Leseprobe_393723182X

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Lutz Haucke
Film – Künste – TV-SHOWS
Film- und fernsehwissenschaftliche Studien
- Auswahl 1978 – 2004 -
RHOMBOS-VERLAG
1
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Quellennachweis:
Titelseite: 35 mm Kamera „Mitchell NC“, USA um 1928
(nach einer Vorlage des FILMMUSEUMS ROMBOY, Wesseling-Urfeld)
Buchrücken: Die Fotos stammen aus dem Film "The Great Train Robbery",
United States: Edison Manufacturing Co., 1903
Druck: dbusiness GmbH, Berlin, Eberswalde
ISBN 3-937231-82-X
2
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I.
1.
5
Filmhistoriografie: Methodologische Ansätze und historische
Entwicklungen
9
Früher Stummfilm und nationalspezifische Anfänge
Kulturkreise – Länder - Pioniere (1992)
11
Zur Aktualität theoriegeschichtlicher Modelle des
Stummfilmdarstellers der zwanziger Jahre (1980)
29
Kinematographie und Filmkunst zwischen Markt und
politischer Öffentlichkeit in Deutschland 1929 (1990)
51
Europäische Regiegenerationen im Aufbruch.
Neue Wellen in Europa in den 60er und 70er Jahren (1996)
83
Europäische Rückblendendramaturgien in den 60er Jahren
in Ost und West (2004)
105
Die Tschechische Neue Welle (1963-1969) und die
Konstituierung einer neuen Intellektuellenkultur in den
60er Jahren in der ÈSSR (1999)
133
Vom Spielraum der Interpretation. Gedanken zur
DDR-Filmgeschichtsschreibung (1980)
147
Deutschland, Deutschland. Wertewandel im Prozess
der Wiedervereinigung im Blickfeld Berliner
Dokumentarfilmer (1988-1991) (1992)
159
Die Maskeraden der Moderne. Bergman, Buñuel, Pasolini,
Kluge, Greenaway zwischen Tradition und Postmoderne (1994)
173
10.
Die ROM-Trilogie des Federico Fellini (2004)
197
11.
Samuraifilme Akira Kurosawas (1985)
223
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
3
12.
Ausstellungen als inszenierte Filmgeschichte? Zu einem
Ausstellungsprojekt über Stars und Antistars (1996)
237
Was bleibt von der Filmwissenschaft?
Bausteine der Medienwissenschaft! (2003)
273
II.
Film, Künste und Medien
281
14.
Medienästhetik und Mediengeschichte ‘’by’’
Walter Benjamin? (1986)
283
Der Wandel der Medienkulturen in den 80er Jahren und
die Filmkunst (1988)
301
16.
Von der Kunstwissenschaft zur Medienwissenschaft (1988)
315
17.
Martin Stephan: Ich will nicht leise sterben. TV-Filmszenarium.
Zur Entwicklung eines jungen Autors (1978)
325
Die Träume sozialistischer Massenunterhaltung in der DDR.
Die Funktion der TV-Shows „Mit dem Herzen dabei“ und
„Spiel mit“ im Umfeld des 11. Plenums (1991)
337
19.
Der Schauspieler im Spielfilm (1979)
369
20.
PROFESSOR MAMLOCK (DEFA 1961) - Studie zu Problemen
der Dramenverfilmung (1983)
385
21.
Oper im Wandel der Medienkulturen? (1988)
401
22.
Jürgen Böttchers VERWANDLUNGEN (1981) - Infragestellungen
der Zentralperspektive der europäischen Maltradition in
einem DEFA-Experimentalfilm? (1992)
405
Das Theater der Clowns. Jörg Foths Versuche mit dem
Liedtheater der DDR (1992)
423
Nouvelle Vague in Osteuropa in den 60ern?
Intermedialität und Literaturverfilmungen (1998)
435
13.
15.
18.
23.
24.
Textnachweise
4
455
Vorwort
Aus Anlass meines 65. Geburtstages habe ich film- und fernsehwissenschaftliche Aufsätze, auch einige Rezensionen, zusammengestellt, die von mir zwischen 1978 und 2004 geschrieben wurden. Das Jahr 1978 ist in meiner wissenschaftlichen Biografie ein Schnittpunkt gewesen. Ich war nach mehrjähriger
Tätigkeit an der Humboldt-Universität auf dem Gebiet der Kulturtheorie der
Massenmedien (Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften, Arbeitsgruppe Kulturtheorie, Leitung Dr. Dietrich Mühlberg) und an der Hochschule für Film und
Fernsehen (Lehrstuhl für Film- und Fernsehwissenschaft, Leitung Prof. Dr. Käte
Rülicke-Weiler) als Redakteur für Ästhetik und Kulturtheorie an der Zeitschrift
„Weimarer Beiträge“ des Aufbau Verlages Berlin tätig. Prof. Dr. Ernst Schumacher, Leiter des Lehrstuhls Theorie der darstellenden Künste (Theater, Film,
Hörfunk, Fernsehen) am Institut für Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität von 1969 - 1986, bot mir 1977 an, an seinem Lehrstuhl das Arbeitsgebiet
Filmkunst zu übernehmen. Da ich an der Hochschule für Film und Fernsehen
Potsdam-Babelsberg als Oberassistent und zuletzt als Leiter der Fachrichtung
Film- und Fernsehwissenschaft (1971-1975) in der filmwissenschaftlichen Lehre und Forschung Erfahrungen gesammelt hatte, nahm ich das Angebot an. Von
Beginn an war meine Tätigkeit am Institut für Theaterwissenschaft von einem
Kompromiss bestimmt. Einerseits hatte ich dem Lehrstuhl gegenüber Aufgaben
für das Lehr- und Forschungsgebiet Theorie der darstellenden Künste/ Film zu
erfüllen. Andererseits war ich bestrebt, die Filmwissenschaft in der damaligen
Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften der Humboldt Universität Berlin zu
etablieren. Ich war bemüht, in der Forschung das Gespräch mit Regisseuren des
DEFA-Spielfilm- und des DEFA-Dokumentarfilmstudios zu suchen./1/ Mitte
der achtziger Jahre wurde in der Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften
darüber diskutiert, ob Themen wie „Künste und Medien“ und „Massenkultur“ in
der weiteren Profilierung verfolgt werden sollten. Vorstöße zur Schaffung einer
filmwissenschaftlichen Grundausbildung für interessierte Studenten verschiedener Fachrichtungen fanden außerhalb des Instituts für Theaterwissenschaft im
Rahmen dieser Diskussion Unterstützung. Die Mitarbeit im Arbeitskreis „Massenkultur“ der Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaft (Leitung Prof. Dr. Günter Mayer, Institut für Ästhetik) in den Jahren 1986/87 veranlasste mich, die
Filmwissenschaft immer mehr als Baustein einer Medienwissenschaft zu verstehen.
Der Kompromiss am Institut für Theaterwissenschaft gipfelte in der Berufung
zum Hochschuldozenten für die Gebiete Filmwissenschaft/ Darstellende Kunst
im Kinofilm im Jahre 1985. Es war die erste Berufung für das Fachgebiet Filmwissenschaft an einer Universität in der DDR. Als Hochschuldozent konnte ich
5
in eigener Verantwortung arbeiten und verfolgte folgende Schwerpunkte in der
Lehr- und Publikationstätigkeit:
(1) Wechselwirkungen zwischen Spiel-, Dokumentar- und Animationsfilm und
den Künsten (Theater, Drama, Schauspieler; Bildende Kunst und Bildmedien; Literaturverfilmungen; Intermedialitätskonzepte)
(2) Werkanalyse und –interpretation (als Grundlage für Dramaturgie und Filmhistoriographie sowie für Regieporträts)
(3) Internationale und Deutsche Filmgeschichte
(4) Der Wandel der Filmwissenschaft von einer Kunstwissenschaft zu einem
Baustein der Medienwissenschaft.
Die Richtigkeit dieses Weges wurde durch den fachlichen Erfolg des von mir
organisierten interdisziplinären Kolloquiums „Filmkunst und Neue Medien.
Probleme des Funktions- und Strukturwandels darstellender Künste in den 80er
Jahren“ (26./27.5.88) belegt./2/
Auch nach der Wiedervereinigung von 1990 und im Rahmen der Neugestaltung des Instituts für Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität in den
frühen 90er Jahren wurde diese Konzeption in der Hochschullehre, auf wissenschaftlichen Konferenzen und in der Publikationstätigkeit angenommen. (Viele
der hier abgedruckten Studien waren Konferenzbeiträge nach 1990.) Ich bin zu
Dank den Fachkollegen und –kolleginnen der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft in der BRD (heute Gesellschaft für Medienwissenschaft) verpflichtet. Sie haben durch Kollegialität und Objektivität die auch mich existentiell betroffen machende Umgestaltung des Hochschulwesens der DDR –
immerhin wurde ich im Rahmen eines nun nur noch befristeten Arbeitsvertrages
(1993-1997) zurückgestuft vom Hochschullehrer zum Oberassistenten – in einen in Bezug auf das Fachgebiet Mut machenden Zukunftsrahmen gestellt.
Wichtige sozialpolitische Impulse erhielt ich von der Hans-Böckler-Stiftung des
DGB, für die ich bis Mitte der 90er Jahre Stipendiaten betreute.
In den ausgewählten Studien aus den 80er Jahren mag den „modernen“ Leser
das hier und da anzutreffende ideologische DDR-Vokabular – insbesondere bei
kulturpolitischen Schlussfolgerungen – befremdlich erscheinen. Andererseits
war es in der DDR notwendig, filmwissenschaftliche Arbeit und kulturpolitische Praxis zu verbinden. In den Fragen der Medienkulturen wurden seit 1988
im wissenschaftlichen Diskurs Reformen angedacht. Die Filmklubbewegung
war für mich ein wichtiger Bezugspunkt und ich verdanke ihr interessante Aufgaben/3/ – so konnte ich z.B. zu den Initiatoren der ersten Siegfried-KracauerTagung in der DDR, die im Rahmen der Filmklubs des Kulturbundes veranstaltet wurde (6.12.1986), gehören.
Aufsätze und Rezensionen geben oftmals in die je aktuelle wissenschaftsgeschichtliche Diskurssituation durch den Bezug zu zeitgenössischen Auffassungen in der DDR-Filmwissenschaft und in den Kunstwissenschaften Einblicke.
6
Insofern sind die Studien der 70er und 80er Jahre auch ein Zugang zur Wissenschaftsgeschichte der DDR-Kunstwissenschaften.
Ich verweise den Leser außerdem auf Urteile, die Dorothea Becker in ihrer
ausführlichen Analyse meiner Publikationen in ihrer Dissertation „Zwischen
Ideologie und Autonomie. Die DDR-Forschung über die deutsche Filmgeschichte“ (1999) getroffen hat. Am Beispiel meiner methodologischen Position zur
Film- und Mediengeschichtsschreibung in den 80er Jahren schreibt sie, dass
deutlich wird,
„dass Haucke kaum mehr aus einer marxistisch-leninistischen Perspektive
heraus argumentiert. Damit wird eine ideologische Entwicklung Hauckes
sichtbar, von seinen ersten Programmatiken der beginnenden siebziger Jahre,
in denen er die Filmwissenschaft noch als streng marxistisch-leninistische
Kunstwissenschaft definierte, hin zu einer teilweisen Übernahme westlicher
Denkansätze, die in den Jahrzehnten zuvor nicht möglich gewesen wäre. Programmatisch enthält Hauckes Definition die Abkehr von der bisherigen werkzentrierten Filmgeschichte und von einem fachzentrierten Ansatz hin zur interdisziplinären Forschung.“/4/
Dazu ist eine Anmerkung notwendig. Ich verließ den ideologischen Dogmatismus meiner Assistentenjahre in dem Maße in den 70er Jahren, in dem ich
Zugang zu den historisch und werkanalytisch orientierten Diskursen in den
DDR-Kunstwissenschaften fand – was insbesondere eine Folge meiner Tätigkeit als Redakteur der Zeitschrift Weimarer Beiträge war (1975-1977). Die Diskurse waren in den 80er Jahren zunehmend weltoffener verglichen mit der Wissenschaftssituation in den 60er Jahren in der DDR, so dass es mir möglich war,
konstruktiv an die Methodologie von BRD-Film- und Medienhistorikern anzuknüpfen (Dr. Werner Faulstich, damals Tübingen; Prof. Helmut Korte, damals
Braunschweig; Dr. Klaus Kreimeier, damals Köln).
Im Jahre 1996 begann ich, ein Forschungsprojekt über die „Neuen Wellen“ in
Ost- und Westeuropa in den 60er Jahren zu konzipieren./5/ Ich plante, es ab
1997 als DFG-Projekt anzugehen, aber der von mir gewählte Mentor Prof. Dr.
Thomas Elsaesser (Amsterdam) musste absagen infolge anderer Forschungsschwerpunkte und organisatorischer Schwierigkeiten. Einige Studien zu diesem
Forschungsprojekt sind in diesem Sammelband abgedruckt. Ein unvollendetes
Manuskript über die „Neuen Wellen“ in Osteuropa in den 60er Jahren wartet
noch auf die Überarbeitung und Fertigstellung.
In der Arbeitslosigkeit (seit 1997) war mir als Einzelgänger der Zugang zu
und die Mitarbeit an interdisziplinären Forschungsprojekten in der BRD versperrt. Dazu fehlte mir die institutionelle Basis wie sie eine Integration in eine
Universität mit sich bringt und über die ich nahezu zwanzig Jahre verfügt hatte.
Eine vertragsgebundene Mitarbeit an einem Forschungsprojekt „Künste und
Massenkultur der ehemaligen sozialistischen Länder“ der Ritsumeikan-Univer7
sität in Kyoto/Japan (1997-1999) gab mir noch einmal zeitweilig einen Aufschwung in der wissenschaftlichen Arbeit.
Im Jahre 2002 erhielt ich vom Online-Journal Kulturation.de (Leitung: Prof.
Dr. Dietrich Mühlberg), dessen Herausgeber der Verein Kulturinitiative ‘89 ist,
das Angebot, im Ressort FILM mitzuarbeiten, das ich gerne annahm. Die hier
aufgenommenen Artikel aus den Jahren 2003 bis 2004 sind aus dem OnlineJournal.
Dezember 2004
Lutz Haucke
Anmerkungen:
1
Vgl. Günter Reisch: Erinnerungen im 30. Jahr der DDR (Teil I). Ein Werkstattgespräch-Diskussionspartner Lutz Haucke. In: Filmwissenschaftliche Beiträge, 20. Jg.,
1/79, S. 5-34; Teil II. In: Filmwissenschaftliche Beiträge, 20. Jg.,2/79, S. 84-110;
Werkstattgespräch mit Winfried Junge vom 18.10.1982, Tonbandaufzeichnung; Werkstattgespräch mit Jürgen Böttcher vom 15.11. 1982, Tonbandaufzeichnung; Werkstattgespräch mit Rainer Simon vom 26.4. 1983, Tonbandaufzeichnung; Werkstattgespräch mit Peter Voigt vom 12.6. 1986, Tonbandaufzeichnung
Kolloquium Filmkunst und Neue Medien. In: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft. Schriftenreihe der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR „Konrad
Wolf“, Nr. 35, 1989, 30. Jahrgang, S. 93-218
Vgl. Wieland Becker, Volker Petzold: Tarkowski trifft King Kong. Geschichte der
Filmklubbewegung der DDR. Vistas: Berlin 2001; vgl. auch meine Rezension: Zwischen Basisdemokratie und Zentralismus: Filmklubs in der DDR. In: Kulturation.de
2/2003
Dorothea Becker: Zwischen Ideologie und Autonomie. Die DDR-Forschung über
die deutsche Filmgeschichte. Münster: LIT, 1999, S. 211-212
Lutz Haucke: Europäische Regiegenerationen im Aufbruch – Neue Wellen in Europa
seit den 60ern. Ästhetische Innovation und soziokultureller Wandel – Wechsel der
Regiegenerationen in modernen Gesellschaften West-, Ost-, Nord- und Südeuropas.
In: Film- und Fernsehwissenschaft. Mitteilungen der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft, Marburg, Nr. 1/‘96, S. 25-27
2
3
4
5
8
I. Filmhistoriografie
Methodologische Ansätze und
historische Entwicklungen
9
10
Früher Stummfilm und nationalspezifische
Anfänge
Kulturkreise – Länder - Pioniere
Vom 15. April bis 31. Oktober 1900 fand in Paris die Weltausstellung statt.
Neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technik und die II. Olympischen
Spiele (14.-22.7.1900) fanden ihr Publikum aus aller Herren Länder. Die technischen Sensationen bedienten den „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ in Paris. Davon
unbeachtet, aber stetig entwickelten sich Firmen, Regisseure, Genres, Montageprinzipien in verschiedenen Kulturkreisen. Soweit aber die Pioniere der Lumières, von Thomas Alva Edison und William Kennedy Laurie Dickinson und
von der Pathé die kinematographischen Bilder in die Welt bislang getragen hatten - Afrika und Indien blieben vorerst unberührte Kontinente. Aufführungen in
Asien (China, Japan), Australien und Lateinamerika (Argentinien, Brasilien)
fanden vereinzelt statt. Die technischen und Regie-Entwicklungen gingen aus
von den USA und von Europa.
(1)
Pioniere in den USA
Am 23. April 1896 wurde in Koster & Bial´s Music Hall in New York mit dem
Vitascope-Projektor von Th.A. Edison ein kinematographisches Programm erstmalig vorgeführt - bestehend aus Burlesken und Farcen. Gefilmte Szenen, die
Ausgangspunkte amerikanischer Spielfilmgenres wurden, gab es zuvor schon
für die Kinetoscope-Filme. Das waren Wildwest-Show-Nummern und Comedies. 1894 hatte W.K.L. Dickson mit FRED OTT´S SNEEZE /FRED OTTS
SCHNUPFEN nicht nur vor Lumiéres´ L´AROSSEUR ARROSÉ/DER BEGOSSENE RASENSPRENGER (1895) eine der ersten komischen Szenen der Kinematographie produziert. Das Motiv des niesenden Mannes, der dadurch in seiner
Umgebung Zerstörungen und Turbulenzen auslöst, wird in der angelsächsischen
Linie der Comedies fortgesetzt (z.B. in THAT FATAL SNEEZE von Lewin Fitzhamon, produziert bei Hepworth 1907). Dies lässt sich auch an anderen amerikanischen Motiven verfolgen so dem des Kidnapping (THE KIDNAPPERS,
Biograph, 1903; WEARY WILLIE KIDNAPS A CHILD, Edison, 1904; STOLEN BY GYPSIES, Edison, 1905 und in Großbritannien RESCUED BY ROVER, Hepworth, 1905). Andererseits verwendeten amerikanische Regisseure
insbesondere nach 1903 Motive aus der Filmproduktion Europas (Edwin S. Por11
ters erfolgreicher und formal interessanter Film THE DREAM OF A RAREBIT
FIEND, Edison, 1906, geht zurück auf RÊVE À LA LUNE, Pathé, 1905).
Ähnlich wie die Lumières konnte die Edison Compagny um 1900 in ihren
Katalogen eine entwickelte Aktualitätenfilmproduktion anbieten (Lewis Jacobs,
1975)/1/. Filmberichte aus Westindien, Südafrika und vom Spanisch-amerikanischen Krieg (OUR FLAG IS THERE TO STAY! F.L. Donoghue), aber auch die
THE PAN-AMERICAN SERIES dienten einem Mythos: Patriotismus - in einem Land, das durch Einwanderer verschiedenster Nationalitäten und Ethnien
multikulturelle Dynamik aufwies. James Stuart Blackton, einer der Begründer
der Vitagraph, hatte in TEARING DOWN THE SPANISH FLAG/DAS NIEDERREISSEN DER SPANISCHEN FLAGGE (1898) das Sternenbanner als
Logo-Mythos der Jahrhundertzuversicht der Vereinigten Staaten mit dem Kinoprojektionsbild überhöht.
Wenn von nationalspezifischen Anfängen in der Filmgeschichte die Rede ist,
dann muss die Besonderheit der amerikanischen Filmproduktion - so verschieden im einzelnen die Studioprofile der ersten Firmen, der Edison Co., der Biograph, der Vitagraph, waren - in der massenkulturellen Definition von Mythen
einer Nation im Werden bezeichnet werden. Die blutige Realität der noch in den
70er Jahren des 19. Jahrhunderts geführten Inbesitznahme von Indianerland, die
Goldsucherzeiten, die Bandenkriminalität auf dem Lande wurde durch die Bilder des Kinematographen im populären Genre des Western in Kinomythologien
von Moral und Richten, von Männlichkeit und Heimat zum Konsumgut pragmatischer amerikanischer Denk- und Handlungsweisen (Buffalo-Bill-Kult in
den ersten Edison- und Biograph-Produktionen: BUFFALO BILL AND
ESCORT, Edison, 1897; BUFFALO BILL´S WILD WEST PARADE, Biograph,
1901). Bezeichnend ist, dass ein Western, der 1903 nach einem Theaterstück
von A.H. Woods entstand, als Zäsur in der Entwicklung dieses Filmgenres und
der Montagekomposition des frühen amerikanischen Stummfilms gilt: THE
GREAT TRAIN ROBBERY/DER GROSSE EISENBAHNRAUB (Edwin S.
Porter, Edison Co.). Das Story-Motiv, Eisenbahnüberfall, wurde im Gefolge auf
Banküberfall- und Postkutschenüberfallstories erweitert (THE WESTERN STAGE COACH HOLD-UP, Edison, 1904) und zwischen 1903 und 1908 entfaltet
sich das Genre des Western. Gilbert M. Anderson, Westerndarsteller bei Porter
1903, wurde bei der Chicagoer Firma Selig und schließlich bei der von ihm
gegründeten Essanay (1907) nach 1908 zum erfolgreichen und populären Westerndarsteller und –regisseur (BRONCHO BILLY AND THE BABY, 1908, nach
der sechsmal in den USA verfilmten Erzählung DREI PATEN von Peter B.
Kyne).
Edwin S. Porter gilt als der bedeutendste Regisseur vor David W. Griffith. Als
sensationell wurde die halbnahe bis nahe front-off-Aufnahme des Darstellers
Georges Barnes (von Lewis Jacobs als Großaufnahme bezeichnet)/2/ in DER
GROSSE EISENBAHNRAUB gewertet, der als Bandenführer am Schluss auf
12
das Publikum feuert. Im gleichen Jahr hatte Porter in THE GAY SHOE CLERK
die Nahaufnahme in einer Schuhverkaufsszene verwendet und motivierte mit
ihr die darauf folgende Finaleszene. Der Fortschritt in THE GREAT TRAIN
ROBBERY dürfte in dem Sprung von der Totalen in die halbnahe Kameraeinstellung und dem so ausschließlich durch den Schnitt konstruierten Finale liegen- und in der rot kolorierten Schusswolke. Ansonsten besteht dieser Film aus
einer in 14 Kameraeinstellungen (13 Totalen und Halbtotalen, 2 Schwenks und 1
halbnahe Aufnahme) erzählten Story. Wenn auch im Wechsel zwischen Interieur- und Außenszenen der Eisenbahnzug, die Wasserturmstation, Ritt und Gefecht im Laubwald die photographischen Möglichkeiten des Westerngenres demonstrierten, so werden die Totalen nicht gegliedert. Die Parallelhandlung des
Schemas Rettung und Verfolgung, die in England mit ATTACK ON A CHINA
MISSION (James Williamson, 1900) begründet wurde, findet sich bei Porters
Western nicht./3/ Dies trifft auch für Porters THE LIFE OF AN AMERICAN
FIREMAN/AUS DEM LEBEN EINES FEUERWEHRMANNES (1903) zu.
Porter, der 1901/02 Aktualitätenfilme für die Edison hergestellt hatte, verwendete in diesem Film Dokumentarfilmmaterial aus dem Archiv, verband Szenen
durch Überblendungen und schuf für die Figur des Feuerwehrmannes die Erzählperspektive einer Vision (von einem Kind in einem brennenden Zimmer).
Porter hat in sozialkritischen Filmen wie THE KLEPTOMANIAC/DIE DIEBIN
(1905) und THE EX-CONVICT/DER VORBESTRAFTE (1906) die melodramatische Vereinfachung der Gegensätze arm und reich mit einer Paralleltechnik
verbunden, die gleiches Verhalten (eine Reiche stiehlt Schmuck und eine arme
Frau Brot, aber nur die Arme wird verurteilt, weil sie kein Geld zu ihrer Verteidigung hat) in ungerechten Verhältnissen ausstellt. Dass Porter Träume, Visionen gestaltet hat - so auch in THE DREAM OF A RAREBIT FIEND/DER
TRAUM VON EINEM FRISCHLUFTFANATIKER (1906) -, verweist auf die
Einflüsse des phantastischen französischen Kinos und auf die vom Begründer
der Vitagraph, James Stuart Blackton, 1897-1900 entwickelte Animationstechnik. Zwischen 1900 und 1902 wurden Filme des Franzosen Méliès - bis 1900
hatte er 200 Produktionen aufzuweisen und in den USA wurden CINDERELLA/ ASCHENPUTTEL (1899; 20 Bilder im Szenarium) und LE VOAYAGE
DANS LA LUNE/REISE ZUM MOND (1902; 30 Bilder im Szenarium) aufgrund der vielen bunten Arrangement-Szenen bewundert - für die führenden
Regisseure der Edison (Edwin S. Porter), der Vitagraph (James St. Blackton)
und der Biograph (William Kennedy Laurie Dickson) wichtig. Bei Méliès war
die arrangierte Szene zu lernen, die Überblendung und die Tricktechnik (Stopptrick, Kopiertrick). Porters Story-Film über die Traumreise eines Betrunkenen
mit seinem Bett über der Großstadt (1906) ist ein Beweis für die eigenständigen
Lösungen in den USA (subjektive Kamera; Zweiteilung des Bildes durch Kopiertrick auf Dokumentarfilmmaterial). An der Entwicklung von Blackton, der
von der Aktualitätenfilmproduktion (1897/98-1902) und von den „chalk-talks“
13
der Vaudevilles herkommend, in der Vitagraph mit Trickmöglichkeiten arbeitete
(HUMOROUS PHASES OF FUNNY FACES, 1906), wird aber auch erkennbar,
dass diesen Regisseuren eine vom Markt her diktierte Disponibilität eigen war,
die stilistische Kontinuität nicht gestattete. 1907/08 wird Blackton der französischen Mode des FILM D’ART folgen und sich Shakespeare-Verfilmungen zuwenden (KOMÖDIE DER IRRUNGEN, JULIUS CÄSAR, RICHARD III.,
MACBETH u.a.). Und 1910 wird er eine dem Naturalismus verpflichtete Serie
SZENEN AUS DEM WIRKLICHEN LEBEN produzieren. An Wallace Mac
Cutcheon, der die Biograph-Schule des frühen amerikanischen Stummfilms
auch trug, dürfte die andere Entwicklung amerikanischer Regisseure erkennbar
werden: die strikte Ausrichtung auf populäre Genres - insbesondere Farcen und
Burlesken, die Kolportage von Sujets (z.B. von THE KISS, May Irwin, John C.
Rice, Edison Co., 1896), die serielle Produktion eigens geschaffener Publikumsidole - so in seinen Filmen zwischen 1900 und 1905 die des Tramps, die Grandpa-Figur, die Hooligan-Figur. Und: eine Charlie-Figur hat er lange vor der des
Chaplin entwickelt.
(2) Europas Kulturkreise und nationale Entwicklungen
A. Frankreich und Italien
Die stummen Bildstreifen der Lumières, von Méliès, die Pathé-Produktionen
waren frei von französischer Sprache und Zwischentitel kamen erst nach 1905
auf. Trotzdem unterlag die Ausbreitung französischer Filme im romanischen
Kulturkreis sehr unterschiedlichen nationalen Bedingungen. Erste Vorführungen von Lumière-Produktionen fanden im Mai 1896 in Bukarest statt. Im monarchistischen Spanien, dessen Bevölkerung zu 60% aus Analphabeten bestand,
etablierte um 1902 der Kameramann Segundo de Chomón die Dokumentarfilmproduktion und den Verleih farbiger Pathéfilme. Er zeichnete sich durch technische Erfindungen (Tönungsverfahren, Trickverfahren, Kamerawagen) aus und
ging 1906 nach Paris zur Pathé (später wirkte er zeitweilig auf den italienischen
Antikfilm als Kameramann innovativ, CABIRIA, 1914). In Italien konnte sich
mit den Patenten von Filoteo Alberini eine eigenständige technische Basis entwickeln. Zwischen 1896 und 1904 produzierten italienische Filmpioniere Aktualitäten- und ethnographische Filme (Roberto Omegna: Autorennenfilme 1904/
05, Manöverfilm, 1904, TERRA CALABRESE, 1905), aber auch wirksam wurde die neapolitanische Komödie für die Herausbildung einer italienischen Filmkomikertradition. Die für den italienischen Film charakteristische Monumentalästhetik des historischen Films , die 1905 mit den Massenszenen von DIE ERO14
BERUNG ROMS (Filotea Alberini), einer triumphalen Rückbesinnung, eine
Zäsur aufweist, war eine konservative massenkulturelle Kostümierung zu der
wirtschaftlichen Prosperität Italiens, die bis 1908 andauerte. Im neu entstandenen Industriedreieck Genua-Mailand-Turin begann 1906/07 die Ambrosio Film
in Turin. Für Arturo Ambrosio, der mit einer fotografischen Werkstatt in Turin
begonnen hatte, arbeiteten Alberto Giaccone als Kameramann von Komikerfilmen (IL BAMBINO DI UN ANNO/DAS KIND VON EINEM JAHR mit dem
Schauspieler Ernesto Vaser), der Dokumentarist Roberto Omegna. Der Kameramann Giovanni Battista Vitrotti fertigte seit 1905/06 Filmberichte, Pompeji- und
Neapelfilme, Komödien. Sein Aufenthalt 1909/10 in Moskau belegt die internationale Verbreitung italienischer Filme und Techniker, die durch die Zusammenarbeit der Ambrosio mit der Pathé in Europa seit 1908/09 forciert wurde. Der
vom Theater Piémont zu Ambrosio 1906 kommende Schauspieler Luigi Maggi
wird bis 1908 als Regisseur historischer Monumentalfilme berühmt (1906: STORIA NAPOLETANA, STORIA RUSSA; 1908: GLI ULTIMI GIORNI DI POMPEI/DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI, MARTIRE POMPEIANO/DAS
MARTYRIUM POMPEJIS, LOUIS XI.).
