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Heft2/2010
DasMagazinderMedizinischen
DienstederKrankenversicherung
Von
der Katastrophe
verfolgt Posttraumatische
Belastungsstörung
PT BS
au ch in diesem h ef t
Gekauftes Renommee? Ghostwriter in der Medizin
Personenortungssysteme in der Pflege
Liebe Leserin, lieber Leser!
11.September,Erfurt,Winnenden:Inuns
allenlösendieseWorteErinnerungenan
Ereignisseaus,beidenenwirüberdieMedien
fassungsloseZeugenvonKatastrophen
wurden.NochJahrespäterkönnensolche
Erfahrungenbeidenen,diealsBetroffene
oderHelfernoch»näherdran«waren,zu
Krankheitssymptomenundzudramatischen
EinschränkungenihrerLebensqualität
führen.DerSchwerpunktdieserAusgabe
handeltvonposttraumatischenBelastungsstörungen(PTBS),wasdasistundwasman
tunkann,wennmananPTBSerkrankt.
InderRubrik»GuteFrage«gehtesumein
Thema,mitdemsichwohljedervonuns
abundzubeschäftigt,alsMedizinerschon
vonBerufswegen:»Brauchenwireineneue
KulturdesSterbens?«»Ja!«,meintderBerliner
RettungsmedizinerDr.MichaeldeRidder
imInterviewmitMDKForum.Fürihnsteht
derärztlicheAuftrag,füreinen»gutenTod«
zusorgen,demAuftrag,Krankheitenzu
heilen,ethischinnichtsnach.Abernurallzu
oftvernachlässigenwirÄrztediesenAuftrag.
WeilwirinärztlichenRoutineneingefahren
sind,dieaufLebenserhaltungumjedenPreis
zielen?WeilwirdieEntscheidung,obeine
Behandlungaussichtslosist,nichttreffen
wollen?WeilwirselbstdasSterbenalsTeil
desLebensnichtakzeptierenwollen?
KeinleichtesThema,abereines,mitdem
wirunsbeschäftigenmüssen.
Ihr Dr. Ulf Sengebusch
Ak tu e lle s
GuteFrage Brauchen wir eine neue Kultur des Sterbens?
DiepolitischeKolumne Röslers geplatzte Träume
32
tite lth e m A
PosttraumatischeBelastungsstörung
Von der Katastrophe verfolgt 5
»BeimNächstenfahreichweiter…«
Die Angst des Lokführers vor Selbstmördern
7
Eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis
Der Traum vom Helfen
8
10
Therapiemöglichkeitenbei P T B S
Ein Ziel und viele Wege 12
SuchterkrankungennachTraumatisierung
Die Erinnerung löschen 14
m d k | wiss e n u n d stAn d pu n k te
RehavorundbeiPflegebedürftigkeit
Rüstiger durch Rehabilitation? 15
SymposiumBehandlungsfehler
Im Cockpit geht man auf Nummer sicher
GekauftesRenommee?
Ghostwriter in der Medizin
16
17
we itbli ck
MenschenmitDown-SyndromalsAutoren
Ohrenkuss – das etwas andere Magazin 19
Vom kleinen Sonnenschein zum Mondscheinkind
Flic Flac im Zirkus Zip Zap
23
InterviewmitDr.WolfgangMayrhofer
Rückflug im Krankenbett 25
ErlebniswaldfürBlindeundSehende
Nasenkino und Orakelkraut 27
G e su n d h e it u n d pfleG e
PersonenortungssystemeinderPflege
Wenn die Armbanduhr den Alarm auslöst
29
InterviewmitProf.Dr.Dr.h.c.FriedhelmBeyersdorf
Weniger arbeiten – mehr erreichen 31
21
2
1
Stellvertretender Geschäftsführer
beim MDK im Lande Bremen
Dr. Gustav Krimphoff
Am 28. Mai 2010 hat der Verwaltungsrat
des M D K im Lande Bremen Dr. Gustav
Krimphoff einstimmig zum stellvertretenden Geschäftsführer gewählt. Der
58-jährige Leitende Arzt des M D K im
Lande Bremen nimmt vom 1. Juni an
beide Funktionen in Personalunion wahr.
Krimphoff begann seine berufliche
Laufbahn bei der Polizei und studierte
anschließend Humanmedizin in
Hannover. Als Facharzt für Chirurgie
war er in verschiedenen Kliniken in
Bremen und umzu tätig. Zum M D K im
Lande Bremen wechselte der begeisterte
Motorradfahrer im April 1999, wo er
zu Jahresbeginn die Funktion des
Leitenden Arztes übernahm.
Dr. Ottilie Randzio
MDK Bayern: Neuausrichtung
in der Unternehmensleitung
Die stellvertretende Geschäftsführung
des M D K Bayern geht in neue Hände
über. Auf Vorschlag der Geschäftsführung bestellte der Verwaltungsrat des
M D K Bayern am 16. April Dr. Ottilie
Dr. Christian Alex
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10 Jahre gebündelte BeratungsKompetenz
Die Kompetenz-Centren ( KC ) der
M D K -Gemeinschaft und des G K V Spitzenverbandes feierten in diesem
Frühjahr ihr 10-jähriges Bestehen. Im
Jahr 2000 gründeten die damaligen
G K V -Spitzenverbände und die M D K Gemeinschaft drei gemeinsame
Kompetenz-Centren. Ziel war es, das
Wissen und die Kompetenz der
M D K -Gemeinschaft zu bündeln, um die
Kranken- und Pflegekassen in Versorgungsstrukturfragen und in der
medizinischen Systemberatung
zu unterstützen. Außerdem wirken die
KC in den Gremien der Selbstver waltung auf Bundesebene, insbesondere
im Gemeinsamen Bundesausschuss,
mit. Eingerichtet wurden zunächst drei
KC für die Gebiete Onkologie, Psychiatrie / Psychotherapie und Qualitätssicherung / Qualitätsmanagement.
Drei Jahre später ging ein weiteres
Kompetenz-Centrum für den Bereich
Geriatrie an den Start. Angesiedelt sind
die organisatorisch eigenständigen
KC jeweils bei einem M D K .
www.mdk.de/330.htm.
Randzio und Dr. Christian Alex zu
stellvertretenden Geschäftsführern.
Mit dieser Entscheidung wird der
strategischen Ausrichtung Rechnung
getragen, die fachliche Zuständigkeit in
der Pflege- und Krankenversicherung
gleichwertig zu positionieren. Dr. Randzio übernimmt die Leitung des
Bereichs Pflege, Dr. Alex die Leitung der
Sozialmedizin. Der bisherige stellvertretende Geschäftsführer Wolfgang
Nafziger ist in Zukunft verantwortlich
für den Bereich Unternehmenssteuerung / -planung.
Prof. Dr. Jürgen Windeler
aktuelles
Prof. Jürgen Windeler zum neuen
IQWiG-Chef gewählt
Der langjährige Leitende Arzt und
stellvertretende Geschäftsführer des
M D S , Prof. Dr. Jürgen Windeler (53), wird
neuer Leiter des Instituts für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ( I Q W i G ) in Köln. Das hat der
Vorstand der Stiftung am 8. Juni
einstimmig beschlossen. Er wird damit
Nachfolger von Prof. Dr. Peter Sawicki,
dessen Vertrag nicht verlängert worden
war. Der Klinische Epidemiologe
Windeler hat seit 1999 den Fachbereich
Evidenz-basierte Medizin beim M D S
aufgebaut und zu einem kompetenten
Beratungszentrum gemacht. 2004
wurde er zum Leitenden Arzt und
stellvertretenden Geschäftsführer
gewählt. Neben den Arbeiten zur
Bewertung therapeutischer und
diagnostischer Verfahren hat er sich mit
der Problematik Individueller Gesundheitsleistungen ( I G e L ) beschäftigt und
war an der Erarbeitung der zweiten
»Positivliste« für Arzneimittel beteiligt.
Von 2005 bis 2007 hatte er den Vorsitz
des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin ( D N E b M ) inne.
Komplexe Abhängigkeiten
machen psychisch krank
Nach einer Übersichtsstudie der
Bundespsychotherapeutenkammer
( B P t K ), die die Gesundheitsreporte der
gesetzlichen Krankenkassen ausgewertet hat, gingen 2008 knapp 11 % aller
Fehltage auf psychische Erkrankungen
zurück. Seit 1990 haben sich diese
Fehlzeiten fast verdoppelt. Psychische
Erkrankungen treten laut der Studie
gehäuft in Dienstleistungsbranchen auf
und verursachen überdurchschnittlich
lange Fehlzeiten in den Betrieben.
Besonders häufig entwickeln Erwerbstätige psychische Erkrankungen bei der
Kombination aus hohen Anforderungen
und geringem Einfluss auf den
Arbeitsprozess. www.bptk.de/presse/
pressemitteilungen
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gute frage
InterviewmitDr.MichaeldeRidder
Brauchen wir eine neue
KulturdesSterbens?
B e i s c h w e R s t e n u n h e i l B a R e n K ö R p e R - u n D G e h i R n s c h ä D e n mit moderner Hightech-Medizin weiter
behandelt zu werden, ist für viele Menschen ein Schreckensszenario. Dennoch geschieht es am Lebensende vielfach und oft gegen den Willen von Betroffenen und Angehörigen. Was muss geschehen, um das Sterben in den Fokus
ärztlichen Handelns zu holen? Über die Forderung nach einer ganzheitlichen Betrachtung von Leben und Sterben
und eine neue Kultur des Sterbens sprachen wir mit dem Berliner Arzt und Autor Dr. med. Michael de Ridder.
MDK Forum Herr Dr. de Ridder, was
verstehen Sie unter einem Sterben
in Würde und Selbstbestimmung?
Dr. med. Michael de Ridder Sterben in
Würde und Selbstbestimmung
bedeutet, dass sich Wunsch und
Wille des Patienten im Sterben
weitestgehend erfüllen. Wie wollen
wir sterben? Kaum jemand wird
hierauf antworten: würdig. Ein
friedliches Sterben ist es, was wir
uns wünschen, frei von Angst,
Schmerz und anderen quälenden
Symptomen, im Einvernehmen mit
uns selbst und unseren Nächsten.
Das ist für mich zugleich auch
würdiges Sterben.
MDK Forum Steht der technische
Fortschritt einem würdigen Sterben
im Wege?
de Ridder Keineswegs. Es geht
nicht darum, den technischen
Fortschritt selbst in der Medizin in­
frage zu stellen. Unzählige Menschen
profitieren jeden Tag von der viel­
gescholtenen Intensiv­ und Apparate­
medizin! Es geht darum, wie, wann
und mit welchem Ziel Ärzte diesen
Fortschritt anwenden. Eine schon
schwerstpflegebedürftige 88­jährige
Patientin mit Lungenentzündung zu
beatmen ist fachlich wie ethisch
mehr als fragwürdig; ein 40­jähriges
Unfallopfer mit Rippenserienfraktur
nicht zu beatmen, wäre dagegen
eine sträfliche Unterlassung.
MDK Forum Fokussiert sich die
ärztliche Ethik heute ausschließlich
auf die Lebensrettung bzw. ­erhal­
tung und blendet das Sterben weit­
gehend aus? Haben Ärzte zu wenig
ethische Entscheidungskompetenz?
de Ridder Es gibt immer noch
Ärzte, die ausnahmslos jeden
Patienten so lange und so intensiv
behandeln, bis auch die letzten
Mittel versagt haben. »Wir tun alles,
was wir können!« – ein bei termi­
naler Erkrankung regelhaft un­
ethisches, nicht selten gar sträfliches
ärztliches Vorgehen, zumal dann,
wenn es dem Patientenwillen
widerspricht.
Dem liegen mehrere Miss­
verständnisse zugrunde: Zum einen
ist die Medizin nicht dazu da, das
Sterben grundsätzlich zu verhin­
dern. Allein das vorzeitige Sterben
und das quälende Sterben zu
verhindern ist ihre Aufgabe. Darüber
hinaus haben allzu viele Ärzte
eine sehr einseitige Vorstellung
von ihrem Auftrag: Es ist ein weitver­
breiteter Irrtum in der Ärzteschaft,
ihren Auftrag allein darin zu sehen,
Krankheiten zu heilen, Leben zu
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gute frage
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erhalten und zu verlängern. Diesem
heute so überaus offensiv verstan­
denen Teil des ärztlichen Auftrags
steht, dem ethischen Range nach,
der Auftrag – man könnte auch
sagen: die Pflicht –, für einen »guten
Tod« zu sorgen, in nichts nach. Dann
nämlich, wenn sich die auf Lebens­
erhaltung und Heilung zielende
ärztliche Behandlung erschöpft hat
und als Behandlungsziel ein fried­
liches und würdiges Sterben ganz
in den Vordergrund tritt. Hier
fehlt es in der Tat vielen Ärzten an
Entscheidungskompetenz.
MDK Forum Wann ist eine Behand­
lung aussichtslos?
de Ridder Generell dann, wenn
sie nicht dem Patientenwohl dient.
Dafür kann es verschiedene
Ursachen – sagen wir Ebenen des
»Aussichtslosen« – geben: Physio­
logisch aussichtslos beispielsweise
ist der Versuch, einen Patienten im
Zustand des septischen Schocks,
also bei einer den Körper über­
bordenden Infektion nach einem
Herzstillstand, wiederzubeleben,
weil die physiologischen Voraus­
setzungen, das Therapieziel zu
erreichen, fehlen.
Quantitativ aussichtslos ist eine
Behandlung, wenn anhand einer
genügend großen Zahl von Fällen
empirisch belegt ist, dass sie ihr Ziel
nicht erreicht. Ist es gerechtfertigt,
eine Behandlung, die in einem
von einhundert Fällen erfolgreich
ist, bei allen anderen 99 Patienten
anzuwenden? Ich meine: nein. Denn
gemäß dem obersten ärztlichen
Prinzip »primum nil nocere«
(zuallererst nicht schaden) darf ich
nicht 99 Patienten schaden, um
einem zu helfen. Eine solche Thera­
pie darf grundsätzlich und zu Recht
als aussichtslos klassifiziert werden.
Letztlich gibt es qualitativ aus­
sichtslose Behandlungen, die zwar
rein körperliche Effekte auslösen
können, aber zum Patientenwohl
in dem Sinne nichts beitragen, als
sie nicht mehr Teil eines ganzheit­
lichen Heilungs­ und Genesungs­
prozesses sind. In diesem Sinne ist
beispielsweise die Wiederbelebung
eines an fortgeschrittener amyo­
tropher Lateralsklerose leidenden
Kranken aussichtslos.
MDK Forum Seit einem Jahr haben
wir eine klare gesetzliche Regelung
zur Patientenverfügung. Danach
sind schriftliche Patientenverfügun­
gen für Ärzte und Angehörige
verbindlich, unabhängig vom
Krankheitsstadium. Ist damit der
Rahmen für das Individuum
geschaffen, die eigenen Vorstellungen
vom Sterben auch durchzusetzen?
de Ridder Sehr weitgehend. Die
Patientenverfügung muss allerdings
so abgefasst sein, dass sie die
aktuelle Situation zutreffend
beschreibt, damit der Arzt auch
gemäß dem Willen des Patienten
verfahren kann. Dies setzt etwas
Wichtiges voraus: Vor Abfassung
einer Patientenverfügung sollte
zwischen Arzt und Patient ein
eingehendes Gespräch stattgefunden
haben, um Formulierungsunschärfen
und Fehlentscheidungen aus
Unkenntnis zu vermeiden, die sich
dann zum Nachteil des Sterbenden
auswirken können. Mit seiner
Patientenverfügung kann der Ver­
fasser seine Ärzte am Lebensende in
gewisser Weise »zwingen«, ihm das
Sterben erleichternde, palliativme­
dizinische Behandlungen und nicht
ungewollte Lebensverlängerung
angedeihen zu lassen. Andererseits
gilt für den Patienten, dass er vom
Arzt niemals – auch bei terminaler
Erkrankung nicht – Maßnahmen
oder Behandlungen verlangen kann,
Dr.MichaeldeRidder
für die es keine Indikation gibt.
MDK Forum Brauchen wir (gesetz­
liche) Regelungen, um sinnlose
Behandlungen zu vermeiden und am
Lebensende selbst bestimmen zu
können?
de Ridder Weitere gesetzliche
Regelungen sind nicht erforderlich.
Jede Behandlung eines einsichts­
fähigen Patienten beruht auf zwei
Säulen: zum einen der ärztlichen
Indikation; zum anderen der Zustim­
mung des Patienten, die er immer
verweigern kann. (Das heißt, er kann
und darf auch gegen die medizini­
sche Rationalität entscheiden, selbst
wenn dies seinen Tod zur Folge hat.)
Nicht Gesetze helfen wei­
ter, sondern allein Wissen und eine
veränderte Haltung dem Sterben
gegenüber, besonders aufseiten des
Arztes: Seine Frage darf nicht lauten:
»Wann darf ich aufhören?«, sondern:
»Darf ich noch weitermachen?«
Ist das, was gestern noch zum Wohl
meines Patienten war, auch heute
noch zu seinem Wohl, und – ganz
wichtig – ist es auch heute noch
von seinem Willen gedeckt?« Dies
bedeutet einen grundlegenden
Perspektivwechsel im ärztlichen
Denken, den zu vollziehen die
Ärzteschaft im Sinne des Patienten­
wohls bejahen sollte.
Die Fragen stellte
Christiane Grote
titelthem a: P ost tr aum atis che bel a stungsstörung
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Posttraumatische Belastungsstörung
Von der Katastrophe verfolgt
B e i D e n a n s c h l ä G e n von New York, Washington, Madrid und London kamen mehr als 3000 Menschen ums Leben.
Auch bei dem Amoklauf in Winnenden oder dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs fanden Menschen den Tod. Zu
den Opfern müssen auch diejenigen gezählt werden, die vor Ort Grauenhaftes erlebt haben. Das Risiko, im Laufe des
Lebens am sogenannten posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS) zu erkranken, liegt nach internationalen Studien
bei zwei bis sieben Prozent, kann aber bei Rettungskräften, Ärzten, Polizisten oder Soldaten auf über 50 % ansteigen.
Welche Auswirkungen haben Terror, Gewalttaten und Na­
turkatastrophen auf Menschen? Wie verarbeiten sie das
Erlebte und wie kann ihnen dabei geholfen werden? Seit
die ptbs 1980 als offizielle Diagnose in die psychiatrische
Nomenklatur Eingang fand, hat sich die Zahl der wissen­
schaftlichen Untersuchungen zu dem Thema, wie Men­
schen auf überwältigende Geschehnisse reagieren, ver­
vielfacht. So facettenreich wie die Ursachen tiefgreifen­
der seelischer Verletzungen sind auch die Arten von Hilfe,
die der Einzelne nach Katastrophen benötigt. Denn wel­
che langfristigen seelischen Narben bei Betroffenen zu­
rückbleiben, ist individuell unterschiedlich und hängt
auch von der Art des traumatischen Ereignisses ab. So
liegt die Rate der an ptbs Erkrankten bei Verkehrsunfäl­
len etwa bei 15 %, bei Gewaltopfern bei einem Viertel. Von
den Opfern von Vergewaltigung, Krieg oder Vertreibung
sind jeweils die Hälfte betroffen. Deshalb fängt die Arbeit
der Psychotraumatologie mit der Erkennung des Trauma­
risikos der Opfer und der richtigen Einschätzung an, zu
welchem Zeitpunkt welche Hilfe benötigt wird.
