienten je länger je weniger
vor. Häufiger können die zu erwartenden Gesundheitsprobleme und die zu erbringenden Leistungen weder schlüssig vorausgesagt noch endgültig spezifiziert werden. An welchem Punkt
würden Bedürfnisse und Erwartungen von Patienten als übertrieben oder als denen anderer
Patienten gegenüber ungerecht beurteilt? Wie
würde man das Mit-Tragen existenzieller Krisen
von Patienten und Angehörigen seitens der Betreuer quantifizieren? Oft bestätigen Patienten,
dass sie ihre Bewältigung ihrer Situation dem
persönlichen Einsatz eines Arztes oder einer bestimmten Pflegeperson verdanken. Wie verrechnet man diesen? Die Verrechnung kleinster Leistungseinheiten auf seiten der Anbieter bewirkt
auf seiten der «Kundschaft» unrealistische For-
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derungen, Misstrauen und Schielen nach Ahndungs- und Schadenersatzmöglichkeiten, falls
das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht stimmt.
Folge davon ist nicht nur eine defensive Medizin
und Pflege, sondern auch ein wachsender Bürokratismus. Die im Sinn einer Beweisführung zu
führende Dokumentation der erbrachten Leistungen lenkt die Versorger davon ab, sich auf
die Qualität zu konzentrieren.
Die Ökonomisierung und Verrechtlichung
von Medizin und Pflege verletzen nicht zuletzt
die berufliche Motivation, aus der heraus viele
Ärzte und Pflegende praktizieren. Die Inflation
des Bündnisparadigmas bewirkt bei ihnen eine
Infragestellung des Sinns ihrer beruflichen Tätigkeit. Ohne Sinngehalt kann aber insbesondere
die Pflege als erdrückende Last empfunden werden, was nahelegt, dass man sich möglichst
rasch von ihr befreit. Entweder indem man
sie entsorgt (z.B. durch Entpersönlichung und
Tötung chronisch Pflegebedürftiger) oder indem
man innerlich oder äusserlich aus dem Beruf aussteigt. Die Verfremdung des traditionellen Versprechens hat also nicht nur negative Folgen für
die Kranken, sondern auch für die Identität und
Integrität der Betreuer.
Problematische medizinische Auffassungen
Auch die die Medizin noch weitgehend dominierende Spaltung zwischen Care und Cure und die
Abkoppelung der Medizin von ihrem grundlegenden moralischen Fundament sind bündnisfeindlich [51]. Sie bewirken eine Entwertung von
Emotionalität in der Behandlung von Patienten.
Psychosoziale und geistige Phänomene, wie die
Verarbeitung schwerer Krankheit, haben in diesem Milieu keinen Platz [52]. In diesem defizitären medizinischen Ansatz heisst «im besten Interesse des Patienten handeln» lediglich, dass die
Behandlung mit der wissenschaftlich korrekten
Indikation übereinstimmt.
Institutionelle Alltagsphänomene
Nebst übergeordneten, bündnisbehindernden
Entwicklungen gibt es die ebenso mächtigen
institutionellen Alltagsphänomene [14], z.B.
die Verunmöglichung von therapeutischen Vertrauensbeziehungen durch die Aufsplitterung
der Medizin in kleinste Spezialeinheiten, die
Forschungs- und Publikationsverpflichtungen
vieler Ärzte, die die für die klinische Tätigkeit
zur Verfügung stehende Zeit kompromittieren.
In der Pflege lenken Teilzeitarbeit, Schichtbetrieb, die Übernahme berufsfremder Aufgaben,
Hektik und Überlastung sowie damit einhergehende Schutzmechanismen von Bündnisverpflichtungen ab.
Konsens und aktuelle Fragen
Die Argumentationen pro und kontra therapeutisches Bündnis in Medizin und Krankenpflege entsprechen ihren spezifischen wissenschaftlichen Paradigmen und ihrer klinischen
Erfahrungswelt. Die Mediziner thematisieren
das Bündnis eher als standespolitisches Anliegen. Die Pflegenden stehen eher aus ihrer Vertrautheit mit der Situation ihrer Kranken dafür
ein [21]. Beide Professionen erachten es als
unverzichtbaren Teil des professionellen Aktes.
Sie wissen, dass das therapeutische Bündnis nur
bei gleichzeitigem Vorhandensein von Fachkompetenz greift, da jegliches Entweder-Oder
ein Risiko für den Patienten wäre. Auch ist klar,
dass Bündnisethik nicht als Alternative, sondern
als Ergänzung zu rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten der Gesundheitsversorgung zu
gewichten ist. Aus diesen Gemeinsamkeiten heraus fragt sich, weshalb sich Medizin und Pflege
nicht verbünden im Interesse des Fortbestandes
des Bündnisses.
Die wachsende Unterminierung der Bündnistradition in Medizin und Krankenpflege droht
diese ethisch begründete Optimalvariante der
Betreuung zu einer, durch wirtschaftliche Interessen gesteuerten und juristisch abgesicherten
Minimalvariante verkommen zu lassen. Was
setzen Medizin und Pflege dem entgegen? Wie
lange gehört das therapeutische Bündnis noch
zur «best practice»? Können sich Patienten noch
auf die Anwaltschaft ihrer Betreuer verlassen?
Wenn nicht, wie halten die beiden Professionen
ihre gesellschaftliche Relevanz aufrecht?
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