Im März 1898 trat Boleslaw Matuszewski mit einer Broschüre an die Öffentlichkeit, in der er vorschlug, in den Sammlungen der Nationalbibliothek Frankreichs oder im Musée de Versailles ein Depot für Filmgeschichte einzurichten./4/ Von 1896 bis 1898 hat die Société du Cinématographe Lumière mehr als
800 Filme produziert/5/ und ist in aller Welt bekannt. Georges Méliès, der stilistische Gegenpol, der vom Zaubertheater kommt und mit der kinematographischen Tricktechnik operiert, wartet auf mit Scènes d’actualités et documentaires
und mit Scènes comiques et fantasmagories. Seit 1897 existierten in Paris und
London Kolorierateliers und Leon Gaumont eröffnete 1898 in London eine Vertriebsfiliale. Zehn Jahre später wird als Regisseur Louis Feuillade die Serienprofilierung der Gaumont erfolgreich entwickeln, wird André Calmettes die Société
du Film d’Art gründen und die 1908 gegründete Eclair startet mit Victorin Jarin
die Serie NICK CARTER. Die Unternehmen Pathé und Gaumont bestimmen
um 1908 den europäischen Medienmarkt mit Kinofilmen. Sie errichten nicht nur
ihre Vertriebsfilialen in Berlin, Moskau, London, New York, Shanghai. Sie produzieren auch in den europäischen Ländern, um den Markt in den Ländern mitbestimmen zu können. Die Produktion wird internationalisiert. Der Internationalisierung entspricht auch die Standardisierung ab 1908/09. Der Übergang zur
Serienproduktion, im komischen Fach zu Standardrollen (z.B. bei der Gaumont
von Roméo Bosetti die ROMEO- und CALINO-Serien) fördert den Prozess der
Standardisierung. National ist die französische Burleskentradition mit der Figur
des Boireau (seit 1905 von André Deed bei der Pathé entwickelt z.B. BOIREAU
DÉMÉNAGE/BOIREAUS AUSZUG; Pathé-Serie von L.Gasnier, 1908) und den
spezifisch französischen Verfolgungsjagden (Verfolgungsfilme von Roméo Bosetti und André Heuzé, letztgenannter war mit DIE POLIZISTENJAGD Vorläu15
fer der amerikanischen Keystone Cops). National sind die bei Méliès besonders
ausgeprägten Feerien. National war die Offenbachtradition der Operette mit Parodie und Ironie, Rollentausch und Demaskierung, mit den Umbrüchen von
Grauen zu Komik. Die Stars sind nationale Idole. Ob dies die triumphal gefeierte Sarah Bernhardt und die Schauspieler der Comédie Francaise sind oder der
1905 vom französischen Boulevardtheater zur Pathé kommende Max Linder mit
dem Kostüm und dem Gebaren des Dandy oder Roméo Bosetti als akrobatischer
Komödiant. National war der Einfluss der Verwechslungskomödien von Georges Feydeau und Eugène Labiche. Frankreich, das nach England das zweite
Land des auf Maximalprofit ausgerichteten Finanzexports um 1900 war und eine
breite Schicht der Zinsprofiteure besaß, prägte eine farbenprächtige, luxuriöse
Massenkultur des Kinos in Europa. Zwischen 1903 und 1908 findet national
eine Zeit der Verdrängung des mit den Lumiéres begonnenen „Filmrealismus“
statt. Max Linder lebt mit seinen Figuren die Welt der eleganten Kleidung, des
Sports (Pferderennen, Segeln, Wasserflugzeuge, Autojagden) und führt in Salons. Die nach der Dreyfus-Affäre seit 1902 sich zuspitzenden Auseinandersetzungen mit dem Katholizismus (Schließung tausender katholischer Schulen in
Frankreich) wird im katholischen Frankreich begleitet von einer Aufwertung
religiöser Monumentalfilme (Victorin Jasset LA VIE DU CHRIST/DAS LEBEN CHRISTI, Gaumont, 1906; Lucien Nonguet LA PASSION DE JÉSUS
CHRIST/DAS LEIDEN JESUS CHRISTUS, Pathé, 1903; André Maitre LA
PASSION DE JÉSUS CHRIST, Pathé, 1907). Die Vielfalt der reich ausgebildeten frühen Stummfilmproduktion Frankreichs scheint Aussagen über die Entwicklung filmischer Erzählweisen nicht zuzulassen. Trotzdem ist bei den Franzosen eine Story-Dramaturgie mit kinematographischen Augen entwickelt worden, die vor allem die vom Theater herstammende Dominanz der Totalen in der
Periode zwischen 1900 und 1906 relativierte. In diesem Sinne ist
(1) die narrative Funktion des Magiers und Zauberers für die visuelle Erzählung
der Story bei Georges Méliès hervorzuheben (LE MÉLOMANE, 1903, LES
CARTES VIVANTES, 1905), d .h. dass durch die Wahl solcher Figuren auch
eine visuelle Struktur für die Kollisionen der Figuren, für die wundersamen
Verwandlungen von Notenzeichen, Köpfen, auch für die Konstruktion von
Verfolgungsjagden und Katastrophen zustandekam;
(2) die Beobachtererzählungen - das sind Stories mit Fotografen-Figuren (G.
Méliès LA CHUTE DE CINQU ÉTAGES, 1906), aber auch die sogenannten
Schlüssellochfilme mit dem Voyer (PAR LE TROU DE SERRURE/PEEPING TOM, Pathé, 1901)./6/
(3) Als ein Versuch, die Bühnentotale durch ein kinematographisches Erzählprinzip anzugehen, kann HISTOIRE D´UN CRIME/GESCHICHTE EINES
VERBRECHENS (1901) von dem späteren Starregisseur der Pathé, Ferdiand Zecca, gewertet werden. Erzählt wird in einer Bühnentotale die Traumebene eines Mörders, indem in der Totalen der Gefängniszelle eine zweite
16
kleinere Bühne über dem Schlafenden Ausschnitte aus der Biografie bis zum
Mord zeigt.
(4) Die Komposition von Parallelhandlungslinien, wobei nicht ausschließlich
durch den Filmschnitt eine Erzählstruktur getragen wird, wie bei den Spannungsmontagen in den Filmen von David W. Griffith nach 1912/13. Kennzeichnend für französische Story-Dramaturgien ist, dass sie Telegramm und
Telephon als wichtige Details der Story-Verknüpfung nutzen und so die
Handlungszeit und die parallele Reihung von Vorgängen in und zwischen
Szenen organisieren (DER ARZT VOM SCHLOSS, Pathé, 1908; besonders
auch später ausgeprägt z.B. in der Gaumont-Serie LES VAMPIRES/ DIE
VAMPIRE, 1915/16).
B.
Englands erste Filmfirmen
Die Entwicklung der kinematographischen Werkstätten und Filmfirmen in
England ist durch mehrere für das viktorianische Großbritannien um 1900 charakteristische Sachverhalte mitbestimmt:
(1) die mit Dampfmaschinenbau, Hüttenwesen und Textilindustrie verbundene
rasche Entwicklung des elektrischen Apparatebaus und der Laboratorien für
wissenschaftlichen Instrumentenbau (z.B. Birt Acres The Northen Photographic Works in High Barnet, 1895; Robert William Pauls Kinetoscope-Produktion seit 1895);
(2) das englische Kolonialreich hatte eine traditionelle Ausrichtung auf den Export britischer Produkte zur Folge, was zur raschen Verbreitung sowohl der
kinematographischen Projektionsgeräte als auch der englischen Filme beitrug. So ließ Paul mit dem Theatrographen bereits 1896 erste Aufnahmen in
Spanien, Portugal und Ägypten herstellen. Er exportierte seine Projektionsgeräte in die USA, musste aber nach der Gründung der Motion Picture Patent
Company in den USA im Jahre 1909 seine Filmproduktion einstellen, da der
europäische Markt nicht ausreichte. Die Warwick Trading C., 1898 von Charles Urban gegründet, forcierte die Entwicklung des englischen Dokumentarfilms (SZENEN AUS SÜDAFRIKA, 1899, Filme vom Burenkrieg von Joe
Rosenthal und E. M. Hyman). Die 1903 gegründete Urban Trading C. entwickelt die angelsächsische Linie des Reise- oder Expeditionsfilms in Europa
(z.B. LIVING CANADA, Joseph Rosenthal, 1903, NORTH BORNEO, H.M.
Lomas, 1903/04, DER KRIEG IN MAZEDONIEN, C.Rider Noble, 1903/
04, ALPEN- und WINTERSPORT-SERIE, 1904/05). Charles Urban entwickelte zusammen mit dem Professor Martin Duncan das Genre des wissenschaftlichen Dokumentarfilms zwischen 1903 und 1906 (z.B. THE UNSEEN
WORLD/DIE UNSICHTBARE WELT, die Serie SECRETS OF NATURE/
GEHEIMNISSE DER NATUR).
17
(3) die Weltwirtschaftskrise zwischen 1900 und 1903 beförderte die Stagnation
der Industrie in dem Mutterland der Kolonien und hatte nicht nur niedrige
Reallöhne, sondern auch hohe Arbeitslosenquoten zur Folge und stellte für
die Trade Unions seit dem Streik bei der Taff-Val-Eisenbahngesellschaft in
Südwales (1900) neue politische Herausforderungen (Gründung der Labour
Party, 1906). Diese sozialen Hintergründe erklären auch die frühe Entwicklung des Industriefilms in England, der sich durch genaue Erzählungen der
Arbeitswelten der Proletarier auszeichnet (z.B. einige Dokumentarfilme der
Firma Cricks and Martin, London, zwischen 1901 und 1908 wie A VISIT TO
PEEK FREAN AND CO.´S BISCUIT WORKS, 1906 und der Kineto Production Co. A DAY IN THE LIFE OF A COALMINER, 1910).
Einige Filmfirmen entwickelten sich dank der Initiativen von Photographen
(Frank S.Mottershow, der bis 1902 bei William Paul arbeitete; James Williamson, der 1902 die Williamson Kinematographic C. gründete) und andere
wurden von Technikern aufgebaut (Hepworth Manufacturing C.von Cecil Hepworth; der Chemieingenieur George-Albert Smith, der als Regisseur seit 1897
und als Erfinder des ersten technisch verwertbaren Kinemacolor-Verfahrens, mit
Charles Urban ausgewertet in der Firma Kinemacolor Co. 1908, die Schule von
Brighton prägte).
Kennzeichnend für die angelsächsische Kulturtradition ist neben den frühen
Differenzierungen des Dokumentarfilms (Expeditions- oder Reise-, Industriefilm), dass die ersten Spielfilmszenen der Music-Hall-Tradition der Comedies
verpflichtet sind, aber Szenen werden im Freien inszeniert und dank der englischen Laterna-Magica-Tradition entwickelt man filmische Erzählweisen wie in
keinem anderen europäischen Land zwischen 1900 und 1906. Dabei wird auch
der Stopptrick anders als bei französischen Filmen verwendet. Er ist weniger an
das Atelier als vielmehr an Eisenbahn- und Autofahrten geknüpft (EXPLOSION
OF A MOTOR CAR, Cecil Hepworth, 1900; Robert W. Paul MOTORIST,
1906). Robert W. Paul verwendet in AUF EINEM RASENDEN AUTO DURCH
PICADILLY CIRCUS die Kamerafahrtaufnahme nach THE HENLEY REGATTA (1899) von James Williamson. Die Fahrtaufnahme überwindet die Totale des
abphotographierten Bühnenrahmens. Die Schnittmontage wird von der Schule
von Brighton entwickelt (George Albert Smith schneidet eine Großaufnahme in
Totalen in THE MOUSE IN THE ART SCHOOL, 1901; James Williamson setzt
die Parallelmontage ein bei ATTACK ON THE CHINA MISSION, 1901). Englische Filmfirmen entwickeln - ähnlich wie an den frühen Produktionen des USAmerikaners Edwin S.Porter verfolgbar - die europäischen Übergänge zu Montagefilmen. Das betrifft die Insert-Montage (George Albert Smith THE KISS IN
THE TUNNEL, 1899), die Szenengliederung durch mehrere Kameraeinstellungen in den englischen „Beobachterfilmen“, d.h. Blicke durch Brillen, Telescope,
Microscope, z.B. G.A. Smith GRANDMA´S READING GLASS, 1901. Die
18
Entwicklung der Blick-Montage führt zur Montage von Träumen, Erinnerungen, die als Elemente der story eine neue Erzählstruktur des frühen Spielfilms
ermöglichen (z.B. der erste Langmetragefilm mit 400m von Cecil Hepworth
ALICE IN WONDERLAND, 1903)./7/
C.
Das wilhelminische deutsche Kaiserreich - Anfänge der
Filmproduktion in einem Untertanenstaat
Die Ausstellung für Elektrotechnik und Kunstgewerbe, die am 6.6.1896 in
Stuttgart eröffnet wurde und 122 Tage die Pforten offenhielt, zeigte erste Aufnahmen vom deutschen Kaiser Wilhelm II. auf dem Friedensfest in Frankfurt/
Main anlässlich des 25. Jahrestages des deutsch-französischen Krieges. Nicht
das Bioscop, mit dem die Berliner Gebrüder Skladanowsky ihr „mechanisches
Theater“ am 1.11.1895 im Berliner Varieté Wintergarten offerierten, war eine
technische Sensation, sondern der Cinématograph der Lumières. Ihr Katalog bot
im Gefolge 8 Filme aus Stuttgart an u.a. Filme von deutschen Militärtauchern (2
Filme), Dragoner und Militär in Stuttgart (4 Filme), Straßenbilderszenen und
Aufnahmen vom V. Deutschen Sängerfest. Diese Sicht der Franzosen auf die
Deutschen erhellt, was Bertha von Suttner in WOHIN? DIE ETAPPEN DES
JAHRES 1895 beschrieben hatte:
„Noch wird den Unterthanen einiges geschenkt: Das Umsturzgesetz, dann
Ausschmückung der Siegeshalle, Statuen und Büsten der Regenten, Generäle
und auch einiger Bürger; Förderung der Gesangsvereine, sofern das deutsche Lied beiträgt zur Kräftigung der Gottesfurcht, der Liebe zu Thron, Vaterland und Familie...´Landgraf werde hart!´- so könnte man jetzt sagen:´ Kaiser werde modern!´.“/8/
Obwohl die Deutsche Automaten-Gesellschaft Stollwerck & Co (eine Tochtergesellschaft der Schokoladenfabrik Köln), nachdem sie die Patentrechte von
den Lumiéres am 16.5.1896 erworben hatten, mit Filmprogrammen in Automatenhallen in Berlin, Köln, Hamburg, Hannover, Dresden, Bremerhaven, Breslau
und München startete, sind es deutsche Techniker und mittelständische Unternehmen, wie die Schausteller Skladanowsky und Oskar Messter, die in Berlin
eigenständige Entwicklungen begannen. Die von den Skladanowskys 1898 gegründeten Berliner Camera Werke können sich nicht auf dem Markt behaupten.
Es gelingt aber Oskar Messter, dessen Familie dem wissenschaftlichen Instrumentenbau - insbesondere von Mikroskopen - verpflichtet war, dank der Erfindung des Malteser Kreuzes für den Filmtransport, eine erfolgreiche Serienfabrikation von Filmprojektoren zu entwickeln. Er koppelt die Filmproduktion mit
dem Projektorenverkauf. Seit Ende 1896 nutzte er die Zusammenarbeit mit dem
populären Apollo-Theater für die Filmprogrammproduktion (Berlin, Friedrich19
straße 218). Eine Zusammenarbeit, die Messters Orientierung auf die Tonbilderproduktion nach 1902 beförderte (Start der Vorführungen mit dem Biophon
Messters am 29.4.1903; 1904 in Chemnitz Guido Seeber mit dem Seeberographen und dem Seeberophon). Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass die Filmproduktion auch auf die preußische Repräsentation ausgerichtet war (BISMARCK
IN FRIEDRICHSRUH, KAISER WILHELM AUF DER VULKANWERFT IN
STETTIN, 1897, und das erste Tonbilderprogramm endete mit einer preußischen
Kasernenhofszene). 1902 startete bei der Messter Projection GmbH Carl Froelich (AUF DER RADRENNBAHN IN FRIEDENAU, 1903), der neben dem
Tonbildregisseur Franz Porten (MEISSNER PORZELLAN, 1906, mit Henny
Porten) das Profil der Produktion bestimmte. Berlin wurde um die Jahrhundertwende zum Zentrum der Produktion von kinematographischen Geräten und von
Filmen (1897: Deutsche Bioscope GmbH, Jules Greenbaum; 1902: Internationale Kinematographen- und Licht-Effekt-G.mbH; 1904: Errichtung des ersten
Filmateliers außerhalb des Stadtzentrums durch die Mutoskop in Lankwitz;
1905: Duskes Kinematographen- und Filmfabrik z.B.: DER HAUPTMANN
BEGNADIGT. Dokumentare Szene mit Wilhelm Voigt, dem authentischen
Hauptmann von Köpenick, 1908). Das Publikum - die im Zuge der Industrialisierung rasch gewachsene Arbeiterschaft, die Zuwanderer vom Land in die
Großstädte und der hohe Anteil der Dienstboten unter den berufstätigen Frauen
- hatte eine Stabilisierung des Kinomarktes der Filmproduktion zwischen 1904
und 1907 erbracht, wobei die Quantität der französischen und der USA-Filme
auf dem deutschen Markt die nationale Produktion bei weitem übertrafen./9/
Die deutschen Filmproduktionen waren geprägt von der deutschen derbkomischen Possentradition (KLEBOLIN KLEBT ALLES mit Curt Bois, Duske-Produktion, 1909), vom Parodieren von Hochkunstwerken der Oberschichten (DIE
MODERNE JUNGFRAU VON ORLÉANS, Projektion für Alle, 1905), von Revue- und Operettenszenen (DONNERWETTER TADELLOS, Deutsche Mutoskop und Biograph, 1908), von Melodramen. Nach 1908 erfolgt auch eine Orientierung auf den deutschen Historienfilm (ANDREAS HOFER, Oskar Messter,
1909) und den deutschen Märchenfilm (HÄNSEL UND GRETEL, Oskar Messter, 1908). Weil die deutsche frühe Stummfilmproduktion keine mit den englischen, amerikanischen und französischen profilierten Regisseuren vergleichbare Montagetechnik im Sinne von Erzählstrukturen entwickelt hat, und erst zwischen 1911 und 1913 mit Produktionen von Filmen zwischen 38 und 75 Minuten die Quantität der Kameraeinstellungen und Schnitte an Bedeutung gewann,
sind Wertungen sehr schwierig. Überlegenswert wäre, ob verschiedene Motive
als Indiz für nationalspezifische Funktionsrollen und Story-Einfälle gewertet
werden könnten.
20
Es wären unterscheidenswert:
(1) die Konvention des „Verwandelns“ mit den Motiven
a) Rollentausch (insbesondere bei Frauenrollen z.B.: DIE VERNUNFT
DES HERZENS, Deutsche Mutoskop und Biograph, 1910; ENGELEIN,
Urban Gad, PAGU, 1913 mit Asta Nielsen) und
b) „Träume von der verkehrten Welt“ (z.B. STILLE NACHT, HEILIGE
NACHT, Deutsche Biograph, 1910: eine arme Frau und ihre Tochter
werden von 2 Engeln zu Petrus geflogen, wo sie freundliche Aufnahme
finden; ES WÄR´ SO SCHÖN GEWESEN, Deutsche Vitascope, 1910:
ein Rekrut träumt, dass der Unteroffizier ihm Kaffee serviert und er
Kommandant wird). Die Häufung solcher Motive kann als kommunikationssoziologischer Verweis auf die massenkulturelle Verarbeitung von
Repressionsmechanismen im wilhelminischen Untertanenstaat gewertet
werden;
(2) Treue und Pflicht als Konventionen der Ordnung in Staat und Heim - deutsche melodramatische Kolportagen autoritärer Gemeinschaft in verschiedensten Genres - von Possen, Melodramen bis zu den frühen deutschen Spionagefilmen (z.B.: DIE MODERNE JUNGFRAU VON ORLÉANS, Max
Skladanowky, 1905: eine Riesenköchin vertreibt für ihre Herrschaft 3 Einbrecher, die Kolportage des Schiller Dramas verhandelt auf der Ebene der
Dienstboten das Pflichtmotiv der Ordnung; Spionagefilm „S 1“, Urban Gad,
PAGU 1913: „Spionagegeschichte um S1, ein neues Luftschiff. Asta ist die
Tochter eines Generals, der die Pläne für einen neuen Luftschiffmotor gekauft hat. Der heimliche Geliebte Astas ist ein Spion. Asta ist hin- und hergerissen zwischen Vaterlandsliebe und Treue zum Geliebten, als dieser als Spion entlarvt wird. Nach vielen Qualen siegt die Liebe zum Vaterland. Zwischentitel ´Das Glück des Vaterlands ist das Glück aller´.“ Stefan Kolditz,
1990/10/).
(3) Konventionen der Unschuld im populären deutschen Stummfilm-Diskurse
des Mitleids und der Errettung vor der Bestrafung durch Staat und Patriachat
(z.B.: VERKANNT, Oskar Messter, 1910/11/; DIE LANDSTRASSE, R:
Paul von Woringen, 1913/12/; DER ANDERE, R: Max Mack, 1913; die Beispiele sind insofern aufschlussreich als die Kinoöffentlichkeit die Unschuld
unterprivilegierter Schichten verbindet mit der Kritik autoritärer Persönlichkeiten wie Staatsanwalt und Vaterfigur). Bis 1911 entstehen auch in Chemnitz, Frankfurt/Main, Düsseldorf, Dresden und München Filmfirmen, aber
Berlin bleibt das Zentrum. Eine mit England vergleichbare Entwicklung des
Dokumentarfilms hatte das wilhelminische Deutschland nicht aufzuweisen.
Mit Unterstützung der Deutschen Kolonialgesellschaft wurden Propagandafilme über die deutschen afrikanischen Kolonien seit 1905 in Sonderaufführungen gezeigt (Filme über Südwest- und Deutsch-Ostafrika von Karl Mül-
21
ler, Altenburg, 1905; AUS DEM KRIEGSLEBEN IN SÜD-WESTAFRIKA,
Georg Furkel, 1907).
D. Die Anfänge im skandinavischen Kulturkreis: Schweden
und Dänemark
Die Gründung von Filmproduktionsfirmen in Schweden und in Dänemark
vollzog sich am Ende der Periode des Wander- und Jahrmarktkinos (Svenska
Biografteatern, Kristianstad/Südschweden, 1905; Nordisk Films Kompagni,
Kopenhagen/Dänemark, 1906). Die Marktpräsenz der französischen und deutschen Apparatehersteller und Programmanbieter forcierte den Übergang von
Schaustellern und Varietéleuten zu Kinogründern (Le Tort, dänischer Zauberkünstler, errichtete zwischen 1902/04 Kinematographentheater in Stockholm,
Göteburg, Malmö; der schwedische Schausteller Ole Olsen 1905 in Kopenhagen). Auch Photographen beschritten diesen Weg (Charles Magnusson, schwedischer Photograph, finanzierte die Svenska Biografteatern aus den Erträgen
seiner Göteburger Kinos). Eine technisch-industrielle Entwicklung wie in
Frankreich, England und Deutschland wird in Skandinavien nicht wirksam.
Nach 1910 gedieh die auf den Export orientierte dänische Nordisk rasch zur
zweitgrößten Produktionsfirma in Europa nach der Pathé. Dieses dänische
„Wirtschaftswunder“, aber auch die rasche Entwicklung der Svenska Biografteatern von Charles Magnusson, war möglich, weil nationalspezifische Ausgangsbedingungen erfolgreich genutzt werden konnten:
® Zu Beginn des 20. Jahrhunderts weist der skandinavische Kulturkreis mit
Naturalismus und Symbolismus eine auf das europäische Literatur- und Theaterleben wirkende sozialkritische Erneuerungswelle auf (der Norweger
Henrik Ibsen, der Schwede August Strindberg). Gleichzeitig wirken die
Motive des melodramatischen Schauspiels des 19. Jahrhunderts auf die dänischen und schwedischen Kinodramen. Obwohl die Nordisk zwischen 1906
und 1910 bei einer Produktion von anfänglich 50 und später 100 Spielfilmen
die französischen und amerikanischen Genres (Burleske, Cowboyfilm, Sensationsfilmen) weitestgehend kopierte, konnte sie auf der nationalen Theatertradition aufbauend eine eigenständige Film d´art-Produktion entwickeln.
Märchenverfilmungen sind vereinzelt produziert worden (KÖNIG DROSSELBART, Viggo Larsen, Nordfilm, eine Tochterfirma der Nordisk, 1907).
Auf dem europäischen Markt werden aber - dank der Schauspieler und Regisseure (Asta Nielsen, Urban Gad, Valdemar Psilander, Olaf Fönse, August
Blom) - nach 1910 die „erotischen Sensationsfilme“ und die „mondänen
Dramen“ rasch Verbreitung finden, wobei das „Un-Happy-End“ dänischer
Filme eine Ästhetik der Melancholie und des Schmerzes kreieren, die aber
die sozialen Dimensionen der Erotik der Frauen und der Interessen der Män22
®
®
E.
ner nicht ausklammern (DEN HVIDE SLAVINDE, Viggo Larsen, 1906;
DEN HVIDE SLAVENHANDELS SIDSTE OFFER/WEISSE SKLAVIN,
August Blom, 1910).
Während in Finnland und Norwegen keine Filmproduktion sich in der frühen
Stummfilmgeschichte entwickelte (erster norwegischer Dokumentarfilm
GEFAHREN DER FISCHEREI, 1907), begann die dänische und die schwedische Produktion bereits 1897 (Lokalreportagen des schwedischen Photographen Ernest Florman; ab 1903 Tonbilder des schwedischen Photographen
Otto Bökman; Anfänge einer dänischen Dokumentarfilmproduktion:
STRASSENARBEITER, 1897; DAS GEFÄHRLICHE LEBEN EINES FISCHERS, Ole Olsen, 1906). Die Dokumentarfilme waren Erkundungen der
Menschen und der rauhen Landschaften. In der Spielfilmregie des Schweden
Victor Sjöström wird nach 1913 die Ästhetisierung nordischer Landschaften
und der Naturelemente Meer und Sturm zu gültigen Stilisierungen geführt.
Die psychologisch subtilen Darstellungen in den skandinavischen Kinodramen gewannen durch die Licht-Schatten-Dramaturgie (erster dänischer
Spielfilm: HENRETTELSEN, Regie Peter Elfert, 1903: das Filmfragment
zeigt in zwei Kameraeinstellungen ausschließlich durch die plastische HellDunkel-Dramaturgie den Gang eines Verurteilten auf den Henker zu)/13/.
Die Perfektionierung der Lichttechnik in der Inszenierung nach 1911 wirkte
insbesondere auf den deutschen stummen Spielfilm.
Marktdominanz der Franzosen und nationale Anfänge in
slawischen Ländern Osteuropas
Obwohl in den slawischen Ländern Techniker kinematographische Geräte zu
Ende des 19. Jahrhunderts erfanden (Polen: Pleograf von Kazimierz Prószynski,
1894-98; Russland: Kinetoskop von Iossif Timtschenko/M.Freidenberg, 1894),
kam es zu keiner industriellen Verwertung. Bis 1908/11 waren Polen und Russland Absatzmärkte ausländischer Firmen, insbesondere der Pathé und von Gaumont. Anfänge einer tschechischen Stummfilmentwicklung verbinden sich mit
Jan Krizenecký seit 1898 (Aktualitäten und 3 Lustspielfilme). Erste nationale
Filmproduktionsunternehmen entwickeln sich über den Verleih und über Kinounternehmer (Moskau: Alexander Alexejewitsch Chanshonkow, 1906, St. Petersburg: Alexander Drankow, 1907; Warschau: Alexander Hertz, Gründer der
Sfinx, 1911; Prag: Kinofa, 1910, Fotokinema, 1911). Zwischen 1904 und 1906
schuf die Pathé ein internationales Netz der Filmdistribution (Februar 1904:
Moskau, August 1904: New York, Dezember 1905 St. Petersburg, Juli 1906:
Odessa, 1908: Chicago). Die Pathé-Rouss vertrieb und produzierte Aktualitäten
(ROSSIJA V OBRASACH/RUSSLAND IN BILDERN, Wochenschauserie). LA
RÉVOLUTION EN RUSSIE/REVOLUTION IN ODESSA (Lucien Nouquet,
23
1905), eine szenische Rekonstruktion der Ereignisse vom Aufstand der Besatzung des russischen Panzerkreuzers Potemkin in Odessa 1905, belegt, dass man
rasch auf Ereignisse in Russland reagierte. Seit 1905/06 passte sich die Pathé
dem russischen Markt durch nationale Themen, Stoffe und Literaturverfilmungen an (L’ASSASINAT DU GRAND-DUC SERGEI/DER MEUCHELMORD
DES GROSSHERZOGS SERGEJ, 1905; LE NIHILISTE/DER NIHILIST,
1906; L’ESPIONNE/DIE VERRÄTERIN, 1906/07)./14/
Die russische nationale Filmproduktion setzte in der Phase der Etablierung
der Stadtkinos ein und orientierte sich an Petersburger Theaterinszenierungen,
an Episoden aus populären Romanen oder populären Volksliedern (STENKA
RASIN, Regie Wladimir Romaschkow, 1908). Erst nach 1910 entwickelte sich
eine neue Regiegeneration (Jewgeni Bauer, Jakow Protasanow). Die russischen
Melodramen, die die Dramatisierung der patriachalischen Gewalt in bäuerlichen
Lebenswelten favorisierten, unterschieden sich von westeuropäischen Melodramen durch die Schicksalsgläubigkeit der russischen Seele und die emotionale
Wucht der Anklage der sozialen Ordnung./15/
(3) Früher Stummfilm und kulturelle Traditionen in Asien:
China und Japan
Zwischen 1896 und 1899 werden die französischen Lumière-Attraktionen in
chinesischen und japanischen Städten bekannt (11.8.1896 erste Vorführung im
Xu-Park von Shanghai; 15.2.1897 erstes offizielles Kinoprogramm in Osaka des
Ingenieurs Francois-Constant Girel). In China dominieren ausländische Filmoperateure und die Vorführungen fanden in Teehäusern statt. Als erste chinesische
Filmproduktion gelten drei Szenen aus der Peking-Oper DING-JUN SHAN/
DING-JUN BERG, die im Jahre 1905 mit dem Operndarsteller Tan Xin-pei in
Peking aufgenommen wurden. Erst 1917 baute die Commercial Press in Shanghai unter der Leitung von Bao Qing-jia eine Filmproduktion auf. Sparten der
Produktion waren: Filme über das Zeitgeschehen (shi-shi pian), Landschaftsfilme (feng-jing pian), alte Theaterfilme (gu-ju pian), moderne Theaterfilme (xinju pian) und Erziehungsfilme (jiao-yu pian).
Die Frühgeschichte des Kinofilms in Japan wird ebenfalls von Besonderheiten geprägt:
® um 1900, dem Jahr der ersten japanischen Filmproduktionen, bestanden verschiedene Kultursysteme im kaiserlichen Japan. Der aristokratisch-offiziellen Kultur stand gegenüber die differenzierte und jahrhundertealte sinnenund lustbetonte Volkskultur der unteren städtischen Schichten (die das Kabuki-Theater hervorgebracht hatte) und die ritualisierte der Bauern-, Berg- und
Fischerdörfer. Die Fotogeschäfte und später die Filmhandelsgesellschaften
24
®
®
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konzentrierten sich in Tokyo (1903: erstes Kino Denki-kan; 1908: Errichtung des ersten Filmstudios durch die Firma Yoshizawa). Das Kino wurde
Bestandteil eines allmählichen kulturellen Wandels: der Herausbildung neuer großstädtischer Kulturen, die aber erst in den zwanziger Jahren nationale
Bedeutung erlangten.
Ähnlich wie in China wurde die strikte Unterscheidung zwischen Verfilmungen des alten und des modernen Theaters wirksam. Als eine der ersten Produktionen gilt die Verfilmung einiger Szenen aus dem Kabuki-Stück MOMIJIGARI (HERBTSAUSFLUG IM AHORNWALD, 1900). Die Tokioter Firma Yoshizawa nutzte für ihre Produktion das Shinpa-Theater, d.h. das Gegenwartstheater, später auch das Kabukitheater (Karsen Namakura). Die
Filmproduktion in der alten Kaiserstadt Kyoto favorisierte mit dem Schauspieler des Kabuki-Theaters Matsunosuke Onoe ab 1909 den Samuraifilm.