Was tun, wenn wir nichts mehr tun können?
Bei der Untersuchung der Auswirkungen von psychischer
Traumatisierung auf die Entstehung und den Verlauf von
Krankheiten, psychische und psychosomatische Störun­
gen oder Verhaltensauffälligkeiten spielt die subjektive
Dimension des Erlebens eine entscheidende Rolle. Ein
psychisches Trauma ist als ein Diskrepanzerlebnis zwi­
schen bedrohlichen Situations­
Trauma: Diskrepanzerlebnis faktoren und den individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten zu
zwischen Bedrohung und
Bewältigungsmöglichkeiten verstehen. Heiner B. ist Entfüh­
rungsopfer. Als es ihm in den
Händen seiner Peiniger nicht möglich war, zu kämpfen
oder zu fliehen, fühlte er sich völlig hilflos: »Ich konnte
nichts tun, diese Ohnmacht hat mich fast wahnsinnig
werden lassen!« Angst und Stress alleine rufen keine trau­
matische Wirkung hervor, sondern das Fehlen von Hand­
lungsmöglichkeiten, die der Mensch instinktiv umsetzen
möchte.
»Wenn wir nichts tun können, muss das Trauma als
unterbrochene Handlung verstanden werden. Das Ver­
hältnis von subjektiven und objektiven Situationsfaktoren,
wenn also Bewältigungsmöglichkeiten fehlen, wirkt trau­
matisierend«, bestätigt Prof. Gottfried Fischer vom Deut­
schen Institut für Psychotraumatologie. Fischer hat das
erste deutschsprachige Lehrbuch für Psychotraumatolo­
gie veröffentlicht und umfangreiche Forschungsprojekte
durchgeführt. Er vertritt den so­
genannten psychodynamisch­ Das subjektive Erleben
behavioralen Ansatz. Mit seinem
spielt eine entscheidende
Institut betreut er seit vielen Jah­ Rolle
ren Opfer von belastenden Le­
benserfahrungen – zuletzt beim Einsturz des Kölner Stadt­
archivs.
»Ich habe das wie in einem unwirklichen Film erlebt«,
beschreibt Heiner B. die traumatische Situation. Kommt
es nach dieser psychotraumatischen Abwehr (dissoziati­
ven Phänomenen) nicht zu einer ausreichenden Erho­
lung, sondern zum traumatischen Prozess, bestehen psy­
chische Belastungen vor allem im Zusammenhang mit
Situationen weiter, die mit dem Trauma in Verbindung
stehen – Schrecken und Terror der posttraumatischen
Belastungsstörung reichen bis in die neuronalen Gehirn­
strukturen hinein und bilden ein nur schwer löschbares
»molekulares Angstgedächtnis«.
Das Trauma entwickelt sich
»Als ich von den auf mir liegenden Trümmern befreit wur­
de, dachte ich nur: Gott sei Dank, es ist vorbei«, erinnert
sich Kathy W. an ihre Rettung am 11. September 2001 vor
dem World Trade Center. Doch der Erleichterung folgte
die Erfahrung, dass ein psychisches Trauma ein prozess­
hafter Vorgang ist, der sich weit über das Ereignis hinaus
erstreckt. »In der ersten Phase, bis zu 72 Stunden nach
dem Ereignis, lässt sich die Schwere der traumatischen
Situation über die objektiven Faktoren (Dauer, Verletzung,
Todesgefahr etc.) sowie über reale, potenzielle oder fanta­
sierte subjektive Bewältigungsmöglichkeiten (Flucht,
Todesangst, Ausmaß der Dissoziation) bestimmen«, er­
klärt der Psychotraumatologe Gottfried Fischer.
Zwei oder mehr Wochen nach dem Ereignis beginnt
die Phase der traumatischen Reaktion. Hier treten die
klassischen Kernsymptome einer ptbs auf:
1. Intrusionen (Flashbacks): Immer wiederkehrende,
sich von allein aufdrängende Sinneseindrücke wie Bilder,
Erinnerungen und Albträume;
2. Starkes Vermeidungsverhalten: Gefühle, Situationen,
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titelthem a: P ost tr aum atis che bel a stungsstörung
Erinnerungen oder der Kontakt mit Personen werden
vermieden. Es kommt zu einer sog. Affektverflachung,
die sich bis zur Gefühllosigkeit ausweiten kann (Num­
bing);
3. Übererregbarkeit (Hyperarousal): Schlafstörungen,
übermäßige Wachsam­, Schreckhaftig­ und Reizbarkeit.
»Diese Symptome stellen erste Kompensationsversuche
dar, die unterbrochene Handlung zu vollenden. Dabei ist
ein ständiger Wechsel von Flashbacks, die die traumati­
sche Situation einer Bearbeitung zuführen wollen, und
Vermeidung der damit assoziierten unerträglichen Ge­
fühle zu beobachten. Die ständige Übererregung kann ein
Versuch sein, sich gegen neuerliche Traumatisierungen
rüsten zu wollen«, macht Fischer deutlich. Diese Versu­
che, so der Experte, müssten zwar als grundsätzlich sinn­
voll und notwendig angesehen werden, doch schränkten
sie das Leben der Betroffenen erheblich ein und könnten
sich, wenn sie unbehandelt bleiben, in einer Traumafol­
gestörung manifestieren.
es zum Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstö­
rung.
Missglückte Bewältigungsversuche der verwundeten
Seele können jedoch zu einer Vielzahl psychischer Stö­
rungen führen. So münden anhaltende Versuche, Flash­
backs zu dämpfen, häufig in Suchterkrankungen, anhal­
tendes Vermeidungsverhalten kann zu Depressionen
führen, während Übererregung als andauernde physio­
PTBS als Folge des Nicht-Verarbeitens
Wie der Körper, so verfügt auch die Seele über Selbsthei­
lungsmechanismen, die eine Bewältigung der trauma­
tischen Erfahrung ermöglichen. Von einer Vielzahl von
Faktoren hängt ab, wie der Prozess der Traumatisierung
verläuft: Biografische Faktoren wie frühere Traumati­
sierungen, Partnerschaftsprobleme oder Arbeitslosigkeit
spielen eine Rolle. Auch die objek­
tiven Faktoren der traumatischen
Prozess der Traumatisierung
Situation – Dauer, Verletzung, To­
hängt von vielen Faktoren ab
desgefahr u. a. – sowie potenzielle
oder fantasierte subjektive Bewältigungsmöglichkeiten
haben Einfluss auf den Verlauf. Erst wenn es nach einer
angemessenen Verarbeitungszeit nicht gelungen ist, die
traumatische Erfahrung zu integrieren, spricht man von
einem traumatischen Prozess. Reaktionsformen, die der
anfänglichen Bewältigung dienen, bleiben weiter beste­
hen, ohne dass es gelingt, sie zu verarbeiten oder mit der
traumatischen Erfahrung zu leben. Entsprechend kommt
Psychotraumatologische Psychotherapie
In einer psychotraumatologischen Psychotherapie ist es
wichtig, die Betroffenen erst einmal zur Ruhe kommen zu
lassen und dazu anzuleiten, sich selbst zu beruhigen. Werden
sie direkt mit ihrer traumatischen Erfahrung konfrontiert,
ohne stabilisierende Maßnahmen vorzuschalten, besteht ein
erhöhtes Risiko für erneute Labilisierung und evtl. auch
der Retraumatisierung. Zudem weisen reine »Konfrontations­
therapien« eine erhöhte Abbruchrate auf. Das Deutsche
Institut für Psychotraumatologie vermittelt den Patienten
in seinem therapeutischen Vorgehen zunächst Sicherheit
und ermöglicht ihnen, die sich aufdrängenden Erinnerungen
an die traumatische Erfahrung unter Kontrolle zu bringen.
Erst wenn sie sich stark genug dazu fühlen, begleitet
der Therapeut sie erneut durch die traumatische Erfahrung,
wobei Art und Grad der Wiederannäherung an das Trauma
von Therapeut und Patient gemeinsam bestimmt werden.
logische Kampfbereitschaft zu psychosomatischen Be­
schwerden führt. Die Folgen von belastenden Lebens­
erfahrungen lassen sich somit nicht auf die ptbs reduzie­
ren.
Wer braucht wann welche Hilfe?
Experten sind sich einig, dass es notwendig ist, frühzei­
tig psychosoziale Notfallversorgung anzubieten. Welches
Opfer wann welche Hilfe benötigt, kann etwa durch ein so­
genanntes Risikoscreening mit dem Kölner Risikoindex
ermittelt werden. Entsprechend der Situation (Gewalt,
Unfall, Terror) bestimmen Experten das Risikoprofil der
Opfer: »Während Selbstheiler neben psychoedukativen
Maßnahmen nur ein weiteres Monitoring benötigen, sind
bei der Risikogruppe bereits so früh wie möglich beraten­
de und therapeutische Maßnahmen zur Unterstützung
des Selbstheilungsprozesses notwendig. Die Wechsler­
gruppe bedarf wieder anderer, spezifischer Interventions­
maßnahmen. Gerade auch bei Katastrophen mit einer
hohen Opferanzahl hat sich die zielgruppenorientierte
Intervention (zgi) als optimales Mittel der sekundären
Prävention bewährt«, betont Gottfried Fischer.
Traumatische Erfahrungen können oft über viele Jahre
kompensiert werden, dann aber durch ein vergleichsweise
unerhebliches Ereignis eine Reaktualisierung erfahren.
Dazu kommt es, wenn erneut eine Erfahrung gemacht
wird, die mit dem nicht integrierten Trauma in Zusam­
menhang steht, oder wenn die bisherigen Kompensati­
onsmechanismen wegbrechen – es kommt zu einer Re­
Aktualisierung. Dann hilft vielfach nur noch eine spezifi­
sche psychotraumatologische Psychotherapie.
Dipl.-Psych. Georg
Grittner,Lehrbeauftragter am
Institut für Klinische Psychologie
und Psychologische Diagnostik
(IKPPD) der Universität zu Köln.
[email protected]
titelthem a: P ost tr aum atis che bel a stungsstörung
m d k forum 2/10
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»Beim Nächsten fahre ich weiter …«
Die Angst des Lokführers vor
Selbstmördern
N a c h d e r B a h N B e t r i e B s u N f a l l s t a t i s t i k nehmen sich jedes Jahr mehr als 1000 Menschen das Leben auf der
Schiene – auch wenn Prominente unter ihnen wie Torhüter Robert Enke im November letzten Jahres die Ausnahme sind.
Statistisch gesehen überfährt jeder Lokführer während seines Berufslebens zwei bis drei Menschen. Jeder zweite Zugführer leidet anschließend unter Panik- und Angstattacken: Anzeichen von posttraumatischen Belastungsstörungen.
Horst R. ist seit über 30 Jahren Lokführer und liegt mit
drei Selbstmördern schon leicht über der Statistik. »Der
erste war vor 13 Jahren und er war der schlimmste«, sagt R.
»Es war auf der Strecke zwischen Braunschweig und Han­
nover an einem sonnigen Tag im September. Seine Arme
verschränkte der Mann lässig vor seinem Oberkörper. Er
sah mich in meiner Lok und ich sah ihn.« Nachdem R. ein
Pfeifsignal abgegeben und eine Vollbremsung eingeleitet
hatte, passierte es: ein dumpfer Aufprall und ein Rum­
peln unter dem 500 t schweren Zug. Bis zu diesem Tag
hatte R. gedacht, dass er so etwas in seinem Berufsleben
nicht erleben müsste. R. klet­
terte aus seiner E­Lok und lief
Der Anblick hat sich fest in
den Zug entlang. »Zuerst habe
seinen Kopf gebrannt
ich das zerfetzte Fleisch gero­
chen. Das stinkt fürchterlich.« R. hat seitdem den Geruch
nie wieder richtig aus der Nase bekommen. Der Anblick
hat sich fest in seinen Kopf gebrannt. Es vergeht kein Tag,
an dem R. nicht irgendwann daran denken muss. Die
Auslöser für diese Erinnerung kann sich R. gar nicht er­
klären. »In den schönsten Momenten, sogar im Urlaub
mit meiner Familie, selbst bei romantischen Abenden
mit meiner Frau – es kommt immer wieder.«
zu nehmen, ist gemäß der Denis­Studie für viele Fahrer zu
hoch. Sie suchen eher Hilfe bei ihrem Hausarzt.
Horst R’s Wunsch war es, zunächst die Unfallstrecke
eine Zeit lang nicht mehr zu fahren. Von der Betriebslei­
tung hieß es lapidar: »Kollege, wir nehmen dich zum
Fahrplanwechsel aus dieser Tour.« Doch der Planwechsel
war erst in drei Monaten.
»Selbstmörder Nummer zwei«, wie ihn R. bezeichnet,
schmiss sich in der Nacht vor seine Räder. »Ich habe ihn
nicht gesehen, sondern hörte nur das Rumpeln. Das
Geräusch kannte ich ja schon.« Den letzten Selbstmörder
hatte R. vor vier Jahren. Auch wieder in der Nacht. »Dies­
mal war ich schlauer«, schildert R. die Situation. »Ich bin
nicht mehr aus der Lok gestiegen und habe nur die Be­
triebsleitung informiert. So bleiben mir der Anblick und
der Geruch erspart. Beim nächsten Selbstmörder in der
Nacht fahre ich einfach weiter«, hat sich R. überlegt. Das
ist zwar gegen die Vorschriften, aber es könnte ja auch ein
Reh gewesen sein.
Selbstmord auf der Schiene
Hohe Hemmschwelle für psychotherapeutische Hilfe
Fast ein Fünftel der Lokführer entwickelt nach einem Vor­
fall Wut und Ärger gegenüber dem Selbstmörder, besagt
eine Studie von Diplom­Psychologin Dr. Doris Denis aus
dem Jahr 2004. R. gehört zu diesem Fünftel. »Eigentlich
bin ich das Opfer«, sagt er. »Wer hat nach dem Suizid von
Torwart Enke den Lokführer bedauert?«
Hilfe fand der jetzt 54­Jährige vor allem bei seiner Fa­
milie. Für die meisten sind Familie, Freunde und Kollegen
die wichtigste emotionale Stütze, sagt Denis. Die psycho­
logische Betreuung der Bahn ist seit vielen Jahren zwar or­
ganisiert‚ »aber richtig helfen können die mir auch nicht«,
meint R. Doch gerade von den betriebsinternen Betreuern
hänge es ab, ob sich jemand für eine Trauma­Therapie
entscheidet, so die Studie. Die Hemmschwelle, direkt psy­
chiatrische oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch
Martin Dutschek,
LeiterUnternehmenskommunikationbeim
MDKNiedersachsen.
[email protected]
Im Jahr 1997 befragte ein Forscherteam der Lotte­Köhler­
Stiftung München über 400 Lokführer zu posttraumatischen
Belastungsstörungen ( P T B S ) nach Unfällen mit Personenschä­
den. Etwa 8 % der Fahrer wiesen das Vollbild einer P T B S auf.
Weitere 23 % subsyndromale Störungen. 34 % der Betroffenen
nahmen keine Behandlung in Anspruch, 56 % gingen zum
Hausarzt, 31 % zum Bahnarzt und 4 % zu Psychotherapeuten.
Die Deutsche Bahn hält ein gestuftes System zur Betreuung
der Lokführer bereit. Betroffene können sich u. a. an Vertrau­
ensleute wenden und dann den bahnärztlichen Dienst
aufsuchen, der dann die Weichen für die weitere Behandlung
stellt. Wer aber nur weiterarbeiten will, kann dies auch tun.
Stadtbahnfahrer bei der Ü S T R A in Hannover werden die ersten
Tage aus dem Betrieb genommen. Zwischen 5 und 25 Sitzun­
gen sind nötig, bis die Fahrer ihre Erlebnisse einigermaßen
verarbeitet haben, sagt Betriebsarzt Ludger Steltenkamp. Der
Wunsch, ggf. nicht mehr auf der Unfallstrecke zu fahren, wird
berücksichtigt.
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titelthem a: P ost tr aum atis che bel a stungsstörung
m d k forum 2/10
Eine normale
Reaktion auf ein unnormales
Ereignis
D i e M e h r h e i t D e r A l l g e M e i n b e v ö l k e r u n g erlebt irgendwann im Leben ein traumatisches Ereignis. Dennoch
sind in Deutschland nur ein bis drei Prozent von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) betroffen. Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie und EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) sind die Behandlungsverfahren der Wahl. Umstritten bleiben sogenannte Frühinterventionen, die auch als Debriefing bekannt sind.
In Deutschland werden Lebenszeitprävalenzen der posttraumatischen Belastungsstörung (ptbs) bei Frauen von
2 bis 3 % und bei Männern von 0,4 bis 2 % berichtet. Nach
außergewöhnlichen Ereignissen (z. B. terroristischen Anschlägen, Bürgerkrieg) oder in beruflichen Risikogruppen
(z. B. Rettungspersonal, Polizei, Bundeswehr) kann die
Häufigkeit der ptbs und anderer psychischer Folgestörungen erheblich höher liegen.
Durch Menschen beabsichtigte Ereignisse (z. B. Vergewaltigung, Banküberfall) gelten als pathogener im Vergleich zu Ereignissen, die durch die Natur und Technik
verursacht wurden (z. B. Erdbeben, Motorschaden). Unterschieden werden zudem Traumatypen: Ereignisse (z. B.
Verkehrs- und Arbeitsunfall) mit vergleichsweise kurzer
Dauer (Traumatyp i) werden von einer länger andauernden Phase traumatischer Einzelereignisse (Traumatyp ii)
unterschieden (z. B. Geiselnahme, wiederholter Missbrauch in der Kindheit). Frauen bilden eher eine posttraumatische Symptomatik aus als Männer. Als weitere
stabile Risikofaktoren für die Entwicklung einer ptbs
haben sich neben vorher bestehenden psychischen Störungen und dem Erleben während des Ereignisses (z. B.
Panik, Dissoziation, Demütigung) das soziale Netzwerk
der Betroffenen und die finanzielle Absicherung herausgestellt.
Nicht jeder braucht eine Notfallversorgung!
Die Mehrheit der Bevölkerung schafft es, sich nach einem
traumatischen Ereignis selbst zu regulieren – ohne professionelle Hilfe. Entsprechend gehen die meisten Betroffenen davon aus, dass sie keiner psychologischen Unterstützung bedürfen. Sie beurteilen schriftliche Informationen in leicht verständlicher Form über typische Erlebnisprozesse, Bewältigungsstrategien und Betreuungsangebote jedoch als sehr hilfreich. Die Psychotherapeutenkammer Niedersachsen hat in Kooperation mit dem
National Center for Post-traumatic Stress Disorder und
dem National Child Traumatic Stress Network Materialien im Internet zugänglich gemacht (www.pk-nds.de),
die in verschiedenen Sprachen Hinweise für Betroffene,
Zeugen, Eltern von Kindern verschiedenen Alters, Ärzte
und professionelle Helfer geben. Insbesondere die Mate-
rialien für Eltern sind bei traumatischen Ereignissen vielfach in Deutschland eingesetzt worden.
Neben der medizinischen (Erst-)Versorgung wurde der
psychosoziale Aspekt eines Unfalls, eines Hausbrandes
oder gar einer Großschadens- und Katastrophenlage lange Zeit vernachlässigt. Unter der Leitung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (bbk)
werden gegenwärtig Qualitätsstandards und ein bundesweites, schnell abrufbares Netzwerk zur Organisation der
psychosozialen Notfallversorgung errichtet.
Frühinterventionen: Reden hilft nicht immer!
Bei der Versorgung vor Ort oder kurz nach dem Ereignis
werden auch sogenannte Frühinterventionen von psychosozialen Fachkräften (z. B. Notfallseelsorgern, Kriseninterventionsteams) angewendet. Insbesondere das Critical Incident Stress Debriefing (cisd) oder das Psychological Debriefing, was für professionelle Helfer (z. B. Rettungskräfte, Feuerwehr, Bundeswehr) zur Prävention der ptbs
entwickelt wurde, haben in der Vergangenheit zu einer
öffentlichen Debatte geführt. Leider wurde die Gruppenintervention des cisd in der Praxis auch mit Betroffenen
der Allgemeinbevölkerung – inklusive mit Jugendlichen
und teilweise verpflichtend – durchgeführt.
Anregungen während eines Kurzgespräches
– Eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis;
die Symptomatik zeigt an, dass das Gehirn
die vielen Eindrücke jetzt nachträglich verarbeitet!
– Alles, was bisher Freude gemacht hat, sollte wieder
aufgenommen werden!
– Betroffene sollten sich mit Menschen treffen, die ihnen
guttun – nicht: die Gutes tun wollen!
– Gut tun auch regelmäßiger Schlaf (trotz Albträumen und
nächtlicher Panikattacken), ausgewogene Ernährung
(trotz Appetitlosigkeit und unangenehmer Gefühle) und
tägliche sportliche Betätigung (trotz Antriebslosigkeit
und Grübeln)!
– Betroffene sollten sich in Geduld mit sich selbst üben!
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m d k forum 2/10
Wissenschaftlich muss darauf hingewiesen werden,
dass zwar die überwiegende Zahl der Studienteilnehmer
mit der Intervention zufrieden war, keine der zahlreichen
Studien allerdings die Wirksamkeit hinsichtlich der posttraumatischen Symptomatik zeigen konnte. Außerdem
gibt es immer wieder Hinweise, dass bei Personen mit
einer hohen Ausprägung der posttraumatischen Symptomatik langfristig Frühinterventionen sogar zur Aufrechterhaltung der Beschwerden beitragen. Für Betroffene der
Allgemeinbevölkerung sollten in Kurzgesprächen wenige
Tage nach dem Ereignis nur knappe Informationen zur posttraumatischen Symptomatik gegeben werden; ein Fokus
auf belastende Gefühle und Gedanken sollte unterbleiben. Zur Unterstützung der hirnphysiologischen Prozesse
können weitere Anregungen zur Tagesstruktur dienen.
Traumafokussierte Psychotherapie – was wirklich hilft!
Erst wenn die Beschwerden auf hohem Niveau über zwei
Wochen bestehen bleiben, ist eine traumafokussierte
Psychotherapie indiziert, die bei einer geringen Anzahl an
Risikofaktoren und der Bereitschaft, sich den traumaassoziierten Gefühlen und Gedanken zu stellen, schnell
zu einer Linderung bzw. auch Heilung führen kann. International anerkannte Behandlungsleitlinien zur ptbs
empfehlen Methoden der traumafokussierten kognitiven
Verhaltenstherapie (tf-kvt) und die Methode Eye Movement Desensitization and Reprocessing (emdr).
Nach einer ausführlichen Informationsvermittlung und
psychologischen Diagnostik werden in beiden Verfahren
Betroffene mit traumaassoziierten Gefühlen und Gedanken konfrontiert, um die Verarbeitung zu beschleunigen
und traumatische Erinnerungen in das »gesunde« Gedächtnis zu überführen. Über mehrere Sitzungen hinweg
wird der Betroffene angeleitet, eigene Interpretationen
des Geschehens zu überprüfen und hilfreiche Gedanken
zu integrieren. Um die Vermeidungsreaktionen systematisch abzubauen, sollten bei beiden Verfahren traumaassoziierte Situationen, Orte oder Gegenstände mit dem
Therapeuten aufgesucht werden. Nach und nach erhalten
so die Erlebnisse eine neue Bewertung, die es den Betroffenen ermöglicht, ein Leben nach dem traumatischen Ereignis wieder aufzunehmen. Im Therapieverlauf sollten
Angehörige, Freunde oder ggf. auch Kollegen einbezogen
werden, um Hinweise für den Umgang mit der Sympto-
matik geben zu können bzw. den Behandlungsverlauf
aktiv zu unterstützen.
Psychopharmakologische Behandlung als
zusätzliche Unterstützung
Die Gabe von Antidepressiva kann die psychotherapeutische Behandlung unterstützen. Dagegen muss von einem
dauerhaften Einsatz der Benzodiazepine abgeraten werden: Es besteht nicht nur ein hohes Abhängigkeitspotenzial bei Angststörungen, sondern eine traumafokussierte
Psychotherapie als Verfahren erster Wahl ist unter Benzodiazepinen kontraindiziert.
Schlussfolgerung
Multiplikatoren (u. a. von Krankenkassen, Versicherungen, berufsspezifische Risikogruppen, psychosoziale Fachkräfte) sollten ein Netzwerk mit psychotraumatologisch
qualifizierten, heilkundlich tätigen Psychotherapeuten
bilden, um eine Versorgung schnell und kostengünstig zu
gewährleisten. Selbstverständlich sollten der Einbezug
von Angehörigen bzw. Freunden sowie Behandlungssitzungen außerhalb der Therapieräume bewilligt werden.
International empfohlene traumafokussierte Psychotherapieverfahren (tf-kvt, emdr) sollten in Deutschland
eine weite Verbreitung finden, kommen aber nach einer
exemplarischen Umfrage in Niedersachsen noch nicht
ausreichend zum Einsatz. Zusätzliche Fortbildungen und
die Nutzung von zusammengetragenem Expertenwissen
in internationalen Behandlungsleitlinien sollten zukünftig die Wirksamkeit der Therapie erhöhen.
Frühinterventionen sollten mit Blick auf die potenziellen Schäden für hoch belastete Betroffene nur von Ausgebildeten für professionelle Helfer durchgeführt werden.
Für Personen der Allgemeinbevölkerung werden Kurzgespräche mit anschließender Beobachtungsphase von
mindestens zwei Wochen favorisiert, um die Selbstregulation der Betroffenen nicht zu stören.
Dr. Christoph Kröger,
Dipl.-Psych., Institut für
Psychologie / Psychotherapieambulanz der Technischen
Universität Braunschweig.
[email protected]
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Der Traum vom Helfen
O B R e t t u n G s K R ä F t e , Feuerwehrleute, Notfallmediziner oder Notfallseelsorger: In Katastrophenfällen stehen sie
Opfern und Angehörigen zur Seite und helfen. Mit Schicksalen anderer Menschen konfrontiert zu werden hinterlässt
Spuren. Wie verarbeiten die Helfer selbst diese extremen Belastungssituationen? Wer hilft denjenigen, die helfen?
Für die Helfer hat die Unterstützung der Opfer erste Prio­
rität. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass die Helfer
selbst nicht immer ihre eigenen Grenzen in den Belas­
tungssituationen bemerken und spüren. Dies führt dann
oft zu Symptomen, die denen der Opfer beziehungsweise
der »primär« Traumatisierten ähnlich sind. Die Medizin
nennt das die sogenannte sekundäre Traumatisierung,
auch als posttraumatisches Belastungssyndrom bekannt.
Sie wird sowohl von den Betroffenen, den Helfern selbst,
als auch von der Gesellschaft nicht hinreichend erkannt.
Viel zu selten wird bewusst gemacht, dass die psychischen
»Aufnahmekapazitäten« der einschlägigen Berufsgruppen
begrenzt sind.
definiert: lkws und das Einsatzteam ohne Risiko durch
die schwierige, teils unwegsame Infrastruktur zu bringen.
Der Hilfsgütertransport aus Deutschland war gleichzeitig
der Transfer für das neue Einsatzteam. Auf die Helfer war­
tete ein Flüchtlingslager mit einer
Vor Ort sieht die Welt
Krankenstation, die rund 120 Bet­
ten umfasste. Auf der Fahrt nach
plötzlich ganz anders aus
Mazedonien war dem Einsatz­
team bewusst, welche Belastungssituationen möglicher­
weise ab jetzt zum Alltag gehören: Zerstörung, Flucht,
schwere physische und psychische Verletzungen. Täglich,
egal ob Tag oder Nacht.
Den Kontakt halten
Helfen mit einer Prise Abenteuer
Eine Frau um die 30 Jahre öffnet die Tür. Zwei kleine Kin­
der stehen neben ihr, halten sich noch etwas schüchtern
an den Beinen der Mutter fest. Elke Mauren hat vier inter­
nationale Einsätze als Rettungskraft in Krisengebieten
mitgemacht. »Damals war ich als Rettungsassistentin tä­
tig, als ich eine Anzeige am Aushang meiner Leitstelle ge­
lesen habe«, berichtet die junge Mutter. Gesucht wurden
Rettungskräfte für ein Flüchtlingslager in Mazedonien.
Ein Einsatz für freiwillige Helfer, begrenzt auf zehn Wo­
chen. »Klar habe ich erst mal schlucken müssen beim
Gedanken, in ein Krisengebiet zu reisen, aus dem täglich
Anschläge, Vertreibung und Tote in den Medien gemeldet
werden. Das war 1998, damals tobte der Bürgerkrieg in
Jugoslawien, dem ehemaligen Urlaubsland der Eltern.«
Durch den Aushang wurde der Traum von der zweifachen
Mutter wieder aktiv, den sie
Helfer kennen ihre eigenen
schon als junges Mädchen hatte:
fremde Länder sehen und dabei
Grenzen oft nicht
eine Arbeit verrichten, die an­
deren hilft. »Es war eine Mischung aus Helfersyndrom mit
einer Prise Abenteuerdrang, die mich zu meinen vier Aus­
landseinsätzen führte«, erzählt Elke Mauren, während sie
für ihre Kinder das Mittagessen zubereitet.
In ständiger Gefahr
Die Angst war plötzlich da, als wir den Hilfsgütertransport
durch das Krisengebiet steuerten. Klar hatte man sich
vorab informiert und Extremsituationen durchgespielt.
Aber dann vor Ort, dann war die Realität doch anders, als
man sich das vorgestellt hat. Ab diesem Zeitpunkt war die
Angst unser ständiger Begleiter. »Sie machte uns wach, sie
machte uns vorsichtig und sie regte uns an, immer unser
Bestes zu tun«, erzählt Elke Mauren von ihrem zweiten
Einsatz. Der Auftrag unserer Hilfsorganisation war genau
»Manchmal möchte man nur noch schlafen, das hilft, um
das Erlebte zu verkraften«, berichtet die ehemalige Rettungs­
assistentin. Den Kontakt zur Familie, zu Freunden und zu
Arbeitskollegen zu Hause über E­Mails oder Satellitente­
lefon zu halten war auch eine Überlebensstrategie für
viele Helfer, um die täglich einströmenden Ereignisse zu
verarbeiten. Gleichzeitig wächst der Zusammenhalt zwi­
schen den Helfern vor Ort. Diese Bindung wird sehr eng,
fast schon familiär, man hilft sich gegenseitig, um mit der
außergewöhnlichen Situation und den täglich neuen Erleb­
nissen zurechtzukommen. »Das hält oft ein Leben lang«,
fügt Elke Mauren hinzu. Das dokumentieren auch die Bil­
der, die sie mittlerweile aus ihrem Fotokarton herausge­
zogen hat, und die sie als junge Rettungsassistentin zeigen.
Vorbereitung ist alles
»Beim ersten Einsatz gab es keine Vorbereitung durch die
Organisation, da habe ich mich selbst über das Land und
die Situation informiert. Beim zweiten Einsatz gab es eine
dreistündige Einweisung in Kultur, politische Lage sowie
klare Verhaltensregeln«, erzählt Elke Mauren weiter. Mitt­
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titelthem a: P ost tr aum atis che bel a stungsstörung
m d k forum 2/10
lerweile haben viele Organisationen dazugelernt und
bieten den Helfern vorab Trainingseinheiten für ris­
kante Situationen in Krisengebieten an. Ebenfalls gibt
es jetzt auch bei den Non­Governmental Organizations
(ngos) während des Einsatzes und danach psychologi­
sche oder seelsorgerische Betreuung. Viele Hilfsorgani­
sationen wählen ihre Helfer sehr genau aus. Im Fokus
stehen neben Bewerbungsbögen und psychologischen
Tests auch persönliche Gespräche. Allerdings ist dies von
Organisation zu Organisation verschieden. Ohne persön­
liche und professionelle Vorbereitung kann der Einsatz
im Krisengebiet oft ins Gegenteil schlagen und seelische
Folgen haben.
Nachsorge ist essenziell
Das Telefon klingelt. Der Ehemann erkundigt sich nach
dem Wohlbefinden. Elke Mauren erwartet ihr drittes Kind.
Sie sagt, »ich habe sicherlich großes Glück, ich habe einen
verständnisvollen Partner an meiner Seite. Dies ist ent­
scheidend, wenn man zurückkommt und keiner die Er­
fahrungen mit einem teilen kann. Nur wer einen Hilfs­
einsatz erlebt hat, versteht, was in einem vorgeht und wo­
rüber man gerade spricht oder nicht sprechen kann«, er­
zählt sie weiter. Da können Lebenspartner, die Familie
oder Freunde oft nicht weiterhelfen beim Umschalten zur
alten Tagesordnung.
Neben einer guten Vorbereitung sei daher auch die psy­
chologische Betreuung nach Hilfseinsätzen von großer
Bedeutung, denn »allein das Miterleben menschlichen
Leidens kann bei Helfern psychische Reaktionen hervor­
rufen, als seien sie selbst betroffen«, sagt Dr. Dirk Winde­
muth, Arbeitspsychologe am Berufsgenossenschaftlichen
Institut Arbeit und Gesundheit in Dresden.
Als Folge könne eine posttraumatische Belastungsstö­
rung auftreten, verbunden mit Schlafstörungen und so­
genannten Flashbacks. »Dabei erlebt der Betroffene die
auslösende Situation immer wieder. Er erinnert sich nicht
nur einfach, sondern zeigt auch dieselben körperlichen
Reaktionen.« Windemuth geht davon aus, dass 25 % aller
Fälle ohne psychosoziale Unterstützung chronische Schä­
den davontragen können. Die ngos haben mittlerweile
Fachkräfte, die den Helfern nach Hilfseinsätzen psycho­
logisch zur Seite stehen. Die Fachkräfte werden im welt­
weit bewährten Critical Incident Stress Management
(cism) ausgebildet. Im deutschen Sprachgebrauch wird
überwiegend der Begriff Stress­
bearbeitung nach belastenden
Betreuung vor und nach
Ereignissen (sbe) benutzt. Die
dem Einsatz
sbe­Bundesvereinigung ist die
älteste und größte Einsatznachsorge­Organisation im
deutschsprachigen Bereich. Sie wurde 1996 gegründet
und hat in den ersten 13 Jahren etwa 3000 psychosoziale
Fachkräfte und Einsatzkräfte in über 400 Kursen in der
sbe­Methode geschult. Die Ausbildung und Arbeit werden
wissenschaftlich von der Ludwig­Maximilians­Universi­
tät München im Department Psychologie begleitet.
Wichtige Erfahrungen
»Wenn ich jetzt Meldungen aus Haiti oder anderen Gebie­
ten sehe, dann sehe ich sie immer mit den Augen eines
Helfers vor Ort, der dem Elend
unmittelbar ausgesetzt ist. Aber
Wieder zu Hause, ist
ich habe inzwischen eine Fami­
Verständnis gefragt
lie und ich bin hier verankert,
sonst würde ich wahrscheinlich versuchen, das Leid vor
Ort zu lindern. Auch wenn die Zeit nach den Einsätzen
schwer ist. Es ist wohl doch das Helfersyndrom mit einer
Prise Abenteuerdrang«, begründet Elke Mauren ihren
Traum vom Helfen.
tanja wenzel
istReferentin
Kommunikationbeim
MDKBayern.
[email protected]
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Therapiemöglichkeiten bei PTBS
Ein Ziel und viele
Wege
K a u M e i n p s y c h O l O G i s c h e s G e B i e t stand in den letzten zwei Jahrzehnten so im Fokus des wissenschaftlichen
Interesses wie die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Deshalb gilt ihre Therapie auch als eines der bestevaluierten Gebiete der Psychotherapie. Zahlreiche unterschiedliche Behandlungsoptionen stehen zur Wahl; in diesem
Beitrag sollen die verschiedenen Ansätze skizzenhaft vorgestellt und auf ihre Wirksamkeit hin diskutiert werden.
Es gibt klinische Hinweise, dass traumaspezifische Fakto­
ren die Wahl des therapeutischen Rahmens und der The­
rapiemethode beeinflussen sollten. Empirisch untersucht
wurde, ob komorbide Störungen einen Einfluss auf die
Wahl der Therapiemethode haben sollten. Es deutete sich
z. B. bei komorbiden Suchterkrankungen als sinnvoll an,
diese Störungen simultan zu behandeln. Klinische Er­
fahrungen legen darüber hinaus nahe, dass das Alter zur
Zeit der Traumatisierung(en) und auch der Behandlung
ausschlaggebend dafür ist, welche Therapieform ange­
wandt wird. Diese Hinweise
Noch immer unklar:
müssen noch empirisch unter­
mauert werden.
Welche Faktoren bestimmen
Anders bei der Häufigkeit des
die Therapie?
verursachenden Traumas. Tritt
ein Trauma wiederholt auf, so hat dies zwar gravierende
Folgen für die Ausprägung, die Komplexität und die
Schwere der Symptomatik. Allerdings reichen die vorlie­
genden Studien nicht aus, um daraus Schlussfolgerungen
für eine Therapiegestaltung herleiten zu können. Ebenso
wenig lässt sich aus der Art des Traumas ableiten, welche
Therapie eingesetzt werden sollte. Für Patienten mit aus­
geprägter Psychopathologie gibt es jedoch Hinweise auf
einen geringeren Erfolg bei Gruppentherapien.
Therapieablauf in drei Phasen
In Deutschland wird weitgehend unabhängig von Thera­
pieschulen die Therapie der ptbs in drei Phasen einge­
teilt:
— Stabilisierung und Affektregulation
— Traumasynthese / Traumaexposition
— Integration und Neuorientierung
Einen wissenschaftlichen Beleg für die Relevanz eines
festgelegten zeitlichen Ablaufs bei den einzelnen Trauma­
typen, ptbs­Präsentationen und Setting­Formen (statio­
när / ambulant) gibt es aktuell nicht. Die Therapiephasen
beschreiben pragmatisch unterschiedliche Schwerpunkt­
setzungen, die nach Bedarf zum Einsatz kommen und
deren Dauer variieren kann.
Fokussierung auf das Trauma oder
breites therapeutisches Vorgehen?
Steht ausschließlich das Trauma im Mittelpunkt der The­
rapie oder ist die Therapie breiter angelegt? Mit dieser
Frage beginnt der therapeutische Prozess.
Traumafokussierte Ansätze finden sich in allen großen
therapeutischen Schulen. Im Mittelpunkt des Therapie­
ansatzes traumafokussierter Verfahren steht die Reduktion
der ptbs­Symptomatik. Ein evidenzbasierter Wirksam­
keitsnachweis findet sich für einige verhaltenstherapeuti­
sche Ansätze und für das Eye Movement Desensitization
and Reprocessing (emdr).