Der Regisseur Shozo Makino wurde mit diesem Genre zum Stammvater des
populären japanischen Kinos. Der erste slapstick-Film japanischer Produktion entstand erst 1920 (AMATEURKLUB, Regie Thomas Kurihara)
Sowohl die Schauspieltechniken des Kabuki-Theaters als auch die in der japanischen Kulturtradition ausgebildete visuell-bildhafte Wahrnehmung, die
nicht die Zentralperspektive in den bildenden und darstellenden Künsten,
dafür aber die expressive Linienführung und die Komposition in der Bildfäche betont (z.B. die Ukiyo-e, die Farbholzschnitte; die Kalligraphie), haben
die kulturelle Spezifik des japanischen Stummfilms entscheidend geprägt.
Der japanische Stummfilm setzte die im japanischen Puppenspiel bereits
entwickelte Montage von visuell-darstellerischem und wortsprachlichem
Text fort. Im Gegensatz zu den Zwischentiteln, die in Europa 1908 aufkamen
und die die japanischen Filme erst ab 1920 verwendeten, wurde der Benshi,
der links vor der Leinwand an einem kleinen Pult saß und aus einem selbstverfassten Textbuch vortrug, wichtiges Element der Synthese verschiedener
Künste./16/
Zwischen 1901 und 1906 führten die militärischen Auseinandersetzungen mit
China und Russland - insbesondere der Russisch-Japanische Krieg - zu einer
nationalistisch-selbstherrlichen Filmpropaganda, deren Besonderheit darin bestand, dass infolge des Verbots der Zensur, Militärobjekte und Kriegshandlungen zu filmen, inszenierte Propagandafilme entstanden, die nationale Mythen
eines Großmachtchauvinismus vermittelten.
Um 1908 gab es auf fast allen Kontinenten das Kino, die Institution einer neuen Massenkultur. Mit der Gründung der Motion Picture Patents Co (1909) vollzog sich in den USA der Übergang zur monopolisierten Filmindustrie. Erstmalig entstand ein Konzern, in dem die Edison, Biograph, Vitagraph, Essanay, Selig, Lubin, Kalem, aber auch die französischen Firmen Pathé und Méliès sich
auf eine einheitliche Lizenzkontrolle einigten. In Europa beginnt 1909/10 mit
25
der Produktion der Langmetragefilme die Monopolisierung der Kinospielfilmproduktion. Verabschiedet waren die Zeiten des Wander- und Jahrmarktkinos.
Auch auf dem fünften Kontinent, in Australien, war 1909 das erste Filmstudio
(Salvation Army, Caulfield North) entstanden (bereits 1906 hatte die Filmverleihfirma Johnson & Gibson den ersten Spielfilm produziert: THE STORY OF
THE KELLY GANG). Nur in den Ländern der islamischen Welt sollte es noch
lange dauern, ehe deren traditionalistische Kulturen die Herausforderungen der
Bilderflut der Kameras und Projektionsmaschinen annahmen.
(1992)
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Vgl. Lewis Jacobs: The Rise of the American Film. New York 1975, S. 12-16
Vgl. ebd., S. 46
Vgl. Stefan Kolditz: Film und kulturelle Kommunikation. Untersuchungen zur Veränderung der Wahrnehmungsweise am Modell des deutschen Stummfilms von 1895
bis 1913. Humboldt-Universität, Philosophische Fakultät, Dissertation A, Berlin 1990,
S. 94/95
Boleslaw Matuszewski: Une nouvelle source de l’histoire (création d’un dépôt de
cinématografie historique). Paris 1898 (deutscher Auszug in: Unesco KURIER, Nr. 8/
1984, 25. Jg., S. 27)
Vgl. Jean Mitry: Filmographie Universelle. Tome deuxième. Première partie: France
et Europe. Paris 1964, S.13
Vgl. auch Judith Mayne: Der primitive Erzähler. In: Frauen und Film, Heft 41, S.8 f.
Vgl. die Darstellung der Genesis der Parallelmontage 1893 bis 1906 in: Elmar Elling/Karl-Dietmar Möller: Untersuchungen zur Syntax des Films II.Münster 1985,
S. 13-20
Bertha von Suttner: Wohin? Die Etappen des Jahres 1895. Publikationen des Deutschen Vereins für internationale Friedenspropaganda von 1874 zu Berlin, Band III.
Berlin 1896, S. 19/20
Vgl. Herbert Birett: Das Filmangebot in Deutschland 1895-1911. München 1991,
S. XV/XVI
Stefan Kolditz, a.a.O., S. 141
Ebd., S. 134
Ebd., S. 141
Vgl. Heide Schlüpmann: Im Gegensinn der Worte. La giornate del cinema muto.
Pordenone 29. September- 4. Oktober 1986: Die Pioniere des skandinavischen Kinos 1896-1918. In: Frauen und Film, Heft 41, S. 22
Vgl. Pathé’s Stake in Early Russian Cinema by Richard Abel. In: Griffithiana 38/39,
ottobre 1990, S. 242-47
Vgl. Heide Schlüpmann: Von den Bildern patriachalischer Gewalt zur „Todesästhe-
26
tik“. Die Retrospektive „Russisches Kino 1908-1919“ in Pordenone(1989). In:
Frauen und Film, Heft 48, S. 66-76
16 Marianne Lewinsky-Sträuli: Eiga setsumei. Die Filmerklärung in Japan. In: Neue
Züricher Zeitung Nr. 38, 15.2.1991, S. 65
Auswahlbibliographie
(1)
(2)
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(7)
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(9)
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CINÉMA MUET. Materialien zum französischen Stummfilm, 1. Teil. Düsseldorf
o.J.a.; 2.Teil. Düsseldorf 1980; 3.Teil. Düsseldorf 1983
Thomas Elsaesser(Ed.): Early Cinema: space-frame-narrative. London 1990
Rodger Holman(Ed.): Cinema 1900-1906: An Analytical Study. Vol. 2, Fédération
internationale des archives du film, Bruxulles 1982
Georges Méliès: Cinematographic Views(1907). In: Richard Abel: French Film
Theory and Criticism 1907-1939. Volume I: 1907-1929, Princeton, New Jersey
1988, p. 35-47
Jean Mitry: Histoire du cinéma. Art et Industrie I. 1895-1914. Paris 1967
Georges Sadoul: Geschichte der Filmkunst. Frankfurt/Main 1982 (Original Paris
1955)
Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen
Kinos. Basel; Frankfurt/Main 1990
Heide Schlüpmann: Im Gegensinn der Worte. Le giornate del cinema muto. Pordenone 29. September- 4. Oktober 1986: Die Pioniere des skandinavischen Films
1896-1918. In: Frauen und Film, Heft 41, Dezember 1986, S. 17-32
Heide Schlüpmann: Von den Bildern patriachalischer Gewalt zur „Todesästhetik“.
Die Retrospektive „Russisches Kino 1908-1919“. In: Frauen und Film, Heft 48,
März 1990, S.66-76
Jerzy Toeplitz: Geschichte des Films. Band 1:1895-1928, Berlin 1972
Paolo Cherchi Usai, Lorenzo Codelli(Ed.): Before Caligari. German Cinema, 18951920. IX. edizione delle GIORNATE DEL CINEMA MUTO di Pordenone (1-21
ottobre 1990)/Italia 1990
Paolo Cherchi Usai(Ed.): Vitagraph Co. of America. Il cinema prima di Hollywood. Pordenone 1987
Videokompilationskassetten des British Film Institute: EARLY CINEMA. Primitives and Pioneers. Volume I, II, London 1990 (Bestellung : BFI Film+Video Library, 21 Stephen Street, London W1P 1PL)
Auswahlfilmographie
USA:
Edison Manufacturing Company: THE GREAT TRAIN ROBBERY, (DER GROSSE
EISENBAHNRAUB), Edwin S. Porter, 1903
THE DREAM OF A RAREBIT FIEND, (TRAUM DES FEINSCHMECKERS),
27
Edwin S.Porter, 1906
Vitagraph: THE HAUNTED HOTEL(DAS VERHEXTE HAUS, SPUK IM HOTEL),
J.Stuart Blackton, 1907
FRANKREICH:
L’ARRIVÉE L’AFFAIRE DREYFUS(DER PROZESS DREYFUS), Georges Méliès, 1896
LE VOYAGE DANS LA LUNE(DIE REISE ZUM MOND), Georges Méliès, 1902
Pathe Freres:
PAR LE TROU DE SERRURE, 1901
ALADIN OU LA LAMPE MERVEILLEUSE (ALADIN UND DIE WUNDERLAMPE), Albert Capellani, Segundo de Chomon, 1906
HISTOIRE D’UN CRIME(GESCHICHTE EINES VERBRECHENS), Ferdinand
Zecca, 1901
THE PHYSICIAN OF THE CASTLE, 1908
ITALIEN:
Studio Ambrosio:
GLI ULTIMI GIORNI DI POMPEI(DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI),
Luigi Maggi, 1908
GROSSBRITANNIEN:
Hepworth Manufacturing Company:
HOW IT FEELS TO BE RUN OVER, Cecil Hepworth, 1900
RESCUED BY ROVER, Lewin Fitzhamon, C.M.Hepworth?, 1905
THAT FATAL SNEEZE, Lewin Fitzhamon, 1907
DEUTSCHLAND:
Skladanowsky/Projektion für Alle:
DIE MODERNE JUNGFRAU VON ORLEANS, Max/Eugen Skladanowsky, 1905
Meßter Film GmbH:
MEISSNER PORZELLAN, Franz Porten, 1906
DÄNEMARK:
Nordisk Films Kompagni:
DEN HVIDE SLAVINDE(DIE WEISSE SKLAVIN), Viggo Larsen, 1906
JAPAN:
MOMIJIGARI(dt.HERBSTAUSFLUG IM AHORNWALD), Produktion Komada,
1900
28
Zur Aktualität theoriegeschichtlicher
Modelle des Stummfilmdarstellers der
zwanziger Jahre
Ende der sechziger Jahre wurden seitens verschiedener Kunstwissenschaftler
und Ästhetiker in der DDR Versuche gestartet, die Funktions- und Strukturwandlungen im Ensemble der Künste aus interdisziplinärer Sicht anzugehen./1/ Diese
wurden anfangs von der DDR-Filmwissenschaft aufgegriffen, sind aber später
nicht weitergeführt worden./2/ Als anregend erwies sich, dass die Literaturwissenschaften sich der vergleichenden Erforschung nationaler Entwicklungen in
internationalen Zusammenhängen zuwandten./3/ Auch von Theaterwissenschaftlern wurden Versuche in dieser Richtung unternommen./4/ Aber die vergleichende Untersuchung theoriegeschichtlich bedeutsamer Funktionskonzepte
des spätbürgerlichen und sozialistischen Theaters und der Avantgardeentwicklungen in den zwanziger Jahren hat die Wechselwirkung von Theater und
Stummfilm bisher weitgehend ausgeklammert ./5/ Die Funktions- und Strukturwandlungen im Ensemble der Künste, wie sie sich in Europa zwischen 1900 und
1929/33 vollzogen haben, können heutzutage nicht mehr ohne Kenntnisnahme
der Stummfilmgeschichte angegangen werden./6/ Dies gilt erst recht für die Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Geschichte und der Theorie darstellender
Kunst. Die Forschungsarbeit in der DDR ist auf diesem Gebiet nicht über ein
Anfangsstadium hinausgekommen, obwohl das Staatliche Filmarchiv über eine
der umfassendsten Sammlungen deutscher Stummfilme in der Welt verfügt.
Angesichts dieser Situation haben sich die Versuche zu einer Theorie der darstellenden Kunst, die von Ernst Schumacher sukzessive seit Beginn der siebziger Jahre vorgetragen wurden/7/ als nützlich erwiesen. Da sie notwendigerweise
der historischen Materialerschließung bedurften, wurden sie dort anregend, wo
bislang die Filmhistoriker Zurückhaltung geübt hatten: bei der film- und theoriegeschichtlichen Untersuchung der Schauspielkunst./8/
I
Der Modellwert der Stummfilmgeschichte
Die Stummfilmgeschichte, in der sich vorrangig über Schauspieler die widerspruchsvolle Wechselwirkung zwischen dem Theater und dem Spielfilm vollzogen hat, besitzt einen nicht gering zu veranschlagenden Modellwert für die Theorie der darstellenden Kunst. Dabei sind zwei Dinge hervorzuheben:
Erstens bewirkte der Stummfilm Funktions- und Strukturwandlungen der
Schauspielkunst, weil insbesondere in den zwanziger Jahren die Alternativen
29
sozialistischer Film- und Theateravantgarden zur spätbürgerlichen Theater- und
Filmentwicklung bestimmenden Einfluss auf Tendenzen der Schauspielkunst,
insbesondere auf Spielweisen, nehmen konnten. Dieser Prozess ist von einer
intensiven Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Grenzen der Schauspielkunst des Sprechtheaters im Stummfilm mitbestimmt worden. Im Verlauf
dessen entwickelte sich die Programmatik von einem spezifischen Filmschauspieler ebenso wie die von neuen Spielweisen des Theaterschauspielers (zum
Beispiel ist die gestische Spielweise bei Brecht ohne den Stummfilm nicht erklärbar/9/).
Zweitens: Der Stummfilm entwickelte in nur dreißig Jahren durch die Synthese des Mediums mit verschiedenen Kunstgattungen, wobei der Ausgangspunkt
beim Dokumentarfilm lag, die Morphologie des stummen Spielfilms und seiner
Genres wie Melodram, Stummfilmgroteske (-farce, -burleske), Western, Antikfilm, historischer Abenteuerfilm. Neue Genres, wie sie die sowjetische Stummfilmklassik hervorbrachte, so die Filmchronik, den epischen Revolutionsfilm,
die Gesellschaftssatire, waren wichtige Felder alternativer Filmentwicklung.
Hieraus kann geschlussfolgert werden, dass man die verschiedenen Konzepte
von der Schauspielkunst im Stummfilm nicht losgelöst von der morphologischen
Entwicklung der »Sprache« der Filmkunst debattieren kann. So ist die im
Stummfilm konstatierbare Reduktion des Spiels des Darstellers (gewertet am
Rollenspiel des Bühnendarstellers) und die programmatische Aufwertung der
gestischen und mimischen Ausdrucksformen ohne die Entwicklung von Montageverfahren nicht erklärbar.
Die interessanteste Überlegung dürfte hierbei die sein, dass zwar mit der Entdeckung medientechnischer Abbildeigenschaften des Films, auch der seiner
Aufnahme- und Projektionsapparate, ein künstlerisch produktiver Widerspruch
zwischen dem Agieren vor der Kamera und dem Filmbild des Darstellers in Bewegung kam, der aber erst im Verlauf einer langwierigen Entwicklung zu Veränderungen im Stil und damit von Techniken des am Theaterspiel orientierten
Schauspielers geführt hat. Zu Recht ist von Hans Richter in den dreißiger Jahren
gefordert worden, jene Widersprüche genauer herauszuarbeiten, die dem
Stummfilm mit dem Aufgreifen der Schauspielkunst des Sprechtheaters zwischen 1913/14 und 1922/24 erwuchsen und die in den Stilauffassungen vom
Filmspiel des Darstellers zu Ende der zwanziger Jahre einer Lösung entgegengeführt wurden./10/ Im Folgenden wird versucht, diese Problemsicht gegenüber
einigen theoriegeschichtlichen Modellen vom Stil des Stummfilmschauspielers
geltend zu machen. Es ist durchaus nicht abwegig, in diesen Debatten der zwanziger und frühen dreißiger Jahre Konzeptionen zur Theorie darstellender Kunst
im Spielfilm zu vermuten.
30
I
Herbert Jherings Konzeption des Theaterschauspielers im
deutschen Filmexpressionismus
Zwischen dem 31. Oktober 1920 und dem 16. Oktober 1921 veröffentlichte
Herbert Jhering im „Börsen-Courier“ Filmkritiken, die darauf gerichtet waren,
anhand neuester Filme von unterschiedlicher künstlerischer Bedeutung das Verhältnis des »modernen Darstellers« zum Stummfilm zu diskutieren. Nicht im
Blickfeld Jherings waren solche Probleme der Schauspielkunst im stummen
Spielfilm, die aus den soziologischen und sozialpsychologischen Besonderheiten der Kinokommunikation resultierten. Jhering entwickelte Momente einer
Kulturkritik, aber er sah ab von jenen Widersprüchen zwischen der Schauspielkunst des spätbürgerlichen Theaters und der Darstellungskunst, die sich in den
populären Stummfilmgenres - so in den Slapstick comedies, in den Melodramen, den Western, den Detektivserien - entwickelten. Dass die Kommunikationssituation des Films, seine Bindung an ein Massenpublikum, zur Entwicklung
von Sujets, von »Filmhelden« und von zeitgenössischen Darstellertypen geführt
hatte, die weder mit den Dramen noch mit der Schauspielkunst des spätbürgerlichen Theaters noch mit dem aus Traditionen europäischer bürgerlicher Nationaltheaterbewegung schöpfenden bürgerlichen Theaterbetrieb verglichen werden konnten, aber doch wesentliche Momente des widerspruchsvollen Fortschritts darstellender Kunst im 20. Jahrhundert waren, fand bei Jhering keine
Berücksichtigung.
Angemerkt sei hier, dass das Vorgehen Jherings ihn als einen der Stammväter
jener auch heute wieder anzutreffenden Methodologie ausweist, die die Abbildstruktur des Kunstwerkes festschreibt und die kommunikative Funktion des
Spielvorganges in der darstellenden Kunst weitgehend unberücksichtigt
lässt./11/ Gerade die Filmkunst weist eine Entwicklung als darstellende Kunst
auf, die nicht allein mit den stilistischen Konsequenzen der Integration des
Schauspielers in die filmische Abbildstruktur erfasst werden kann. Auch in dem
kulturell bedingten Wandel von Sujets, von »Göttern der Leinwand« und von
Filmgenres, sind Triebkräfte für Tendenzen des künstlerischen Fortschritts darstellender Kunst des Stummfilms zu sehen. Der Ausgangspunkt dieser Betrachtung liegt nicht beim Abbild allein, sondern auch bei den das Abbild determinierenden sozial-kulturellen Massenkommunikationsprozessen.
Jherings Methode ist noch unter einem zweiten Gesichtspunkt von aktuellem
Interesse. Er verteidigte den Theaterschauspieler als den Bewahrer einer großen
Kunst der Menschendarstellung. Er wandte sich damit gegen das verflachende
Spiel mit Ausdrucksformen, wie es in vielen Stummfilmen dieser Zeit Mode
war: Heute, da die Existenz der audiovisuellen Medien dazu herausfordert, die
Perspektiven der Schauspielkunst mehr und mehr aus der Sicht disponibler Mediendarsteller zu sehen, erweist sich seine Überzeugung, dass der Theaterschauspieler auch im Film spielen müsse, als modern. Jherings Anliegen war es, Ein31
flüsse der Reinhardt-Schule auf die Schauspielkunst des deutschen Filmexpressionismus nachzuweisen. Er zielte zugleich auf Kriterien für das Filmspiel von
Theaterschauspielern. Seine Wertmaßstäbe von darstellender Kunst waren ausschließlich auf diese Wechselwirkung von Schauspieltheater und Stummfilm
gerichtet, wobei er besonders den Stil von Werner Krauss, Conrad Veidt, Emil
Jannings, Paul Wegener, Albert Bassermann, Asta Nielsen im Auge hatte. Die im
amerikanischen und auch im französischen Stummfilm konstatierbare Wechselwirkung mit Techniken der Darsteller des Varietes, des Kabaretts, der MusicHall blieb weitgehend ausgespart.
Zwei Gesichtspunkte sind charakteristisch für sein Vorgehen.
Erstens: Naturalistischer Darstellungsstil sei keine Basis, auf der Bühne und
Film sich näher kommen könnten. Alle Dramaturgie des Stoffes würde im Film,
der über das Bild erzählen müsse, mit der Dramaturgie der Bilder kollidieren.
Für den Darsteller hätte das zur Folge, dass er stilisieren müsse. Der Stoff könne
nur durch die stumme Sprache der Mimik gestaltet: werden. Der Untertext der
Vorgänge müsse über Körperbewegungen, Gebärden und den Rhythmus ausgedrückt werden./12/
Zweitens: Für den Stummfilm sei eine Schauspielkunst anzustreben, die den
Rhythmus der Bildschnitte und der wechselnden Bildstruktur (Lichtwerte, flächige oder plastische Bilder) mit dem Rhythmus des körperlichen Ausdrucks zu
verbinden weiß. Die Einstellungsgrößen und die Mimik des Darstellers müssten
zueinander in Beziehung gesetzt werden. Jhering hebt hervor, dass der Stummfilm „eine am Bild sich steigernde Ausdruckskunst des Schauspielers, ein aus
mimischen Abstufungen zusammengesetztes Szenenbild“ erfordere./13/ Er betonte:
„Auch die Entwicklung der Gestalt wird im Film nur plastisch durch Formulierung der Gipfelmomente oder durch rhythmisch schwingendes, rhythmisch
sich fortsetzendes Gliederspiel.“/14/
Andere Themen Jherings sind: der rhythmische Zusammenhang von Wort und
Bild im Stummfilm um 1920/15/, die Möglichkeiten des Schauspielers im stummen Spielfilm, durch körperliche Ausdrucksbewegungen dem Zuschauer
sprachliche Ausdrucksformen zu suggerieren/16/, eine vergleichende Betrachtung der Übergänge zwischen Ruhepunkten und Bewegungsphasen in der Ausdrucks-Darstellung der deutschen und der amerikanischen Stummfilmdarsteller/17/. Jherings Analysen markieren Veränderungen im Darstellungsstil, die mit
der neuen Mediationsweise des Schauspielers möglich wurden.
In seinen Betrachtungen zum Rhythmus und zur Gliederung der AusdrucksBewegung des Theaterschauspielers im stummen Film wird hervorgehoben,
dass durch die Kameraaufnahme und den Bildschnitt szenische Vorgänge und
Handlungen der Darsteller in einer gegenüber dem Theaterspiel völlig andersartigen räumlichen und zeitlichen Dimension erscheinen. Gerade dies habe neue
32
Bedingungen für die vom Schauspieler zu entwickelnden Ausdrucks-Bewegungen erbracht. Das Grundproblem stilbewusster Schauspielkunst im Stummfilm
bestünde in der Erfindung von Ausdrucksbewegungen, die auf dem vom Film
modifizierten Raumgefühl bauen.
„Die große Schauspielkunst, die heute hochkommt . . ., ist weder ohne die
Entwicklung des Films noch ohne die Entwicklung eines neuen Raumgefühls
zu denken. Da sie weniger als die Empfindung selbst die Energie der Empfindung gibt, da sie weniger als die direkte Gestaltung die Spannung der Gestalt
bringt, ist sie auf Tempo, Rhythmus, Wortakzent und Gebärdenintensität gestellt.“/18/
Bezeichnend für den Theaterkritiker Jhering ist, dass er die Wechselwirkungen von Sprechtheater und Stummfilm als produktiven Impuls der Weiterentwicklung einer Kunst, der Schauspielkunst, auffasst. Er schreibt:
„Dass der Film immer mehr Schauspieler zu sich herübergezogen hat, erklärt
sich neben den materiellen aus psychologischen Gründen. Der Film weckt die
komödiantischen Urtriebe: Der Schauspieler kann sich produzieren, kann aus
dem Stegreif spielen. Er wird an den Anfang seiner Kunst, auf den Körper
zurückgeführt. Als der Naturalismus herrschte, konnten Bühne und Film nicht
zusammenkommen. Eine Kunst, die an der Wahrscheinlichkeit, an der Lebensnähe gemessen wurde, versagte vor dem komponierten Bild. Der Film war ein
Missverständnis. Der Wettlauf mit der Wirklichkeit endete mit dem Sieg des
Stofflichen. Da man das Spezifische des Kinospiels nicht kannte, die Natürlichkeit aber vor Langeweile bewahren musste, erfand man die krasse Handlung. Man wollte Alltagsvorgänge sensationell und psychologisch interessant
machen. Gerade das war aber falsch. Der Film blieb auf das Wort eingestellt
(das man wegließ). Kinospiel war stummes Reden.
Dass der Film vor einer neuen, einer umwälzenden Entwicklung steht, ist
nicht nur dem Fortschritt seiner Technik, nicht nur der Erkenntnis seiner Bedingungen zu danken. Die Entwicklung war erst möglich, als auf der Bühne
die Schauspielkunst durchgriff, die aus einem erneuerten Körpergefühl
heraus gestaltete, die konzentrierte, gliederte und von sich selbst besessen
war. Ich glaube, dass die Zeit der großen schauspielerischen Persönlichkeiten
wieder gekommen ist, dass die mimische Produktivität, die formensprengende und erneuernde Phantasie, der dämonische Verwandlungstrieb die Herrschaft antritt . . .“/19/
Die Stummfilmentwicklung in den zwanziger Jahren hat Jherings Voraussage
in widersprüchlicher Weise bestätigt, aber auch in Frage gestellt. Der mit Eisenstein gegebene Strang der sowjetischen Stummfilmklassik, aber auch die
französischen Filmavantgarden vom Beginn der zwanziger Jahre und von 1928/
29 stilisierten vorrangig die filmischen Erzählmittel und damit auch die Bild33
komposition, was nicht ohne Folgen für die Entwicklung einer filmspezifischen
Darstellungskunst bleiben konnte.
Anders ausgedrückt: Die Entwicklung ging in den Stummfilmavantgarden
nicht von einem neuen Stil der Schauspieler, sondern zuerst von filmischen Stilisierungen der Filmbilder der Darsteller aus. Hinzu kam, dass die Entwicklung
im amerikanischen und deutschen Spielfilm nach 1925 vom Theaterschauspieler weg und hin zum Filmschauspieler, hin zur spezifischen »Filmrolle« (Béla
Balázs) führte. Neben den disponiblen Theaterschauspieler, der auch im Film
und auch im Funk arbeitete, trat der spezialisierte Filmschauspieler, der
insbesondere im amerikanischen Film schließlich zum Star-Mythos stilisiert
wurde. Diese Stars brachten mit ihrem in den Massenkommunikationsprozessen
durch die Monopole verwerteten Stereotyp immer und immer wieder Modifikationen ihres Typs. Dies führte dazu, dass die amerikanischen Stars künstlerische
Gegenbewegungen auslösten. Verwiesen sei auf Carl Theodor Dreyers Arbeit
mit Laien in JOHANNA VON ORLEANS (1928) und auf die im frühen sowjetischen Stummfilm und in den proletarisch-revolutionären Filmströmungen konstatierbare Aufwertung der Laiendarsteller, die auch aus Anti-Starkonzeptionen
von Filmregisseuren resultierte.
Jherings Filmkritiken der Jahre 1920/21 lassen deutlich erkennen, dass zwischen 1913 und 1920/21 der Stummfilm von Theaterschauspielern vielfach als
eine Möglichkeit entdeckt und genutzt wurde, um darstellerische Techniken und
Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Jherings Entdeckung, wonach zwischen
der Ausdrucksbewegung des Darstellers und dem Film eine die Schauspielkunst
bereichernde Wechselwirkung zustande kam, bezog sich auf den deutschen
Filmexpressionismus und die Schule Max Reinhardts. Es ist aufschlussreich,
diese Entdeckung von Jhering mit anderen historisch konstatierbaren Konzepten
vom Darsteller im stummen Spielfilm zu vergleichen.
I
Die Kinofizierung der Schauspielkunst durch Lew
Kuleschow und Sergej Eisensteins antitheatralisches
Konzept vom Filmdarsteller
Obwohl sich die Filmkunst immer wieder der »Sprache« des Theaterschauspielers bedient hat, das heißt seiner körperlichen und mimischen Bezeichnungsmöglichkeiten, kommt gerade in der Gewinnung filmischer Methoden der Menschendarstellung, kommt in der Abkehr von der Theatralisierung im darstellerischen Spiel der künstlerische Fortschritt zum Durchbruch. Theatralisierung ist
hier nicht im negativen Sinne gemeint. Der dem Theater ureigene Prozess der
gestischen Verdopplung des Menschen auf der Bühne ist damit gemeint, das
heißt, der Schauspieler produziert in einer unmittelbaren, nicht durch technische
Medien unterbrochenen Kommunikationssituation eine Kunstgestalt durch sein
34
Rollenspiel und das Mit-Spiel der Zuschauer. Er agiert in einer real erlebbaren
fiktiven Welt, und das Publikum gewinnt Genüsse gerade aus dieser artifiziell
betriebenen gestischen Verdopplung eines Menschen auf der Bühne in einer
Spielhandlung. Diese Art des Darstellens, wie es für das Theater charakteristisch ist, lässt sich auf den Spielfilm nicht einfach übertragen.
In der Kinokommunikation wird immer nur eine Filmgestalt des darstellenden
Menschen und nicht der real agierende, eine Rolle mit dem Zuschauer spielende
Schauspieler wahrgenommen. Cocteau hat das 1948 in ORPHÉE mit einer Einstellung treffend auf einen Nenner gebracht, wenn er den aus der imaginären
Unterwelt in das Leben zurückkehrenden Jean Marais die Konfrontation mit seinem Spiegelbild in einer gewöhnlichen Pfütze spielen lässt. Das ist das Prinzip
der Verdopplung des Menschen im Film im Gegensatz zur Verdopplung des
Schauspielers auf der Bühne, der eine Fiktion nur dadurch herstellen kann, dass
er als lebendiger Mensch auf der Bühne handelt, das heißt sich bewegt, schweigt,
spricht - immer ist die Figur ein konkreter lebendiger Mensch in einer Rolle, die
er spielt und wodurch Motive, Verhaltensweisen, soziale Beziehungen dargestellt werden. Im Film ist es immer das durch die Montage gewonnene Bild der
Filmgestalt, das dem Schauspieler als ästhetische Macht gegenübertritt. In diesem Punkte prallten auch in der avantgardistischen Anfangsphase der sowjetischen Stummfilmklassik die Konzepte vom Darstellen im stummen Spielfilm
aufeinander. Ein charakteristisches Beispiel für die Gegensätzlichkeit der Standpunkte in dieser Periode der Stummfilmgeschichte ist mit Sergej M. Eisenstein
und Lew Kuleschow gegeben. Kuleschow wollte die Schauspielkunst des Theaters »kinofizieren«. Eisenstein gelangte aufgrund seiner Montageverfahren und
der pseudodokumentaren Abbildungsweise des Films zu prinzipiell andersartigen Auffassungen des Filmdarstellers, insbesondere zu einer Aufwertung des
Laiendarstellers. Interessant ist, dass beide mit theater-avantgardistischen Experimenten anfänglich verbunden waren. Erst durch den Film entdeckten sie Möglichkeiten, die sie über das Theater hinausführten.
Eisenstein hat selber 1934 in seinem Resümee davon gesprochen, dass seine
»Filmperiode« nicht bei jenem Film GLUMOWS TAGEBUCH begann, den er
für seine Inszenierung von Ostrowskis „Eine Dummheit macht der Gescheiteste“ (1923) entwickelte. Er bezeichnet als den Beginn der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten der Schauspielkunst, wie er sie erst voll im Film realisieren konnte, seine Mitarbeit an der Inszenierung der bearbeiteten Erzählung Der Mexikaner (Jack London) durch V. S. Smyschlajew im Jahre 1919/20/20/. Er machte
den Vorschlag, in dieser Inszenierung einen Boxkampf nicht hinter der Bühne zu
imitieren und ihn auf der Bühne durch gespielte Reaktionen der Schauspieler
darstellen zu lassen. Er verlegte ihn als reales Geschehen mitten in den Zuschauerraum. Welche Konsequenzen das für die Schauspieler hatte, beschrieb Eisenstein so: „Während ihre Wirkungsmittel dort in der Miterleben initiierenden Emotion (sie arbeiteten nach dem Stanislawski-System) lagen, so wirkten sie hier
35
noch auf eine etwas andere Weise auf den Zuschauer ein - mit einem realen Tun.