Im Rahmen des breiten therapeutischen Vorgehens
werden neben der Behandlung der ptbs­Symptomatik
auch Symptome, die mit der ptbs einhergehen, bei der
Planung berücksichtigt, so z. B. Depressionen, Ärger,
Scham, Schuldgefühle und Borderline­Symptomatik.
Unterstützend werden hier auch sogenannte körperbezo­
Literaturtipp
Auch die Frage, ob die Kombination von Psychothera­
pie und Psychopharmakotherapie bei ptbs den Betroffe­
nen wirkungsvoll hilft, ist trotz wissenschaftlicher Unter­
suchungen nicht sicher zu beantworten. Hierzu sind in
der Zukunft aussagekräftigere Studien zu erwarten.
A N D R E A S M A E R C K E R [Hrsg.]:
Posttraumatische Belastungsstörungen.
Dritte,vollständigneubearbeitete
underweiterteAusgabe.
Berlin,Heidelberg2009
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m d k forum 2/10
gene Therapien eingesetzt. Ein derartiges Vorgehen lässt
sich bevorzugt in stationären Behandlungskonzepten, sozial rehabilitativen und auch komplementär therapeutischen Ansätzen verwirklichen.
Nebenrolle für Psychopharmakotherapie
Psychopharmaka werden zur Behandlung der ptbs zumeist nur unterstützend eingesetzt. In Deutschland ist
dazu nur der selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (ssri) Paroxetin zugelassen. Alle weiteren Medikamente werden »off-label« angewendet.
Einige wenige systematische Studien für die Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie zeigen für die ptbstypischen Symptomcluster (Übererregbarkeit, Panikattacken und depressive Symptomatik) tendenziell positive
Effekte für die Substanzgruppen ssri, trizyklische Antidepressiva, mao-Hemmer und atypische Neuroleptika.
Fazit
Auch wenn zurzeit viele Wege eine erfolgreiche Therapie
verheißen, hängt es aktuell überwiegend von der klinischen Erfahrung des Therapeuten und dessen therapeutischer Ausrichtung ab, welcher
letztlich beschritten wird. Ein
Wirksamkeit nur für einige
belastbarer WirksamkeitsnachTherapieansätze wissenweis konnte bisher lediglich für
schaftlich nachgewiesen
einige verhaltenstherapeutische
Ansätze und für das Eye Movement Desensitization and
Reprocessing erbracht werden. Nicht endgültig geklärt
ist, ob traumaspezifische Faktoren Einfluss auf die Wahl
des Settings und der Methode haben sollten.
Dr. med. Wiebke Martinsohn-Schittkowski,
Mitarbeiterin des KompetenzCentrums Psychiatrie
und Psycho therapie.
w.martinsohn-schittkowski@
mdk-mv.de
Dr. med. Christoph Tolzin,
Leiter des KompetenzCentrums Psychiatrie und
Psycho therapie.
[email protected]
Dr. phil. Ulrike SühlfleischThurau, Dipl. Psych. an
der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie der Uni
Rostock. ulrike.suehlfleisch@
med.uni-rostock.de
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traumafokussierte Ansätze: drei Konzepte
Verhaltenstherapeutische Ansätze
Die Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Methoden konnte in zahlreichen Studien nachgewiesen werden. Sie
zeichnen sich durch ein sehr strukturiertes Vorgehen und eine
vergleichsweise kurze Behandlungsdauer aus.
Die Prolonged Exposure (Foa) ist eine sogenannte expositionsfokussierte Therapiemethode. Durch mehrmaliges Wiedererleben des Traumas in der Vorstellung oder durch Aufsuchen
von Situationen / Orten / Personen wird eine Gewöhnung (Habituation) an die traumatischen Erfahrungen herbeigeführt.
Die kognitionsfokussierte Therapie (Ehlers u. Clark) setzt
an den Bedeutungen des Traumas für den Patienten an. Negative Interpretationen der traumatischen Erfahrung sollen verändert werden. Hierbei kommen spezielle Interventionen zur
Veränderung des Traumagedächtnisses (z. B. Aktualisierung,
Erkennen der Auslöser traumatischer Erinnerungen, aufrechterhaltendes Verhalten) zum Einsatz.
Die kognitive Verarbeitungstherapie ( c P T / Resick) geht
von übergeneralisierten Grundannahmen des Traumatisierten
aus. Durch sokratischen Dialog und durch Veränderungen der
Gedanken über traumatische Ereignisse sollen ausgewogene
Grundüberzeugungen gefördert und dem Patienten Sicherheit
und Kontrolle wiedergegeben werden. Die c P T wurde als
12-stündiges Gruppenprogramm entwickelt, kann aber auch
einzeltherapeutisch angewendet werden.
Psychodynamische Ansätze
Psychodynamisch-imaginativeTherapie P i t t (Reddemann). Nur
für die Imagination als Aspekt dieser Methode konnten signifikante Erfolge nachgewiesen werden – und das lediglich in einer
Studie. Mittels Imagination sollen dem Patienten sogenannte
dosierte Erinnerungen ohne traumatische Reizüberflutung ermöglicht werden, um die Fähigkeit zur Selbstregulation und
-beruhigung zu fördern. Für die Wirksamkeit der P i T T als Gesamtkonzept liegen keine Studien vor.
Die psychodynamische Traumatherapie nach Horowitz
geht davon aus, dass traumatische Ereignisse bei pathologischer Verarbeitung zu einer Überlastung mit Kognitionen und
Emotionen führen. Deshalb müssen zunächst die Symptome
reduziert werden, bevor es zur Integration der Erinnerungen
kommen kann. Bestehende Weltsichten (Schemata) des Patienten werden dabei überprüft und verändert. Bisher gibt nur eine
randomisierte Studie Hinweise auf Wirksamkeit dieser Therapie.
Kombinierte Methoden
Das Eye Movement Desensitization and Reprocessing e M d r
(Shapiro) wurde eigens für die Therapie von Traumafolgestörungen entwickelt. Der Patient konzentriert sich auf Anteile
seiner traumatischen Erinnerung und erlebt gleichzeitig eine
»bilaterale Stimulation« durch den Therapeuten (Fingerbewegungen, rhythmisches Berühren beider Hände usw.). Dadurch
wird ein assoziativer Verarbeitungsprozess ausgelöst, der
meist zu einer raschen Entlastung führt.
Die überzeugende Studienlage führte im Jahr 2009 zu einer
Anerkennung als Behandlungsmethode der P T b s bei Erwachsenen durch den wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie ( w P b ).
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Suchterkrankungen nach Traumatisierung
Die Erinnerung löschen
M e n s c h e n M i t t R a u M a t i s c h e n e R F a h R u n G e n entwickeln in der Folge häufig eine Suchterkrankung. In der
Biografie vieler Suchtpatienten sind häufig traumatische Erlebnisse nachweisbar. Suchtmittel helfen, das Geschehene
vorübergehend zu vergessen oder negative Gefühle zu betäuben. Doch erst in den vergangenen Jahren haben Experten damit begonnen, den Zusammenhang zwischen Traumatisierung und Suchterkrankung genauer zu untersuchen.
Seit fast drei Monaten wohnt Jörg P. (Name von der Redak­
tion geändert) in der Beusingser Mühle, einem Thera­
piezentrum für Suchterkrankungen der Diakonie Ruhr­
Hellweg im westfälischen Bad Sassendorf. Es ist nicht
der erste Therapieanlauf, den der 33­Jährige unternimmt.
Mittlerweile kann er über die Geschehnisse, die ihn in
die Sucht geführt haben, sprechen. Bis dahin war es je­
doch ein langer Weg. Mit sechs Jahren wird Jörg P. vom
Lebensgefährten seiner Mutter sexuell missbraucht. Er
spricht mit niemandem darüber, doch die Erinnerungen
lassen ihn nicht los. Mit 15 Jah­
ren beginnt er, Cannabis zu rau­
Trauma und Sucht:
chen. Es folgen Amphetamine
Eine simul tane Therapie
und Ecstasy. »Die Drogen haben
ist sinnvoll
mir dabei geholfen, die Erinne­
rung und Gefühle daran zu verdrängen«, sagt er heute.
Jahrelang gehört der Drogenkonsum zu seinem Alltag
und verstärkt sich zunehmend. Sein Hungergefühl nimmt
ab, er verliert immer mehr an Gewicht. Als er mit 25 Jahren
gerade noch 43 Kilo wiegt, begibt er sich zum ersten Mal
in Behandlung.
»Nicht wenige Suchtpatienten haben chronische Trau­
matisierungen erlitten und nutzen die Drogen, um mit
den Auswirkungen des Erlebten umgehen zu können«,
erklärt Sybille Teunißen, Leiterin des Therapiezentrums.
»Wenn man Cannabis nimmt, schläft man häufig besser,
Heroin und Alkohol fördern ein Gefühl der Gleichgültig­
keit und Amphetamine können die Stimmung positiv be­
einflussen. So lassen sich viele Folgeerscheinungen eines
Traumas wie Schlafstörungen, Flashbacks, Anspannung
und Schreckhaftigkeit sowie Betäubungszustände ›be­
kämpfen.‹«
Suchtpatienten, die unter einer Traumafolgestörung
leiden, benötigen eine spezielle Therapie, bei der auf die
Sucht und die Auswirkungen, die Traumatisierungen
haben, gleichzeitig eingegangen wird. »Bevor Betroffene
an einer Rehabilitation teilnehmen können, müssen sie
in den Entzug. Danach befinden sie sich meist in einem
sehr labilen Zustand«, erklärt Teunißen.
Konfrontation vermeiden
Die Beusingser Mühle hat ein spezielles Konzept entwi­
ckelt, nach dem Patienten, die sowohl von Sucht als auch
von Traumafolgen betroffen sind, behandelt werden. »Das
erste Ziel ist es, dass die betroffenen Personen erleben,
dass sie den Alltag wieder bewältigen können und sich
auch clean gut fühlen können.« Für Männer und Frauen
gibt es auch geschlechtsspezifische Angebote, da sie häufig
zunächst die Gewalterfahrungen unterschiedlich ver­
arbeiten. Da Männer oft external, d. h. mit aggressivem
Verhalten auf ein Trauma reagieren und Frauen eher in­
ternal, also die erfahrene Gewalt gegen sich selbst wen­
den, hält die Klinik sowohl geschlechtsbezogene Projekte
zum Umgang mit Agressivität und Gewalt als auch Selbst­
behauptungs­ und Selbstverteidigungskurse bereit.
Bessere Vernetzung nötig
Bei der Versorgung von Suchtpatienten, die häufig wie­
derholt Traumatisierungen in der frühen Kindheit und
Jugend erlebt haben, gibt es noch Verbesserungsbedarf.
Zwar erkennen immer mehr Einrichtungen diese Proble­
matik und spezialisieren sich auf diese Gruppe, meistens
findet man jedoch Angebote, die sich entweder an Sucht­
kranke oder an Traumatisierte richten. »Viele psychoso­
matische Kliniken und Einrichtungen nehmen keine Pa­
tientinnen und Patienten auf, die suchtkrank sind, selbst
wenn sie aktuell abstinent sind. Auch viele niedergelasse­
ne Therapeutinnen und Therapeuten sind nicht bereit,
traumatisierte suchtkranke Personen anzunehmen. Was
das angeht, würde ich mir eine bessere Vernetzung wün­
schen«, sagt Teunißen.
Jörg P. ist mittlerweile zuversichtlich. Sein Ziel ist es,
wieder arbeiten zu gehen und natürlich, clean zu bleiben.
In der Therapie in der Beusingser Mühle hat er Fortschrit­
te gemacht und will seinen Aufenthalt nun um einige
Wochen verlängern. »Ich merke, dass es Frühling wird.
Das war früher nicht so.«
friederike Geisler,
StabsstelleKommunikationbeimMDK
Niedersachsen.
[email protected]
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mdk | wissen und standpunk te
Reha vor und bei Pflegebedürftigkeit
Rüstiger durch Rehabilitation?
K ö n n e n r e h a b i l i t a t i v e l e i s t u n g e n zur Vermeidung und Minderung von Pflegebedürftigkeit beitragen? Und:
Wie ist zu gewährleisten, dass diese Leistungen die Pflegebedürftigen auch erreichen? Über diese Fragen diskutierten
die Teilnehmer der Tagung »Rehabilitation vor und bei Pflegebedürftigkeit« der Sozialmedizinischen Expertengruppen 1 »Leistungsbedarf / Teilhabe« und 2 »Pflege / Hilfebedarf« der MDK-Gemeinschaft am 28. April in Dortmund.
Die Zahl der multimorbiden Menschen mit komplexem
Hilfebedarf nimmt zu und damit auch ihr Risiko, eine
dauernde Behinderung zu entwickeln und von fremder
Hilfe abhängig zu werden. Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 hat der Gesetzgeber den Anspruch pflegebedürftiger Menschen auf Rehabilitationsleistungen noch
einmal bestärkt: Leistungen zur medizinischen Rehabilitation müssen auch für pflegebedürftige Menschen bereitgestellt werden, sofern eine Rehabilitationsindikation besteht. Bei einer Indikation zu mobiler Rehabilitation kann
das Rehateam auch direkt ins »häusliche Umfeld« kommen.
Alltagsrelevante Rehabilitationsziele definieren
Um einen Zugewinn an Selbstständigkeit und die Reduzierung der Abhängigkeit von fremder Hilfe zu erreichen,
ist die Benennung von konkreten alltagsrelevanten Rehabilitationszielen entscheidend. Das machte Dr. Barbara
Gansweid, Leiterin der seg 2 und zuständig für das Fachreferat Pflege beim mdk Westfalen-Lippe, in ihrem Vortrag deutlich. »Aus Sicht der Pflegebedürftigen müssen
realistische alltagsrelevante Rehabilitationsziele definiert
werden. Das sind zum Beispiel das Wiedererlangen der
Stehfähigkeit oder die Verbesserung des Transfers vom
Bett in den Rollstuhl.« Dabei müssten auch die Kontextfaktoren vor Ort berücksichtigt werden.
Mobile Reha: Angebot für geriatrische Patienten
Für einige der betroffenen Pflegebedürftigen mit erheblichen funktionellen Beeinträchtigungen und komplexem
Hilfebedarf kann die mobile Rehabilitation ein passgenau
auf ihren Bedarf zugeschnittenes Rehabilitationsangebot
machen. Nach einer ersten Auswertung hatten 70 % der
Rehabilitanden in der mobilen Rehabilitation bereits eine
Pflegestufe, davon rund ein Drittel (35,4 %) die Pflegestufe
1, 22,9 % die Pflegestufe 2 und 11,5 % die Pflegestufe 3.
»Ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer mobilen
Rehabilitation ist in der Regel, dass erhebliche kognitive
Einschränkungen vorliegen, die in fremder Umgebung
zunehmen«, betonte Anja Niedling, Mitarbeiterin der
Abteilung Medizin beim gkv-Spitzenverband. Problematisch ist die derzeit noch sehr geringe Verfügbarkeit
mobiler Rehabilitationsangebote. Trotzdem sollten bei
der Pflegebegutachtung in entsprechenden Fällen Empfehlungen zur mobilen Rehabilitation gegeben werden,
so die Meinung der Teilnehmer, damit kein falsches Bild
über den Bedarf entsteht.
Heilmittel oder mobile Reha?
Die mobile Rehabilitation wird von einem interdisziplinär
besetzten Team erbracht, in dem Ärzte und Pflegefachkräfte mit Physio- und Ergotherapeuten, aber auch mit
Stimm-, Sprech- und Sprachtherapeuten, Sozialarbeitern
und klinischen Psychologen zusammenarbeiten. »Eine besondere Rolle für den Erfolg der
Es gibt noch nicht genügend
mobilen Rehabilitation spielt die
Einbindung der Angehörigen
mobile Rehabilitationsbzw. Bezugspersonen der ReAngebote
habilitanden. Sie müssen in die
Behandlung des Patienten einbezogen werden und brauchen auch eine entsprechende Schulung«, betonte Dr. Thomas Hagen vom mdk Bayern.
Aber auch die mobile Rehabilitation stellt Anforderungen an die Belastungsfähigkeit, die nicht von allen Rehabilitanden erfüllt werden können. Das stellte Dr. Dietmar
Rohland vom mdk Niedersachsen heraus. Als niedrigschwellige Alternative bietet sich die Verordnung von Heilmitteln an. Die Möglichkeiten, Heilmittel mit rehabilitativer Zielsetzung, ggf. auch in Kombination, anzuwenden,
würden oft nicht ausreichend genutzt, so Rohland.
Multiresistente Keime kein K.-o.-Kriterium
Ein seit Jahren relevantes Problem für viele Rehabilitanden
ist die Besiedelung mit mrsa. Dennoch muss dies kein
Ausschlusskriterium sein, so pd Dr. Iris F. Chaberny von
der Medizinischen Hochschule. Sie machte deutlich, dass
insbesondere bei ausschließlicher Besiedelung mit mrsa
oft ein regelrechter Rehabilitationsablauf ohne strikte
Isolierung möglich sei. Dabei müssten allerdings die Voraussetzungen stimmen. Dazu gehörten u. a. ein Aufnahmescreening, Einhaltung der Hygienestandards, die Beteiligung an einem Überwachungssystem (surveillance) und
eine rationale Antibiotikatherapie.
Noch viele Fragen offen
Besonders bei den Themen Rehabilitationsziele, mobile
Rehabilitation und Stellenwert von Heilmitteln wurde in
der Veranstaltung deutlich, an welchen Stellen Verbesserungen für die Rehabilitation Pflegebedürftiger ansetzen
müssen. Klar wurde aber auch, dass bei der konkreten
Umsetzung noch viele Fragen offen sind.
Bernhard Fleer ist
Mitarbeiter im Fachgebiet
»Pflegerische Versorgung«
des M DS .
b. f l e e r @ m ds - ev. de
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mdk | wissen und standpunk te
m d k forum 2/10
Symposium Behandlungsfehler
Im Cockpit geht man
auf Nummer sicher
E i n O P u n d E i n F l u g z E u g - C O C k P i t – zwei Arbeitsplätze, an denen menschliches Versagen fatale Folgen haben kann.
Die Luftfahrt hat kontinuierlich hohe Standards zur Fehlervermeidung entwickelt. Kann die Medizin davon profitieren?
Dies war eine der Fragen des Symposiums »Behandlungsfehler erkennen und vermeiden« der Akademie für Sozial­
medizin und des MDK Niedersachsen am 17. März mit rund 100 Teilnehmern und renommierten Experten in Hannover.
»Ein Operationssaal ist so komplex, ich würde daran
scheitern«, gab Flugkapitän Hans Härting von Austrian
Airlines zu, obwohl er selbst es bei seiner täglichen Arbeit
im Cockpit mit mehreren hundert Bedien- und Kontrollelementen zu tun hat. Härting arbeitet halbtags bei seiner
Airline. In der anderen Zeit berät er seit einigen Jahren
Krankenhäuser, wie sie die Patientensicherheit verbessern können.
»Selbst bei McDonalds wird ihre Bestellung am Counter wiederholt, damit keine Missverständnisse auftreten.
Aber da geht es ja auch um so wesentliche Dinge wie Hamburger.« Flugkapitän Hans Härting bringt auf den Punkt,
was viele längst wissen: In vielen Branchen, nicht nur im
Hochsicherheitsbereich, sind Standards zur Fehlerreduzierung längst etabliert. Viele Krankenhäuser haben hier
noch Nachholbedarf. Es herrschen teilweise enorme Defizite zum Beispiel in der Kommunikation im Operationssaal oder bei den Abläufen im Notfall. So kommt es immer
wieder zu Patientenverwechslungen, Verwendung der
falschen Medikamente oder Zurücklassen eines Fremdkörpers im Bauchraum des op-Patienten.