Während dort Intonation, Gestus und Mimik als Einwirkungsmittel eingesetzt
wurden, traten hier schon nicht mehr darstellende, sondern reale Einwirkungsfaktoren in Aktion: der wirkliche Kampf, das physische Hinfallen eines Körpers,
das durch Kraftanstrengungen tatsächlich ausgelöste Keuchen, der Glanz eines
wirklich schwitzenden Oberkörpers und der unvergesslich klatschende Laut eines Boxhandschuhs auf angespannte Muskeln und Haut.“/21/ Hier wurden Möglichkeiten des Schauspielens erkannt, die Eisenstein in widersprüchlicher Weise
in seinen Tretjakow-Inszenierungen zu entwickeln versuchte. Hier aber,
insbesondere bei der Aufführung von „Gasmasken“ in einer Moskauer Gasfabrik, scheiterte er.
Eisensteins Film STREIK (1924), mit dem er seinen Übergang von der sowjetischen Theateravantgarde zur Filmavantgarde vollzog, wird - ebenso wie PANZERKREUZER POTEMKIN (1925) und OKTOBER (1927) - oftmals vereinfacht mit der Feststellung gewertet, dass hier eine neue Dramaturgie des Revolutionsfilms mit einem Kollektivhelden den künstlerischen Durchbruch eingeleitet habe, der charakteristisch für die sowjetische Stummfilmklassik sei. Eisenstein selbst hat sich gegen eine solche Vereinfachung des revolutionären Neurertums von STREIK verwahrt./22/ Nicht allein in den neuen Sujets und den Massen als Filmhelden ist das Neue zu sehen, sondern Eisensteins Haltung zur Oktoberrevolution und die Revolutionierung von Kunstverfahren sind für ihn zwei
Seiten einer Sache gewesen. Dieser vielschichtige Prozess wird von der »antitheatralischen Konzeption« Eisensteins geprägt.
Der Übergang von der Theater- zur Filmavantgarde ist für Eisenstein das Ergebnis eines kunstpraktisch und programmatisch-theoretisch ausgefochtenen
„Kampfes zwischen dem materiell-faktischen und dem fiktiv-darstellenden
Prinzip“/23/ des Schauspielens. Dabei lassen sich folgende Probleme der Theorie und Praxis des Darstellers im stummen Spielfilm verknappt benennen.
Erstens: Viel zuwenig ist in der theater- und filmgeschichtlichen Forschung
der Tatsache Rechnung getragen worden, dass Eisensteins Übergang von der
Theater- zur Filmavantgarde wesentlich von seiner Auseinandersetzung über
Darstellen geprägt worden ist. Er richtete sich gegen das illusionistisch-darstellende Konzept Stanislawskis. Unter dem Einfluss von Nikolai Foregger und
Wsewolod E. Meyerhold, bei beiden studierte er zeitweise und wurde mit der
Commedia dell’arte, mit Techniken der Clowns, der Darsteller der Music-Hall
vertraut, bekannte sich Eisenstein zur Aufwertung der Ausdrucks-Bewegung in
der Schauspielkunst. Eine Haltung, wie sie zu Beginn der zwanziger Jahre
nahezu von der gesamten Moskauer Theateravantgarde vertreten wurde und die
geprägt war von modernen Lehrmeinungen über Ausdruckstanz und Ausdrucksgymnastik (Francois Delsarte, Isadora Duncan, Rudolf Bode).
Eisenstein betonte die nichtillusionistische, die materiell-faktische Aktion des
Darstellers. Damit wertete er die reale physische Handlung auf. Er bezeichnete
36
dies als das vom linken Theaterflügel vertretene „Prinzip von tatsächlicher Arbeit und tatsächlicher Handlung in der realen Arbeit der Bewegungsmanifestation“/24/. Mit dieser Konzeption war eine Aufwertung der Exzentrik im gestischkörperhaften und mimischen Ausdruck der Darsteller verbunden, was auch ihre
Nähe zur Groteske, zur Parodie, zum Clownesken und damit auch zur Akrobatik
erklärt.
In dem Übergang Eisensteins von der Theater- zur Filmavantgarde, wie er sich
zwischen seiner Inszenierung von Ostrowskis „Eine Dummheit macht der Gescheiteste“ (1922/23) und dem ersten Film STREIK (1924) vollzog, ist ein für
Avantgardebewegungen interessanter Fakt zu konstatieren. Die Annäherung an
die neuen Inhalte in den darstellenden Künsten erfolgte in einer intensiv geführten Auseinandersetzung mit disparaten Formelementen und im Zuge einer Aufwertung assoziativer Spielmöglichkeiten des Zuschauers bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Abbildcharakters des Theaters. Eisenstein selbst bezeichnete
seine Inszenierung als eine „exzentrische Stilgroteske“/25/, weil er theatralische
Elemente zum Paradox stilisiert hatte. Lösungen waren in dieser Richtung nicht
durch Weiterführung zu gewinnen. So wurde Begeisterung mittels des Salto
mortale, Wut in Kaskadensprüngen und die Bedenkenlosigkeit berauschter Liebender mit einem Klettern auf einen »Todesmast« (wie ihn nur der Zirkus kennt)
in szenischen Vorgängen dargestellt. Wenn auch damit die Vorgänge sich gegenüber der Fabel verselbständigten, so wurden hier Formelemente ausprobiert, die
auf den stummen Film hinarbeiteten. Der stumme Film, der Gefühle, Empfindungen der Figuren objektivieren musste, das heißt gegenständlich-konkret assoziierbar darstellen musste, war für eine episodische und episierende Struktur
der Fabel zu diesem Zeitpunkt geeigneter als das Theater. Dies bewies Eisenstein mit STREIK. Es zeigte sich aber auch, dass die im Theater entwickelte Ausdrucks-Bewegung der Schauspieler in den filmischen Möglichkeiten der Rhythmisierung der Handlung und der Bewegungsphasen der Filmgestalten einen
Konkurrenten erhalten hatte. Übrig blieb vorerst für den Schauspieler, dass er
einen prägnanten Ausdruck mit wenig Bewegungsabläufen für die Kamera erfinden musste. Dies musste innerhalb kurzer Handlungssegmente plastisch die
Figur bezeichnen, so dass jene von Eisenstein in seiner Theaterarbeit mit dem
Schauspieler angestrebte Faktizität des Darstellens vom Medium verstärkt wurde. Eisenstein nutzte diese Möglichkeit in einem dialektischen Sinne. Er setzte
den Ausdruck der Darsteller durch die Montage zusammen und schuf bei Beibehaltung der Faktizität des Darstellens Kunstfiguren, die nicht mehr das Ergebnis
des Rollenspiels von Schauspielern in einer dramatischen Spielhandlung waren.
Zweitens: Eisenstein vollzog den Übergang von der amerikanischen Parallelmontage zur Assoziationsmontage. Anstelle der von Griffith ausgeprägten Parallelhandlung, mit der das Geschehen an verschiedenen Orten durch den Bildschnitt erzählt und zu einem dramatischen Geschehen verknüpft werden konnte,
entwickelte Eisenstein die metaphorische Parallelmontage, mit der die Struktur
37
dramatischer Vorgänge durch ein episch-kommentierendes narratives Element
verändert wurde. Dies entband den Schauspieler im Film von darstellerischen
Aufgaben, die ihn im Theater unentbehrlich gemacht hatten. So wurde im PANZERKREUZER POTEMKIN als Abschluss der Sequenzen, mit denen das Blutbad auf der Odessaer Treppe entwickelt wird, der sich aufrichtende steinerne
Löwe eingeschnitten. Mit dieser Sequenz wurde ein Vorgang in seiner ganzen
dramatischen Wucht plastisch bildhaft erzählt. Die drei dokumentarisch gefilmten Löwen der Treppe des Alupka-Schlosses wurden durch die Montage zur
Chiffre der historischen Aktion des Panzerkreuzers. Interessant an dieser Montage ist, dass Eisenstein zu einer Form griff, mit der es möglich war, von einer
Vielzahl konkret darzustellender Handlungen (beispielsweise Matrosen richten
Kanonen ein, Empörung, Hass, Kampfentschlossenheit auf dem Schiff) zu abstrahieren, also verkürzt zu erzählen. Eine metaphorische Parallelität ist kennzeichnend für den Schluss von STREIK mit der packenden Montage von Bildern einer Stierschlachtung mit Bildern von Kosaken, die Arbeiter niedersäbeln.
Eine andere nur dem Stummfilm mögliche plastische Darstellung der Figurengestaltung ist im PANZERKREUZER POTEMKIN mit den Bildern von der
zwischen den Schiffstauen hängenden Drahtbrille des über Bord geworfenen
Schiffsarztes bezeichnet. Hier wird eine optische Pointe zum Vorgang - er ist
über Bord geworfen worden - gegeben, die zugleich noch einmal die Verhaltensweisen dieser Filmgestalt plastisch beschreibt.
Die narrativen Elemente, die Eisenstein im Gegensatz zu den dramatischen
Elementen, die der Stummfilm weitgehend vom Theater übernommen hatte, mit
seinen Montageverfahren entwickelte, sind die Ursache für eine Reduktion des
Spielens im stummen Spielfilm. Die filmischen Erzählmittel in den epischen
Revolutionsfilmen Eisensteins können als eine Ursache angesehen werden für
das Typagekonzept, das er entwickelte.
Drittens: In den epischen Revolutionsfilmen Eisensteins gibt es keinen individuellen Helden, sondern der historische Prozess und die darin agierenden Massen werden durch das filmische Erzählen abgebildet. Das hatte zur Folge, dass
die Menschendarstellungen in diesen Filmen auch immer als Porträts von sozialen Klassen, Schichten, Gruppen gestaltet wurden. Das ist der Kern des von Eisenstein entwickelten Typagekonzepts. Bezeichnend ist, dass Eisenstein, obwohl
er vorwiegend in den zwanziger Jahren mit Laiendarstellern aus dieser Intention
heraus gearbeitet hat, vom Theater Schauspieler übernommen hat, die sich
besonders eigneten, einen sozialen Typ zu verkörpern - zum Beispiel Alexander
P. Antonow, der mit seinen Filmgestalten als Arbeiter mit der Schirmmütze in
STREIK und als Wakulintschuk in PANZERKREUZER POTEMKIN den Typ
des klassenbewussten proletarischen Revolutionärs in der sowjetischen Kinematographie mitbegründete. Diskutierenswert ist, warum Eisenstein gerade in
der filmischen Typage die bestmögliche Fortsetzung der »Maske« des Theaters
sah. Dieser Begriff bezeichnet bei ihm nicht das geschminkte Gesicht. Für ihn
38
besteht eine Beziehung zu den Auffassungen in der Commedia dell’arte und in
den nichtliterarischen Formen der Volksdramatik des 16. und 17. Jahrhunderts,
die in der Figur einen sozial repräsentativen Typ sahen. Eisenstein betont diese
Bindung an das Theater, aber er hebt hervor, dass der Stummfilm mit seiner
extrem kurzen Handlung in den Sequenzen nicht so sehr das Rollenspiel des
Theaterschauspielers benötigte als vielmehr den stilisierten sozialtypischen Ausdruck. Es heißt bei ihm:
„Die Typage nimmt im Film eine ebenso prinzipielle Stelle ein wie die Maske
im Theater. Die Stelle höchster Ausdrucksfähigkeit. - Je zugespitzter eine Typage ist, je mehr sie zu einem vollendeten Zeichen des dargestellten Menschen wird, um so weniger muss dieser spielen. - Das Spiel eines in seinem
Äußeren übermäßig stilisierten Menschen ruft einen schwerfälligen und gekünstelten Eindruck hervor. Gut ist die Typage in der Monumentalität. In fast
statischer ‚Zeichen’-Darstellung. Am allerbesten in einer extrem kurzen
Handlung.“/26/
Im Gegensatz zu Eisenstein bekannte sich Lew Kuleschow zu traditionellen
dramatischen Sujets. Er übernahm Elemente des amerikanischen Detektiv- und
Cowboyfilms. Er versuchte anfangs, aus dem Parodieren von Sujets, aber auch
von Ausdrucksformen der amerikanischen Stars Ausgangspunkte für einen neuen Stil der Schauspielkunst im und durch den stummen Spielfilm zu gewinnen.
Für Kuleschow war der Schauspieler auch im Film entscheidend. Dies war
eine zu Eisenstein gegensätzliche Konzeption, die allerdings auch ein nicht so
ausgeprägtes Montagekonzept besaß. Kuleschow untersuchte in seinem Experimentierlaboratorium zwar die Möglichkeiten, die der Bildschnitt bot, um die
Rezeption der Filmgestalt beeinflussen zu können, aber bis 1924/25 waren seine
Montageverfahren darauf gerichtet, die Handlungen der Schauspieler im szenischen Raum zu beschreiben. Ihn interessierten die Möglichkeiten, die der stumme Film bot, um Stilisierungen durch den Schauspieler entwickeln zu können.
Insofern sind seine Versuche auf neue Spielweisen gerichtet, die durch das Spielen im Stummfilm zu gewinnen waren. Bezeichnend ist, dass Kuleschow - völlig
im Gegensatz zu Eisenstein - Interesse den Spielweisen der von Reinhardt herkommenden Darsteller des deutschen Filmexpressionismus entgegenbrachte
wie zum Beispiel Conrad Veidt. Wie Werner Krauss und Conrad Veidt im CABINETT DES DR.CALIGARI (1920) bewiesen hatten, zielte die Spielweise des
deutschen Stummfilmdarstellers, der von Reinhardt herkam, nicht auf die Nachahmung des Alltagsverhaltens, sondern auf eine bewusst stilisierende Komposition der Ausdrucksbewegung. Rudolf Kurtz hat in seiner bedeutenden Studie
zum deutschen Filmexpressionismus darauf hingewiesen, dass für die Darsteller
ein Stil charakteristisch sei, der von der „Inkongruenz von Bewusstseinsvorgang
und Körperausdruck“ her das Spiel im Film entwickle./27/ Er verdeutlicht dies
an seiner Beschreibung der Technik, mit der Veidt den Cesare spielt:
39
„... ein Gefühl, das üblicherweise in Schluchzen und Zusammenbruch seine
äußere Gestalt findet, vereinfacht sich zu einem Erstarren des Auges, einer
unbestimmten Gebärde der Hand, einem Recken des Körpers.“/28/
Diese Betontheit der Ausdrucks-Bewegung, die bei Eisenstein in dem Maße
an Gewicht verlor, in dem die Dynamisierung durch die Montage zustande kam
und der Darsteller einen monumental-statischen Ausdruck der Kamera abzuliefern hatte, führte Kuleschow auch zu den Griffith-Darstellerinnen wie die Mary
Pickford und Lilian Gish. Für diese Darstellerinnen war eine Intensität des Ausdrucks charakteristisch, die aus ihrer plastischen Gestaltung der Figuren resultierte. Dazu gehörten vor allen Dingen vielfach gegliederte Bewegungsphasen
des Körpers, der Hände, der Augen, des Mundes. Das waren Bezugspunkte für
Kuleschow. Er orientierte seine Schauspieler auf akrobatische Körperbewegungen und forderte das Clowneske und die Übertreibung der Groteske. Deshalb
experimentierten Alexandra Chochlowa, Boris Barnet und Wsewolod Pudowkin
mit der Parodie im Kuleschow-Film DIE UNGEWÖHNLICHEN ABENTEUER DES MR. WEST IM LANDE DER BOLSCHEWIKI (1924). Dieser Film ist
eine Genreparodie, denn Kuleschow funktionierte Elemente des Western wie
Verfolgungsjagden und Schlägereien um in eine Satire auf amerikanische Propagandaklischees, mit denen die Bolschewiki in den USA diskreditiert werden
sollten. Vor allem gewinnen einzelne darstellerische Leistungen durch das parodistische Element der Figuren und der sie verkörpernden Typen an stilistischer
Kraft. Die Chochlowa mit ihrem hässlich-lüsternen Gesicht und den vereinfachten Ausdrucksformen der Augen und der Lippen hatte mit ihrer Gestaltung einer
Unterweltsbraut der NÖP-Zeit zugleich Ausdrucksformen der Garbo parodiert.
Dies waren Wege, die man beschritt, um durch eine Zertrümmerung des vorhandenen Ausdrucksmaterials im Stummfilm neue Spielweisen erschließen zu können. Wsewolod Pudowkins Gestalt des gelackten, aalglatten Gangsters Shban
war eine Parodie auf die Aristokratenfiguren des vorrevolutionären Melodrams
im russischen Stummfilm. Der parodistische Zugang zur Shban-Figur ermöglichte es, nicht nur einen Gangster in seiner Gefährlichkeit als komisch zu entlarven. Entlarvt wurde auch ein als historisch überholt erkannter Typ des Filmhelden. Die neue Haltung der Kuleschow-Schauspieler, in der sie an die Filmfiguren herangingen, war geprägt von einer dialektischen Sicht auf den Wandel
der Filmhelden des Stummfilms, wie er sich mit dem Aufkommen der neuen
Filmhelden abzuzeichnen begann. Dabei ist kennzeichnend für die avantgardistischen Schritte, dass anfangs mehr die Materialrevolution im Blickfeld des Experimentierlaboratoriums von Kuleschow stand als die Darstellung des neuen
Filmhelden selbst.
Im Grunde zielten die Versuche Kuleschows darauf ab, die neuen Mediationsweisen des Theaterschauspielers im Stummfilm für neue Stilentwicklungen zu
erproben. Kuleschow gelangte aber mit seiner Art von »Kinofizierung« der
40
Schauspielkunst in dem Maße an eine Grenze, als von der an Aktionen reichen
Handlung, die mit Typen arbeitete, zu der Gestaltung der Psyche der Figuren
fortgeschritten werden musste. In dem Film DIE UNGWÖHNLICHEN ABENTEUER DES MR.WEST IM LANDE DER BOLSCHEWIKI hatte man Westernelemente übernommen, hatte effektvolle Verfolgungsjagden inszeniert und
in einer Gangsterintrige das dramatische Zentrum gefunden. Dies waren Faktoren, die mit der erhöhten Handlungsturbulenz zugleich vom Schauspieler vorrangig die Gestaltung aktionsreicher Vorgänge unter Einsatz des ganzen Körpers
abforderten.
Nach 1926 suchte Kuleschow mit assoziativen Bildverknüpfungen neue Wege,
um Figurenbeziehungen im Stummfilm im Sinne eines »psychologischen Kinodramas« gestalten zu können. Das erzählerische Moment der Details, der Gegenstände wurde genutzt, um Figurenbeziehungen erzählen zu können. Nach
wie vor blieb aber für Kuleschow die Überschaubarkeit der dramatischen Spielhandlung wichtig. Er strebte nicht diskontinuierliche Fabeln an wie Eisenstein
in seinen epischen Revolutionsfilmen. Er hielt sich an die traditionelle Fabel mit
Exposition, Kulmination/Katastrophe und Erkenntnis. Er bevorzugte individualisierte Protagonisten in einer dramatischen Handlung.
Kuleschows Bemühungen um neue Spielweisen stellen eine entgegengesetzte
Entwicklung zu Eisensteins antitheatralischem Konzept des Stummfilmdarstellers dar. Eisensteins Montageverfahren grenzten das Spielen im Stummfilm ein.
Folgerichtig wurde die physiognomische Typisierung der Figur betont, was auch
den Einsatz von Laiendarstellern erklärt. Obwohl Eisenstein die Schauspielkunst
im stummen Spielfilm zeitweise für unwichtig ansah, bewies er mit seinem Typagekonzept, dass der stumme Spielfilm gegenüber dem Theater neue Wege der
Ausdrucksdarstellung bei Nichtbeachtung des Rollenspiels des Bühnenschauspielers gehen konnte und auch musste.
I
Béla Balázs und Hans Richter über Material und Stil des
Filmdarstellers
In der Entwicklung des Stummfilms sind Materialwandlungen im Ausdruck/29/ der Darsteller in zweifacher Hinsicht vorrangig in der zweiten Hälfte
der zwanziger Jahre wirksam geworden. Erstens hatte der stumme Spielfilm zur
Folge, dass mit dem Wegfall der Ausdrucksgestaltung der Stimme die körperlich-gestische und mimische Ausdrucksdarstellung seitens der Schauspieler im
Film kultiviert wurde, wobei die Gliederung des mimischen und gestischen Ausdrucksgeschehens und folglich die Ausdrucksbewegung besonders wichtig für
die Gestaltung der Filmfiguren wurde. Zweitens entdeckten Regisseure im deutschen Stummfilm, wie Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, besonders aber
die Regisseure der ersten französischen Avantgarde (1920/22), wie Louis Del41
luc, Germaine Dulac, Marcel L’Herbier, Abel Gance und Jean Epstein, dass der
Bildschnitt und der Montagerhythmus entscheidend für die psychologisch subtile Darstellung von Stimmungen, Gefühlen und Gedanken der Filmgestalten sein
kann. Es wurden filmische Erzählmöglichkeiten entdeckt, die in der Folgezeit
nicht ohne Einfluss auf die Gestaltung von Filmfiguren blieben. Bereits 1924
(ein Jahr nach dem Erscheinen von Louis Dellucs „Drames de cinéma“/30/)
weist Béla Balázs in seinem ersten Entwurf einer Stummfilmästhetik, in „Der
sichtbare Mensch“, auf die veränderte Materiallage der Stummfilmdarsteller
hin:
„Nicht reden bedeutet noch nicht, dass man nichts zu sagen hat. Wer nicht
spricht, kann angefüllt sein mit Erlebnissen, die nur in Formen, in Bildern,
durch Mienenspiel und Bewegung ausgedrückt werden können. Denn ein
Mensch der visuellen Kultur wird durch seine Gesten nicht Worte ersetzen…
Seine Gesten bedeuten Begriffe und Empfindungen, die durch Worte
überhaupt nicht ausgedrückt werden können. Sie stellen innere Erlebnisse
dar (nicht rationale Gedanken), die auch dann unausgesprochen geblieben
wären, wenn der Mensch alles, was mit Worten gesagt werden kann, bereits
gesagt hätte.“/31/
Die Konsequenzen, die an der Rollengestaltung der Asta Nielsen, Greta Garbo
und anderer vor allen Dingen nach 1924 ablesbar wurden, bestanden in dem
Wandel der Filmrollen. Die minutiöse Darstellung des inneren Erlebens der Figuren durch den spezialisierten Filmschauspieler setzte sich insbesondere im
deutschen, im französischen, im amerikanischen stummen Spielfilm durch. Dies
war ein Prozess, der interessante morphologische Wandlungen der Ausdrucksdarstellung und der Ausdrucksbewegung in der darstellenden Kunst des stummen Spielfilms einschloss.
Während die Entdeckung der Parallelmontage durch Griffith relativ schnell
auf Wandlungen in der Dramaturgie des Stoffes und der Fabel Einfluss nehmen
konnte, waren solche Wirkungen bei Stilentwicklungen der Schauspielkunst
nicht sofort zu konstatieren. Ein solches filmisches Erzählmittel wie der Schnitt
wurde nicht unmittelbar zum Impuls für filmische Spielweisen der Stummfilmdarsteller. Oftmals wurde der Schnitt bei Filmen mit einer Starbesetzung sehr
zurückhaltend eingesetzt, weil man die darstellerische Leistung dokumentieren
wollte. Als Beispiel sei hier auf Leopold Jessners Verfilmung LULU nach Wedekinds Drama „Erdgeist“ mit Asta Nielsen in der Hauptrolle (1924) verwiesen.
Der Einstellungswechsel wurde sehr zurückhaltend eingesetzt, um das Ausdrucksgeschehen, mit dem Asta Nielsen ihre darstellerischen Bezeichnungen
entwickelte, aus dem szenischen Vorgang gewinnen zu können. Vergleicht man
dagegen Jessners bedeutenden filmexpressionistischen Versuch HINTERTREPPE (1921) mit dieser Dramenverfilmung, so ist man über den Verlust filmischer
Erzählmittel erstaunt. Die Ursache kann in der strikteren Ausrichtung auf den
42
Filmstar und in der Vernachlässigung filmischer Lösungen der Fabel gesucht
werden.
Dies gilt zum Teil auch für die Auffassungen vom Schnitt, mit denen in Chaplin-Filmen vorrangig der Ortswechsel der dramatischen Handlung organisiert
wurde, ohne dass dies Konsequenzen für eine Synthese von schauspielerischen
Mitteln und einem filmischen Erzählstil gehabt hätte (ganz im Gegensatz dazu
die Vorstöße bei S. M. Eisenstein und Pudowkin in der sowjetischen Filmavantgarde). Allerdings hatte der Film Chaplin gezwungen, seine Slapstick-Techniken zu verfeinern und die Gags minutiös zu bauen. Die Montage wurde, sofern
sie den Ortswechsel in der dramatischen Handlung ermöglichte, für die darstellerische Technik des Stummfilmdarstellers nicht stilbildend - zumindest gilt das
für, viele Filme der frühen zwanziger Jahre. Anders war dies mit dem Wechsel
der Einstellungen und dem Gesichtsausdruck des Darstellers. Die Erkenntnis
vom Wert der Großaufnahme wirkte frühzeitig auf die Schauspielkunst und trug
wesentlich zur Veränderung der Funktion des Darstellers in der dramatischen
Handlung bei. Dies war eine Bedingung für die Herausbildung spezifischer
Filmrollen für Schauspieler - sowohl was die Sujets, die dramatischen Konflikte
als auch die Besetzung mit Stars wie Greta Garbo, Asta Nielsen, Douglas Fairbanks und anderen betraf. Die Nah- und Großaufnahme haben strukturelle Veränderungen in der Menschendarstellung von der Dramaturgie bis zur Schauspielkunst ausgelöst. Dieser Fakt belegt, wie berechtigt die Erforschung jener
morphologischen Wandlungen in der Schauspielkunst des stummen Spielfilms
ist, die im Gefolge filmsprachlicher Entwicklungen eintraten. Dies wird an einigen theoretischen Entwürfen zur darstellenden Kunst des Films deutlich, die am
Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre entwickelt wurden. Auffallend an diesen filmtheoretischen Versuchen ist, dass das Ausdrucksgeschehen
des Darstellers in der Gesamtheit seiner Spielmöglichkeiten aufgewertet wurde.
Dies wird an den Arbeiten von Béla Balázs zwischen 1924 und 1930 deutlich.
Balázs ging von der Überlegung aus, dass durch die Kamera und damit durch
den Wechsel der Einstellungsgrößen Mimik und Gestik, Gesichts- und Körperausdruck voneinander getrennt werden können. Er schrieb:
„Der Stummfilm grenzt den Gesichtsausdruck von seiner Umgebung ab, als
wäre er damit in eine eigenständige, neue seelische Dimension eingedrungen.“/32/
Er betonte - dies in Übereinstimmung mit anderen zeitgenössischen Filmästhetiken/33/ -, dass die Vervollkommnung der Kunstsprache des Stummfilms
einhergeht mit dem Ausbau der Körper- und Gebärdensprache des Darstellers.
Obwohl der Film nicht die Wortsprache reproduzieren könne, sei er aber an einer Aufwertung der Mimik der Rede beteiligt. Hierzu sei angemerkt, dass dies
beispielsweise bei der Alexandra Chochlowa aus Kuleschows Experimentierlaboratorium dazu führte, dass die von der Redefunktion entbundenen Lippenbe43
wegungen für neue Bezeichnungsfunktionen, zum Beispiel in dem Film DIE
UNGEWÖHNLICHEN ABENTEUER DES MR.WEST… für Verstellen, für
Zuneigung, für Willfährigsein, genutzt wurden.
Für die Theorie der darstellenden Kunst sind zwei Gesichtspunkte der Ausdrucksdarstellung im Stummfilm, wie sie Balázs artikuliert hat, diskutierenswert.
Erstens die filmgeschichtlich nachweisbare These, dass sich im Stummfilm
ein Wandel von der »visuellen Bewegtheit« hin zur inneren Handlung und deren
filmischer wie schauspielerischer Meisterung vollzogen hat. Diese Entwicklung
führte schließlich zu einer erneuten Aufwertung der Schauspielkunst im stummen Spielfilm, was durch das Aufkommen eines spezialisierten Schauspielers,
des Filmschauspielers, belegbar ist. Sieht Balázs in der durch die Kamera erschlossenen »Mikromimik« eine auslösende Bedingung für Strukturwandlungen der Darstellungskunst im Stummfilm, so erkennt er in der damit verbundenen Veränderung der Story und der Filmdramaturgie Folgen für die Rollengestaltung im Stummfilm. Er kommt zu dem Schluss: „Die Handlung des Films
nahm einen inneren, auf die Seele gerichteten und vertieften Verlauf. Die Entwicklung der Nahaufnahme veränderte auch den Stil der Filmrolle und des Drehbuches.“/34/
Zweitens: Indem Balázs konsequent von der Kamera aus die Ausdrucksdarstellung untersuchte, stieß er folgerichtig auf den Kunstwert nichtkünstlerischer
Ausdrucksdarstellung, wie sie aus dem Dokumentarismus des Films resultiert.
Der Stummfilm sei letztlich gegen Stilauffassungen gerichtet, wie sie der deutsche Filmexpressionismus hervorgebracht habe, weil dieser nur eine Steigerung
der Bühnenschauspielkunst ermöglicht hätte. Dagegen hat der Stummfilm, weil
er Verhaltensweisen dokumentieren konnte, die Ausdrucksformen des Alltagslebens der Massen, aber auch ihrer sozialen Typik für die filmische Menschendarstellung aufgewertet. Balázs brachte in die Stummfilmästhetik die gegen eine
Verabsolutierung ausdruckspsychologischer Theoreme gerichtete These ein,
dass der Stummfilm als Dokumentar- wie als Spielfilm eine sozialpsychologische Typologie des individuellen Ausdrucks gerade im Hinblick auf die Ausdrucksbedürfnisse und -formen sozialer Klassen (Proletariat) und Schichten (so
mit der sozialtypischen Physiognomie und dem Habitus von Kleinbürgern) entwickelt hätte. Er formuliert:
„Eine wichtige neue Entdeckung des Films ist die Aufstellung einer Typologie
des Gesichts und des Gesichtsausdrucks einzelner Klassen.“/35/
Überlegungen, wie sie bei Balázs zur Ausdrucksdarstellung angestellt wurden, sind auch bei Hans Richter in seinem zwischen 1933 und 1939 in der Emigration geschriebenen Buch „Der Kampf um den Film“ in modifizierter Weise
zu entdecken. Richter gehört zu jenen Filmregisseuren, die bei der Verallgemeinerung der Ergebnisse der Filmavantgarden der zwanziger Jahre nicht bei der
44
Montageästhetik des Stummfilms stehenblieben. Er bezog in seine Betrachtung
der Montageverfahren den Darsteller und die Wandlungen in den Spielweisen
ein, die durch die Integration des Schauspielers in das filmische Abbild und seine Struktur sich zu entwickeln begannen. Seine zwischen 1933 und 1939 ausgearbeitete Konzeption orientierte sich bereits an Stilentwicklungen im Tonfilm,
aber sie verarbeitete auch Erfahrungen der darstellenden Kunst des Stummfilms.
Richter unterschied zwischen »psychologischem Ausdruck« und »mechanischem Ausdruck«/36/. Er stellte die These vom mechanischen Darstellungsstil
auf. Er unterscheidet zwei Aspekte darstellender Kunst im Film. Erstens: Es gibt
in der Darstellungskunst eine psychologisch bedingte rhythmische Ordnung von
Ausdrucksformen, die der Schauspieler in der Theaterpraxis ausgebildet hat.
Zweitens: Im Film existiert außerdem die rhythmische Ordnung des visuellen
Materials, die von der Kinoapparatur (Kamera, Montage, Aufführung) mitbestimmt wird. Deshalb heißt es bei ihm:
„Die Mechanik des Filmablaufs hat ihren speziellen Ausdruck, und die künstlerische Beherrschung dieses Ausdrucks ist genauso unentbehrlich für die
Gesamtform des Films wie die Echtheit der Darstellung durch den Schauspieler.“/37/
Balázs verwies auf den Einfluss, der mit der Nahaufnahme bei der Ausdrucksdarstellung der Stummfilmdarsteller bewirkt worden war. Richter dagegen, den
nicht wie Balázs nur der Wandel im Material des Ausdrucks interessierte, theoretisierte die Ausdrucks-Bewegung im Film. Er gelangte hierbei zu der These,
dass die rhythmische Gestaltung des Ausdrucks in ihrer Beziehung zur Zeitstruktur des Filmkunstwerkes durchdacht werden müsse. Seine These vom mechanischen Darstellungsstil des Schauspielers im Film ist interessanterweise
eine der Verfremdungstechnik des Brecht-Schauspielers verwandte Stilkonzeption. Er schreibt über die neuen Möglichkeiten der Stilisierung des Schauspielers im Film:
„Es sind vor allem zwei Aufgaben, die den heutigen vom gestrigen Schauspieler unterscheiden: Erstens hat er eine gedankeninterpretierende Aufgabe,
nicht nur eine gefühlsvermittelnde; zweitens hat er eine mechanische Funktion innerhalb des Films, nicht nur eine literarisch-erzählende. Diese beiden
Aufgaben greifen ineinander. Indem der Spieler das konkret-gesellschaftliche
Verhalten der Menschen darstellt und interpretiert - und nicht nur ein Gefühl
-, muss er eben die gleichen Methoden und die gleiche Ökonomie entwickeln,
die auch die Filmmechanik von ihm fordert, das heißt, er muss den Ausdruck
zerlegen, ehe er ihn zusammenfasst. Viel stärker als der Bühnenschauspieler
muss der Filmdarsteller den Ausdruck von Mimik und Gestik ökonomisieren;
erst eine Bewegung, dann eine zweite, dann eine dritte; er muss den Rhythmus einer Bewegung als eine Musik, eine Melodie erleben und fühlen. Nur
auf diese Weise entsteht ein darstellerischer Stil, der filmisch ist.“/38/
45
Diese theoretischen Verallgemeinerungen zur Spezifik filmischer Spielweisen
dürften bis auf den heutigen Tag aktuell sein.
I
Eine polemische Anmerkung
Die theoriegeschichtlichen Konzepte vom Stummfilmdarsteller fordern die
Theaterwissenschaft in methodologischen Fragen heraus. Die Stummfilmgeschichte ist durch eine widersprüchliche Wechselwirkung mit der Schauspielkunst des Sprechtheaters geprägt worden. Bemerkenswert ist, dass an der Schauspielkunst Übergänge von Theateravantgarden zu Filmavantgarden, so in der
ersten Hälfte der zwanziger Jahre in der Sowjetunion, diskutierbar sind: Die
Frage ist, ob man diesen film- und theatergeschichtlichen Phänomenen mit einem unhistorischen Beharren auf der prinzipiellen Verschiedenheit von Theater
und Film überhaupt gerecht werden kann.
Der von Artur Kutscher (1878-1960), einem der Begründer der Theaterwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland, entwickelte Standpunkt, dass
„der Schauspieler ... kein Element des Films“ sei, geht von dieser prinzipiellen
Verschiedenheit aus. Er verweist auf medientechnische Mittel des Films wie
Kameraeinstellung, Aufnahmewinkel, Überblendung, Montage. Er verweist auf
strukturelle Unterschiede in den räumlichen und zeitlichen Dimensionen des
theatralischen und des filmischen Abbildes. Es heißt bei ihm:
„Der Schauspieler ist kein Element des Films, ja, es fragt sich, ob es im Film
überhaupt einen Schauspieler im Sinne des Theaters gibt. Das glaubte man
im frühen Stummfilm, man filmte Schauspieler und Mimen; besonders Komiker, in ihren erfolgreichen Rollen. Auch heute noch arbeitet man meist mit
Schauspielern, obgleich man eingesehen hat, dass ein Schauspieler noch
nicht ohne weiteres für den Film geeignet und dass ein Filmdarsteller selten
auf der Bühne zu gebrauchen ist. Die darstellerischen Mittel von Bühne und
Film sind ganz verschieden ...“/39/
Bei Kutscher stößt man auf das heute wieder in Fachdiskussionen auftauchende
Argument, man müsse die Unterschiede zwischen Schauspieltheater und Spielfilm betonen, wenn man für den Fortschritt jeder dieser Gattungen eintreten wolle.
So berechtigt diese Forderung auf den ersten Blick zu sein scheint, so klammert
sie aber die für die Mehrzahl der Schauspieler wichtige Frage nach den Perspektiven, die sich darstellender Kunst durch die Entwicklung audiovisueller Massenmedien eröffnet haben, aus. Nach wie vor wird die Schauspielkunst des Theaters
zum Maßstab von Entwicklungstendenzen darstellender Kunst erhoben, statt zu
fragen, im Zuge welcher Differenzierungen in den Kommunikationssituationen,
im Material und im Stil der Darsteller welche neuen Entwicklungen der Synthese
in der darstellenden Kunst sich historisch erfassen lassen.
46
Die Überwindung bestimmter darstellerischer Techniken, einer bestimmten
Materialspezifik des Bühnenschauspielers und die Herausbildung filmspezifischer Mediationsweisen darstellender Kunst ist an der Stummfilmgeschichte
belegbar. Sowohl die Wirkungen des Darstellers des Schauspieltheaters auf die
darstellende Kunst im stummen Spielfilm als auch die Rückwirkungen filmspezifischer Spielweisen auf darstellerische Techniken und Schulen in allen durch
darstellende Kunst verwandten Kunstarten verlangen Beachtung seitens der
Theater- und Filmtheorie und ihrer Geschichtsschreibung, denn in den widersprüchlichen Wechselwirkungen sind die Tendenzen des künstlerischen Fortschrittes auszumachen. Werden diese nicht immer mehr von einer Entwicklung
geprägt, die historisch vom Theaterschauspieler zum Filmschauspieler geführt
hat und die in der Gegenwart bereits den disponiblen Mediendarsteller der Zukunft ahnen lässt?
(1980)
Anmerkungen
1
2
3
4
5
Vgl.: Zur Theorie des sozialistischen Realismus. In: Weimarer Beiträge, 4/1967, S.
536-575; Wechselwirkung der Künste. Deutsche Akademie der Künste, Arbeitshefte
4, Berlin o. J.; Karin Hirdina, Norbert Krenzlin, Waltraud Schröder, Wolfgang Thierse: Ensembleentwicklung der Künste und kulturelle Entwicklung der Arbeiterklasse.
In: Weimarer Beiträge, 5/1972, S. 29-60; Wolfgang Heise, Ernst Schumacher, Ernst
Günther Kautz: Zum System der darstellenden Künste In: Gesellschaftlicher Auftraggeber und Künstler. Deutsche Akademie der Künste zu Berlin 1971, Arbeitshefte
6, S. 95-106
Vgl. Wolfgang Gersch: Film bei Brecht. Berlin 1975; Hermann Herlinghaus: Wertow - Majakowski – Futurismus. In: Filmwissenschaftliche Beiträge 1973, S. 154-171
Vgl. die Beiträge des Kolloquiums ’78 „Deutsche Literatur im internationalen und
antifaschistischen Widerstand 1933-1945. Kampfbedingungen und Kunsterfahrungen“. In: Weimarer Beiträge, 6/1979; Klaus Jarmatz, Simone Barck, Peter Diezel:
Exil in der UdSSR. Leipzig 1979; Eike Middell, Alfred Dreifuß, Volker Frank, Wolfgang Gersch, Thea Kirfel-Lenk, Jürgen Schebera: Exil in den USA. Leipzig 1979
Vgl. den internationalen Blickpunkt bei Ernst Schumacher: Das Gestische in der
darstellenden Kunst des Ostens und des Westens. In: DIALOG 75.
Positionen und Tendenzen. Berlin 1975, S. 45-71 und Joachim Fiebach: Von Craig
bis Brecht. Studien zu Künstlertheorien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Berlin 1977; weiterhin die Reihe „Deutsches Theater im Exil“ mit Hansjörg Schneider: Exiltheater in der Tschechoslowakei 1933 bis 1938. Berlin 1979; Peter Diezel:
Exiltheater in der Sowjetunion 1932 bis 1937. Berlin 1979
Vgl. hierzu Joachim Fiebach: Von Craig bis Brecht, a.a.O., S. 224; weiterhin: Karl47
6
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21
22
23
heinz Barck, Dieter Schlenstedt und Wolfgang Thierse (Hrsg.): Künstlerische Avantgarde. Annäherungen an ein unabgeschlossenes Kapitel. Berlin 1979
Vgl. die Dokumentationen: Hätte ich das Kino. Die Schriftsteller und der Stummfilm. Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Nr. 27, Stuttgart
1976; Weimarer Republik. Hrsg. vom Kunstamt Kreuzberg und dem Institut für Theaterwissenschaft der Universität Köln, Berlin (West) und Hamburg 1977; Anton Kaes
(Hrsg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909 -1929.
Tübingen 1978
Vgl. Ernst Schumacher: Schriften zur darstellenden Kunst. Berlin 1978
Vgl. den auf Ernst Schumacher Bezug nehmenden Essay von Wolfgang Gersch: Spielen im Film (1-3). In: Film und Fernsehen, 4/1980, S. 17-23, 6/1980, S. 20-25, 7/
1980, S. 19-25
Vgl. Bertolt Brecht: Schriften. Hrsg. von Werner Hecht. Berlin 1977, S. 62
Hans Richter: Der Kampf um den Film. München 1975, S. 49 f.
So leitet Wolfgang Gersch in seinem Essay „Spielen im Film“ das Wesen darstellender Kunst nicht aus dem Kommunikationsprozess als Spielvorgang ab. Er beschränkt
das Spielen auf den in das filmische Abbild integrierten Darsteller. Vgl. Film und
Fernsehen, 4/1980, S. 18/19. Spielen umfasst mehr als Darstellen, obwohl es wichtiges Element der Tätigkeit des Darstellers ist. Allen Arten darstellender Kunst ist
gemeinsam, dass das Spielen praktisch-geistige Aneignung in einem kulturellen Kommunikationsprozess ist, in dem soziale Phantasie durch die Aufführung und das Mitspiel der Zuschauer produziert wird. Eine Reihe von wichtigen Determinanten darstellender Kunst des Spielfilms sind ohne Beachtung der ästhetischen Spieldimension der Massenkommunikation ungenügend erfasst, z. B.: die filmgeschichtlichen
Wandlungen von Filmfiguren, wie sie durch Darstellertypen geprägt worden sind;
das Star-Problem; die Wechselwirkungen zwischen Wandlungen in der Lebensweise
der Massen und dem Veralten von Darstellertypen (Zeittypen) und der Wirkungsweise neuer Darstellergenerationen.
Herbert Jhering: Von Reinhardt bis Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und Film. Bd. 1,
Berlin und Weimar 1961, S. 376
Ebd., S. 379
Ebd., S. 385
Vgl. ebd.. S. 394-396
Vgl. ebd., S. 389
Vgl. ebd., S. 400-403
Ebd., S. 387
Ebd., S. 378
Vgl. Sergej M. Eisenstein: Das Mittlere von Dreien. In: S. M. Eisenstein: Schriften
1: Streik. München 1974, S. 246,/247
Ebd., S. 248
Vgl. Sergej M. Eisenstein: Über mich und meine Filme. Berlin 1975, S. 51
Sergej M. Eisenstein: Schriften 1, a.a.O., S. 250
48
24 Ebd.
25 Ebd., S. 249
26 Sergej M. Eisenstein: Zur filmischen Gestaltung des Typischen. In: S. M. Eisenstein:
Schriften 3: Oktober, a.a.O., S. 280
27 Rudolf Kurtz: Expressionismus und Film. Zürich 1965, S. 119
28 Ebd., S. 121/122
29 Das Ausdrucksgeschehen gestaltet der Darsteller, indem er einzelne gestische, mimische und stimmliche Ausdrucksformen für die darstellerische Bezeichnung der
Filmfigur entweder unmittelbar aus der Beobachtung nimmt oder stilbewusst in einer Komposition erfundener Bezeichnungen für die Gestaltung einsetzt. Dies bezeichne ich als Ausdrucksdarstellung. Dagegen wird die rhythmische Gliederung
derBewegungsabläufe innerhalb des Ausdrucksgeschehens als Ausdrucksbewegung
bezeichnet. Vgl. zu den Begriffen Ausdruck, Ausdrucksdarstellung und Ausdrucksbewegung bei Sergej M. Eisenstein: Lehrprogramm für Theorie und Praxis der Regie. In: Filmkritik (München), 12, 1974, S. 538 f.
30 Dellucs avantgardistisches Konzept betonte die bilderzählerischen Möglichkeiten des
Stummfilms, besonders aber die offene Raum-Zeit-Struktur der Handlung. Er formulierte für die Filmästhetik den Begriff der Photogenie (sinngemäß: Dokumentarismus des Filmmediums). Photogenie bezeichnet bei ihm nicht allein die Reproduktion
der visuell wahrgenommenen Welt mittels der Kamera. Er sah darin ein filmspezifisches Moment der Produktion einer fiktiven Kunstrealität. Es heißt deshalb in „Drames de cinéma“: „Die Möglichkeit der Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Traum stellt eines der stärksten Mittel der photogenen Kunst
dar.“ Zit. nach Guido Aristarco: Storia dell teorice del film. Torino 1963 (Manuskript
der Übersetzung bei Hochschule für Film und Fernsehen, Potsdam-Babelsberg o. J.,
S. 30)
31 Béla Balázs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien 1961, S. 32
32 Ebd., S. 63
33 Vgl. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. München 1974, S. 172 f. Trotzdem muss auf
einige wesentliche Unterschiede zwischen beiden, was die Bewertung des Schauspielers im Stummfilm betrifft, hingewiesen werden. Balázs ging in dieser Frage von
der Kamera und der Nahaufnahme aus und wandte sich der Filmdramaturgie zu.
Während Arnheims Filmästhetik von 1932 eine wahrnehmungspsychologische Grundlegung versucht. Weiß Arnheim sich einig mit Balázs in der Bewertung der Mimik
im Stummfilm, so betont er aber rigoroser die These, dass der Film die Darstellung
des Schauspielers einschränke (vgl. S. 179, 181) Weiterhin, dass die Abbildung gegenständlicher Wirklichkeitsbereiche im Film durchaus die mimische Darstellung
von der Aufgabe entbinden kann, seelische Vorgänge zu gestalten. Beziehungen zwischen Figuren oder innere Erlebnisse können durch das filmische Erzählen ohne Präsenz des Darstellers zeitweise dargestellt werden.
34 Béla Balázs: Der Film, a.a.O., S. 81
35 Ebd., S. 78
49
36
37
38
39
Vgl. Hans Richter: Der Kampf um den Film, a.a.O., S. 138
Ebd.
Ebd., S. 143
Artur Kutscher: Grundriss der Theaterwissenschaft. München 1949, S. 377
50
Kinematographie und Filmkunst zwischen Markt
und politischer Öffentlichkeit. Zum Wandel der
AV-Medien-Kommunikation in Deutschland 1929*
(1) Auswertung der LICHT-BILD-BÜHNE - ein Zugang zu
Wandlungen der kommerzialisierten Massenkultur im
Jahre 1929
Die Neubesinnung in der methodologischen Diskussion der deutschen Filmhistoriker, wie sie auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft 1988 von Knut Hickethier mit der Formel von der Filmgeschichte
zwischen Medien- und Kunstgeschichte benannt wurde/1/, lässt eine Pluralität
der Ziele und Methoden um ein Zentrum kreisen: Wie sind produktions-, werk-,
technik-, sozial-, wahrnehmungsgeschichtliche Problemansätze mit der Kommunikationsgeschichte zu verbinden? Dieter Prokop (1970, 1979) hatte in den
70er Jahren den Übergang von einer historischen Materialerschließung der Monopolisierung der Filmproduktion und -distribution und der Rolle des Publikums
in den Marktmechanismen zu einer Geschichtsschreibung der Medienkulturen
(Massenpresse, Film, Hörfunk, Schallplatte) vollzogen/2/. Der Weg führte zu
einer kulturfunktionalen Interpretation der populären Medien. Er untersuchte
die Kinematographie und Filmkunst nicht aus der Perspektive der Wechselbeziehungen und Wandlungen im Ensemble der Künste/3/, sondern er verfolgte
die Standardisierung der Produktionsprogramme, der seriellen Produktion von
Medienprodukten im Zuge der „Intensivierung massenkultureller Kommunikation“. Die von ihm an der US-amerikanischen Mediengeschichte verfolgte These, dass „die für die heutige Produktionsstruktur entscheidenden Entwicklungen
erst mit der Intensivierung der Medienkommunikation in verschiedenen Bereichen seit den 1930er Jahren“ stattfand/4/, ist für die deutsche Filmgeschichte in
der DDR kaum vor 1989 verfolgt worden/5/. Eine Untersuchung der Entwicklungen der AV-Medienkommunikation (Hörfunk und Kinematographie) 1929 in
Deutschland mittels der Auswertung der Tageszeitung LICHT-BILD-BÜHNE
(Fachzeitung der Filmindustrie seit 1911, täglich seit 16.1.1925; Herausgeber:
H.H. Wollenberger; Chefredakteur 1920-33: Rudolf Kurtz) und der RUND-
*
Überarbeiteter Vortrag vom Kolloquium DAS EIGENE UND DAS NEUE. Wandlungen der
Arbeiterkultur in der Weimarer Republik. Universität Hannover, Veranstalter: Historisches Seminar Universität Hannover und Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität,
5.-7.10.1990
51
FUNK-RUNDSCHAU (Programmzeitschrift des Reichsverbandes der Rundfunkhörer e.V. seit 1926), ermöglicht es, Geschichte zu konstruieren durch die
Geschichte politischer Öffentlichkeit. In Anlehnung an Rainer Berg (1982) „Zur
Geschichte der realistischen Stummfilmkunst in Deutschland - 1919 bis
1929“/6/ wird auch die kommunikationsgeschichtliche Analyse von Entwicklungen durch die Gruppierung von Spiel- und Dokumentarfilmen verfolgt, aber
ausgehend von Zeitungen als Institutionen der politischen Öffentlichkeit werden die Relationen und Interdependenzen von Markt, Staat, Parteien und Filmwirtschaft im Jahre 1929 verfolgt, um den Wandel der AV-Medienkommunikation von seinen politischen, wirtschaftlichen, juristischen Rahmenbedingungen in
der Weimarer Republik bestimmen zu können. Die Materialsammlung und gruppierung erfolgte nach folgenden Problemkreisen:
® Film- bzw. medienpolitische Konzepte in der öffentlichen Diskussion der
Parteien (Zentrum, Wirtschaftspartei, SPD, KPD)
® Lichtspielgesetz-Debatte
® Zensur-Diskussion
® Verbände der Filmwirtschaft
® Produktions- und Verleihfirmen in Deutschland - Beziehungen zwischen
deutschen (europäischen) und amerikanischen Marktinteressen
® der Patentstreit
® Berufs- und Publikumsverbände/-vereine
® Filmangebot (Statistik / Rezensionen/ Annoncen – Werbung / Rollenbilder
und Storytypen / Genres des „Großfilms“/ Wochenschau)
® Deutsche Filmschaffende über den amerikanischen Tonfilm
® AV-Medienentwicklung (Funk / Tonfilm / Schallplatte / TV) und die institutionellen Interdependenzen (mit ihren Auswirkungen auf das Zeitungswesen)
® Musik und AV-Medien
® Ausstellungen / Tagungen
® Möglichkeiten und Grenzen der kultur- und ideologiekritischen Medienanalyse (B. Balázs, W. Benjamin, B. Brecht, S. Kracauer)
(2) Beginn der amerikanisch-deutschen Tonfilmkonkurrenz
auf dem Filmmarkt
Die Kinosensationen der ersten Januarwochen 1929 signalisieren, dass die
Auseinandersetzungen um den deutschen Filmmarkt infolge der amerikanischen
Tonfilmproduktion im neuen Jahr auf einen tiefgreifenden Wandel der technischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Kinematographie in
Deutschland hinauslaufen werden. Gus Schlesinger, Vertreter der Warner Bros.,
kündigt in der Nr. 1 der LBB seitens der Warner Bros. an:
52
„Wir freuen uns, dem deutschen Publikum im neuen Jahre die größten Überraschungen bieten zu können. Der gleiche Riesenerfolg, den unsere Tonfilmproduktion auf dem amerikanischen Markt gefunden hat, wird ihr auch in
Deutschland beschieden sein.“/7/
Die zwei deutschen Firmen der Tonfilmtechnik Klangfilm AG (AEG und Siemens) und TOBIS AG reagieren unmittelbar auf den Start von WINGS (Parufamet/ Magnoskop-Verfahren) vom 7.1.29 im UFA-Palast am Zoo. FILM UND
TON (No. 2 vom 12.1.29), die Beilage zur LBB 10/29, feierte diesen amerikanischen Großfilm als „ersten Geräuschfilm im deutschen Kino“/8/ mit weiteren
Tonfilmankündigungen und -vorführungen. Die Liedaufnahmen des HarryLiedtke-Films des Deutschen Lichtspiel Syndikats und der TOBIS AG ICH
KÜSSE IHRE HAND, MADAM (16.1.29 Start im Tauentzien-Palast Berlin)
wurden als deutsche Gegenargumente zum Start des amerikanischen „Geräuschfilms“ verbreitet/9/. Die TOBIS AG kündigte in der LBB vom 5.1.29 Tonfilmprojekte mit 7 Regisseuren an u.a. Walter Ruttmanns MELODIE DER
WELT/10/. Im März 1929 wollte die TOBIS außerdem das erste große deutsche
Filmdrama in Bild und Ton DAS DIRNENLIED (Regie: Max Reichmann/ Tonbildleitung: Dr. Guido Bagier) herausbringen. Im Oktober kam es - die UFA
hatte inzwischen die Arbeit in den Tempelhofer-Ateliers aufgenommen und die
TOBIS ihre TOBIS-ORCHESTER Synchronabteilung eröffnet sowie das Atelier Lankwitz - zu den ersten Starts deutscher Ton-Spielfilme (die TOBIS-FPSProduktion DAS LAND OHNE FRAUEN am 30.9.29, wozu eine Rezension
bemerkte, dass „zum ersten Mal bei einem deutschen Tonfilm eine Tonmontage
vorgenommen worden“ sei/11/ und das erste deutsche Tonfilm-Lustspiel WER
WIRD DENN WEINEN, WENN MAN AUSEINANDERGEHT, eine Produktion der British International mit dem Nadelton-Verfahren nach Lignose-Breusing in der Regie von Richard Eichberg und im Südfilm-Verleih am 2.10.29/12/
. Zu dieser Zeit fanden auch die avantgardistischen Tonmusikfilme der Badener
Musiktage in gesonderten Vorführungen Verbreitung/13/. Wenn es auch Mitte
des Jahres mit dem Verbot der SINGING FOOL-Tonaufführung (Produktion
Warner National) im Gloria-Palast Berlin, die für den 30.8.29 vereinbart war,
infolge der Patentklage der Klangfilm AG gegen den Einsatz von Western Electric Apparaturen kommt, folgt letztlich die deutsche Filmwirtschaft - bei allen
zeitweiligen Patentkämpfen und europäischen Orientierungen (Sympathien für
die Versuche der Franzosen, den Markt durch Kontingentsgesetze zu regulieren;
Fusionierung mit britischen Tonfilmfirmen so Ende 1929 mit dem Schlesinger
Konzern und dessen British Talking Pictures Corp. durch die Klangfilm und
Tobis) - der für die deutsche Wirtschaft der Weimarer Republik charakteristischen Ausrichtung auf das Arrangement mit der USA-Industrieproduktion. Es
ist dabei nicht nur die hohe Anzahl von amerikanischen Tonfilmen (LBB No.102
vom 30.4.29 meldet den „völligen Sieg der Tonfilms in Amerika“ mit 504
53
Sprechfilmen, die für 1929/30 von 25 Gesellschaften geplant werden/14/) für
den deutschen Tonfilmmarkt wichtig/15/, sondern auch die Kapital-Stärke der
amerikanischen AV-Medienkonzerne in Krisenzeiten der Wirtschaft insgesamt.
Letztgenanntes wird an der Bewertung des New Yorker Börsensturzes erkennbar:
„Wer an die Zukunft ‘der neuen Epoche’ (Grammophon, Radio, Tonfilm)
glaubt, wird diesem Rückschlag nur temporärem Charakter beimessen.“/16/
Der Pariser Tonfilmfriede vom Juli 1930 führte zur Aufteilung des Tonfilmmarktes zwischen der deutschen und der amerikanischen Tonfilmindustrie. Dieser Fakt der Aufteilung des Marktes kann als Beleg für die These gelten, dass die
Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und der amerikanischen Filmwirtschaft 1929/30 entscheidend prägten die Herausbildung der Rahmenbedingungen einer von der AV-Medienindustrie und dem parlamentarisch-demokratischen Staat (Lichtspiel-, Steuer- und Filmkontingentierungsgesetzgebung /
Rundfunkordnung) bestimmten Institutionalisierung der kulturellen Massenkommunikation in der Zeit der Auflösung der „großen Koalitionsregierungen“
der Weimarer Republik.
(3) Politische Gegenöffentlichkeit und Kunstöffentlichkeit Bezugspunkte des sowjetischen Stummfilmexportes
Die sowjetische Filmproduktion und der sowjetische Filmhandel sind in dieser Zeit ausschließlich vom Stummfilm getragen und man konzentrierte sich vor
allem in Europa auf den deutschen Markt, wobei die Zusammenarbeit mit der
DERUSSIA diesen kommerziellen Interessen entgegenkommen konnte (aber
mit dem Konkurs der Firma Ende September/Anfang Oktober 1929 Grenzen
setzte)/17/. Es war die von W. Münzenberg geleitete PROMETHEUS GmbH,
die mit W. Pudowkins STURM ÜBER ASIEN Anfang Januar 1929 versuchte,
eine von der KPD ausgehende proletarisch-revolutionäre Orientierung in der
Öffentlichkeit parallel zur Tonfilmoffensive zu entfalten. Die LBB meldete:
„Die letzte Woche stand im Zeichen dreier großer repräsentativer Filmwerke:
der Russen-Film STURM ÜBER ASIEN, des amerikanischen Films WINGS
und des deutschen WATERLOO ... Für den Russen geht es um den aktuellen
Kampf in Inner-Asien, den er unter der größeren Perspektive eines Kampfes
zwischen eingeborenem völkischen Naturrecht und Kapitalsmacht sieht. Um
Befreiungskampf geht es auch in dem deutschen Film; zwar ist er historisch
eingestellt, schöpft aus großer vaterländischer Vergangenheit, zielt aber deutlich dabei auf den stets aktuellen Gegensatz zwischen Weltherrschaftsgelüst
und Selbstbestimmungsrecht der Völker, den Kontrast zwischen Napoleon,
dem Eroberer, und Blücher, dem populären Mann und Führer des Volkes hin.
54
Ganz anders die Amerikaner in WINGS. Für ihn ist der Krieg mehr romantische Folie und Anlass zu erhöhten technischen Leistungen: Sportlicher Kampf
des Menschen unter Einsatz des Lebens, Kampf und Sieg vor allem aber des
motorisierten Menschen über das Naturelement. Drei Weltfilme - drei Weltanschauungen.“/18/
Der Versuch, eine proletarisch-revolutionäre Gegenöffentlichkeit (auch unterstützt durch die Aktivitäten des Volksfilmverbandes, des Freien Arbeiter-RadioBundes u.a.) zu institutionalisieren, ohne die anstehenden technologisch-ökonomischen Wandlungen der AV-Medienindustrie zu berücksichtigen, konnte zwar
zur Politisierung der Massenkommunikation beitragen, aber der Tendenz der
Kapitalkonzentration und -expansion eines auf technischem Fortschritt beruhenden Industriezweiges war auf Dauer so nicht zu begegnen.
(4) Akzeptanz massenkultureller Okkupation durch die
Marktabhängigkeit des proletarischen Kinopublikums?
Proletarisch-revolutionäre Gegenkultur als
Selbsttäuschung der linken Emanzipationsutopien?
Dass die Aushöhlung der Demokratie im Staat und die Expansion der Kapitalkonzentration in der Tonfilmproduktion und im -verleih - so in der Entwicklung
des UFA-Konzerns von 1930 belegbar - und die Propagandamöglichkeiten des
Rundfunks wichtige Vorbedingungen der Errichtung einer Diktatur der NSDAP
werden konnten, belegt, dass die mit dem technischen Fortschritt gegebenen
Möglichkeiten kultureller Massenkommunikation und die Marktmechanismen
umschlugen in Möglichkeiten einer totalitären Herrschaftscodierung. Benjamins
Forderung nach der Fundierung von Kunst und Medienkommunikation auf Politik als Antwort des Kommunismus auf die Ästhetisierung der Politik durch den
Faschismus/19/ war die verzweifelte Verteidigung der Utopie rationaler Aufklärung durch den Intellektuellen. In den 30er Jahren gingen – im Zuge der politischen Bewältigung der Weltwirtschaftskrise in den westlichen Ländern und der
sowjetischen Industrialisierungskonzeption - durch die totalitären Diktaturen
(Faschismus und Stalinismus) die Utopien einer proletarisch-revolutionären
Massenkultur, die von einem emanzipatorischen Gebrauch der sich entwickelnden neuen AV-Medien durch die Arbeitermassen ausgingen, defacto zu Bruch.
Die Diskussion der deutschen Intellektuellen (B. Brecht: RADIOTHEORIE,
1932; W.Benjamin, 1935/36) belegen die historischen Selbsttäuschungen, zu
denen Intellektuelle mit ihrem messianistischen Glauben an den Kommunismus
und an die kulturellen Emanzipationsmöglichkeiten der Arbeiterklasse gelangten. Im Jahre 1929 treffen in Deutschland im Zuge der weltpolitischen und welt55
wirtschaftlichen Veränderungen die innenpolitischen Zuspitzungen mit einer industriell-technologisch und durch den Markt bedingten Evolution der Kinematographie und Filmkunst zusammen. Die Intensivierung der kulturellen Massenkommunikation, die begleitet wird von politisierten Öffentlichkeiten, wird von
einem Typ der Massenkultur zunehmend bestimmt, der die Herrschaftscodierungen der Warenästhetik des Kapitals mittels der „Angestelltenkultur“ (S. Kracauer) so über die AV-Medien (Kino, Schallplatte, Werbung, Rundfunk) vermarktet, dass populäre Motive des proletarischen Milieus über diese auch in den
AV-Medienprodukten ausgebildete „Angestelltenkultur“ gefiltert wurden. Die
geringen Möglichkeiten einer proletarisch-revolutionären Gegenkultur in der
AV-Medienkommunikation waren nicht nur in den begrenzten institutionellen
Bedingungen begründet, sondern vor allem in der Akzeptanz des Marktes der
Konsumangebote durch die Arbeitermassen. Siegfried Kracauer begründete auf
diesem Tatbestand ein Konzept der ideologie- und kulturkritischen Methode der
Analyse populärer Motive der Angestelltenkultur Mitte 1929/20/. Béla Balázs
verfolgt an der Filmproduktion 1929/30 eine ähnliche kultur-funktionale Methode mit der These vom „Kleinbürger als Basis der Filmproduktion“./21/
(5) Die Regulierung des Filmmarktes - Konfliktfelder zwischen
Staat und Filmwirtschaft
Folgende Probleme kennzeichnen die Entwicklung der deutschen Filmwirtschaft (Produktion – Verleih - Aufführung) im Verlaufe des Jahres 1929:
® Die Bilanz der LBB als Tageszeitung der Filmindustrie ergab an der Schwelle 1928/29, dass die deutschen Stummfilmexporte im Vergleich zu anderen
Ländern auf dem US-amerikanischen und französischen Markt überdurchschnittlich hohe Zahlen aufweisen. Folgende Zahlen belegen dies: Von 192
„Großfilmen“ aus 15 Ländern, die in den USA 1928 eingeführt wurden, war
die deutsche Produktion mit 83 vor England mit 37 und Frankreich mit 30
überdurchschnittlich repräsentiert/22/. Auf dem französischen Filmmarkt ergab sich 1928 eine Rangverteilung zwischen USA-Produktionen: 313,
Deutschland: 122, Großbritannien: 23, Italien: 7.