Personal braucht Rückmeldungen
Prof. Matthias Rothmund, Dekan des Fachbereichs Medizin an der Philipps-Universität Marburg, beschäftigt sich
seit Jahren mit dem Thema Patientensicherheit. Als einer
mdk | wissen und standPunk te
m d k forum 2/10
der ersten Mediziner in Deutschland hat er mit dem ano­
nymen Fehlermeldesystem cirs (Critical Incident Re­
porting System) gearbeitet. Viele Krankenhäuser haben
das System seitdem eingeführt. »Es ist schön zu sehen,
dass das Thema auf der Agenda des Gesundheitswesens
platziert ist, jedoch muss noch viel getan werden«, sagt
Rothmund. »Wichtig ist zum Beispiel, dass es immer einen
Ansprechpartner für solche Meldesysteme gibt und dass
das Personal auch eine Rückmeldung erhält. Eine Schwes­
ter, die viermal etwas meldet und niemals hört, was daraus
geworden ist, wird es wahrscheinlich kein fünftes Mal tun.«
WHO-Richtlinien Standard im Bangkok Hospital
Die weiteste Anfahrt an diesem Tag hatte Virginia Maris­
polsky, Qualitätsmanagerin der Bangkok Hospital Group.
Sie nahm den Weg von Bangkok nach Hannover auf sich,
um über die Umsetzung der who­Patientensicherheits­
ziele an ihrem Haus zu berichten. Die Anwesenden waren
überrascht von den zahlreichen Patientensicherheits­
maßnahmen in dem thailändischen Krankenhaus. Das
Bangkok Hospital ist nach der Joint Commission Inter­
national (jci) akkreditiert.
Patientensicherheits-Projekt in RTL aktuell
Patienten haben mehr Möglichkeiten
Juristen betrachten das Feld der Behandlungsfehler aus
einer anderen Perspektive. Sie vertreten einerseits die ge­
schädigten Patienten, können aber auch den angeklagten
Medizinern zur Seite stehen. Als Vertreter der Ärzte unter­
stützen sie die Mediziner schon im Vorfeld, um einem
möglichen juristischen Konflikt vorzubeugen. Als Justiziar
des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen beschäftigt
sich Dr. Jörg Heberer alltäglich mit Behandlungsfehler­
Fällen. Dabei stellt er unter anderem fest, dass den Patien­
ten immer mehr Möglichkeiten geboten werden, ihr Recht
einzuklagen. »Die zahlreichen Anlaufstellen wie zum Bei­
spiel die Krankenkassen oder Ärztekammern bieten den
Patienten eine hilfreiche Unterstützung an. Auch das Recht
auf Einsicht in die Akten kommt den Patienten zugute.«
Dr. Elisabeth Siegmund­Schultze, Abteilungsleiterin Ver­
sorgungsmanagement bei der kkh­Allianz, präsentierte
ein Patientensicherheits­Programm, das die Kasse zusam­
men mit dem mdk Niedersachsen entwickelt hat. Kern­
punkt ist die Anwendung von Sicherheitsprinzipien aus
der Luftfahrt in ausgewählten op­Bereichen. rtl aktuell
berichtete in seinen Hauptnachrichten am 8. Mai über
das Projekt.
Wer mehr zu diesem Projekt wissen möchte, kann
sich unter der E­Mail­Adresse [email protected]
melden. Vorträge der Veranstaltung finden Sie auf der
Homepage der Landesvereinigung für Gesundheit und
Akademie für Sozialmedizin unter www.gesundheit­nds.de
(unter »Arbeitsbereiche afs«; »Dokumentationen afs«
Martin Dutschek und
Friederike Geisler
Gekauftes Renommee?
Ghostwriter in der Medizin
M a n c h e v e R ö F F e n t l i c h u n G e n i n M e D i z i n i s c h e n F a c h z e i t s c h R i F t e n glänzen mit Autoren, die sich in
der Wissenschaft einen Namen gemacht haben. Doch nicht immer ist der genannte Autor auch der tatsächliche Verfasser. Im vergangenen Jahr hat der Fall des US-Pharmaherstellers Wyeth Wellen geschlagen: Er gab einen Artikel über
die Hormonersatztherapie in Auftrag und ließ ihn unter den Namen renommierter Wissenschaftler veröffentlichen.
Der weltweit tätige Pharmahersteller Wyeth erzielte noch
im Jahr 2001 Milliardenumsätze mit Hormonersatzprä­
paraten. Eingesetzt werden die Hormone u. a. bei Frauen
in den Wechseljahren, um Hitzewallungen, Herzrasen
und Schweißausbrüche zu lindern. Auch wurden Hoff­
nungen geweckt, gesünder und länger zu leben.
Doch Hormonersatzpräparate gerieten in die Kritik,
als die amerikanische Langzeitstudie »Womens Health
Initiative« im Jahr 2002 abgebrochen wurde. Bei den Stu­
dienteilnehmerinnen zeigte sich, dass die Hormone das
Risiko für Brustkrebs, Herzinfarkt und Schlaganfall deut­
lich erhöhen. In der Folge gingen die Umsätze mit Hormon­
präparaten stetig zurück.
Im Jahr 2003 – zu einem Zeitpunkt, als die Risiken der
Hormonersatztherapie bereits bekannt waren – beauf­
tragte Wyeth die pr­Agentur Design Write mit der Anferti­
gung einer Publikation, die die positiven Wirkungen von
Hormonpräparaten herausstellt. Design Write erhielt
dafür von Wyeth 25 000 us$ und
sandte die Entwurfsfassung an
Pharmahersteller
Gloria Bachmann, Professorin für
verschleiern ihre Rolle
Geburtshilfe, Gynäkologie und
Medizin an der Universität für Medizin und Zahnmedizin
des Bundesstaates New Jersey.
Das Konzept ging auf: Bachmann nahm den Beitrag bis
auf eine kleine Änderung an. Der Artikel wurde unter
ihrem Namen veröffentlicht und im Jahr 2005 mit einigen
kleinen Änderungen im Journal of Reproductive Medicine
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mdk | wissen und standpunk te
publiziert. Die Rolle des Pharmakonzerns Wyeth als Auf­
traggeber des Artikels und gleichzeitig Hersteller von Hor­
monersatzpräparaten wurde in dem Artikel nicht ausge­
wiesen.
Schädigung durch Hormonersatzpräparate
Im Rahmen von Gerichtsverfahren ist dies im vergange­
nen Sommer öffentlich geworden. Laut New York Times
sind mittlerweile 8400 Gerichtsfälle in den usa anhängig,
in denen Frauen die Auffassung vertreten, dass sie durch
die Einnahme von Hormonersatzpräparaten in der Post­
menopause geschädigt worden seien.
Solche Ghostwriter­Veröffentlichungen sind auch in der
medizinischen Wissenschaft keine Einzelfälle mehr. Sergio
Sismondo von der Queen’s University im kanadischen
Kingston berichtete 2007 in der amerikanischen Online­
Zeitschrift PLoS Medicine über die Veröffentlichung der
Studie zum Antirheumatikum Vioxx, das die Firma Merck
letztlich wegen Nebenwirkungen vom Markt genommen
hat. Der Autor der maßgeblichen Studie, Jeffrey Lisse, hat
in einem Interview ausgeführt, dass Merck selbst diese
Studie konzipiert, bezahlt und durchgeführt habe. Nach­
dem die Studie abgeschlossen war, sei die Firma auf Wis­
senschaftler zugekommen und habe um deren Hilfe bei
der Veröffentlichung gebeten. Lisse gab zu, dass die ini­
tiale Veröffentlichung von Merck geschrieben wurde und
anschließend ihm als Erstautor lediglich zum Editieren
gegeben wurde.
In einer anderen Publikation von 2007 vergleichen Exper­
ten um Peter C. Gøtzsche, Direktor des Nordic Cochrane
Center, Studienprotokolle, die den Ethikkommissionen
in Kopenhagen und Frederiksberg von 1994 bis 1995 vor­
gelegt wurden, mit den nachfolgenden Publikationen von
industrieinitiierten Studien. Es fanden sich Hinweise auf
»ghost authorship« in 75 % der Veröffentlichungen.
Auch die Pharmafirma SmithKline Beecham hat sich
nicht allein auf die wissenschaftlichen Daten für ihr Psy­
chopharmakon »Paxil« verlassen. Laut einer Broschüre
für die Außendienstmitarbeiter sollten mit dem Programm
caspper­Ärzte bei der Veröffentlichung von Artikeln um­
fangreich unterstützt werden. caspper (Case Study for
Publications Peer Review) sah die Entwicklung eines The­
mas bis zur Einreichung des Manuskripts beim Verlag vor.
Ziel war es, die guten Umsatzzahlen von Paxil fortzusetzen.
Das Budget war für 50 Artikel im Jahr 2000 bemessen.
Werbung bedroht Unabhängigkeit der Verlage
Die Veröffentlichung dieser Übersichtsartikel sollte zu
einer Erweiterung der veröffentlichten Daten führen. Über
den konkreten finanziellen Nutzen des Plans hinaus soll­
ten die Beziehungen zu wichtigen Ärzten und Meinungs­
machern im psychiatrischen Bereich etabliert und /oder
gestärkt werden. Man ging davon aus, dass Ärzte aus zwei­
erlei Gründen gerne teilnehmen würden: entweder um
ihren bereits bestehende Einfluss auszubauen oder aber
um sich eine Reputation durch weitere Veröffentlichun­
gen zu verschaffen.
Neben industrieinduzierten Ghostwriter­Publikationen
stellen auch die seitenweise geschalteten Werbeanzeigen
für Arzneimittel in medizinischen Zeitschriften ein Pro­
blem dar. Es droht damit eine Abhängigkeit der Verlage
von der pharmazeutischen Industrie. Hinzu kommt, dass
die Autoren nicht immer das Copyright für ihre Zeitschrif­
tenartikel behalten.
Die hier dargestellten Beispiele sind keine Einzelfälle.
Wie also sollen sich Ärzte ein unabhängiges Bild über For­
schungsergebnisse verschaffen? Auch für die Herausge­
ber von Zeitschriften ist es oft nicht leicht zu erkennen, ob
eine Scheinautorenschaft vorliegt oder nicht, obgleich in
letzter Zeit Anstrengungen unternommen wurden, dies
aufzudecken.
Als einer der Haupthinweise auf einen »Ghostwriter«
bei Studien gilt die Nichtbenennung des Statistikers. Dar­
über hinaus wird immer wieder gefordert, dass Ärzte, die
sich in der klinischen Forschung engagieren, die Autoren­
schaft behalten und vollen Datenzugang in den Verträgen
mit der Pharmaindustrie vereinbaren sollen.
Unabhängige und qualitätsgesicherte Informationen
Fraglich bleibt für den Leser, wie verlässlich auch in hoch
angesehenen medizinischen Zeitschriften die Informati­
onen zum Autor sind. Wer statt Übersichtsartikeln (nur)
Studien im Original liest und bewertet, braucht sich von
»großen Namen« nicht leiten zu lassen und hat kein Pro­
blem mit Ghostwritern. Allerdings erfordert die Bewer­
tung der Studienqualität ihrerseits wieder spezielle Kennt­
nisse und vor allem Zeit.
Eine Antwort der evidenz­
basierten Medizin (ebm) auf die­
Evidenz- statt Eminenzses Dilemma sind systematische
basierte Medizin
Übersichtsartikel, wie sie z. B. von
der Cochrane Collaboration in umfassenden Datenbanken
zur Verfügung gestellt werden. In diesen ebm­Reviews fin­
den praktizierende, aber auch gutachterlich tätige Medi­
ziner zu vielen therapeutischen Fragen die wissenschaft­
lich am besten abgesicherte Behandlungsmethode. Der
mdk Westfalen­Lippe ermöglicht bereits seit 2009 allen
seinen Gutachtern über eine professionelle Recherche­
plattform Online­Zugriff auf die international anerkann­
ten Datenbanken Medline (Schwerpunkt usa), Embase
(Schwerpunkt Europa) und Cochrane (sowie auf weitere
qualitätsgesicherte ebm­Datenbanken). Der Umgang mit
diesen Datenbanken ist leicht zu erlernen, bedarf aber
der permanenten Übung. Der Einsatz unabhängiger und
qualitätsgesicherter Informationsquellen in der Medizin
wird in Zukunft deutlich zunehmen.
Dr. med. Martin Rieger,
Dr. med. Lili Grell,
Referent für Medizinische
Leiterin der SEG 6»Arznei-
Grundsatzangelegenheiten
mittelversorgung« der
beim MDK Westfalen-Lippe.
MDK-Gemeinschaft beim
[email protected]
MDK Westfalen-Lippe.
[email protected]
weitblick
m d k forum 2/10
Menschen mit Down-Syndrom als Autoren
Ohrenkuss – das etwas andere
Magazin
e i n B O n n e R R e D a K t i O n s B ü R O : 14-tägig trifft sich hier die Redaktion des Magazins »Ohrenkuss«. Leben, Liebe,
Arbeit, Kinderkriegen und natürlich Mode – darum geht es. Die Autoren planen, recherchieren, führen Interviews,
schreiben oder diktieren. Eine ganz normale Redaktion? Alle Journalisten haben Trisomie 21, das sogenannte Down-
Foto:LukeGolobitsh
Syndrom. Das gibt dem Magazin einen ganz besonderen Charakter – macht die Arbeit aber auch etwas chaotischer.
Beginn der Redaktionssitzung ist um 17.30 Uhr. Bereits
um 17.15 Uhr hat sich der Großteil der Teilnehmer in den
Bonner Räumlichkeiten eingefunden und schaut erwar­
tungsfroh der anstehenden Besprechung entgegen. In der
einen Ecke wird noch getuschelt, auf der anderen Seite be­
schäftigen sich einige mit dem Verschönern einer Arbeits­
mappe. Redaktionsleiterin Dr. Katja de Bragança läutet
den Beginn der Besprechung ein und bittet die Anwesenden
um Konzentration. Um den Überblick zu behalten und
die Arbeit voranzubringen, legt sie Wert auf Disziplin und
Höflichkeit. Alle stellen sich zunächst vor und üben dabei
den Blickkontakt beim Reden. Die Profis, die bereits Le­
sungen gehalten haben, stechen dabei heraus.
Das Thema steht in Großbuchstaben auf einem Zettel
an der Wand: »Oma Opa«. Der 16­jährige Paul hat schon
DieOhrenkuss-RedaktionbeiderArbeit:etwas
chaotischeralsinanderenRedaktionen,abernicht
wenigerkreativ
Erfahrung in der Redaktion und beginnt sofort, ein Dia­
gramm auf sein Blatt zu zeichnen. Bei schwierigeren
Themen nutzen die Autoren das Brainstorming, um ihre
Texte zu schreiben. So kommen sie vom Begriff »Alter«
über »Haut« und »Falten« bis hin zu »Oma« und »Opa«.
Nebenan im Café sitzt eine weitere Arbeitsgruppe. Svenja
Giesler hat sich zum Thema »Alter« schon einige Gedanken
gemacht und kurze Texte verfasst. Einen präsentiert sie
vorab der Öffentlichkeit: »Aber es gibt ja auch noch das
Todesalter. Mit 80 und 90 gehört man zum alten Eisen. Da
wird man tatterig und zitterig.«
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m d k forum 2/10
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weitblick
»Lesen und Schreiben wird ihnen nicht zugetraut«
Den Kontakt zu Menschen mit Down­Syndrom bekam
Katja de Bragança über ihren Beruf. Zehn Jahre lang be­
schäftigte sich die Humangenetikerin mit vorgeburtlicher
Diagnostik und den Entscheidungen, die daraus resultie­
ren. »Viele haben ein etwas eingeschränktes Bild vor Augen,
wenn sie Menschen mit Down­Syndrom sehen«, erklärt de
Bragança. »Die gängigen Vorurteile sind dann, dass diese
Menschen nicht älter als 30 Jahre werden, an ihrem Syn­
drom leiden und so behindert sind, dass sie gar nicht
wissen, dass sie es sind. Auch Lesen und Schreiben wird
ihnen nicht zugetraut.« Durch diese Überlegungen kam
sie auf die Idee, ein Magazin zu produzieren, das von Men­
schen mit Down­Syndrom hergestellt wird und diese auch
präsentiert. »Die Optik war mir dabei sehr wichtig. Natür­
lich sieht ein Mensch ›doof‹ aus, wenn er einen ausgewa­
schenen Kinderpulli trägt und die Haare zu allen Seiten
abstehen. Wir zeigen die Autoren von einer anderen Seite,
die der Öffentlichkeit nicht so bekannt ist.«
De Bragança wollte mit dem Magazin zeigen, wozu Men­
schen mit Down­Syndrom fähig sind, was sie beschäftigt
und wie sie sich mit verschiedenen Themen auseinander­
setzen. »Natürlich wollte ich nicht mit dem erhobenen
Zeigefinger dastehen. Es geht eher darum, dass die Auto­
ren ein interessantes Produkt herstellen, das von einem
breiten Publikum gelesen wird und nicht einzig und allein
von der Behinderung handelt.« Zum 3000 Abonnenten
umfassenden Leserkreis gehö­
»Die hätten mich weg ren heute auch Ärzte, Pflege­
ge nom men, weil Hitler keine fachkräfte, Journalisten, Germa­
behinderten Kinder mochte« nisten, Grafikdesigner und Foto­
grafen. Die Hefte liegen in War­
tezimmern von Arztpraxen aus. »Wenn eine Frau ein Kind
mit Trisomie 21 erwartet oder gerade geboren hat, wird
sie wahrscheinlich anders darüber denken, wenn sie den
Ohrenkuss gelesen hat. Sie wird nicht so viel Angst davor
haben, dass ihr Kind krank oder behindert sein könnte,
sondern wissen, dass Menschen mit Down­Syndrom mit
etwas Hilfe ein weitgehend normales Leben führen kön­
nen.«
Wie eine Fremdsprache
Das Brainstorming bei den gemeinsamen Treffen hilft
dem Ohrenkuss­Team bei der Erstellung der Texte. »Na­
türlich brauchen sie länger, um über etwas nachzuden­
ken. Es ist vergleichbar mit einer fremden Sprache, die
man noch nicht so gut beherrscht. Man weiß, was man
sagen will, aber muss es erst einmal im Kopf sortieren«,
erklärt de Bragança. »Schwierigkeiten haben sie mit
abstrakten Zusammenhängen. Sie verstehen die meisten
Witze nicht, weil man sich bei der Pointe vieles selbst den­
ken muss. Trotzdem finden sie viele Sachen wahnsinnig
lustig.« Für die Autoren, von denen die meisten tagsüber
einer Arbeit nachgehen, ist die Arbeit für das Magazin
sehr wichtig. »Viele können sich nicht vorstellen, dass
auch Menschen mit Down­Syndrom intellektuell unter­
fordert sein können. In der Redaktion können sie sich so
entfalten, wie es bei ihrer Arbeit meist nicht möglich ist.«
Auf Spurensuche in der Mongolei
Die 50 Ohrenkuss­Redakteure zeichnen sich dadurch aus,
dass sie 47 statt 46 Chromosomen haben. Das 21. Chro­
mosom ist bei ihnen dreimal vorhanden. Deshalb ist die
Wahrscheinlichkeit, sich körperlich und geistig langsa­
mer zu entwickeln, bei ihnen deutlich höher als bei der
restlichen Bevölkerung. Nicht zuletzt aus diesem Grund
entscheiden sich 90 % der Paare, die in der Schwanger­
schaft eine entsprechende Diagnose erhalten, gegen die
Geburt. Aufgrund ihres Äußeren verglich sie der englische
Arzt und Namensgeber des Syndroms, John Langdon­
Down, vor 100 Jahren mit den Einwohnern der Mongolei,
was dazu führte, dass Menschen mit Down­Syndrom oft­
mals als »mongoloid« bezeichnet und abfällig als »Mon­
gos« beschimpft wurden.