Dazu kommentierte die LBB:
„Die Statistik zeigt ein ständig starkes Anziehen der deutschen Importe, die
sich von 1924 bis 1928 versechsfacht haben, während die U.S.A.Einfuhren in
derselben Zeit auf die Hälfte zurückgegangen sind.“/23/
Die anfängliche Unentschiedenheit der deutschen Filmproduzenten gegenüber dem internationalen und nationalen Tonfilmmarkt und die Exportfähigkeit der amerikanischen Filmindustrie (Ton- und Stummfilme) verschlech56
tern die Lage. Die Auseinandersetzung um die Filmkontingentierung, die im
August mit Erleichterungen seitens der Reichsregierung beantwortet werden, aber bis Ende des Jahres bleibt die Frage der Ausfuhrkontingente offen,
lässt erkennen, dass der Rückgang der Filmproduktion in Deutschland für
den Verleih und die Lichtspieltheaterbesitzer eine Erleichterung der Einfuhrkontingentierung erforderlich macht (auf 2 amerikanische Großfilme 1 deutsche Produktion d.h. eine Einfuhrverdopplung fordert im Dezember der Verband der Lichtspieltheaterbesitzer Berlin-Brandenburg beim Reichskommissar für Ein- und Ausfuhr/24/). Im Vergleich zum Vorjahr geht im 1.Quartal
1929 die deutsche Produktion von 70 Spielfilmen (Januar bis März 1928) auf
42 Spielfilme zurück/25/. In der Zeit zwischen 1.7. und 30.9.29 sind von
insgesamt 148 produzierten Spielfilmen 71 von deutschen Firmen produziert
worden, d.h. 48 %/26/.
Mussolini fordert in dieser Zeit:
„Um seine Wirtschaftsnot zu beheben, muss Europa sich aber auch damit
abfinden, seinen Bedarf zu beschränken. Es muss zwischen notwendigen
Gütern und Luxuswaren unterscheiden... Es muss den Konsum an Luxuswaren wie Automobile und Filme beschränken und diese Waren nach Möglichkeit in der Heimat herstellen.“/27/
Der Vorstoß Mussolinis vor der Haager Konferenz, auf der dann Ende August 1929 der Young-Plan die Reparationszahlungen Deutschlands neu regelt, betreffs einer Einschränkung der Film (und Auto)einfuhren europäischer Länder aus Amerika, spekulierte mit den nationalen Interessen der
Europäer, konnte aber infolge des Kapitalflusses nach Deutschland insbesondere über die amerikanisch-deutschen Verleihfirmen - nicht greifen.
®
Eine Verschärfung ergibt sich für die Lichtspieltheaterbesitzer im Zuge der
Entstehung eines Tonfilmmarktes. Nach dem ersten Halbjahr 1929 sind nur
10% der deutschen Kinos mit Tonapparaturen ausgestattet. Ludwig Scheer,
der Präsident des Reichsverbandes der Deutschen Lichtspieltheaterbesitzer,
sah sich noch im Mai veranlasst, in einem Brief an die Filmindustrie zu bitten, „dass für die kommende Saison noch mindestens 75% der vorjährigen
Produktion an großen stummen Filmen hergestellt werden“/28/. Im Vergleich
zu 1927/28 mit 551 neuen Kinos in Deutschland (11% Zuwachs) ist 1929 ein
Rückgang zu verzeichnen (63 neue Kinos, das sind 1%) - allerdings setzt
entsprechend dem internationalen Trend der Bau und die Eröffnung von Kinopalästen in Großstädten verstärkt ein/29/. Da die hohe Vergnügungssteuer
(15% der Kinotageseinnahmen) eine Umsatzsteuer zugunsten der Kommunen ist und mit dieser Steuer die Mittel für die Tonfilmumrüstungen für viele
gebunden sind, ist die Auseinandersetzung um die Steuererleichterung und
im weiteren Sinne um eine Reichsfinanzreform ein Anliegen der Lichtspiel57
theaterbesitzer, das im Reichstag/30/ und in den Ländern/31/ öffentlich wirksam vorgetragen wird. Auch bei den Kommunalwahlen in Preußen wurden
diese Fragen wichtig. In der LBB vom 23.7.29 hieß es:
„Die Wirtschaftspartei, in der das Lichtspielwesen einen Reichstagsabgeordneten hat, wird sich auf eine Koalitionspolitik der Mitte einrichten müssen, wenn sie unseren Interessen dienen will. Der Preis, den sie dafür verlangt, müsste darin bestehen, dass sich die bürgerliche Koalition der Mitte
auf den Vergnügungssteuer-Abbau festlegt ... Von den Deutschnationalen,
von den Hugenbergleuten, weiterhin Hilfe für eine freie Entwicklung des
Filmwesens in Deutschland zu erwarten, hieße - trotz der UFA - VogelStrauß-Politik treiben. Für die kommenden Wahlen müssen sämtliche Kinos
und ihre Lokalverbände in Alarmzustand versetzt werden.“/32/
Die Kinostreiks in der ersten Juliwoche in mehreren Ländern sind eine
Kampfansage an die Steuerpolitik der Kommunen. Zu dieser Zeit warnt noch
der Reichsverband Deutscher Lichtspieltheaterbesitzer vor der Anschaffung
von Tonfilmapparaturen, weil die Miete mit 30 000 bis 60 000 RM bei einer
Laufzeit von ca. 10 Jahren untragbar sei/33/. Als Übergangslösung bietet die
Deutsche Philipp AG und C.A. Lorentz AG Grammophon-Apparate für die
Kinos auf dem Markt an/34/. Im Herbst 1929 sind 73 Städte mit Apparaturen
nach KLANGFILM-TOBIS nennbar: Berlin: 23, Hamburg: 9, Leipzig: 6,
Königsberg: 5, München und Frankfurt/Main je 4, Chemnitz und Stuttgart je
3./35/
®
Die LBB stellt in ihrer Ausgabe vom 15.6.29 fest, dass ca. 16 Verleihfirmen
267 Filme anbieten und dass vorerst mit einem Gesamtangebot von 370 bis
400 zu rechnen sei. Die Zeitung der Filmwirtschaft kommt zu dem Schluss:
„Dies würde den letzten Jahren gegenüber eine spürbare Verknappung bedeuten.“/36/ In Reichstagsdebatten wird der nahe Niedergang der Filmwirtschaft beklagt. Während das Finanzkapital in den USA - so die National City
Bank , die Morgan-Gruppe, Goldman Say u.a. - bereit war, in der Filmindustrie zu investieren, hatte die Krise der UFA 1927 beispielsweise die Deutsche
Bank zu größter Zurückhaltung veranlasst. Als im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der FOX-Konzern in finanzielle Schwierigkeiten gerät, bleibt er
dank eines Treuhänderausschusses, der für 5 Jahre gebildet wird, intakt, weil
die Fox sich mit den Banken und dem Elektrokapital von Western Electric
noch arrangieren konnte./37/ In der deutschen Filmwirtschaft sind 1929 die
Verbindungen zu Banken nicht so tragend, dass entscheidende Durchbrüche
in der Tonfilm- und Stummfilmproduktion möglich wären. Die verschiedenen Versuche zur Sanierung der Emelka, an der das Reich mit 10% beteiligt
war (außerdem die Bayrische Hypotheken- und Wechselbank und die Bayrische Vereinsbank), belegen, dass die nationalen Vorbehalte gegen einen Auf58
kauf durch die FOX ebenso wie die marktpolitischen Vorbehalte gegen einen
Aufkauf durch die UFA das Kompromiss durch die Commerz- und Privatbank vermuten lassen (September 1929). Trotzdem sind die Entwicklungen
bedenkenswert, auf die nationale Gruppen des Finanzkapitals zu reagieren
beginnen, nachdem auf der Stuttgarter Konferenz der Lichtspieltheaterbesitzer (20./21.8.29) die Wende zur „Tonfilm-Aufrüstung“ seitens des Verleihs
und der Theater proklamiert wurde. Während der Verhandlungen mit der
FOX gründen die Münchner Lichtspielkunst AG (Emelka) und die Phoebus
Film AG mit ihren Filmtheatern die Firma Emelka Theater AG/38/ - vergrößern also das Potential der Kinokette. Zur gleichen Zeit trifft die Emelka
Vereinbarungen mit der KLANGFILM und TOBIS betreffs der Ausrüstung
der Emelka-Kinos mit KLANGFILM-Apparaturen/39/. Nach der Emelka Transaktion kann die LBB vom 12.10.20 feststellen:
„Die Commerz- und Privatbank verfügt jetzt, wie kaum eine 2.deutsche
Großbank, über recht weitverzweigte, allerdings auch recht verschiedenartige Interessen auf dem Gebiet der Filmwirtschaft. Um sie gruppiert sich nicht
nur die Emelka und Phoebus, sondern auch die TOBIS AG.“/40/
Zu diesem Zeitpunkt ist diese Großbank verbunden mit der Deutschen Lichtspiel Syndikat, der Aafa und über die TOBIS mit der NERO, der
FROELICH-Produktion, der GREENBAUM -Film. Solchen Anfängen nationaler Verknüpfung von Filmwirtschaft und Finanzkapital im Jahr des Übergangs zur Tonfilmproduktion und -aufführung stehen auf dem deutschen
Markt als Konkurrenten gegenüber die deutschen Verleihfirmen der amerikanischen Filmindustrie und mit ihnen deren deutsche Produktionen. Es seien genannt: die DEUTSCHE VEREINS-FILM AG der FOX , die auch die
TÖNENDE WOCHENSCHAU der FOX verlieh und die die 5 deutschen Produktionen der FOX für 1929 anbot/41/; die DEUTSCHE UNIVERSAL, die
für 1929/30 ein Produktionsprogramm mit 27 Filmen anbot, wovon 50%
deutscher Produktion waren/42/. Hatte die FOX als erste amerikanische Firma mit deutschen Produktionen in Deutschland begonnen, so war die von
Curt Laemmle geleitete UNIVERSAL 1929 bemüht - ebenso wie die FOX , deutsche Regisseure zu beschäftigen. So arbeiteten für die FOX 1929 Gottfried Wilhelm Murnau und Bertold Viertel und für die UNIVERSAL Wilhelm Dieterle (5 Produktionen), Conrad Veidt, Paul Leni. Das DEFINA-NATIONAL-Programm der Warner Bros. und National First trat ab Juni auf
dem Markt an. Im Oktober forcierte sie ihr Tonfilmprogramm für den deutschen Markt wie folgt:
„Die vereinigte DEFA-WARNER-NATIONAL gibt soeben eine Tatsache bekannt, die im deutschen Filmgeschäft als Novum besonders registriert zu
werden verdient: Ihre ersten Tonfilmprogramme großen Stils sind lieferbar.
Besonderes Interesse wird der 100% deutschsprachige Groß-Tonfilm mit Ale59
xander Moissi und Camilla Horn (DIE KÖNIGSLOGE), nicht minder ein
hundertprozentiger Naturfarben-Tonfilm VORHANG AUF wecken. Als Musiktonfilme erscheinen DER WALZERKÖNIG und die Operette DAS LIED
DER WÜSTE. Neben dem SINGING FOOL wird Al Jolson im JAZZSINGER
als Tonfilm herausgebracht und auch die ARCHE NOAH erscheint nun als
Tonfilm.“/43/
Wichtig an dieser Sachlage ist, dass für den deutschen Markt nicht die Vielzahl der Produktionsfirmen, sondern die ökonomischen Potentiale des Verleihs
insgesamt bestimmend waren und dessen Interessen auch die filmpolitischen
Debatten in den Kommunen, im Reichstag und in der Öffentlichkeit maßgeblich
mitbestimmten. Das betrifft den Reichsverband der Lichtspieltheaterbesitzer mit
seinen Länderverbänden und insbesondere die Arbeitsgemeinschaft der
Filmverleiher(A.D.F.), zu der gehörten: Bayrische Canudo, D.L.S.(die im Laufe
des Jahres mit 30 Großfilmproduktionen außerdem antrat(, die Deutsche Universal, die Deutsche Vereinsfilm, die Hegewald, die Mondial, die National Film,
die Südfilm, Parufamet, United Artists (mit Terra liiert), die Werner Film, der
Ufaleih u.a.(Stand vom Januar 1929). In dieser Übermacht hatte die PrometheusVerleih und -Vertrieb GmbH nur einen sehr begrenzten Marktanteil. Mit ihren
Verleihfirmen und der Politik, eigene deutsche Produktionen in Deutschland zu
etablieren und den Tonfilmvorsprung zu nutzen, waren die amerikanischen Firmen entscheidende Faktoren des deutschen Marktes. Dieser ökonomischen und
massenpsychologischen Macht waren die Verleih- und Produktionsfirmen sowjetischer Stummfilme nicht gewachsen. Es ist deshalb aufschlussreich, dass die
künstlerisch und politisch bedeutenden sowjetischen Stummfilme (W. Pudowkin
STURM ÜBER ASIEN, Januar; D. Wertow DER MANN MIT DER KAMERA,
März/April; S.M. Eisenstein GENERALLINIE November) weniger über Marktmechanismen als vielmehr über eine politisierte Kinoöffentlichkeit (gemeinsam
mit den proletarisch-revolutionären Produktionen wie BRÜDER von Werner
Hochbaum, Uraufführung 28.4.29 in der Schauburg Hamburg, HUNGER IN
WALDENBURG von Piel Jutzi, 15.3.29 Theater am Schiffbauerdamm Berlin und
Piel Jutzis MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK, 30.12.29 im Alhambra
Berlin gestartet) massenkulturell wirksam wurden.
(6) Ein Fehler der „Linken“: politisierte
Öffentlichkeitsexperimente und keine Marktkonzepte
Die Grenzen der AV-Mediennutzung für das Industrieproletariat, die durch die
relativ hohen Anschaffungskosten und Monatsgebühren für Radioempfänger
und die Erwerbslosigkeit bedingt waren/44/, aber auch die Akzeptanz der zunehmend an der Angestelltenkultur ausgerichteten marktbeherrschenden deut60
schen und amerikanischen „Großfilmproduktionen“/45/, lassen es als eine Illusion erscheinen, dass die Auseinandersetzungen um alternative Filmkunstentwicklungen tatsächlich von Massen aus dem proletarischen Kinopublikum bestimmt worden wären. Die Masse der proletarischen Kinogänger verinnerlichte
ihre Rolle als Käufer einer Ware auf einem Markt, weil die seriellen Story- und
Rollenstandards der Massenware Kinofilm (favorisiert in den populären Genres
wie Melodram, Abenteuerfilm, Lustspielfilm, Heimat- und Bergfilm und seitens
der amerikanischen Produktionen neu die Flieger- und Reporterfilme) ihnen die
Befriedigung kollektiver Phantasien und Wunschvorstellungen ermöglichten.
Die Kompensation der im Rahmen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen erfahrenen Versagungen wurde befördert durch das Kaufversprechen der Reklame, der Starmythen. Auch die seit 1926 in Deutschland sich entwickelnden Bühnenschauprogramme mit ihren Variationen zwischen Dilletantenwettkämpfen
(nach amerikanischem Show-Vorbild), Revue und Kinoorgelkonzerten kam diesen Bedürfnissen entgegen. Anfang 1929 hatten von 378 Berliner Lichtspieltheatern 105 je ein Programm mit Bühnenschau./46/
In den Debatten um alternative Filmkunstentwicklungen waren Intellektuelle
meinungsführend. In jenen Schichten und Gruppen der Intelligenz, die zu den
proletarischen Klassenorganisationen tendierten oder in ihnen wirkten (Volksfilmverband, IAH, Gesellschaft der Freunde des neuen Russland: sozialistische
Schriftsteller, Schauspieler - auch die von der Piscator-Schule ausgehenden
Gruppenbildungen/47/, Filmschaffende, Redakteure, Filmkritiker, Studenten),
wurden Entwürfe und Werke einer proletarisch-revolutionären Massenkultur als
Öffentlichkeitsexperimente und nicht als Marktmodelle konzipiert.
Es kann nicht übersehen werden, dass dies Minoritäten waren, die
a) oft „Tendenzkunstkonzepte“ (mit ihren melodramatischen oder/und naturalistisch-dokumentaren oder dramatischen traditionellen Dramaturgien und
einem Revolutionspathos der Klassensolidarität) und in der Minderheit dramaturgische Neuerungen der Dramaturgien (Radio- und Filmpraxis von B.
Brecht, H. Eisler, S. Dudow) schufen, ohne in den Vermittlungen der kommerzialisierten Freizeitkultur Fuß fassen zu können und
b) diese Minoritäten waren meinungsbildend insofern als sie eher auf die Produktionsästhetik avantgardistischer Umwälzungen im Ensemble der Künste
mit neuen Funktions- und Strukturkonzepten denn auf die Nutzerstile der
Arbeitermassen Einfluss nehmen wollten.
Die von Kracauer verfolgte Linie der Filmkultur der Weimarer Republik belegt, dass die alternativen Medienkunstkonzepte, weil sie vorrangig aus der
Schichtenspezifik der künstlerischen Intellektuellen erwuchsen, kaum die vom
Medienmarkt geprägten Nutzerstile der Arbeiter und Angestellten auf Dauer zu
wandeln vermochten. D.h. die Erkundung der AV-Medien in Öffentlichkeitsexperimenten der proletarisch-revolutionären Kunstentwicklungen war letztlich
eine von den Produktionsutopien und den Nutzerstilen von Gruppenminoritäten
61
der Intelligenz bestimmte Angelegenheit und sie hat in diesem Sinne innovative
Wirkungen auf die Entwicklung der Künste gezeitigt. Aber die Ausklammerung
von Marktkonzepten und die ausschließliche Legitimation durch die Bündnisfrage und durch die These der proletarischen Weltrevolution hat die politischen
Selbsttäuschungen jener der IAH und der KPD nahestehenden Intellektuellen
befördert.
(7) Die Artikulation filmpolitischer Konzepte zur „Rettung der
deutschen Filmwirtschaft“ (Katholischer Filmkongress,
Pariser und Stuttgarter Kongress der
Lichtspieltheaterbesitzer, Sozialistischer Kulturtag)
Die Diskussion des Verhältnisses von Markt und politisierter Öffentlichkeit
verlangt vom Filmhistoriker Entscheidungen in Bezug auf die Fragestellungen
an das in Betracht kommende Material. Als Möglichkeiten bieten sich an: entweder die werk- und produzentenorientierte Vorgehensweise zu verfolgen oder
man verfolgt die verschiedenen Aspekte der Filmkultur als Gegenstand der öffentlichen Diskussionen 1929. Es liegt nahe, dass im Umbruchsjahr 1929, d.h.
in einem durch den Übergang zum Tonfilm mit interdependenten Entwicklungen des Hörfunks, der Hörfunk-Zeitungen/48/, der Grammophon- und Schallplattenindustrie geprägten Jahr des Wandels der Strukturen massenkultureller
AV-Medienkommunikation, übergreifende Forschungsansätze gegenüber werkund regiegeschichtlichen für die historische Prozessanalyse geltend gemacht
werden können - wenn man die kulturfunktionale Kommunikationsgeschichte
verfolgt. Die politisierte Öffentlichkeit ist dann nicht in erster Linie an der Kinogeschichte zu verifizieren, sondern an der öffentlichen Diskussion in der parlamentarischen Republik (Reichstag, Kommunen, Parteien, ökonomische, kulturelle und politische Interessenvereine) und in Zeitungen bzw. AV-Medien. Der
Markt mit all seinen politischen, wirtschaftlichen, juristischen Rahmenbedingungen in den Institutionen der parlamentarischen Republik und seinen kulturund bildungspolitischen Folgen, aber auch in seinen Folgen für die Ästhetik der
Medienprodukte bestimmte die Filmkultur-Debatten und war das letztliche Bezugsfeld der öffentlich ausgetragenen Interessenlagen.
Die LBB vom 4.12.29 charakterisierte die Situation in der Reichstagsdebatte
vom 3.12.1929:
„ ...es erfüllt mit Bitterkeit, dass nur der kommunistische Redner für den Film
die gleiche Freiheit der Entwicklung forderte, die allen anderen geistigen
Ausdrucksformen gewährleistet ist ... Die Parteien, die das fortschrittlich gesamte Bürgertum vertreten, Deutsche Volkspartei und Deutsche Demokratische Partei, meldeten sich überhaupt nicht zum Wort. Von sozialdemokrati62
scher Seite blieb das eindeutige Bekenntnis zur Zensurfreiheit des Films aus,
und die kompromisslerische Wendung gegen die Gefahren einer Polizeizensur
kann niemals das kulturpolitische Programm ausfüllen, auf dessen Fundament die Sozialdemokratische Partei aufgebaut ist. Herr Siegfried von der
Wirtschaftspartei unterzog sich der Aufgabe, mit Sachkenntnis die Einzelheiten des Entwurfs, die besonders untragbar sind, herauszukehren: besonders
die Einschmuggelung der Geschmackszensur in den Paragraphen 1 und die
Ortszensur in den Paragraphen 5.“/49/
Obwohl die KPD in der Lichtspielgesetz-Debatte im Reichstag einen progressiven Standpunkt einnahm , hat sie im Gefolge des Konzepts der Kommunistischen Internationale, zentralistisch-demokratischen Kulturinstitutionen der
Klassenorganisationen aufzubauen, kein medienpolitisches Konzept der deutschen Filmwirtschaft und des Marktes entwickelt, das den Klassenkompromiss
und die Konsensfindung in der Öffentlichkeit zur Legitimation der Weimarer
Republik verfolgt hätte. Allerdings war ihre Tätigkeit auf Alternativen zur „Kulturreaktion“ durch Propagierung der sowjetischen Stummfilme und eigener
Filmproduktionen gerichtet. Die auf dem Sozialistischen Kulturtag FILM UND
FUNK (Frankfurt/Main 28./29.9.1929) von sozialdemokratischen Positionen
aus entwickelte medienpolitische Konzeption und die von der Zentrumspartei
und der Wirtschaftspartei getragenen filmpolitischen Konzepte zur „Rettung der
deutschen Filmwirtschaft“ geben Aufschluss über die Versuche, Markt und Öffentlichkeit für die Entwicklung der Kinematographie und Filmkunst in
Deutschland beim Übergang zum Tonfilm zu nutzen. Die Lichtspielgesetzdebatte in Deutschland, die Mitte Juli 1929 mit dem Entwurf des Gesetzes die öffentliche Diskussion forcierte/50/, aber erst 1930 zum Abschluss kam (und 1934 mit
einem neuen Gesetz im Interesse der Diktatur der NSDAP entschieden wurde),
wies ein politisches Spektrum von der Deutsch-Nationalen über die Zentrumspartei, Wirtschaftspartei, Bayrische Volkspartei bis zur SPD und KPD auf/51/.
Die Debatten im Reichsrat, im Reichstag und im Bildungsausschuss des Reichstages sind zugleich nicht zu trennen von der unterschiedlichen politischen Interessenartikulation, die sich in der Öffentlichkeit vollzieht:
Erstens auf dem II. Internationalen katholischen Filmkongress (München
17.6.- 19.6.29), der die katholischen Zensurforderungen in der Lichtspielgesetzdebatte (beflügelt durch die Erfolge katholischer und anderer christlicher Vereinigungen bei der amerikanischen Filmzensur im Mai 1929) artikuliert (z.B.: in
jedem Land des Deutschen Reiches solle 1 katholisches Filmkomitee gebildet
werden, die Zusammenarbeit mit der Filmzensur solle verstärkt werden, Jugendschutzgrenze bei 18 Jahren, Steuerfreiheit für Kultur- und Lehrfilm). Im Gefolge der Auseinandersetzungen wird im Dezember Dr. Kloith vom Katholischen
Verband für Volksbildungspflege zu einem der Vorsitzenden der Filmprüfstelle
Berlin berufen/52/.
63
Pater Friedrich Muckermann, Herausgeber der FILM-RUNDSCHAU, der
damals einzigen deutschen katholischen Filmkorrespondenz für die katholische
Tagespresse und Referent des Kongresses, bestreitet zugunsten einer konservativen Kulturkonzeption:
„Eine eigene Filmkultur kennen wir nicht, sondern nur eine Kultur, der sich
auch der Film einzuordnen hat.“/53/
Angemerkt sei, dass S. Nestriepke auf dem Sozialistischen Kulturtag FILM
UND FUNK im Gegensatz zu der von ewigen Kulturwerten getragenen katholischen Konzeption auf die „neue Filmkultur“ als Aufgabe der Sozialdemokratie
angesichts des technischen und industriellen Wandels der Kultur verwies/54/.
Trotzdem wäre es falsch, die öffentliche Diskussion seitens der katholischen
Kirche auf die Zensurfrage zu reduzieren (obwohl diese bis zur Inszenierung
öffentlicher Skandale durch Kleriker - so im Filmplakatstreit - getrieben wurde).
Im November 1929 veröffentlicht die GERMANIA, die führende katholische
Tageszeitung in Berlin, ein Programm gegen den „Niedergang des deutschen
Films“ und beteiligt sich an der Steuerdebatte wie folgt: anstelle der Lustbarkeitssteuer an die Kommunen solle eine 10% Reichsabgabe treten und mittels
eines zu bildenden Reichsfilmfonds solle ein Reichsfilmamt eingerichtet werden, dass 1. eine Prämierung deutscher Filme, 2. die Gründung einer staatlichen
Filmhochschule (das kommt den Plänen des Preußischen Kultusministeriums zu
diesem Zeitpunkt nahe, das einen Bericht über die Entwicklung der Moskauer
Filmhochschule von einem VGIK-Dozenten als Entscheidungshilfe angefordert
hatte), 3. die Einrichtung eines Reichsfilmarchivs und 4. die Förderung des Lehrund Kulturfilms entwickeln könnte/55/. Im Rahmen einer konservativen Kulturkonzeption zwischen Demokratie und Diktatur verfolgte der deutsche Katholizismus auch auf filmpolitischem Gebiet eine Vision des Reiches.
Zweitens: Die politischen Interessen der Filmwirtschaft werden artikuliert auf
dem II. Internationalen Kongress der Lichtspieltheaterbesitzer in Paris (3.6.7.6.29), wobei im Mittelpunkt die Filmkontingentierungsgesetzgebung, die
Steuergesetze, die internationale Angleichung der Musiktantiemen (Orientierung auf die O-Musik der Tonfilmproduktion statt Übernahmen), Höchstpreise
für Stummfilmprogramme und Aktionen gegen das Blind- und Blockbuchen,
die Freizügigkeit in der Tonfilmfrage stehen./56/ Auf der Stuttgarter Konferenz
der deutschen Lichtspieltheaterbesitzer (20./21.8.29) wird die Wende zum Tonfilm in Produktion, Distribution und Verleih vollzogen, wobei auch gegen die
Vergnügungssteuer und für eine Herabsetzung des Jugendschutzalters von 18
auf 16 Jahre plädiert wird. Als erste Tonfilmproduktionen werden über 30 von
den Firmen angekündigt./57/
Drittens: Einzig auf dem sozialdemokratisch orientierten Sozialistischen Kulturtag FILM UND FUNK (Frankfurt/Main 28./29.9.29) wird eine Verknüpfung
der filmpolitischen Debatte mit dem Rundfunk (und mit den Funktionalisierun64
gen von Theater und Musik in der sich wandelnden massenkulturellen AV-Medienkommunikation) unter dem Einfluss der neuen technischen Möglichkeiten für
die Arbeiterbewegung formuliert - ohne dass diese Standpunktbildung seitens
der SPD-Fraktion im Reichstag einschneidende Konsequenzen zur Folge gehabt
hätte. Dem Sozialistischen Kulturtag in Frankfurt/Main kommt das Verdienst
zu, den Ansatz zu einer öffentlichen Diskussion des Wandels der mit Film und
Funk als Produktions- und Distributionsapparaten verbundenen kulturellen
Möglichkeiten für die Arbeitermassen geliefert zu haben. Man griff damit auch
die im ersten Halbjahr 1929 begonnene Debatte über „den deutschen Rundfunk
am Scheideweg“ auf, die F.E. Bettauer lange vor Brecht und medienpolitisch
sehr praxisnahe in der RUNDFUNK-RUNDSCHAU begonnen hatte/58/, denn er
analysierte die Rolle der Aktiengesellschaften, den Missbrauch der Reklame,
die Überinstitutionalisierung der Zensur. Die Entscheidung, die Tagung in
Frankfurt/Main und nicht in Berlin durchzuführen, war vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass die Programmgestaltung der Südwestdeutschen Rundfunk AG durch Hans Flesch (der dann 1929 nach Berlin als Intendant berufen
wurde) den Sender Frankfurt zu einem „Innovationszentrum für die Rundfunkgenres der Reportage, der neuen Musik, des Hörspiels und des freien Streitgesprächs“ gemacht hatte/59/ - ganz abgesehen von der Wirkung des Frankfurter
Instituts für Sozialforschung (Institut für Forschungen über die Geschichte des
Sozialismus und die Arbeiterbewegung, 1924 gegründet) und der Atmosphäre
der Frankfurter Universität. Die sozialdemokratischen Positionen der Kulturund Bildungsarbeit waren darauf gerichtet:
(1) Arbeiter und Angestellte müssen sich ihren Anteil am nationalen Kultur- und
Bildungsgut erkämpfen. Dessen Zugänglichkeit erhöht sich einerseits mit
dem technischen Fortschritt für die Massen aber andererseits gestatte der
Markt keine künstlerischen und ethischen Werte außerhalb des Profits. Deshalb ist die Ausschließlichkeit des Profitstrebens und des Marktes durch gesetzgeberische Regulative einzuschränken (das Lichtspielgesetz dürfe nicht
die „Geschmackszensur“ der Kulturreaktion und nicht ausschließlich die
Befugnisse der Ortspolizei sanktionieren). Der Appell an die öffentlichen
Gewalten sei ein Weg zur Sozialisierung (Schaffung zweier staatlicher Produktionsfirmen im Reich; Gemeinde- bzw. Kommunalkinos seien zu erwirken/60/).
(2) Die Schaffung einer neuen Filmkultur setze eine Schulung der Massen durch
die Filmkritik der Presse voraus. Aber wichtiger sei die Einwirkung auf die
Strukturen der Filmindustrie durch die Selbsthilfe der Konsumenten/61/, d.h.
durch die Sozialisierung von Kinovorführungen, durch Einrichtung von
Verleihstellen des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit.
(3) In der Bestimmung des Rundfunks wird ebenfalls die Funktion der Volksbildung betont, aber ausgehend von der seit 1928 in der SPD forcierten Funktionslehre des Staates (Rudolf Hilferding) wird die Verwandlung des Funks in
65
einen „Hebel des Volkswohls, der Volkskultur, des Aufstiegs, des Fortschritts
der Menschheit“/62/ auf die Volksstaat-Ideologie bezogen. Die Rundfunkdebatte auf dem Sozialistischen Kulturtag ließ allerdings erkennen, dass mit
der Orientierung auf einen formelhaften Fortschrittsoptimismus die tatsächliche Verschärfung der politökonomischen Widersprüche der Rundfunkanstalten, die zur Gefährdung des Kulturauftrages bereits geführt hatte, nicht
analysiert werden konnte. Mit der Verschärfung der sozialen und politischen
Lage der Massen nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise wird die Politisierung der Hörfunk-Kommunikation (bis hin zu den Folgen für Hörspielkonzepte wie Lehrstück u.a.) wichtiger für die öffentliche Diskussion als die
ausschließlich auf den technischen Fortschritt setzende Konzeption vom
Rundfunk im Volksstaat. Hierzu vermochte die Rundfunkdebatte auf dem
Sozialistischen Kulturtag nichts beizusteuern. Allerdings gerät der Filmverleih der Arbeiter- und Bildungsausschüsse im Herbst in den Beschuss der
Filmwirtschaft und der katholischen Arbeitervereine/63/.
Viertens: Unmittelbar nach dem II. Internationalen katholischen Filmkongress
und im Vorfeld des II. Internationalen Kongresses der Lichtspieltheaterbesitzer
in Paris erschien eine deutsch-national orientierte Denkschrift zur Rettung der
deutschen Filmindustrie, die von einer Deutschen Kunstvereinigung in die Öffentlichkeit lanciert wurde und die seitens der Redaktion der LBB zurückhaltend
kommentiert wurde, da man es mit einer „undurchsichtigen Interessenlage“ zu
tun hätte. In dieser Denkschrift wurde eine neue Dachorganisation der Filmindustrie gefordert, ein gemeinnütziger deutscher Zentralverleih für den deutschen
Film, eine Erhöhung der Einfuhrzölle für ausländische Produktionen um das 5bis 7fache und Kontingententscheidungen sollten den freien deutschen Produzenten, nicht aber Konzernen und Verleihern Vorteile verschaffen./64/
(8) Amerikanische und deutsche Genredominanzen - Sieg
des populären Kinos?
Die Spielfilmproduktion (Stumm- und Tonfilm) in Deutschland ist 1929 auf
populäre Genres orientiert. Liebesfilme und Melodramen, Abenteuer- und Sensationsfilme (z.B. die Harry-Piel-Produktionen), die Neuauflage der StuartWebbs-Detektivfilmserien im Frühjahr 1929, Heimat- und Bergfilme (A. Fanck
DEINE HEIMAT - DAS VOLK DER ARBEIT/65/, A. Fanck/G.W. Pabst DIE
WEISSE HÖLLE VOM PIZ PALÜ), Straßen- und Dirnenfilme (J. May ASPHALT, L. Mittler JENSEITS DER STRAßE), Lustspiele (E. Schönfelder AUS
DEM LEBEN EINES JUNGGESELLEN mit Reinhold Schünzel), historische
und biographische Filme (UNSERE EMDEN, K. Grune WATERLOO, L. Pick
NAPOLEON AUF ST.HELENA), Groteske (W. Jerven KARL VALENTIN,
66
DER SONDERLING), Kriminalfilm (R. Schünzel KOLONNE X), Katastrophenfilm (E.A. Dupont ATLANTIC), sozialkritische Erziehungs- und Schulfilme (G. Asagaroff REVOLTE IM ERZIEHUNGSHAUS, M. Mach DER KAMPF
DER TERTIA). Die Genredominanzen im Filmangebot wurden durch die marktgängigen amerikanischen Genreproduktionen bestärkt. Allerdings setzen die
amerikanischen Firmen neue Akzente: Flieger-Sensationsfilme ergänzen nun
das Genre des Wild-West-Films im Angebot. Die Entwicklung des Tonfilms
1929 führt vom Star-Sänger-Film der Warner Bros. (die Al-Jolson-Filme wie
SINGING FOOL, JAZZ-SINGER) über die Dialog- und -Geräuschfilme der
Paramount (WINGS, INTERFERENCE) zur Musical Comedy (z.B. Conrad
Veidt in THE BARKER der First National Film oder BROADWAY MELODY
OF 1929 von MGM). Conrad Veidt setzte sich im April 1929 in mehreren Folgen
der LBB mit der Tonfilmentwicklung in Hollywood auseinander./66/ Die R.C.A.
und die F.B.O. gehen Anfang 1929 von den Mittelfilm-Genres zu den Superproduktionen für den Tonfilmmarkt über (RIO RITA Musical mit der Ziegfeld-Truppe/67/). Hinzukommt, dass in amerikanischen Genrefilmen 1929 das Sujetmotiv
des Reporters die kulturelle Chiffre des Mannes in der Menge, einst von E.A.
Poe literarisch formuliert, modifiziert und eine Vielzahl von Zeitungsfilmen auf
den Markt kommt./68/
Die Hektik der modernen Massenmedien wird im populären Genrefilm dramaturgisch genutzt (Ernst Laemmle DER TEUFELSREPORTER, Universal
Pictures Corp. GmbH Berlin, Premiere: 19.7.29 Hamburg; die Paramount-Produktion DAS MÄDEL MIT DER KAMERA, Regie: Clarence Badger/69/; dieser Tonfilm wurde von der Parufamet in Deutschland eingesetzt als der Patentstreit die Aufführung des Tonfilms SINGING FOOL vorerst verhinderte).
Wenn auch Martin Lampels Zeitstück GIFTGAS als Film am 13.11.29 Premiere hat, so ist nicht zu übersehen, dass in diesem Jahr ausländische Großproduktionen wie VERDUN. DAS HELDENTUM ZWEIER VÖLKER von Léon
Poirier (deutsche Uraufführung am 13.6.29 im Verleih der Terra United Artist/
70/), WINGS von William Wellman (deutsche Uraufführung des ParamountTonfilms 7.1.29 im UFA-Palast am Zoo Berlin) und NOAHS ARCHE von Warner Bros. in der Regie des von der UFA kommenden Michael Curtiz (Londoner
Uraufführung März 1929) vorrangig pazifistische Epen für die deutschen Kinos
lieferten. Letzterer Film wurde als ein „Hohes Lied für Deutschland“ mit seinen
Parallelen von Weltkrieg und Sintflut und dem Thema der Völkerverständigung
bezeichnet:
„Seit Versailles ist in der Menschheit nicht eindringlicher von Versöhnung,
Liebe und Begraben des Hasses gesprochen worden ... Hochinteressant als
Tonfilm mit Liedern, gelegentlich Dialog-Partien, Geräuscheffekten usw. Unter den Liedern befindet sich ein deutsches: zum ersten Male wurden deutsche Worte in einem für die ganze Welt bestimmten Film gesprochen. Auch die
Sprechstellen sind mit einer leisen Musik untermalt. Hinreißend sind die zahl67
losen Massenszenen, die bald in der Urzeit, bald in der Gegenwart spielen.“/71/
Erst im Gefolge setzen dann deutsche Produktionen von 1930/31 die Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg fort (z.B. die an G.W. Pabst vergebene NEROFILM-Produktion von WESTFRONT 1918 nach dem Roman von Ernst Johannsen, der bis 1929 in 40 deutschen Zeitungen und als Buch beim Fackelreiter
Verlag Hamburg herausgekommen war).
Die massenkulturelle Präsenz populärer Genres und von historisierend-moralisierenden Unterhaltungsfilmen erklärt, warum die sowjetischen Revolutionsfilme (Wsewolod Pudowkin STURM ÜBER ASIEN, Berliner Premiere: 6.1.29 /
Grigori Kosinzew, Leonid Trauberg DAS NEUE BABYLON, Berliner Premiere: 13.8.1929 / Sergeij M. Eisenstein DIE GENERALLINIE, Berliner inoffizielle Vorführung 17.11.29) und die drei proletarisch-revolutionären Spielfilme des
Jahres (Werner Hochbaum BRÜDER, Premiere: 28.4.29, Hamburg; Piel Jutzi
HUNGER IN WALDENBURG, Premiere Berlin 15.3.29 und MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK, Premiere Berlin 30.12.29) ihre massenkulturelle
Wirksamkeit nur dank einer politisierten Kinoöffentlichkeit proletarischer Klassenorganisationen mit eigenen Verleihfirmen (1928/29 werden die erfolgreichsten Jahre der PROMETHEUS GmbH) entfalten konnten.
(9) Von der Werkbeschreibung zur massenkulturellen
Typologie. - Kommunikationsgeschichtsschreibung und
ihre Möglichkeiten
Wenn man sich nicht in der faktischen Darstellung erschöpfen will, dann entstehen forschungsmethodische Fragen in Bezug auf die möglichen Gruppierungen der Werke. Für den kommunikationsgeschichtlichen Ansatz, d.h. für die Erforschung des historischen Wandels der massenkulturellen Kommunikation werden zwei methodologische Konzepte verfolgt:
a) das rollentheoretische, wobei von den sozialwissenschaftlichen, kulturgeschichtlichen und theaterhistorischen Anwendungen die Vermittlungen zur
Kommunikationsgeschichte der AV-Medien und zur Geschichte darstellerischer Präsentationsweisen aufgenommen werden/72/;
b) die Topoi-Methode zur kultur- und ideologiekritischen Untersuchung von
Sujet-, thematischen und kompositorischen Motiven der Spiel- und Dokumentarfilme/73/.
Der übergreifende Gesichtspunkt ist der, dass die Medienprodukte in der massenkulturellen Kommunikation Diskurse vermitteln, die wesentlich bestimmt
werden von der darstellerischen Präsentation von Funktionsrollen der Interaktion, die als konventionelle Standards der Konfliktbewältigung in der Massen68
kommunikation angenommen werden. Die am Markt und am Profit oder/und an
der Machtrepräsentation des Staates (z.B. Faschismus, Stalinismus, nationalistischer Chauvinismus verschiedener Staatssysteme) ausgerichteten Produktionen
der auf Massenabsatz und serielle Produkte (meist sind dies die populären Genres) angewiesenen Filmindustrie spiegeln in den darstellerischen Präsentationen
und Interaktionsweisen Herrschaftsverhältnisse, in denen Bedürfnisse, Wünsche
und Vorstellungen der Massen mittels unterhaltsamer Spiel- und „Sprach“-Regeln konventionell legitimiert und neutralisiert werden. Die durch die Sozialisationszwänge der Arbeits- und Lebensbedingungen der Massen unterdrückten
Affekte und Triebpotentiale werden im Konsumversprechen der Herrschaftsdiskurse der massenkulturellen AV-Medienkommunikation kompensierbar. Figuren (verkörpert durch Stars) und Stories, Bild- und Tonmontagen konstruieren
eine „andere“, eine neue, eine fiktive Realität des Eigenen und des Fremden in
der massenkulturellen AV-Medienkommunikation. Insbesondere die populären
Filmgenres der Filmindustrie folgen Strategien, die intrapsychische Konflikte
abwehren helfen, indem sie ideologisch-kulturelle Spielregeln - gestützt durch
serielle Standards des Story-Baus, der Kameraeinstellungen, der Figurenkonstellationen, der habituellen Typisierung (Körpermoden, Physiognomien, Gangarten, Sprechweisen u.a.) - für die Konfliktlösung anbieten.
„...jede Kultur bietet ein Präferenzsystem für Abwehrmittel, die selbst bei extremen Störungen...eine oberflächliche Normalisierung, d.h. eine konventionell
anerkannte Restruktuierung des inneren Konflikts erlauben“, schreibt Jürgen
Habermas/74/ und wenn er auch nicht die massenkulturelle AV-Medienkommunikation in diesem Zusammenhang untersucht, so ist doch seine These von der
kulturellen Normalisierung der soziokulturellen Störungen für die kulturfunktionale Untersuchung der Rollendefinitionen und konventionellen Standardbildungen, wie sie in der Filmgeschichte an populären Stars und Genre-StoryTypologien verfolgbar sind, bedenkenswert.
Die Untersuchung von Werkreihen nach der Topoi-Methode ermöglicht
darüber hinaus, die kommunikationsgeschichtlich interessanten sozialpsychologischen und ästhetischen Phänomene der massenkulturellen Ideologisierung zu
analysieren. Als mögliche Kategorien der Motivsammlung sind beispielsweise
denkbar:
(a) Treue und Gehorsam,
(b) Luxus und Elend (auch als Differenzierungskriterium für das Motiv der Straße in der deutschen Filmgeschichte der 20er Jahre),
(c) Nähe und Ferne (als eine Möglichkeit, um von den Kleinbürger-Melodramen
über die deutschen Heimat- und Bergfilme bis zu den 1929 sehr populären
Expeditionsfilmen - sowohl als abendfüllenden Dokumentarfilmen als auch
als Spielfilmen -, von den Polar- und Afrikafilmen bis zu FRAU IM MOND
von Fritz Lang - mit der ideologiekritischen Methode operieren zu können).
69
In der Filmgeschichtsschreibung hat die Gegenüberstellung von proletarischrevolutionärer Filmkultur und bürgerlicher Filmkultur in der Weimarer Republik dazu beigetragen, alternative Ansätze zur kommerzialisierten AV-Medienkultur zu präzisieren. Aber warum das klasseninterne Kulturkonzept der kommunistischen Arbeiterbewegung, das die soziale Ungleichheit betonte, der Akzeptanz der Gleichheitsdiskurse der „Angestelltenkultur“ durch die Masse der
Arbeiter, wie sie von den populären deutschen und amerikanischen Genrefilmen
und den Radiomusikprogrammen ermöglicht wurden, nur ganz begrenzte alternative kinematographische Entwicklungen entgegen zu setzen vermochten, ist
beispielsweise vor 1989 in der DDR-Forschung/75/ kaum durch weiterführende
Analysen von Herrschaftsdiskursen im Zuge der Marktwirtschaft der Weimarer
Republik diskutiert worden. Wie überhaupt die Frage nach Herrschaftsdiskursen
im Zuge des Marktes in parlamentarischen Demokratien zu einer Vielzahl von
offenen Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen demokratisch-öffentlicher
Funktionen von AV-Medienprodukten in Geschichte und Gegenwart Anlass gibt.
(10) Herrschaftsdiskurs statt Emanzipationskämpfe?
Frauen und Jugendliche waren tragende Gruppen des Kinopublikums in der
zweiten Hälfte der zwanziger Jahre der Weimarer Republik. Bei der Eröffnung
des Stuttgarter Kongresses der Lichtspieltheaterbesitzer (20.8.1929) wurde dies
bekräftigt./76/ Diese Publikumsgruppen ergaben in der Zensur-Debatte 1929
auch die entscheidenden Streitpunkte. Das kommt in dem Streit über die Herabsetzung der Zulässigkeit von 18 auf 16 Jahre bei Jugendlichen ebenso zum Ausdruck wie in der Kampfansage an Theater und Kino als Stätten des Sittenverfalls
durch den Deutschen Frauenkampfbund zum Ausdruck:
„Kino und Theater, Vergnügungsfeste und Bälle, Tagespresse und Literatur,
Zeitungsverkaufsstände, Buch- und Papierläden, Flugschriften und Plakate
werden von bestimmten Personen aus den Gemeindevereinen oder Kirchenvorständen unter Bildung von Arbeitsausschüssen beobachtet. Gegen jede bemerkte Unsittlichkeit wird schriftlich oder mündlich protestiert, und es werden die zuständigen Behörden um Hilfe dagegen aufgerufen.“/77/
In der deutschen Filmgeschichte der 20er Jahre ist der Wandel der Rollendefinitionen von Frauen in den Stories ein Indikator sozialer Veränderungen in den
Arbeits- und Lebensbedingungen der Frauen. Während bis 1924/25 (deutscher
Filmexpressionismus und die naturalistischen Sitten- und Melodramen) Dienstmädchen und Hausangestellte oder die Frauen als mithelfende Familienangehörige (Laden, Bahnstation, Hof, Werkstatt u.a.) in Schlüsselfilmen exponiert werden, werden nach 1925 auch von der Filmindustrie und vom Markt verschiedene
konventionelle Standards eines neuen Frauenbildes in den populären Genres
70
entwickelt. Mit ihnen wird auf den Wandel sozio-kultureller Identität des Kinopublikums eingegangen. Detlev J. Peukert nennt für die Zeit zwischen 1907 und
1925 folgende Umschichtungen in der Bevölkerungsstruktur:
a) Rückgang des Anteils der Dienstmädchen und Hausangestellten von 16,1%
auf 11,4% an der Zahl der weiblichen Erwerbspersonen,
b) Rückgang der landwirtschaftlichen Arbeiterinnen von 14,5% auf 9,2%, c)
Anstieg der industriellen Arbeiterinnen von 18,3% auf 23%,
c) Anstieg der Angestellten und Beamtinnen von 6,5% auf 12,6% ./78/
Weitgehend bleibt in den populären Genres - so unsere Hypothese - ausgeklammert, dass in der Öffentlichkeit das Leitbild der „neuen Frau“ mit Bezug
auf die Übernahme von männertypischen Berufen (Industrie und Verkehr) und
von Berufen des Bildungs- und Sozialwesen, der Volkswohlfahrt artikuliert wurde. Die Story-Erzählungen und Rollendefinitionen des populären Kinofilms vermarkten die mit der Entwicklung der Nachrichten- und Schreibtechnik in den
Bereichen der Post und der Industrie vonstatten gegangenen Wandlungen sozialer Rollen ebenso wie das neue soziokulturelle Prestige der Waren- und Kreditwarenhäuser/79/, indem sie den sozialen Typ der jungen und ledigen Sekretärin
und der Ladenmädels verbinden mit den Idolbildungen der amerikanisierten
Massenkultur. Die Flappers mit ihren Berufen wie Kellnerin, Schwimmlehrerin,
Taxifahrerin u.a. prägten neue Rollenbilder (die „schnellen Frauen“ mit den Attributen Motorrad, Auto, Flugzeug, die Typen neuer Körpermoden, das Durchbrechen des Idols vom Revuegirl durch das des Filmstars und der leistungsorientierten „sportlichen Frauen“ - letztgenanntes mehr vermittelt über Wochenschau,
Magazine wie SPORT, MODE UND LEBEN, FRAU UND GEGENWART u.a.aber auch die Frau als die den Berufskollegen besiegende Wochenschaureporterin in amerikanischen Komödien - wie z.B. im Paramount-Film DAS MÄDEL
MIT DER KAMERA, Regie: Clarence Badger). Parallel dazu wird - hypothetisch formuliert - im Widerstreit von Melodramen und Lustspielen, von Sittendramen und Verwandlungskomödien, von Berg-, Heimat- und Straßenfilmen das
kulturelle Konfliktfeld zwischen der traditionellen Rollenverteilung in der Familie und deren Auflösung im Zuge sozialer, politischer und kultureller Umschichtungen und wirtschaftlicher Notlagen (insbesondere auch der Erwerbslosigkeit und der Kriminalität von Jugendlichen, aber auch der Rebellion Jugendlicher gegen autoritäre Instanzen der Gesellschaft/80/) verhandelt.
Hypothetisch ließe sich für weiterführende Forschungen formulieren: Die
deutsche Filmindustrie, der Markt und die Kinos reagierten mit Stories und Darstellern auf den Wandel der Jugendkultur in folgenden Richtungen:
(1) Kritik an Instanzen der Gesellschaft (Erziehung, Polizei, Gesetzgebung),
(2) Erwerbslose,
(3) Subkulturen der Großstadtjugend (die „wilden Cliquen“),
(4) Wander- und Bergsteigerromantik.
71
Es polarisierten sich erneut 1929 die Story- und Startypen, die den berufs- und
konsumorientierten Aufstieg der kleinen Angestellten in Kinomythen kreierten.
Als typische deutsch-kitschig-sentimentale Beispiele für dieses Rollenbild der
erfolgreichen berufs-, konsum- und eheorientierten Verkäuferin/Sekretärin seien vom April 1929 angeführt:
® DIE FRAU, DIE JEDER LIEBT, BIST DU (Regie: Carl Froelich/ Darsteller:
Henny Porten, Premiere: 3.4.29 Titania-Palast Berlin). Story: „Eine Verkäuferin in einem Musikaliengeschäft wird im Handumdrehen Varietéstar. Vom
Laden weg springt sie auf die Bühne und singt einen Schlager, der Publikum
und Öffentlichkeit hinreißt. Der ewig Unzufriedene ist ihr Bräutigam, beschäftigungsloser Architekt und im ewigen Kampf mit dem Gerichtsvollzieher. Der will nicht, dass seine Frau unter die Leute geht. Sie tut es, wie gesagt
in aller Heimlichkeit, und mit Hilfe eines Verwandlungskünstlers bekehrt sie
den Bräutigam.“/81/
® WAS EINE FRAU IM FRÜHLING TRÄUMT (Regie: Kurt Blachnitzky /
Drehbuch: Hans Vietzke) Story: Die Träume einer Sekretärin scheinen sich
zu erfüllen, als sie 1.000 Mark und eine Reise an die Riviera gewinnt. Sie
tritt die Reise mit Max an, verliebt sich aber im Zug in den Filmschauspieler
Peter Alsen. In Nizza verwandelt sie sich in die Komtesse von Waldeck. Der
Filmschauspieler verlässt sie und sie wird der Hochstapelei beschuldigt. In
Berlin verliert sie ihre Sekretärinnenstelle. Aber alles wendet sich zum happy end: der Direktor einer Fantasy Film GmbH macht sie zum Filmstar und
sie heiratet ihren Max./82/
Als konservative Gegentendenz setzte eine Neubesinnung auf den Status der
Mutter, der „Hohen Frau“ ein/83/. Letztgenanntes wird bereits Anfang des Jahres von der Kulturreaktion mit ihrem Angriff auf die Berliner Theater und Kinos
als Stätten des sittlichen Verfalls deutscher Kultur vorbereitet. So brachten
Deutschnationale Partei, Zentrum, Deutsche Volkspartei, Wirtschaftspartei einen Antrag im Preußischen Parlament auf eine verschärfte Zensur mit dem Anwurf der „immer hemmungsloseren, oft geistlose(n) Darstellung des Nackten,
Verächtlichmachung von Ehe, Familie, Mutterschaft, Verletzung religiöser Empfindungen und Anschauung weiter Volkskreise“/84/ ein. In LBB Nr. 58 vom
9.3.29 meldete die Redaktion Protest gegen Abituraufsatzthemen katholischer
Bildungseinrichtungen in Bayern an, mit denen nach den praktischen Folgen der
Erbsünde „im besonderen für unsere Anschauungen über Kleidermode, Tanzsitte, Kinobesuch, Verkehr mit Personen anderen Geschlechts“ junge Mädchen
gefragt wurden./85/
Allerdings wirkte auch 1929 jene für die deutsche Filmgeschichte der 20er
Jahre charakteristische Tendenz der Straßenfilme fort, mit der die Anklage des
sozialen Elends der Prostituierten oftmals verbunden wurde mit einer Verwertung des sozialen Elends durch die Ware Kinofilm (es sind 1929 vor allen Din72
gen zwei Produktionen der Prometheus GmbH, die das Straßenmotiv und die
Rollendefinitionen gegen die konventionellen Standards einsetzen: JENSEITS
DER STRASSE [Regie: Leo Mittler] und Piel Jutzis MUTTER KRAUSENS
FAHRT INS GLÜCK ; wenn auch in beiden Filmen der Appell an das Publikums ergeht, soziales Elend „mitzuempfinden“ und dagegen anzugehen, so wurde mit der Straßendemonstrationsszene des Piel-Jutzi-Films zugleich im Sinne
der „Tendenzkunst“ ein Emanzipationsdiskurs gegen Herrschaftsdiskurse eröffnet). Anfang 1929 wurde in einer Bilanz formuliert:
„Das Jahr 1927 wird in der Geschichte des Filmverleihs als das Krisenjahr
bezeichnet ... Auch das Jahr 1928 hat uns getäuscht ... Die Lösung des Jahres
heißt daher: Vor allem Regulierung des Marktes ...“/86/
Im Verlaufe des Jahres 1929 setzt in Deutschland der Wandel zu einer AVMedienkommunikation ein, der von mehreren AV-Medien (Radio, Kinematographie, Schallplatte) in zunehmender Verflechtung getragen wird. Diese multimediale Evolution trifft sich mit massenkulturellen Umschichtungen, wobei aus
heutiger Sicht die verschiedenen Auseinandersetzungen um die Marktregulierungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten vielleicht zeitgeschichtlich bedeutsamer sind als manche Legende von proletarisch-revolutionären Werkaufführungen - so wichtig diese unter den gegebenen Verhältnissen auch waren. Denn
mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise nach dem Oktober 1929 zeigte sich,
dass der nicht aufzuhaltende technische Fortschritt - die Einführung des Tonfilms - in der nun zunehmend instabil werdenden Demokratie mit dem raschen
Anwachsen von Massenarbeitslosigkeit und sozialem Elend leicht zu vereinnahmen war von der Heil versprechenden nationalsozialistischen Diktatur und ihren
gemeinschaftlich-monumentalen und privat-trivialen Herrschaftsästhetiken.
(1990)
Anmerkungen
1
2
3
Vgl. meine Definition FILM. Mediengeschichte der Kinematographie. In: Lexikon
der Kunst. Bd.2, Leipzig 1989, S. 508-102; Knut Hickethier(Hg.): Filmgeschichte
schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Dokumentation der Tagung der GFF
1988, SCHRIFTEN DER GESELLSCHAFT FÜR FILM-UND FERNSEHWISSENSCHAFT 2, Berlin(W) 1989, S. 7-22; vgl. auch: Lutz Haucke: Von der Kunstwissenschaft zur Medienwissenschaft - ein Konzept in Thesen. In: Beiträge zur Film- und
Fernsehwissenschaft, SCHRIFTENREIHE der HFF „Konrad Wolf“ Nr. 31, 1988,
S. 195-201
Dieter Prokop: Faszination und Langeweile. Die populären Medien. Stuttgart 1979
Wenn es auch allgemein bekannt ist, dass ein Konzept der Gattungsspezifik in der
73
Geschichtsschreibung wenig ergiebig ist, so muss aufgrund der Wissenschaftsentwicklung in der DDR darauf hingewiesen werden, dass das gattungstypologische
Konzept der Theorie der darstellenden Künste, das in den 70er und frühen 80er Jahren von Prof. Dr. Ernst Schumacher am Institut für Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität vertreten wurde, von mir durch eine strikte Wendung zur historischen Materialerschließung und zur AV- Medienkommunikation verlassen wurde.
4 Dieter Prokop: Faszination und Langeweile..., S. 9
5 Vgl. Dieter Prokop: Soziologie des Films. Darmstadt/Neuwied 1970; Karl Prümm:
Historiographie einer Epochenschwelle: Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm in
Deutschland (1928-1932). In: K.Hickethier(Hrsg.): Filmgeschichte schreiben..., S. 93102. Vgl. aber die Forschungsergebnisse von Wolfgang Mühl-Benninghaus, der durch
archivorientierte Forschungen in den 90er Jahren mediengeschichtliches Neuland
zum Thema „Tonfilmumstellung in Deutschland“ erfolgreich erschlossen hat.
6 Rainer Berg: Zur Geschichte der realistischen Stummfilmkunst in Deutschland –
1919 bis 1929. Ein Beitrag zur historischen und systematischen Filmforschung unter
besonderer Berücksichtigung von Problemen der öffentlichen Meinung. Freie Universität Berlin, FB Kommunikationswissenschaften, Dissertation 1982
7 Die Vertreter des Auslandes sprechen..., in: LBB 1/29, 2.1.29, S. 3
8 „Der erste Geräuschfilm im deutschen Kino. Die Premiere des Flieger-Großfilm
WINGS“. In: Beilage FILM UND TON 2/29, 12.1.29, in: LBB 10/29, 12.1.29, S. 27
9 Vgl. die Rezension in: LBB 18.1.29, S. 2; vgl. auch die Meldung „Die Arbeit der
Klangfilm AG“. In: LBB 11/29, 14.1.29, S. 2 über die Vorführung des Films KÖNIG
DER KÖNIGE der KLANGFILM AG vor internationalem Fachpublikum sowie die
Ankündigungen der KLANGFILM AG über Tonfilmvorführungen während der Leipziger Messe im Kino Astoria in der Zeit vom 1.-7.3. und 8.-15.3.29 in: LBB 46/29,
23.2.29. In Beilage FILM UND TON Nr. 8/29, S. 1. Am 13.3.29 wird das TOBISKLANGFILM-KARTELL gegründet. Damit geht die TOBIS AG und der Verbund
der am 8.10.1928 von der AEG (45% Anteil), Siemens& Halske (45% Anteil) und
der Schallplattenfirma Polyphonwerke AG (10% Anteil) gebildeten KLANG-FILM
GmbH zusammen. Die TOBIS war am 30.8.29 finanziert worden von der Küchenmeister-Gruppe (36%), der Schweizer Finanzgruppe IKLE (26%), einem Deutschen
Bankkonsortium unter der Führung der Commerz- und Privatbank u.a.
10 „Tobis startet Mitte Januar“. In: LBB Nr. 4/29, 5.1.29, S. 15. Der Ruttmann-Film,
von dem zwischen 1929 und 1930 drei Versionen entstanden, wurde am 12.3.1929 in
den Terralichtspielen/Mozartsaal (Berlin) uraufgeführt.
11 „Kritische Bemerkungen des Technikers“. In: „Filmbesprechung“. In: LBB Nr. 234/
29, 1.10.29, S. 2
12 „Filmbesprechung“. In: LBB Nr. 236, 3.10.29, S. 2; es folgten bis Dezember sechs
weitere abendfüllende deutschsprachige Tonfilmpremieren, vgl. Ulrich J. Klaus:
Deutsche Tonfilme 1929/30. Bd.1, Berlin-Berchtesgaden 1988, S. 206. Vgl. auch:
Dr. Alfred Bauer: Deutscher Spielfilm-Almanach 1929-1950. Berlin 1950, S. XXVIXXVIII, S. 1-6, wo von 14 deutschen Tonfilmen des Jahrgangs 1929 die Rede ist.
74
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17
18
Bauer nennt u.a. folgende: 17.1.29: ICH KÜSSE IHRE HAND, MADAM und 2
Tonkurzfilme im Vorprogramm: 1. der Tanzorchesterfilm RAMONA und 2. DAS
LETZTE LIED, der erste in deutschen amtlichen Zensurlisten geführte „Tonfilm“;
2.3.29: MELODIE DER WELT (Walter Ruttmann), der erste abendfüllende deutsche Tonfilm ; 30.9.: LAND OHNE FRAUEN (Stummfilm und O-Ton-Sequenzen);
28.10.29: ATLANTIK (E.A. Dupont), deutschsprachige Version einer in England
hergestellten Produktion, erstmals die Stimmen von Fritz Kortner, Lucie Mannheim,
Willi Forst, Franz Lederer), 30.11.29: DICH HAB ICH GELIEBT, der erste
100%Spieltonfilm, der in Deutschland hergestellt worden war (am 21.11.29 KÖNIGSLOGE, die erste deutschsprachige Version amerikanischer Produktion mit Camilla Horn, Alexander Moissi u.a.); die UFA startete im Dezember mit: 16.12.: MELODIE DES HERZENS, erster UFA-Tonspielfilm und 23.12.: DIE NACHT GEHÖRT UNS.