Die Ohrenkuss­Redaktion ist diesem Phänomen nach­
gegangen und im Sommer 2005 in die Mongolei gereist.
Herausgekommen sind dabei ein Bericht im Magazin
Geo, ein Fotokalender und selbstverständlich einige Arti­
kel im Ohrenkuss. Eine Ähnlichkeit mit den Einwohnern
der Mongolei konnte übrigens nicht festgestellt werden.
Friederike Geisler
Besuch im Konzentrationslager
Beim Themenspektrum gibt es keine Tabus. Die Palette
reicht von Tod über Gewalt, Leidenschaft, Liebe bis hin
zu Sex. Themen, bei denen so mancher meinen könnte,
Menschen mit dieser Behinderung würden sie nicht ein­
mal kennen. So besuchten die Redakteure vor fünf Jahren
das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Die 30­
jährige Veronika Hammel schreibt dazu: »Wenn ich da­
mals gelebt hätte, dann hätten die mich auch weggenom­
men, weil der Hitler keine behinderten Kinder gemocht
hätte. Der hätte mich dann auch getötet.«
Hilfestellung von Katja de Bragança und ihren Assis­
tentinnen erhalten die Autoren bei der Organisation ihrer
Termine und Interviews ebenso wie beim Verfassen der
Texte. Diese werden genauso gedruckt, wie die Autoren
sie ausgesprochen oder niedergeschrieben haben – samt
Rechtschreibfehlern oder Grammatik­Unstimmigkeiten.
Was ist ein Ohrenkuss?
Ohrenkuss-AutorinSvenjaGieslererklärtdieEntstehung
desMagazin-Namens:»VielesgehtzumeinenOhrreinund
zumanderenwiederraus.DasWichtigstebleibtund
dasistdanneinOhrenkuss.«
MehrzumProjekt,vieleFotosundBerichteundselbstverständlichdasMagazingibtesunter:www.ohrenkuss.de
undwww.ohrenkuss-mongolei.de
weitblick
m d k forum 2/10
Vom kleinen Sonnenschein zum
Mondscheinkind
X e R O D e R M a p i G M e n t O s u M (XP) ist eine seltene Erkrankung, die bei etwa einem von einer Million Menschen auftritt.
In Deutschland leben ca. 50 Betroffene. Ihr Hautkrebsrisiko liegt über 1000 Mal höher als bei anderen. Sonnenstrahlung
verursacht bei ihnen irreparable Schäden des Erbmaterials. Die Folge sind unkontrollierte Zellmutationen, also Krebs.
Ein normales Leben scheint für die Erkrankten unmöglich. Die Geschichte von Markus Prenting zeigt das Gegenteil.
Als Markus ein Jahr alt ist, erfahren seine Eltern Moni
und Dirk Prenting, dass ihr Sohn ein sogenanntes Mond­
scheinkind ist. Er leidet unter xp und hat bereits Haut­
krebs. Für die Familie eine Diagnose, an der sie zu zerbre­
chen droht. Zu schwer war der Eingriff in den Alltag und
Hilfe von Ärzten war keine zu erwarten – außer den Anwei­
sungen, tagsüber zu schlafen und das Kind nicht mehr
uv­Strahlen auszusetzen. »Die Nacht zum Tag machen ist
nahezu unmöglich, gerade auch wenn Sie noch eine ge­
sunde Tochter haben«, erinnert sich Moni Prenting. »Wir
haben uns aufgeteilt. Einer bei dem einen Kind, der
andere bei dem anderen. Familienleben war das keines
mehr.« Richtlinien für Verhaltensweisen bei der Erkran­
kung waren nirgends zu finden.
Die Forschung steht erst am Anfang
Im Jahr 1997 weiß niemand wirklich viel über Xeroderma
pigmentosum und so dauert es fast ein dreiviertel Jahr,
bis Familie Prenting auf einen Experten stößt. »Das haben
wir der Ehrlichkeit eines Arztes zu verdanken, der offen
zugab, keine Ahnung von xp zu haben, aber Prof. Mark
Berneburg aus Tübingen kannte, bei dem sich zwischen­
zeitlich 32 von den 50 Betroffenen in Deutschland haben
behandeln lassen«, sagt Dirk Prenting. Von ihm erfahren
sie, welche speziellen Sonnenschutzcremes (Lichtschutz­
faktor 50+) sie auftragen müssen und dass ihr Sohn eine
Sonnenbrille tragen muss, die damals schon 150 dm
kostete. Die Familie schöpft neuen Mut und recherchiert
in der ganzen Welt nach Herstellern für Spezialfolie, die
keine uv­Strahlen durch die Fenster lässt, uv­undurch­
lässiger Kleidung und schafft ein Messgerät an, das stets
anzeigt, wie viel Strahlung wo vorkommt. Die Kosten da­
für musste die Familie selbst tragen.
Nur durch unermüdliche Initiative hat sich Familie
Prenting innerhalb eines Jahres wieder zurück in ein
halbwegs normales Leben gekämpft. »Wir wollten die
Ärzte eines Besseren belehren und nicht akzeptieren, dass
unser Sohn ein einsames Leben in der Nacht führt. Wir ha­
ben Schutzfolien aus England im Kindergarten und später
in der Schule angebracht und unseren Sohn beim Fußball­
verein angemeldet«, erzählt Dirk Prenting. An unzählige
Gespräche mit den zuständigen Menschen kann er sich
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m d k forum 2/10
22
weitblick
erinnern, auch mit der örtlichen Krankenkasse. »Wir ha­
ben gehofft, auf die Problematik aufmerksam machen
und die Kasse dazu bewegen zu können, zumindest einen
Teil der Ausgaben zu übernehmen, aber leider ist Sonnen­
schutz ein kosmetischer Artikel und keine medizinische
Hilfe. Selbst ein persönliches Gespräch mit der dama­
ligen Patientenbeauftragten der Bundesregierung hat zu
nichts geführt.«
Die Einschränkungen sind belastend
Markus soll einen Alltag führen, der so normal wie mög­
lich ist. Doch wie normal kann das sein, wenn ein 14­Jäh­
Was ist XP?
Xerodermapigmentosumisteineselteneautosomal-rezessive
Krankheit,diesichanderHautundSchleimhautmanifestiert
undzueinerÜberempfindlichkeitgegenüberultravioletten( U V )
Strahlenführt.DieErkrankungberuhtaufeinemgenetischen
Defektdes D N A -Reparatursystems,welchesbeigesunden
Menschenständig D N A -Schädenkorrigiert,diedurchden U V AnteildesLichtsandermenschlichenErbsubstanzverursacht
werden.
Daessichumeineautosomal-rezessiveErkrankunghandelt,
erkrankennurdiePersonen,diedenGendefektvonbeiden
ElterngeerbthabenunddamitinbeidenKopiendesentsprechendenGensdieMutationtragen.
CharakteristischfürdieErkrankungistdasAuftretenvon
SonnenbrändenschonnachsehrkurzemSonnenlichtkontakt.
DieHautwirdbuntscheckig,trockenundzeigtSchrumpfungen.
AufgrunddesReparaturdefektskanndarüberhinausbereits
imKindesalterHautkrebsentstehen.DadieKinderjeden
KontaktmitSonnenlichtmeidenmüssenundandererseits
vomMondlichtkeineGefährdungausgeht,sodassdieBetroffenenzumindestnachSonnenunterganginsFreiekönnen,
sprichtmanauchvonMondscheinkindern.EineHeilungder
Erkrankungistbishernichtmöglich.DieTherapiemaßnahmen
beschränkensichaufdieVermeidungvonSonneneinwirkung
sowieeinefrühzeitigeDiagnoseundTherapiebösartiger
Tumoren.BeimehralszweiDrittelnderBetroffenenverläuft
dieErkrankungunbehandeltbereitsimKindesaltertödlich.
MitgutemSchutzvorder U V -Strahlungisteinnahezu
normalesAltererreichbar.
ObspezielleSonnenschutzproduktewiez.B.Sonnenschutzcremes,Fensterfolienoder U V -Schutzbekleidungals
Kassenleistunganzusehensind,mussdieeinzelneKrankenkasseentscheiden.Der M D K mussggf.imEinzelfallprüfen,
obdiemedizinischenVoraussetzungenzurVersorgungmit
Schutzproduktengegebensind.Das B M G gehtgrundsätzlich
voneinerLeistungspflichtder G K V aus,wennessichbei
denSchutzproduktennichtumGebrauchsgegenständedes
täglichenLebenshandelt.Dieszuprüfenobliegtderjeweils
zuständigenKrankenkasse.
riger im Sommer mit langen Ärmeln und einer Kappe
mit Schutzfolie vor dem Gesicht mit seiner Mannschaft
Fußball spielt? »Er kommt im
Grunde gut zurecht, aber natür­
»Muss ich mein Kind 100 %
lich gibt es immer wieder auch
vor der Sonne schützen
schwierige Phasen. In der Pu­
oder reichen 99 %?«
bertät zum Beispiel ist Cool­
sein äußerst wichtig. Und da die Schutzfolie vor dem
Gesicht so gar nicht cool ist, nimmt er sie häufig zu früh
runter. Dann, wenn die Sonne noch nicht untergegangen
ist. Wir müssen ständig auf ihn einwirken, aber auch
Kompromisse schließen zwischen Lebensqualität und
Gesundheit«, macht Moni Prenting deutlich. Zu Hause in
seiner Stadt geht Markus selbst einkaufen. Wenn die Fa­
milie aber nach München fährt, verzichtet er häufig dar­
auf. Zu peinlich ist ihm das Gegaffe der Menschen, und
die Angst vor dummen Kommentaren hält ihn zusätzlich
davon ab, sich aus seinem vertrauten Umfeld zu bewegen.
»Wir lassen ihn selbst entscheiden, wie häufig er sich mit
diesen Reaktionen konfrontiert. Mehr Verständnis der
Menschen wäre allerdings sehr hilfreich«, seufzt Moni
Prenting.
Mit der Gefahr Krebs leben
»Wir schützen ihn gut und sind wachsam. Bei der kleins­
ten Veränderung reagieren wir sofort«, beschreibt Dirk
Prenting das Leben mit der Hautkrebsgefahr. Denn Haut­
tumoren zeigen sich erst nach ein paar Monaten. Betrof­
fene, die lange nichts von der xp­Erkrankung wussten,
haben durch die Vorschädigung durch die uv­Strahlen
mehr Tumoren. »Wir stehen mit den amerikanischen und
britischen xp­Selbsthilfegruppen im ständigen Kontakt.
Vor einigen Jahren haben wir gemeinsam bei einer Firma
die tausend Kilo der Spezialfolie für die Kopfbedeckung
herstellen lassen und dann länderübergreifend aufgeteilt.
Auch die Patienten mit Vorschädigungen haben davon pro­
fitiert. Bei ihnen ist die Anzahl von Tumoren von 50 auf
10 im Jahr zurückgegangen.«
Zukunftsaussichten könnten positiv sein
Markus Prenting war in diesem Jahr mit seiner Schulklasse
im Skiurlaub. Das hat seinen Eltern wieder einen Batzen
Erfindungsgeist abverlangt, aber mit einer Art Sturmhaube
als Intensivgesichtsschutz haben sie es möglich gemacht.
»Schwierig und teuer macht es die Tatsache, dass die Spe­
zialkleidung aus Amerika kommt und zumeist nur spe­
zielle Bademoden für Kleinkinder hergestellt werden. Die
trägt man als 14­Jähriger recht ungern«, sagt der Vater
schmunzelnd. »Aber generell ist ein Leben mit xp mög­
lich – auch ein langes Leben. Wir würden uns wünschen,
dass die Forschung in der Gentherapie für diese Zwecke
vorangetrieben würde, auch wenn das viele anders se­
hen.«
Burga Torges
Selbsthilfegruppe X P Freu(n)deMondscheinkinder
Überlingerweg2,81243München,Tel.089.89669333
www.xerodermapigmentosum.de
weitblick
m d k forum 2/10
23
Eine Zirkusschule im südafrikanischen Township
Flic Flac im Zirkus Zip Zap
v O R D e n t O R e n K a p s t a D t s leben ca. 1,5 Millionen Menschen in Townships wie dem Khayelitsha. Die WellblechhüttenSiedlungen in den Cape Flats erstrecken sich über Kilometer entlang der Autobahn. Wenige der Bewohner haben es
zu bedingtem Wohlstand gebracht. Schon früh werden hier Kinder mit Drogen, Gewalt, Armut, Aids und Tod konfrontiert.
HIV und Aids allgegenwärtig
16 Jahren nach Ende der Apartheid hat sich die Lebens­
situation für zahlreiche schwarze Südafrikaner nicht we­
sentlich verbessert. Laut unaids leben 5,7 Millionen
Menschen in Südafrika mit hiv. Das ist weltweit die
höchste Rate. 18 % der südafrikanischen Erwachsenen sind
mit dem Virus infiziert.
Wer in Khayelitsha aufwächst, hat nicht viele Möglich­
keiten. Viele Kinder leben im drittgrößten Township Süd­
afrikas nur noch mit ihren Müttern zusammen. Ihre Väter
haben sich schon früh aus dem Staub gemacht. Einige
von ihnen sind selbst mit dem Virus infiziert oder an Aids
erkrankt. Fast alle haben Familienangehörige, denen es
ähnlich geht. Gesunde Ernährung und regelmäßige me­
dizinische Betreuung kennen sie oft nicht.
Lebensfreude durch Zirkustraining
Jeden Mittwochnachmittag können die Kinder aus Khaye­
litsha ihrer schweren Lebenssituation entfliehen. Dann
nämlich kommt der bunte Bus der Zirkusschule Zip Zap.
Der vom Kindermissionswerk »Die Sternsinger« und der
dfb­Stiftung Egidius Braun finanzierte Bus startet zu
seiner Tour vom Kapstadter Zentrum und fährt eine gute
Dreiviertelstunde raus ins Township. Denn die Wege zum
nagelneuen Gemeindezentrum am Rand des Townships
sind lang und die teuren Minibusse können sich die Fa­
milien der Kinder nicht leisten. Wer also kein Fahrrad hat
oder zu klein ist, um alleine zu kommen, wird abgeholt
und nach dem Training wieder nach Hause gebracht.
Südafrika im Fußball-Fieber
Vom11.Junibis11.Juli2010findetdieFußballweltmeisterschafterstmalsinSüdafrikastatt.AlsLandderArmutsfalleund
boomendeÖkonomiezugleich,istSüdafrikaHochburg
desVerbrechensundcharmantesUrlaubsparadiesineinem.
DieArbeitslosenquoteliegtoffiziellbei23%.NachSchätzungen
derWeltgesundheitsorganisationwaren2008etwa5,7MillionenMenscheninSüdafrika H I V -positiv.Miteinerlandesweiten
Infektionsratevon13,6%istinersterLiniedieschwarze
Armutsbevölkerungbetroffen.DasElendimLandistauch
nachderAufhebungderApartheideindrängendesProblem
geblieben,dasdieRegierungzwaranpackt,dennochwird
dieKluftzwischenArmundReichgrößer.Soentlädtsich
FrustrationinbrutalerGewalt.Täglichgeschehen50Morde,
150Vergewaltigungen,535Raubüberfälleund868Einbrüche.
EingesteigertesRisikofürFußballerundFanssollabernicht
bestehen.
WiejedesGastgeberlandgibtSüdafrikavielGeldfürdie
W M aus.NebenneuenStadienwurdeauchdieInfrastruktur
wieFlughäfenundSchienennetzimLandausgebaut.DieFans
vonheutesinddieTouristenvonmorgen–sohofftdie
Regierung,langfristigmehrGeldindasLandzubringen.Ob
sichdieseHoffnungerfülltundauchdieArmeninSüdafrika
davoneinenNutzenhabenwerden,wirdsichzeigen.Von
gezieltenProjektenwiejenemdesDeutschenFußballbundes
( D F B )unddesKindermissionswerkesprofitierendieKinder
ausdemTownshipKhayelitshadagegenschonheute.
24
weitblick
m d k forum 2/10
Mit den Aufgaben (heran)wachsen
Als der Zirkus vor sechs Jahre mit dem Training begann,
war ihr Gründer Brent van Rensburg überzeugt, dass die
Freude, die die Kinder durch das Training haben, ebenso
wichtig für ihre Gesundheit ist wie gesunde Ernährung
und medizinische Versorgung. Und wirklich – vielen Kin­
dern hier sieht man zwar an, dass sie krank sind, aber sie
trainieren mit der gleichen Energie und Ausdauer wie
die gesunden Altersgenossen. »Es ist wichtig, dass alle
Kinder gemeinsam trainieren«, erklärt Shannon (25), Trai­
nerin aus Minnesota in den usa, die seit mehreren Jahren
bei Zip Zap arbeitet. »Das fördert den Zusammenhalt und
die Akzeptanz der Krankheit«, fügt sie hinzu.
Wie das Beispiel Alitha (13) und ihrer Tante Nedeka
(12) zeigt. Sie trainieren gemeinsam für die nächste Show
zum Weltaidstag. Nedeka ist hiv­positiv, aber sie zeigt
keinerlei Zeichen von Anstrengung beim Training. Ihre
Nichte Alitha ist zum Glück gesund. Alithas Großmutter
war gleichzeitig Nedekas Mutter und starb an Aids. Alithas
Mutter ist Tante von Nedeka und hat sie nach dem Tod der
Großmutter aufgenommen. Keine ungewöhnlichen Ver­
wandtschaftsverhältnisse und auch keine ungewöhnliche
Situation, was die hiv­Infektion betrifft.
Aufklärung und gesunde Ernährung
Im Gemeindezentrum trainieren ältere Jugendliche der
Zirkusschule Zip Zap mit 35 Kindern. In dieser Zeit kön­
nen sie sich austoben, tanzen, artistische Elemente ein­
studieren und jonglieren. Und, ebenso wichtig: Hier ist
es möglich, für zwei Stunden Krankheit und Sorgen zu
vergessen.
Egidius Braun-Stiftung und Kindermissionswerk
Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit Sozialarbeiter
Brian, der die Kinder bei einem gesunden Snack nach
dem Training kindgerecht über den hi­Virus und die
Krankheit Aids aufklärt. Brian macht ihnen so verständ­
lich, wie wichtig es ist, die antiretroviralen Medikamente
regelmäßig zu nehmen. Die bekommen sie in der nahege­
legenen Klinik, die von »Ärzte ohne Grenzen« unterstützt
wird.
Was der Spaß am Training, die Medikamente und die
gesunde Ernährung bewirken können, erklärt Brent van
Rensburg so: »Als wir anfingen, hatten die Kinder keine
Kondition, vieles war für sie zu anstrengend. Im ersten
Jahr starben auch noch vier Kinder an Aids, seit andert­
halb Jahren ist keins mehr gestorben. Das macht uns sehr
stolz und glücklich.«
Unter dem Motto »Nationalspieler und Sternsinger bauen
Brücken zu Kindern in Not« fördern die D F B -Stiftung
Egidius Braun und das Kindermissionswerk »Die Sternsinger«
seit 1996 gemeinsam Projekte für Not leidende Kinder
in der Welt. Mehr Infos unter: www.sternsinger.de,
www.dfb-stiftung-egidius-braun.de
Hedi Becker, Referentin
für Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit beim
Kinder missionswerk
»Die Sternsinger«.
[email protected]
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weitblick
m d k forum 2/10
Interview mit Dr. Wolfgang Mayrhofer
Rückflug im Krankenbett
U r l a U b s z e i t i s t r e i s e z e i t . Doch wenn die schönsten Tage des Jahres mit Unfall oder schwerer Krankheit enden, organisiert das Malteser Service Center bei Bedarf den Rücktransport. Dr. Wolfgang Mayrhofer koordiniert die Medizinische
Assistance Ausland beim Malteser Service Center in Köln. MDK Forum sprach mit ihm über Details des Rücktransports.
MDK Forum Herr Dr. Mayrhofer,
unter dem Dach der Malteser finden
sich viele Abteilungen, wie ist der
Rückholdienst integriert?
Dr. Wolfgang Mayrhofer Angefangen
bei 12 Krankenhäusern in Deutsch­
land unterhält der Malteser Hilfs­
dienst als gGmbH viele eigenstän­
dige Abteilungen, darunter auch den
Rückholdienst, der sich speziell
um den Rücktransport von Menschen
kümmert, die im Ausland krank
geworden sind und vor Ort keine
ausreichende Hilfe erhalten können.
Zu unseren Auftraggebern zählen
u. a. Privatpersonen, Reiseveran­
stalter, Automobilclubs und private
Krankenversicherungen. Und
natürlich erhalten auch unsere
Mitglieder diesen Service. Nicht zu
verwechseln ist dieser Rückholdienst
mit dem Malteser Auslandsdienst,
der zumeist im Auftrag der Bundes­
regierung Entwicklungshilfeprojekte
betreut
MDK Forum In welchen Fällen
kommt der Rückholdienst zum
Einsatz?
Mayrhofer Generell gibt es zwei
Arten von Rückholungen: die eine
bei medizinischer Notwendigkeit,
wenn vor Ort eine Unterversorgung
besteht. Die andere nach Primär­
versorgung vor Ort zur Weiter­
behandlung in Deutschland. Grund­
bedingung ist aber, dass wir
Patienten mit dem Flug nicht zu viel
zumuten. Rein medizinisch haben
wir das ganze Spektrum von der
Frühgeburt bis zur Netzhaut­
ablösung, vom Schlaganfall bis zum
Polytrauma, mit zunehmender
Häufigkeit auch psychiatrische
Indikationen.
MDK Forum Wie wird die Ver­
sorgungskette in Gang gesetzt?
Mayrhofer Dazu gibt es verschiedene
Wege. Wir werden über unsere
Notrufzentrale alarmiert, entweder
durch den Patienten selbst, über
seine Angehörigen, die Reiseleitung,
Kliniken am Urlaubsort oder
mitreisende Angehörige. Der Notruf
wird vom Disponenten aufgenom­
men. Der diensthabende Arzt
bekommt ihn umgehend auf den
Tisch und damit beginnt die
eigentliche Aufgabe im medizi­
nischen Bereich: sich hier in Köln
durch Gespräche mit den behan­
delnden Ärzten vor Ort ein möglichst
objektives Bild von dem Patienten
zu machen. Was ist passiert? Wie
geht es dem Patienten? Wie ist er
dort versorgt? Was müssen wir tun
und wie schnell? Das ist wie ein
Puzzle, wo man auch nicht alle Teile
gleich hat. Man braucht viel Erfah­
rung, um mit wenigen Informationen
eine Entscheidung zu treffen. Wichtig
ist auch, zu diesem Zeitpunkt bereits
zu entscheiden, wie der Patient
transportiert und wohin er gebracht
werden soll. Es macht wenig Sinn,
einen in Nordvietnam verunglückten
Urlauber mit einem Polytrauma
im Langstreckenjet nach Frankfurt
zu fliegen. Aber er kann natürlich in
optimale Versorgungsstrukturen
in ein anderes Land, z. B. Thailand,
verlegt werden.
MDK Forum Welche Voraussetzun­
gen brauchen die Ärzte in Ihrer
Leitstelle, um diese Entscheidungen
treffen zu können?
Mayrhofer Alle brauchen eine
hervorragende klinische Grundaus­
bildung und sehr viel Erfahrung.
Daneben sind auch Sprachkennt­
nisse extrem wichtig. Eine unserer
Kolleginnen spricht fließend vier
Sprachen. Die Mehrsprachigkeit ist
wichtig, um von den Ärzten vor
Ort wirklich alle Informationen zu
erhalten, die wir zur Vorbereitung
des Fluges brauchen.
MDK Forum Wie viele Einsätze
fliegen Sie pro Jahr?
Mayrhofer Rund 3000 Flüge pro
Jahr. Mit unseren LearJets haben wir
gut 100 Einsätze im Jahr, mit der
Linie sind es inzwischen über 1500,
der Rest sind Auftragsbesetzungen
von Ambulanzflugzeugen. Dies
bedeutet, dass ständig 15 Kollegen
unterwegs sind – auf dem Hinflug
zum Ort, wo sich der Patient aufhält,
und auf dem Versorgungsflug zurück.
MDK Forum Wie sieht die Logistik
aus, die dahintersteckt?
Mayrhofer Festangestellt hat das
Malteser Service Center rund 100
Mitarbeiter: Ärzte, Personal für die
Leitstellen, Disponenten und
selbstverständlich Verwaltungs­
angestellte. Zusätzlich haben wir
viele externe Ärzte und auch
Rettungssanitäter in der ganzen
Bundesrepublik, die nach Bedarf für
Rückholungen abgerufen werden.
Inzwischen sind alle wichtigen
Fachrichtungen vertreten: Chirurgen,
Internisten, Anästhesisten, sogar
Kinderärzte und eine Neonatologin.
Insgesamt derzeit ca. 300 Ärzte
und 200 Flugsanitäter. So weit zur
Manpower. Nun zur Technik: Unsere
Vertragsambulanzflugzeuge sind
mit sämtlichen wichtigen Überwa­
chungsinstrumenten einschließlich
Klinikbeatmungsgeräte ausgestattet.
Die Jets können vier bis fünf Stunden
ohne aufzutanken fliegen, dies reicht
für den größten Teil der europäi­
schen Rückholflüge. Für Lang­
strecken sind die Jets jedoch nicht
sinnvoll, da wir dann mehrfach
zwischenlanden müssten. Deswegen
gibt es speziell bei der Lufthansa
mit den Patient Transport Compart­
ments (ptc) einzigartige fliegende
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m d k forum 2/10
weitblick
Intensivstationen. Ein kompletter
Container kann in ganz kurzer
Zeit in die Kabine eines Linienjets
eingebaut werden und bietet
wirklich alle Möglichkeiten einer
modernen Intensivstation. Damit
können wir dann unseren Service
auf die ganze Welt ausdehnen.
MDK Forum Wie läuft die Koordi­
nierung mit den Luftfahrtgesell­
schaften?
Mayrhofer Wir arbeiten hier
eng mit dem Medical Helpdesk der
Lufthansa zusammen, das die kon­
zerninterne Koordination über­
nimmt. Wir stellen das Personal, die
Lufthansa das technische Equipment.
Dann müssen in den entsprechenden
Maschinen 3–4 Sitzreihen heraus­
genommen und der Container
eingebaut werden. Wir reisen in
der Zwischenzeit mit unserem
Personal an.
MDK Forum Wie sieht die Koopera­
tion mit anderen Rückholdiensten
aus? Eher Konkurrenz zueinander
oder tauscht man sich aus?
Mayrhofer Alles. Natürlich sind wir
unter den fünf größeren Unterneh­
men in Deutschland Konkurrenten,
aber auf der anderen Seite arbeiten
wir auch eng zusammen, z. B. im
Ambulanzflugzeug. Wir können in
unseren LearJets zwei Patienten
transportieren und sehen natürlich
zu, dass wir durch Mitnahme
eines zweiten Patienten die Kosten
reduzieren können. Also bieten
wir freie Kapazität an. Inzwischen
gibt es dazu eine »Börse«, speziell
mit dem adac, mit dem wir sehr
eng zusammenarbeiten.
MDK Forum Wie ist der finanzielle
Aspekt? Was kostet ein Einsatz?
Mayrhofer Da müssen wir unter­
scheiden zwischen einem Linienflug
und dem Flug mit dem LearJet.
Abgerechnet wird beim LearJet nach
Flugstunde, d. h. ein Rückflug von
Gran Canaria kostet ca. 25 000 €, von
Palma de Mallorca 15 000 €. Lang­
streckentransporte mit Linie, auf
denen wir nur eine eingebaute Liege
für den Patienten benötigen, kosten
z. B. von Hongkong nach Deutsch­
land gut 20 000 €. Dazu kommen die
Transportkosten für den Patienten
bis zum Flughafen und evtl. weitere
Kosten. Mit der kompletten ptc­
Unit sind es gut 50 000 € alleine für
den Flug, zuzüglich An­ und Ab­
transport am Boden, Anschlussflüge
und Ähnliches, so dass man im
Schnitt beim ptc mit 70 000 €
rechnen muss.
MDK Forum Wer kommt für diese
Kosten auf?
Mayrhofer Generell arbeiten wir
mit privaten Krankenversicherungen
zusammen, die unter anderem auch
Auslandspolicen haben. Das sind
unsere Hauptauftraggeber. Dann
natürlich unsere eigenen 600 000
Malteser­Mitglieder, die mit ihrer
Mitgliedschaft automatisch eine
Rückholversicherung abgeschlossen
haben. Und dann gibt es eine große
Zahl von Zusatzversicherern, die den
Rückholflug in ihrem Angebot
haben.
MDK Forum Gab es besondere
»Schmankerl« auf den Transporten?
Mayrhofer Ich selbst habe über
1000 Rücktransporte begleitet und
sehr viele Schmankerl erlebt.
Spontan fällt mir eine Rückholung
aus Costa Rica ein, wo der behan­
delnde Kollege auf der Begleichung
der Rechnung durch uns bestand.
Zur Untermauerung der Ernsthaftig­
keit seiner Forderung hatte er
einen Colt deutlich sichtbar in den
Hosenbund gesteckt. Oder ein
psychiatrischer Patient, der in 12 000
Metern Höhe das Flugzeug verlassen
wollte. Trotz aller medikamentöser
Behandlung war er von diesem
Vorhaben nur dadurch abzubringen,
dass wir ihm glaubhaft versicherten,
dass es außerhalb der Flugzeugtür
so voll sei, dass er warten müsse, bis
jemand in den Flieger käme, dann
erst könne er raus. Dieses »Argument«
hat ihn überzeugt.
Die Fragen stellte
Dr. Uwe Sackmann
weitblick
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Erlebniswald für Blinde und Sehende
Nasenkino und
Orakelkraut
a u F e i n e M G u t a u s G e B a u t e n w a l D - e R l e B n i s - p F a D können Besucher in Gerolsbach (Bayern) die Natur mit allen
Sinnen wahrnehmen. Zwischen riesigen Spinnennetzen finden sich wegweisende Waldgestalten aus Holz; ein Barfußpfad mit Erlebnisstationen führt durch den Wald. Der Rundweg ist ein spannendes Ausflugsziel für Kinder, Erwachsene,
Rollstuhlfahrer, Blinde und auch für demenzkranke Menschen, die sehend und fühlend den Wald neu entdecken möchten.
Als Projektleiterin Frauke Albuszies vor sechs Jahren im
Staatsforst Gröber Forst begann, das Konzept für den Er­
lebniswald auszuarbeiten, gab es eine Menge Skeptiker.
Denn viele glaubten nicht daran, dass aus dem einst als
Kinderprojekt gestarteten Vorhaben ein attraktives Frei­
zeitangebot entstehen könnte.
»Als wir begonnen haben, Fühlelemente und kleine
Kunstwerke fantasievoll in den Wald zu integrieren, hat
sich das schnell rumgesprochen«, erinnert sich Frauke
Albuszies. »Viele Begeisterte wollten sich in die Arbeit
mit einbringen und so entstanden innerhalb von sieben
Monaten mehr als 50 Stationen, an denen sich der Wald
spielerisch entdecken lässt.« Der Erlebnispfad bietet ins­
besondere Kindern und Jugendlichen eine spannende
Alternative zur virtuellen Computerwelt, in der sie sich
heute zumeist bewegen.
Mittlerweise ist aus dem Kinderprojekt der »Wald mit
allen Sinnen für Sehende und Blinde« entstanden. Ein
ambitioniertes Unternehmen, das bereits jetzt über die
Landesgrenzen hinaus bekannt ist.
Warum kriegt der Specht kein Kopfweh?
Welcher Schmetterling ist violett? Wer hinterlässt welche
Spuren im Wald? Mit kleinen Fragen am Rande des Weges
wird die Aufmerksamkeit des Besuchers immer wieder
erneut stimuliert. »Mit einer Mischung aus Lernen und
Aktivität möchte ich die Menschen nicht mit Informati­
onen zuschütten, sondern Erlebnisse in ihren Köpfen
erzeugen, die sie mit nach Hause nehmen«, erklärt die
Projektleiterin. Für sie ist es besonders wichtig, dass sie
Besuchen + mitmachen + unterstützen
GruppenführungendurchdenErlebnispfadwerden
ganzjährigangeboten.InformationenzudemProjekt,BesuchsterminefürSchul-,Kindergarten-undandereGruppen
sowieAnfahrtsinformationenunter:WaldmitallenSinnene.V.
FraukeAlbuszies,Gerolsbach,Telefon:08445.928644,
Mail:[email protected]
mit der Erlebnispädagogik des Pfades einen wesentlichen
Beitrag dazu leisten kann, dass Kinder, Jugendliche und
Erwachsene Natur erfahren und lernen, verantwortungs­
voll mit sich und ihrer Umwelt umzugehen. Einsicht und
Wissen über komplexe Wirkungszusammenhänge des
Ökosystems Wald, Kooperations­ und Kommunikations­
fähigkeit sollen deshalb an methodisch vielfältigen Sta­
tionen dieses Umweltbildungsstandortes ermöglicht
werden.
27
28
weitblick
Integration statt nur Besucher
»Wer partizipiert, fühlt sich verbunden. Deshalb möchten
wir, dass unsere Besucher sich intensiv an der Gestaltung
und Weiterentwicklung des Erlebniswaldes beteiligen«,
betont die engagierte Naturliebhaberin. So wurden bei­
spielsweise die Stationen in rollstuhlgerechter Höhe ge­
plant und zukünftig sollen Duft­ und Kräuterbeete gemein­
sam mit blinden Menschen angelegt werden. Viele Statio­
nen sind darüber hinaus bereits mit Brailletext für Blinde
beschriftet, so wie beispielswei­
se das Nasenkino. Hier können
In der grünen Universität
verschiedene Düfte des Waldes
lernen Besucher mit Spaß
erschnuppert werden. Die Be­
und Fantasie
schriftung löst auf, ob auch der
richtige Duft erkannt wurde. »Wir wollen nach und nach
alle Stationen für Menschen mit Behinderungen oder
auch Demenz erlebbar machen, so dass ein Sinnespro­
gramm für alle Menschen entsteht«, verrät die Initiatorin
des Erlebniswaldes.
rinden­Taststraße und der Waldteppich aus Blättern, Grä­
sern und Blüten. An Wissensstationen erfahren die Besu­
cher, dass der Breitwegerich auch Orakelkraut genannt
wird. Geräumige Sitzgelegenheiten sollen zur ausgiebigen
Rast einladen. In Zusammenarbeit mit Schulen und Kin­
dergärten werden zukünftig immer neue Ideen und Pro­
jekte entwickelt.
Für ihr Engagement und das Projekt »Wald mit allen
Sinnen für Sehende und Blinde« wurde Frauke Albuszies
im Dezember 2009 mit dem Bürgerpreis ausgezeichnet.
Die Initiative »für mich, für uns, für alle« verlieh der Ge­
rolsbacherin den zweiten Platz des bundesweiten Ehren­
amtspreises in der Kategorie Alltagshelden.
Bürgerpreis für Projekt ohne Stillstand
Der Erlebnispfad soll zukünftig den Bedürfnissen der
Besucher und auch den natürlichen Gegebenheiten vor
Ort stets angepasst und weiterentwickelt werden. Neue
Aktions­Stationen entstehen wie beispielsweise die Baum­
burga torgesist
Mitarbeiterinim
FachgebietPresse-und
Öffentlichkeitsarbeit
desMDS.
[email protected]
gesundheit und Pflege
Personenortungssysteme in der Pflege
Wenn die Armbanduhr
den Alarm auslöst
a n F a n G D e s J a h R e s sorgte der tragische Unfall einer 93-jährigen demenzkranken Patientin im Klinikum Offenbach
für Schlagzeilen. Die Frau war in einen Schacht gefallen und wurde erst 24 Stunden später tot aufgefunden. Das hätte
mit einem GPS-gestützten Ortungssystem wahrscheinlich verhindert werden können. Doch der Einsatz dieser
Systeme ist umstritten. Rund-um-die-Uhr-Überwachung und Freiheitseinschränkung sind die Argumente der Kritiker.
So fallen die Entscheidungen der Gerichte zu GPS-gestützten Ortungssystemen in Deutschland unterschiedlich aus.
Das Pflegeheim am Nollen im badischen Gengenbach
arbeitet bereits seit 2007 mit einem Ortungssystem für
Menschen mit einer erhöhten Weglauftendenz. Nach meh­
reren Fällen, in denen sich Bewohner verirrt hatten, ent­
schloss sich Heimleiter Heinz Litterst, die für die Ortung
notwendige Hard­ und Software anzuschaffen. Überwacht
werden Pflegebedürftige, die durch ihren erhöhten Bewe­
gungsdrang besonders gefährdet sind, orientierungslos
in der Umgebung herumzuirren. Sie tragen einen Sender
in Form einer Armbanduhr am Handgelenk. Sobald sie
einen definierten Bereich rund um das Gebäude verlas­
sen, erhalten die Pflegekräfte ein Signal auf ihren Emp­
fänger und können sich um den »Flüchtling« kümmern.
»Wir wollen kein geschlossenes Haus, in dem die Bewoh­
ner eingesperrt sind«, erklärt Pflegedienstleiter Wolfgang
Granzow. »An bestimmen ›Meeting Points‹ haben die Pfle­
gebedürftigen die Möglichkeit, zusammenzukommen,
und diese Treffpunkte gibt es auch außerhalb des Hauses.
Das Sicherheitssystem sorgt dafür, dass die Bewohner
diesen Bereich nicht unbemerkt verlassen.«
Uneinheitliche Rechtsprechung
Um ein Personenortungssystem in der Pflegeeinrichtung
installieren zu dürfen, muss die Heimleitung die Geneh­
migung eines Betreuungsgerichtes einholen, da es sich
um einen Eingriff in die Freiheitsrechte des Betroffenen
handelt. Hier reicht die Zustimmung eines Betreuers oder
Bevollmächtigten nicht aus. Außerdem muss eine kon­
krete, unmittelbar drohende Gesundheitsgefährdung vor­
liegen. Die Gerichte urteilen sehr unterschiedlich über die
Systeme. »Einige Gerichte haben das System genehmigt,
weil sie darin ein Beaufsichtigungsinstrument zum Schutz
der Bewohner sehen. Andere sehen darin eindeutig eine
sogenannte freiheitsentziehende Maßnahme – eine Kate­
gorie, in die zum Beispiel auch die Fixierung des Bewoh­
ners am Bett fällt. Diese Gerichte sehen keinen großen
Unterschied darin, ob man alle Türen abschließt oder
den Bewohner am Verlassen des Gebäudes hindert, weil
das gps­System einen Warnton von sich gegeben hat«,
sagt Bärbel Schönhof von der Alzheimer Gesellschaft.