Angemerkt sei, dass die Neue Musikwoche München im Oktober 1929 die Tonfilme
der Festspiele von Baden-Baden aufführte (Hans Richter/Paul Hindemith VORMITTAGSSPUK u.a.) vgl. „Avantgarde-Tonfilme in München“. In: LBB 244/29, 12.10.29,
Beilage FILM UND TON Nr. 41, 12.10.29
Vgl.: „Die europäische Tonfilm-Allianz“ (und den Leitartikel: „Völliger Sieg des
Tonfilms in Amerika“ von Jack Alicoate). In: LBB Nr. 102/29, 30.4.29, S. 1
Im Gefolge der Entscheidung für die „Tonfilm-Aufrüstung Deutschlands“ nach dem
Stuttgarter Kongress der Lichtspieltheaterbesitzer (20./ 21.8.29) kommt es im Herbst
zu einer Konsensfindung zwischen Western Electric, der Radio Co. Of America und
von AEG und Siemens, die aber erst 1930 endgültig ausformuliert wird (vgl.: „Weltring der Tonfilmindustrie. New Yorker Verhandlungen abgeschlossen“. In: LBB
Nr. 177/29, 26.7.29, S. 1)
„Die ‚größere Industrie’. Die amerikanische Riesenkombination für Schallplatte und
Radio. New Yorker Börsenpanik und Tonfilm“. In: LBB 260/29 , 31.10.29, S. 1
LBB Nr. 234/29, 1.10.29, S. 1 meldet den DERUSSIA-Konkurs in Höhe von 3,7
Millionen RM Schulden und die LBB Nr. 235/29, 2.10.29, S. 1 die Eröffnung des
Konkursverfahrens durch die Gläubigerversammlung. Der Besuch einer Delegation
von SOWKINO im März 1929 hatte Kontingenterleichterungen verfolgt und auf das
Jahresproduktionsprogramm in der SU von 120-130 Produktionen verwiesen vgl.
„Sowkino wünscht Kontingent-Erleichterungen“. In: LBB Nr. 63/29, 15.3.29, S. 2
„Weltfilm-Weltgeschichte. Gedanken und Erinnerungen vor der Leinwand“. In: LBB
Nr. 10/29, 12.1.29, S. 10. Diese Wertung der drei „Weltfilme“ an der Schwelle des
Jahres 1929 kann auch im Zusammenhang mit der öffentlichen Wirkung der Außenpolitik Stresemanns gelesen werden: nach innen Stärkung eines Nationalbewusstseins, das auf Wiederherstellung der nationalen Großmachtstellung des Reiches zielte, und nach außen weltwirtschaftliche und weltpolitische Offenheit. 1929 wurde
auch zum letzten Jahr der auf Verständigung und Revision der Deutschland belastenden außenpolitischen Ergebnisse des 1.Weltkrieges zielenden Politik Stresemanns,
die durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise und seinen Tod im Oktober 1929 eine
75
allmähliche Wende zur Konfrontations- und Großraumpolitik erlitt.
19 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Nachwort(1936). In: W. Benjamin: Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920-1940. Leipzig 1984, S. 433-35
20 Zwischen Ende April und Oktober 1929 entsteht die Studie DIE ANGESTELLTEN,
die in 12 Folgen zwischen 8.12.29 und 8.1.29 in der Frankfurter Zeitung erscheint.
In Bezug auf die Aufgaben des Filmkritikers betont Kracauer 1932, dass er „nur als
Gesellschaftskritiker denkbar“ sei. „Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese
Enthüllungen den Einfluss der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.“
Über die Aufgaben des Filmkritikers. In: Siegfried Kracauer KINO. Essays, Studien,
Glossen zum Film. Hrsg. von Karsten Witte, Ffm 1974, S. 11
21 Béla Balázs: Der Film des Kleinbürgers. In: DIE WELTBÜHNE(Berlin), Nr. 33,
12.8.1930, S. 232-236
22 „Amerikas Filmeinfuhr. Deutschland importierte 83 Filme nach Amerika“. In: LBB
Nr. 3/29, 4.1.29, S. 3
23 „Der französische Filmmarkt 1928“. In: LBB Nr. 6/29, 8.1.29, S. 3
24 „Beginn der Kontingent-Debatte. Berlin verlangt Einfuhrverdopplung“. In: LBB 305/
29, 23.12.29, S. 1; beachte in diesem Zusammenhang, dass Frankreich mit Amerika
einen Kontingentfrieden im September mit einer Einfuhrquote von 7:1 für die Dauer
bis Oktober 1930 ausgehandelt hatte. Vgl. „Kontingent-Friede Frankreich-Amerika“. In: LBB Nr. 225/29, 20.9.29, S. 1
25 „Die abwartende Haltung der Produzenten drückte sich im Rückgang der erzeugten
Filme aus. Während im Jahre 1928 im ersten Vierteljahr 70 lange deutsche Spielfilme zur Zensur gelangten, betrug die Zahl in der Zeit vom 1.Januar 1929 bis 31. März
1929 nur 42 Filme.“ „Tonfilmkrise verschlechtert die Lage. Bericht der Berliner
Handelskammer“. In: LBB 114/29, 14.5.29, S. 3
26 „Wirtschaftsspiegel des Films. Filmkonsum in Deutschland“. In: LBB 268/29, 9.11.29,
S. 10
27 „Mussolini über Amerika und Europa. Europa muß den Konsum an Filmen beschränken und diese nach Möglichkeit in der Heimat herstellen“. In: LBB 182/29, 1.8.29, S. 1
28 „Scheers offener Brief“. In: LBB Nr. 106/29, 6.5.29, S. 9
29 Vgl. LBB Nr. 306/29, 24.12.29, S. 1
30 Wilhelm Siegfried(Wirtschaftspartei): „Die Lustbarkeitssteuer der größte Feind der
Kultur“, Reichstagsrede. In: LBB Nr. 144/29, 18.6.1929, S. 4
31 Finanz- und Steuerdeputation in Berlin beschließt Relativierung der Vergnügungssteuer bei Besucherrückgang, vgl. „Der Beschluss der Finanz-Deputation“. In: LBB
Nr. 142/29, 15.6.29, S. 9
32 „Am 17.November: Verhindert Kommunalwahlen in Preußen“. In: LBB Nr. 174/29,
23.7.29, S. 1
33 Vgl. „Reichsverband und Tonfilm. Gegen hohe Apparatepreise“. In: LBB 155/29,
1.7.29, S. 4
76
34 Ebd.
35 Vgl. „Ufa fordert 45%. Notschreie aus dem ganzen Reich“. In: LBB Nr. 214/29, 7.9.
1929, S. 5 f. ; zur Ausrüstung der Kinos mit Tontechnik, vgl. „Ziffern vom TonfilmMarkt“. In: LBB 254/29, 24.10.29, S. 2
36 Vgl. „Film-Deflation…? Ein Ausblick auf die neue Saison“. In: LBB Nr. 142/29,
15.6.29, S. 7
37 Vgl. LBB Nr. 293/29, 9.12.29; S. 1; LBB Nr. 294/29, 10.12.29, S. 1
38 Vgl. „Emelka Theater AG. Das Ende der Firma Phoebus“. In: LBB Nr. 187/29, 7.8.29,
S. 1
39 Vgl. „Festigung der deutschen Tonfilm-Situation“. In: LBB Nr. 188/29, 8.8.29, S. 1
40 Vgl. „Nach der Emelka-Transaktion: Neue Gruppierungen...?“. In: LBB Nr. 244/29,
12.10.29, S. 5/6
41 Vgl. „Das neue Fox-Programm. 5 deutsche Filme -15 Amerikaner - 5 Sprechgroßfilme“. In: LBB Nr. 186/29, 6.8.29, S. 2
42 Vgl. „Konvention der Deutschen Universal“. In: LBB 155/29, 1.7.29, S. 4; „Deutschsprachige Ton-Großfilme im Universal-Programm 1929/30. 30 Filme der Deutschen
Universal“. In: LBB 180/29, 30.7.29, S. 2
43 „Ein großes Tonfilm-Programm für den deutschen Markt“. In: LBB Nr. 248/29,
17.10.1929, S. 1
44 Vgl. hierzu: Film und Funk in ihrer Bedeutung für die Arbeiterschaft von Heinrich
Schulz: „ ...die heute gültige Monatsgebühr ist für Arbeiter zu hoch; die Empfangseinrichtungen sind viel zu teuer und müssen durch Vereinfachung und Massenherstellung verbilligt werden; die Programme müssen den Lebensverhältnissen der arbeitenden Massen Rechnung tragen...“ in: FILM UND FUNK. Sozialistischer Kulturtag in Frankfurt/Main 28./29.9.29. Berlin 1930, S. 13. Beachte aber die in der
RUNDFUNK-RUNDSCHAU veröffentlichten Zahlen: Nr. 3, 20.1.1929, S. 48 benennt
2 635 567 Rundfunkteilnehmer im Deutschen Reich und Nr. 7, 17.2.29, S. 152 gibt
folgende Zusammensetzung der Rundfunkteilnehmer in der Weimarer Republik bekannt: 28,4% selbst. Erwerbstätige, 17,2% Beamte, 20,5% Angestellte, 25,0% Arbeiter,8,9% ohne Beruf (Schüler, Studenten u.a.)
45 Allerdings belegen neuere Forschungen zur Kinogeschichte, dass die nach Wohnvierteln unterscheidbaren Dominanzen von sozialen Gruppen (Beamtenwohnviertel/
Proletarierviertel) 1929/30 in Berlin zu entgegengesetzten demonstrativen Publikumsreaktionen beispielsweise bei den Friedricus-Rex- Filmen und den Remarque-Verfilmungen führten .Vgl. hierzu: Heidi Draheim: Kleine Kinowelt Neukölln. In: Nahaufnahme Neukölln. Katalog der Ausstellung des Emil-Fischer-Museums. Berlin 1989,
S. 41 f. Eine für das „Scheunenviertel“ in Berlin am Alexanderplatz charakteristische Zusammensetzung des Publikums von Otto Pritzkow in der Münzstraße verdeutlicht, wie die Stadtlage die Zusammensetzung und die Motive des Kinopublikums bestimmten vgl. „Otto Pritzkow erzählt: 30 Jahre Berliner Lichtspiel Theaterbesitzer“. In: LBB Nr. 176/29, 25.7.29, S. 4. Im Kampf gegen die zu hohe Vergnügungssteuer bringt die LBB die Argumentation eines Kino-Kassierers auf, wonach
77
das Kino der Trost der Arbeitslosen sei vgl. „Die ‘ethische’ Vergnügungssteuer. Der
Kino-Kassierer gegen den Oberbürgermeister“. In: LBB 26/29, 31.1.29, S. 1. In den
1929 bei S. Fischer erschienenen Gesammelten Schriften WIRTSCHAFT, STAAT
UND GESELLSCHAFT von Walther Rathenau wurde generell auf die Folgen der
Massenproduktion im Zeitalter des Fordismus bzw. Taylorismus der Mechanisierung der industriellen Arbeiter für die Funktionen des Kinos hingewiesen: „ ...nicht
die ablenkungsbedürftige Entspannung nach geistiger Leistung, sondern die leere,
ausgepumpte Stumpfheit, die dem Ekel eines Missbrauchs gleichkommt. Es ist seichtes
Teestubengewäsch, hier gute Musik, erbauliche und belehrende Vorträge, einen fröhlichen Spaziergang in Gottes freier Natur, ein lauschiges Lesestündchen bei der Lampe
und dergleichen mehr zu empfehlen. Schnaps, Karten, Agitation, Kino und Ausschweifungen können die misshandelten Muskeln und Nerven noch einmal aufpeitschen,
bis der nächste Tag sie von neuem zermürbt.“ W. Rathenau: Wirtschaft, Staat und
Gesellschaft, Berlin 1929. S. 425
46 Vgl. „Berliner Kino-Tournee“. In: BÜHNENSCHAU Nr. 5, Beiblatt der LBB 40/29,
16.2.29. „Die Bühnenschau im modernen Groß-Kino ist zu einem nicht zu unterschätzenden Faktor des Gesamtprogramms geworden. Die Tatsache, dass von den
ca.100 Filmen, die bei zweimalig wöchentlichem Programmwechsel notwendig sind,
im Höchstfall 15 bis 20 wirkliche Spitzenfilme sind, der übrige Rest sich aber aus
Mittelfilmen und dem Publikum nicht voll zusagenden Bildern zusammensetzt, zwingt
den umsichtigen Theaterleiter, seinem Programm durch besonders geschmackvoll
zusammengestellte Bühnenschauen eine neue Anziehungskraft zu geben.“ Arthur
Rupp: „Die Bühnenschau im Kino“. In: BÜHNENSCHAU Nr. 6, 23.2.29. In: LBB
46/1929
47 Z.B. die von der Piscatorbühne sich entwickelnden jungen Schauspielergruppen, beachte auch: 10.9.29 Beginn der Piscator-Schule (mit Tonfilmkurs), in: LBB Nr. 205/
29, 28.8.29, S. 4
48 Beachte die Konzentration von UFA und Zeitungsverlagen (z.B. durch den Aufkauf
der ALEA 1928) des Hugenberg-Konzerns oder F.E. Bettauer verwies auf die Existenz von 75 Rundfunkblättern im Deutschen Reich mit z.T. hohen Auflagen (Berliner Sendeblatt 300 000er Auflage, Köllnisches Sendeblatt 200 000, Hamburger 140
000, Leipziger 70 000) vgl. F.E. Bettauer: „Der deutsche Rundfunk am Scheideweg“.
In: RUNDFUNK-RUNDSCHAU 15/29 vom 20.4.29, S. 2. Im Jahrgang 1929 der
RUNDFUNK-RUNDSCHAU sind Titelfotos und Nachrichten der Tonfilmentwicklung für die Attraktivität der Rundfunkzeitschrift unentbehrlich geworden. Filmstars
werden für die Rundfunkreklame genutzt (z.B.: Titelfotos in RUNDFUNK-RUNDSCHAU 14 vom 7.4.29, 15 vom 20.4.29, 41/29 vom 13.10.29). Ebenso hat die Filmentwicklung zu einem raschen Anwachsen von Filmzeitschriften in der Weimarer
Republik geführt REICHSFILMBLATT, KINEMATOGRAPH, FILMKURIER, FILMTON- KUNST, FILM-ATELIER, FILM UND FUNK, FILM UND VOLK, ARBEITERBÜHNE UND FILM, DIE FILMBÜHNE, FILM-BZ, FILMKORRESPONDENZ,
FILMKÜNSTLER UND FILMKUNST, FILMKURIER, ILLUSTRIERTER FILMKU78
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RIER, FILMMAGAZIN, DAS FILMPROGRAMM, FILMSCHAU, FILMWELT, DIE
FILMWOCHE, DEUTSCHE FILMZEITUNG, DIE FILMPROMINENTEN, DIE PROMINENTEN, HOLLYWOOD, DER LICHTSPIELTHEATERBESITZER, TONFILMZEITUNG, UFA-FEUILLETON, TOBIS. An der LICHT-BILD-BÜHNE ist außerdem
verfolgbar wie 1929 Beilagen im Range von Zeitschriften die Tageszeitung ergänzen
- so der FILMSPIEGEL ab 1929 und die Beilagen FILM UND TON, DIE BÜHNENSCHAU.
Vgl. zur Rede des KPD-Abgeordneten Maslowski in der Reichstagsdebatte vom
3.12.29 den Bericht der LBB: „Schöne Worte - schlechte Taten. Filmdebatte des
Reichstages“. In: LBB 289/29, 4.12.29, S. 1/2
Vgl. „Die Zensurnovelle liegt vor“. In: LBB 168/29, 16.7.29, S. 1; außerdem LBB
169/29, 17.7.29, S. 1 und 3, LBB 172/29, 20.7.29, S. 10-12
Vgl. „Wilhelm Siegfried: ‘Der unabwendbare Zusammenbruch für freie Entfaltung
der Industrie’“. In: LBB Nr. 155/29, 1.7.29, S. 1; „Zensur vor dem Reichstag. Kurze
Debatte über Lichtspielnovelle“. In: LBB 289/29, 4.12.29, S. 3
Vgl. „Das neue Gesicht der Zensur. Die Personalpolitik in der Filmprüfstelle Berlin“. In: LBB 301/29, 18.12.29, S. 1
„Die Katholiken und der Film - P. Friedrich Muckermanns Rede auf dem II. Internationalen Katholischen Filmkongress München“. In : LBB 148/29 , 22.6.29, S. 12;
„Der katholische Filmkongress: Die katholischen Zensur-Forderungen“. In: LBB 145/
29, 19.6.29, S. 3; „Die Forderungen des katholischen Filmkongresses: Zusammenarbeit mit der Filmindustrie. Steuerliche Gleichstellung von Theater und Kino. Förderung des Kulturfilms“. In: LBB 146/29, 20.6.29, S. 2
S .Nestriepke: „Die technischen und kulturellen Möglichkeiten des Films“. In: FILM
UND FUNK. Berlin 1930, S. 21
„Wie ist dem deutschen Film zu helfen?“ In: GERMANIA vom 10.11.29; vgl. die
Berichte „GERMANIA zur filmpolitischen Lage“. In: LBB 265/29, 6.11.29, S. 1;
„Das filmpolitische Reformprogramm der GERMANIA: Statt Lustbarkeitssteuer 10%
Reichsabgabe für Schaffung eines Filmfonds“. In: LBB 270/29, 12.11.29, S. 1 56
„Wichtige Beschlüsse in Paris. Die Arbeit der Kommissionen“. In: LBB 135/29,
7.6.1929, S. 2
Vgl. „Die Beschlüsse des Reichsverbandes. Für Tonfilm-Kontingent – gegen Zensurverschärfung“. In: LBB 200/29, 22.8.29, S. 1; „Die Stuttgarter Tagung: Vor Deutschlands erster Tonfilm-Saison“. In: LBB 198/29, 20.8.1929, S. 1. In dieser Ausgabe
kündigen auch einzelne Firmen ihre Tonfilmprojekte an: Aafa: 1 (DICH HAB’ ICH
GELIEBT, Operettenfilm, Premiere: 22.11.29) / Bayrische: 6/ DLS: - /Froelich-Film:
1 (DIE NACHT GEHÖRT UNS, Premiere: 23.12.29) / Klang-Film: 4 /Orplid-Messtro-/ Südfilm: 4/ Terra-/Ufa: 2+10 (u.a. MELODIE DES HERZENS, Premiere:
16.12.29)/ Universal: 2, Vereinigte Starfilm: 2 (u.a. für 1930: WESTFRONT 1918).
Fritz Ernst Bettauer: Der deutsche Rundfunk am Scheideweg, in: RUNDFUNKRUNDSCHAU 9, 3.3.29, S. 2; 13, 31.3.29, S. 2; 14, 7.4.29, S. 2; 15, 14.4.29, S. 2;
16, 21.4.29, S. 2
79
59 Wolfgang Schievelbusch: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den 20er Jahren. Frankfurt/Main 1983, S. 66
60 S. Nestriepke: Die technischen und kulturellen Möglichkeiten des Films. In: FILM
UND FUNK. Sozialistischer Kulturtag in Frankfurt/Main. Berlin 1930, S. 26
61 Ebd., S. 21/22
62 Heinrich Schulz: Film und Funk in ihrer Bedeutung für die Arbeiterschaft, ebd., S. 13
63 Vgl. hierzu die Angriffe des Filmverleihs gegen Arbeiter- und Bildungsausschüsse
„Dresdener Tagung - Aussprache mit den Verleihern“. In: LBB 241/29, 9.10.1929,
S. 3; „Hetze gegen den Lehrfilm. Danziger Tagung der katholischen Arbeitervereine“. In: LBB 287/29, 2.12.29, S. 3
64 „Die wahre Situation. Die Bestrebungen der Deutschen Kunstvereinigung“. In: LBB
147/29 , 21.6.29, S. 2
65 Vgl. Annonce in: LBB 6/ 29 , 8.1.29, S. 1; vgl. auch: „Menschen der Heimat“. In:
LBB 77/29, 27.3.29, S. 2
66 Vgl. Conrad Veidt: „Hollywood im Tonfilm-Taumel (III)“. In: LBB 66/29, 19.3.1929,
S. 3, Fortsetzungen „IV. Der unüberwundene Sprechfilm“. In: LBB 68/29, 21.3.29,
S. 3 und „V. Schluss“. In: LBB 79/29, 3.4.29, S. 3. C. Veidt definiert das Genre der
Musical Comedy so: „Was der Amerikaner so nennt, ist ein Gemisch von Operette,
Revue und Spielfilm. Eine Spielhandlung, eine Liebesgeschichte, meist mit sentimentalem Einschlag und humoristischen Kontrastwirkungen – ganz wie dies dem
Operettenlibretto ja auch zu entsprechen pflegt - hält das Ganze zusammen. Aber es
ist jede Möglichkeit zu musikalischer und dekorativer Entfaltung innerhalb dieses
Rahmens gegeben, zu gesungenen und gespielten Schlagern, zu Tanznummern, zu
Girlaufmärschen, zu Geräuscheffekten...“ C. Veidt: „Hollywood im Tonfilm-Taumel
(V)“. In: LBB 3.4.1929, S. 3
67 Vgl. „Jack Alicoate: R.C.A.-F.B.O. Der neue Tonfilm Trust der Radio- Korporation“. In: LBB 10/29, 12.1.29, S. 14
68 E.A. Poe: Der Mann der Menge, in: E.A. Poe: Phantastische Erzählungen. Leipzig
1954, S. 74-85. Das von Poe eine Chiffre für das Individuum der Massenkultur von
grundsätzlicher Aussagekraft geschaffen wurde, wäre auch mit King Vidors DER
MANN IN DER MENGE (THE CROWD/ MGM 1928) verfolgbar. Die besondere
Favorisierung des Reportersujets ergab sich aber aus der Vielzahl der Zeitungsfilme
1928/29. „Hausse in Zeitungsfilmen“. In: LBB 43/29, 20.2.1929, S. 2 nennt als Beispiele: MGM: WIRKEN IN DER WELT, PATHÉ: REDAKTIONSSKANDAL, PARAMOUNT: HERREN VON DER PRESSE, WARNER BROS. ÜBERSCHRIFTEN,
FOX: ERSTE SEITE, UNIVERSAL: FREIHEIT DER PRESSE.
69 Vgl. die Rezension in: LBB 174/29, 23.7.29, S. 2
70 Vgl. die Rezension „VERDUN“. In: LBB 141/29, 14.6.29, S. 2
71 „Eine Friedensbotschaft des Tonfilms. Riesenerfolg von NOAHS ARCHE“. In: LBB
67/29, 20.3.29, S. 1
72 Vgl. die methodologischen Ansätze: Rudolf Münz: Das „andere“ Theater. Berlin 1979,
S. 19-47; Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Neuwied/Berlin 1969,
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insbesondere die Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft; Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen.
Frankfurt/Main 1980; Peter Ludes: Stars der internationalen Politik. In: Seller, Stars
und Serien. Medien im Produktverbund, hrsg. Von Christian W.Thomson/Werner
Faulstich, Heidelberg 1989, S. 35-93; Lutz Haucke: Die Träume sozialistischer Massenunterhaltung in der DDR. Die Funktion der TV- Shows MIT DEM HERZEN
DABEI und SPIEL MIT im Umfeld des 11. Plenums des ZK der SED(1965/66). In:
KAHLSCHLAG. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965, hrsg.v. Günter Agde, Berlin 1991, S. 117-127
Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. S. Kracauer: Schriften. Hrsg. von Karsten Witte, Bd. 2, Frank furt/Main
1979; Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts . In: W. Benjamin: Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920-1940. Leipzig
1984, S. 435-50; aber auch die Motivkunde, wie sie mit der kunstwissenschaftlichen
Ikonographie auf die Methodologie der deutschen Filmgeschichtsschreibung überkommen ist (Lotte H. Eisner: Die dämonische Leinwand/1952/. Frankfurt/Main 1975).
Jürgen Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen
Handelns. Frankfurt/Main 1984, S. 228
Vgl. Film und revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland 1918-1932, Bd. 1,2,
Berlin 1975
Vgl. „Die Stuttgarter Tagung“. In: LBB 199/29, 21.8.1929, S. 1
Vgl. den Weckruf gegen den Kulturbolschewismus, hrsg. vom Deutschen Frauenkampfbund, Zentrale Eisenach, zit. nach „Wie es gemacht wird. Organisierter Kampf
gegen das Kino“. In: LBB 38/29, 14.2.1929, S. 1; vgl. auch: „Ist der Theaterbesitzer
vogelfrei? Kaplane mit Farbtöpfen…“. In: LBB 156/29, 2.7.29, S. 1
Vgl. Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Frankfurt/Main 1987, S. 101; beachte auch: 1925 wurden 1/3 aller Läden und 1/10 aller handwerklichen Betriebe
von Frauen geleitet nach: Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Gewerbe: Industrie, Handel und Handwerk (III.Unterausschuss), 8.
Arbeitsgruppe. Berlin 1930, Bd. 1, S. 334. E. John verwies allerdings auf eine Umfrage im Siemens-Konzern Anfang der 30er Jahre, die ergab, „dass 69% der befragten Männer und Frauen noch kein Sprechtheater besucht hatten, 83,2% hörten noch
nie in ihrem Leben eine Oper, 80,8% erlebten noch nie ein Konzert..., 53,7% besuchten überhaupt kein Kino.“ Kultur, Kunst, Lebensweise. Autorenkollektiv unter der
Leitung von E. John, Berlin 1980, S. 135
Das Kreditwarenhaus als Milieu der Angestellten vgl. als Beispiel MÖBLIERTES
ZIMMER (Regie: Fred Sauer, eine Strauß-Film-Produktion mit Hans Albers u.a.): „Harry
heißt der möbilierte Herr, der mit seiner Wirtin, der Frau Kanzleirat, sein Abenteuer
erlebt - Lilly heißt das möblierte kleine Fräulein, das in dem gleichen Kreditwarenhaus
auftaucht, wo Harry Rayonchef ist, der sich von Anfang an für sie interessiert, wo eine
hochstaplerische Baronin auf Kredit Pelze kauft, was Harry seine Stellung kostet - bis
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er durch Lillys kräftige Hilfe die Baronin zu fassen bekommt und den Pelz zurückschafft, um sich mit Lilly endlich zu einer Ehefusion zu vereinen.“ In: LBB 79/29,
3.4.29, S. 2. Bedenkenswert ist auch, dass die Prachtentfaltung der Neubauten von
Kaufhäusern Ende der zwanziger Jahre möglicherweise auf die Szenographie des „Unterhaltungsfilms“ gewirkt hat.- Vgl. in diesem Zusammenhang die Beschreibung des
1927 in Berlin in der Leipziger Straße eingeweihten Kaufhauses Wertheim: „Seine
Grundfläche übertraf die des Reichstages um mehr als das Doppelte ... Der von Prof.
Messel errichtete Bau war reich verziert mit Skulpturen und Reliefs berühmter Bildhauer. Im Innern gab es Marmorintarsien und versilberte Terrakotta-Arbeiten zu bewundern. Die Tepppichabteilung war mit italienischem Nußbaumholz getäfelt. In den
zahlreichen Lichthöfen plätscherten Brunnen, die aus istrischem Kalkstein gearbeitet
waren.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.9.1971, S. 15 zit. bei Fritz Haug: Warenästhetik. Frankfurt/Main 1972, S. 88. Es dürfte nicht nur diese mondäne Ausstellung der Waren bedenkenswert sein. Vielmehr trifft sich diese Architektur mit ihrem
Interieur von Palästen mit der monumentalen Pracht der Großkinobauten ebenso wie
die Massenkultur die der traditionellen Institution Kirche vorbehaltene Orgel nun als
Kinoorgel der Produktion von Stimmungen zu einer gekauften Ware verhilft.
Z.B.: die Verfilmung des Zeitstücks von Martin Lampel REVOLTE IM ERZIEHUNGSHAUS, Produktion: Grohnert-Film 1929, die erst mit Verboten der FilmOberprüfstelle belegt war vgl. LBB 185/29, 5.8.29, S. 2; aber auch KINDER DER
STRAßE (Regie: Carl Boese Uraufführung 21.2.29 im Titania-Palast Berlin), GROßSTADTJUGEND (Rezension in: LBB vom 25.5.29), FRÜHLINGSERWACHEN
Regie: Richard Oswald, Premiere: 14.11.29), JUGENDTRAGÖDIE (Produktion
Luna-Film vgl. LBB 18.12.1929) und Piel Jutzis HUNGER IN WALDENBURG (Premiere: 15.3.1929).
Vgl. LBB 80/29, 4.4.29, S. 2
Vgl. LBB 77/7871929, 2.4.1929, S. 2 83 Vgl. die Reklame der Hegewald-Verleihfirma „der neue große Mutter-Film“ HERZBLUT EINER MUTTER (Produktion: Tiffany Film, Premiere: 7.6.1929). Vgl. auch die melodramatische Henny-Porten-Rolle
in MUTTERLIEBE (Regie: Georg Jacoby, Premiere: 20.8.1929 Atrium, Berlin)
„Kultur-Reaktion. Ein gefährlicher Antrag im Preußenparlament. Verschärfung der
Zensur auf der ganzen Linie“. In: LBB 4/29, 5.1.1929, S. 8; vgl. auch: „Gefahr im
Verzuge! Gegen die Kultur-Reaktion. Vorstoß der Preußischen Dichter-Akademie“.
In: LBB 8/29, 10.1.29, S. 1/2
Vgl. „Das Bayrische Kultusministerium fördert Filmhetze“. In: LBB 58/29, 9.3.29,
S. 18
„Ben Fett: Bilanz des Verleihgeschäfts“. In: LBB 2/29, 3.1.1929, S. 2
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Europäische Regiegenerationen im Aufbruch Neue Wellen in Europa in den 60er und 70er
Jahren. Überlegungen zu einem Projekt *
Heutzutage ist angesichts des immer neuen Materials eine Frage in der Filmhistoriographie bedenkenswert: Kann der Filmhistoriker überhaupt noch einen
Anspruch auf Geschichtsbilder von Epochen und Perioden der internationalen
Filmgeschichte einlösen? Dem scheint andererseits die Tatsache zu widersprechen, dass zu Beginn der 90er Jahre eine bedeutende übergreifende Geschichtsdarstellung vorgelegt wurde/1/, die im Kontext mit den methodologischen Diskussionen seit den 80er Jahre gelesen werden kann/2/. Das Bestreben, von den
Produktionsstrukturen bis zu genretypologischen Konzepten der Geschichtsschreibung vorzustoßen, hat bei führenden Autoren weitgehend eine strikte Besinnung auf das marktwirtschaftliche Hollywood-Modell erbracht. Der Zusammenhang von kulturindustrieller Standardisierung und künstlerischer Innovation wurde zum entscheidenden Spannungsfeld erklärt/3/. Eine Differenzierung
wäre möglich, wenn man die in den 90er Jahren in Gang gekommene Neusichtung nationaler Filmgeschichten bedenkt./4/ Es lässt sich hypothetisch formulieren, dass die vorliegenden Versuche zu einer Überblicksdarstellung der Weltfilmgeschichte durch die „Nationalgeschichten“ in mehreren Punkten neue Fokussierungen für die Forschung ermöglichen:
a) die Entdeckung von filmgeschichtlichen Entwicklungen in Kulturkreisen
(Nord- und Süd-, West- und Osteuropa; Differenzierungen der Filmgeschichte in Asien zwischen Japan, Taiwan, VR China bis zu den Philippinen und
Indien; Schwarzafrika, Nordafrika; Nord-, Mittel- und Südamerika);
b) nahezu 70 Jahre der Filmgeschichte wurden mitbestimmt durch ein nun zerbrochenes Gesellschafts- und Staatssystem, den Sozialismus, das anstelle der
marktwirtschaftlichen Struktur der Standardisierung ein Strukturmodell der
repräsentativen Öffentlichkeit des Staates besaß. Öffentlichkeitsstrukturen,
in denen die Machtkommunikation nicht nur in der Zensurierung der Produktion sondern auch in dramaturgischen und ikonographischen Phänomenen - also von der Struktur der Werke her bestimmbar wird (vgl. z.B. die
Spannweite von der Tschechischen Neuen Welle der 60er Jahre bis zu Andrzej Wajdas Werk, zu Miklós Jancsó, zu Andrej Tarkowskijs bis zu dem
*
Referat auf dem 9. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquium vom 7.-9. Oktober 1996
an der Bauhaus-Universität in Weimar (gekürzte Version)
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