Den Bewohner begleiten
Ursachen für Bewegungsdrang finden
Bärbel Schönhof, Fachanwältin für Sozialrecht und zweite
Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, sieht
den Einsatz der Personenortungssysteme nicht ganz un­
kritisch. »Wichtig ist, die Ursachen für eine Weglauften­
denz zu betrachten. Vielleicht sucht der Patient etwas,
weil er sich in seiner Umgebung nicht zurechtfindet. Oft
fehlt Demenzkranken auch das Zeitgefühl. Sie denken,
dass sie zur Arbeit müssen oder abgeholt werden. Viele
haben einen großen Bewegungsdrang, da lohnt sich auch
der Blick in die Biografie des Bewohners. Wenn er leiden­
schaftlich gerne im Garten gearbeitet hat, hat er viel­
leicht nicht so viel Spaß daran, Bastelarbeiten im Haus
zu machen, sondern möchte sich
Beaufsichtigung oder
draußen aufhalten. Wenn der
Bewegungsdrang der Patienten
Freiheitsentzug?
gestillt ist, lassen sich auch
Schlafstörungen vermeiden und nächtliche ›Ausflüge‹ ver­
hindern.«
Das Gengenbacher Gericht hat dem Pflegeheim am Nollen
grünes Licht für die Maßnahme gegeben. »Im Gegenteil,
der Richter hat darin sogar eine freiheitsgebende Maß­
nahme gesehen«, berichtet Pflegedienstleiter Wolfgang
Granzow. »Wichtig ist, dass man den Bewohner, der das
Signal ausgelöst hat, nicht gleich festhält und zwingt,
wieder ins Haus zu gehen. Die Pflegekräfte beobachten
zunächst, was derjenige vorhat. Möchte er sich ein wenig
die Beine vertreten, begleitet ihn eine Schwester. Wenn
sie dann wieder zu Hause angekommen sind, hat sich der
Bewegungsdrang vielleicht sogar schon gelegt.«
Auch die 88­jährige Maria S. trägt ein Armband. Zwar
sitzt sie im Rollstuhl, doch hindert sie das nicht am »Aus­
büchsen«. »Besonders in den Abendstunden ist sie sehr un­
ruhig«, berichtet ihre Nichte Lioba Eberhardt. »Hin und
wieder macht sie sich auch allein auf den Weg – so schnell
kann man gar nicht gucken.« Aufgrund der vielen Allein­
gänge, bzw. ­fahrten, willigte die Krankenschwester gleich
ein, als Wolfgang Granzow ihr vorschlug, ihre Tante in das
Ortungssystem mit aufzunehmen. »Es ist ja eine Frage der
29
30
m d k forum 2/10
gesundheit und Pflege
Sicherheit, sie ist dadurch etwas freier in der Bewegung.
Jetzt muss ich mir keine Sorgen mehr machen, dass etwas
passieren kann.«
Bärbel Schönhof schätzt die Gefahr für die demenz­
kranken Bewohner nicht allzu groß ein: »Natürlich war
der Fall in Offenbach sehr dramatisch. Das war jedoch ein
Extremfall, wie er so nicht oft vorkommt. Die Bewohner
sind in den Heimen und Kliniken unter Aufsicht. Wenn
sie sich tatsächlich mal verlaufen oder ungesehen das
Heim verlassen, melden sich in den meisten Fällen die
Anwohner oder die Polizei bei der Einrichtung.«
Entlastung des Personals kein Grund
Den Einsatz eines Ortungssystems hält die Anwältin des­
halb nicht für unbedingt notwendig. »Die Frage ist, war­
um eine Pflegeeinrichtung ein Ortungssystem einsetzt.
Die Betreuung von Demenz­
kranken ist sehr personalauf­
Patientenwohl sollte
wendig und zeitintensiv. Da liegt
einziger Überwachungses nahe, solch ein System einzu­
grund sein
richten, um sich die Arbeit zu
erleichtern. Das ist der falsche Weg. Die Freiheit des Be­
wohners darf dabei nicht eingeschränkt werden. Wenn
das System dazu genutzt wird, einen Demenzkranken, der
sich verirrt hat, wiederzufinden, macht das Sinn.«
Wolfgang Granzow ist sehr zufrieden mit der Ortungs­
edv. Sie trage maßgeblich zum Schutz der Bewohner bei.
»Wir sind in der Pflicht, die Sicherheit der Bewohner zu
schützen. Natürlich wird dadurch auch das Personal ent­
lastet – hinter jedem Bewohner herzulaufen wäre ja gar
nicht möglich. Auf diese Weise haben die Pflegekräfte die
Möglichkeit, sich intensiver um einzelne Bewohner zu
kümmern.«
Für die Zukunft könnte sich Granzow vorstellen, das
System noch weiter auszubauen und auch gps für die
Ortung zu nutzen. Auf diese Weise wäre es den Mitarbei­
tern des Heims möglich, jederzeit nachprüfen zu können,
wo sich welcher Bewohner gerade aufhält. »An dieser
Stelle könnte es auch datenschutzrechtliche Probleme
geben«, warnt Bärbel Schönhof. »Ein Bewegungsprofil
dürfte zum Beispiel nicht angefertigt werden. Außerdem
darf das Heim die Daten des Systems nicht speichern.
Nutzt die Einrichtung das System nur zur Überwachung
des aktuellen Geschehens, gibt es datenschutzrechtlich
keine Einwände.«
Friederike Geisler
31
gesundheit und Pflege
m d k forum 2/10
Interview mit Prof. Dr. Dr. h. c. Friedhelm Beyersdorf
Weniger arbeiten – mehr erreichen
F ü R v i e l e K R a n K e n h ä u s e R bedeutet Qualitätsmanagement primär eine gesetzlich verordnete Pflichtaufgabe.
Dass es auch anders geht, beweist Prof. Dr. Dr. h. c. Friedhelm Beyersdorf, Leiter der Abteilung Herz- und Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. »Weniger arbeiten – mehr erreichen« – so sein Fazit der Folgen aus der Beratung.
MDK Forum Herr Professor
Dr. Beyersdorf, Sie sind mit Ihrer
Abteilung hinsichtlich Qualitäts­
sicherung schon immer weit über
die gesetzlichen Vorgaben hinaus­
gegangen. Vor gut drei Jahren hatten
Sie die Beratungsgesellschaft
Porsche Consult im Haus. Wie sehen
Sie dieses Projekt drei Jahre danach?
prof. Friedhelm Beyersdorf Ich sehe es
auch nach drei Jahren als einen ganz
großen Gewinn für unsere Mitar­
beiter und Patienten. Wir haben sehr
viel gelernt und unsere Einstellung
zur Arbeit geändert.
MDK Forum Worin bestand dieser
große Gewinn?
Beyersdorf Wir haben erstmalig
gelernt, dass es möglich ist, mit
weniger Arbeit mehr zu erreichen.
Dies klingt zunächst einmal kontra­
produktiv. Es ist aber tatsächlich so,
dass wir durch die Neustrukturierung
der Arbeitsorganisation weniger
und gleichzeitig sehr viel effektiver
arbeiten als früher. Diese Erkenntnis
hat dem gesamten Team so viel Spaß
gemacht, dass wir in den Jahren
danach viele Veränderungen nach
demselben Prinzip auf den Weg
gebracht haben.
MDK Forum Welche Veränderungen
Prof.Dr.Dr.h.c.FriedhelmBeyersdorf
sind das zum Beispiel?
Beyersdorf Wir hatten schon immer
unsere Clinical Pathways in den
Schubladen liegen. Ins Leben
gerufen und konsequent umgesetzt
haben wir sie erst in der Kooperation
mit Porsche Consult und McKinsey.
Die wichtigste Veränderung besteht
aber darin, dass wir genauer hinter­
fragt haben, was wirkliche und was
vergeudete Zeit für unsere Patienten
ist. Man macht unbewusst viele
Dinge, die entweder gar nicht oder
nicht zu diesem Zeitpunkt not­
wendig sind. Warum muss man
beispielsweise für eine Visite der
ganzen Abteilung die Zeit rauben,
wenn man Fragen auch in einem
kleinen Kreis fachlich, kurz und
problemlösend klären kann? Dieses
Bewusstsein lebt bis heute fort.
MDK Forum Sie haben vor Jahren
immer wieder darauf hingewiesen,
dass mit der konsequenten Um­
setzung von Clinical Pathways ein
wirtschaftliches Einsparpotenzial zu
erzielen ist. Trifft dies heute noch zu?
Beyersdorf Auf jeden Fall. Wir kön­
nen uns heute nicht mehr vorstellen,
ohne die Pathways zu arbeiten.
Wir haben sie regelmäßig weiterent­
wickelt und sobald wir etwas Neues
umsetzen, machen wir das nach
einem festen Schema, völlig transpa­
rent für die Mitarbeiter. Alle Fragen
und Anmerkungen werden mit
eingebracht und dies ist, neben dem
Einsparpotenzial, einer der Gründe,
weswegen wir weiterhin so positiv
zu den Clinical Pathways stehen.
MDK Forum Gab es in der Koopera­
tion mit Porsche Consult und
McKinsey und der Zeit danach auch
Dinge, die Sie im Nachhinein
als Fehlentwicklung bezeichnen?
Beyersdorf Nein, definitiv nicht.
Was wir in den vergangenen Jahren
angegangen sind, hat zu erheblichen
Verbesserungen geführt und hat uns
geholfen, wesentliche Zeit einzu­
sparen. Darüber hinaus gibt es aber
auch noch viele Projekte, die ich
mir vorstellen kann.
MDK Forum Haben Sie neue
Projekte in der Pipeline?
Beyersdorf Theoretisch sehr viele
und wichtige. Aber analog zur
Lufthansa: Die Lufthansa hat einen
zukunftsweisenden Qualitäts­
standard. Diesen aufrechtzuerhalten
kostet viel Personal und unglaublich
viel Geld. Außer dass wir die Kosten
nicht auf die Preise umlegen
können, geht es uns wie der Airline:
Wir könnten noch viel mehr machen,
nur mit den heutigen Rahmen­
bedingungen, so wie beispielsweise
dem kleinen Personalstamm,
schaffen wir das nicht.
MDK Forum War die Kooperation
mit Porsche Consult damals ein
Glücksgriff?
Beyersdorf Wie alle Kliniken in
Deutschland hatten wir hier in
Freiburg unzählige Berater, so dass
wir gar nicht auf die Idee gekommen
wären, jemanden zusätzlich ins
Haus zu holen. Dies ist mehr aus
Neugierde und aus persönlicher
Freundschaft zum damaligen Porsche­
Chef Dr. Wiedeking entstanden.
Am Anfang war es mehr ein »Auspro­
bieren«, denn damals hatte Porsche
Consult noch keine Erfahrung im
Krankenhaus. Deswegen auch die
Mitarbeit von McKinsey. Das machte
die Kooperation aber auch so inter­
essant. Die Arbeit war spannend, hat
Spaß gemacht und es kamen tolle
Ergebnisse dabei heraus.
Die Fragen stellte
Dr. Uwe Sackmann
32
die Politische kolumne
m d k forum 2/10
Ein Kommentar von Steffen Habit
Röslers geplatzte Träume
D e R t R a u M von der ganz großen Gesundheitsreform währte wenige Monate. Mit der Niederlage für Schwarz-Gelb in
NRW und dem Verlust der Bundesratsmehrheit steht auch die geplante Kopfpauschale vor dem Aus. Für Krankenkassen
und Versicherte allerdings kein Grund zum Aufatmen: Die Gesundheitspolitik droht, im Parteienstreit zu versinken.
Die Enttäuschung war Gesundheitsminister Philipp Rös­
ler (fdp) anzusehen. Mit versteinerter Miene stand der
fdp­Jungstar am Wahlabend hinter Parteichef Guido
Westerwelle, der sich bemühte, das miserable Ergebnis
schönzureden. Da half es auch wenig, dass Rösler wenige
Tage nach der nrw­Pleite auf dem Deutschen Ärztetag in
Dresden betont kämpferisch auftrat. Eine schlechte Re­
form würde auch bei den heutigen Mehrheitsverhältnis­
sen in der Länderkammer keine
Zustimmung erhalten, rief der
Rösler muss sein Projekt
37­Jährige den Kritikern ent­
stutzen
gegen. »Eine gute Reform hat
dagegen immer eine Chance im Bundesrat.« Trotz der
Durchhalteparolen – Rösler wird sein Prestige­Projekt
kräftig stutzen müssen.
Skepsis aus der Union
»Die können die Kopfpauschale beerdigen. Wir stimmen
im Bundesrat nicht zu«, verkündete Grünen­Gesundheits­
expertin Biggi Bender selbstbewusst nach der nrw­Wahl.
Auch die Sozialdemokraten ließen keinen Zweifel, was sie
vom Prämien­Modell halten – nämlich überhaupt nichts.
Mehr als 100 000 Unterschriften gegen die Kopfpauschale
hat die spd bereits gesammelt. Die Genossen instrumen­
talisierten damit den nrw­Wahlkampf zur Abstimmung
über die Gesundheitsreform. Aber nicht nur die Opposi­
tion macht mobil gegen Röslers Lieblingsprojekt. Auch
innerhalb der Union wachsen die Zweifel. »Evolution statt
Revolution ist die Maxime. Den allein seligmachenden
Totalumbau gibt es nicht«, betonte jüngst der gesund­
heitspolitische Sprecher der cdu, Jens Spahn, im taz­
Interview. Er rückte damit dezent vom einstigen Reform­
Kurs ab. Seine skeptischen Worte sind umso erstaunli­
cher, als bisher vor allem die csu gegen die umstrittene
Kopfpauschale wetterte.
Aus Bayern kommen seit der nrw­Wahl dagegen gera­
dezu staatstragende Töne. »Der gesetzlichen Krankenver­
sicherung steht das Wasser bis zum Hals«, erklärte Uni­
onsfraktionsvize Johannes Singhammer (csu). Für lange
Reform­Debatten bleibe keine Zeit, sonst drohe eine
»Kaskade von Insolvenzen« bei den Kassen, warnte Sing­
hammer. Die csu­Strategie ist eindeutig: Warum weiter­
hin öffentlich gegen die Kopfpauschale schießen, wenn
die Reform sowieso kaum noch eine Chance hat?
Die Zahlen geben Singhammer recht. Die Finanzlage
der Krankenkassen wird sich spätestens 2011 dramatisch
zuspitzen. Schätzungen des Bundesversicherungsamtes
gehen von einem Minus von 6 bis 15 Milliarden Euro aus.
Schuld sind vor allem die steigenden Ausgaben. Zugleich
wird der Bundeszuschuss im nächsten Jahr von 15,7 auf
13,3 Milliarden Euro sinken. Zurückzahlen müssen die
Kassen auch das Darlehen aus dem Jahr 2009 in Höhe von
2,3 Milliarden Euro. Angesichts der Milliarden­Lücke
wirkt das Arzneimittel­Sparpaket, das Rösler medien­
wirksam geschnürt hat, lediglich wie ein Tropfen auf dem
heißen Stein.
18,40 Euro Zusatzbeitrag?
Woher sollen also die Milliarden kommen, um das Loch
zu stopfen? Höhere Zusatzbeiträge? Der Verband der
Ersatzkassen in Bayern hat jüngst berechnet, dass bei
einem Defizit von elf Milliar­
den Euro im nächsten Jahr im
Arzneimittel-Sparpaket nur
Schnitt Zusatzbeiträge von 18,40
Tropfen auf dem heißen
Euro im Monat fällig wären.
Stein
Eine Alternative wäre, den bun­
desweit einheitlichen Beitragssatz von derzeit 14,9 % an­
zuheben. Die Gesundheitsexperten in der Union sehen
dies jedoch als letzten Ausweg. Denn höhere Beiträge be­
deuten auch höhere Lohnnebenkosten für die Unterneh­
men. Sicher ist nur: Eine Anhebung des Staatszuschusses
gilt als ausgeschlossen. Um die Schuldenbremse einzu­
halten, muss die Bundesregierung in den nächsten Jahren
Milliarden sparen. Statt mehr wird es daher eher weniger
Geld für den Gesundheitsfonds geben.
Der Handlungsspielraum für den ambitionierten Ge­
sundheitsminister ist massiv geschrumpft. Sein selbst ge­
stecktes Ziel – der schrittweise Umstieg auf eine einkom­
mensunabhängige Prämie mit Sozialausgleich – ist in
weite Ferne gerückt. Dabei hat sich der fdp­Hoffnungs­
träger stets bemüht, alles richtig zu machen. Wochenlang
schloss sich Rösler nach Amtsantritt im Ministerium in
Berlin ein. Keine Interviews, keine Talkshows. Der Minis­
ter wolle sich erst einarbeiten, ließ der 37­Jährige mittei­
len. Angeblich übernachtete der zweifache Vater sogar im
Ministerium, um nachts noch Akten zu studieren. Dann
ging es Schlag auf Schlag: Erst verkündete Rösler ein strik­
tes Arzneimittel­Sparpaket, dann forderte er eine Landarzt­
Quote, um die medizinische Versorgung auf dem Land zu
verbessern.
Dies alles sollte jedoch nur der Startschuss für die gro­
ße Reform sein. Im Frühjahr bildete Rösler eine neue Ge­
sundheitskommission – in ungewöhnlicher Zusammen­
setzung: Statt Experten berief der Minister das halbe Bun­
die politische kolumne
m d k forum 2/10
deskabinett in das Gremium. Bevor die Kommission ihre
Arbeit aufnehmen konnte, war sie quasi schon wieder
beendet. Die Eckpunkte für eine Reform sollen zunächst
mit den Partei- und Fraktionsspitzen von cdu / csu und
fdp abgestimmt werden, hieß es überraschend nach der
nrw-Wahl. Die Kommission wird die Ergebnisse später
wohl nur noch abnicken. Ursprünglich wollte Rösler Mitte
Mai dem Gremium seine Vorschläge präsentieren. Angeblich hat Kanzlerin Angela Merkel (cdu) ihren Gesundheitsminister in letzter Minute zurückgepfiffen, um neuen
Krach in der schwarz-gelben Koalition zu vermeiden.
Wie die regierungsinternen Verhandlungen auch ausgehen – Rösler muss die Sozialdemokraten ins Boot holen.
Ohne die Stimmen der Genossen wird sein Prestige-Projekt in der Länderkammer scheitern. Zwar beteuert das
Gesundheitsministerium, es arbeite seit Monaten an einer
Reform-Variante, die ohne Zustimmung des Bundesrates
auskommt. Angesichts des geplanten Sozialausgleichs
aus Steuermitteln erscheint dies jedoch unrealistisch.
Denn bei Steuerfragen haben die Länder ein Wort mitzureden. Selbst ein Sozialausgleich über die Krankenkassen
wäre keine Lösung. Schließlich unterstehen die Ortskrankenkassen der Aufsicht der Länder. Selbst wenn Röslers JurisRösler muss die Sozial­
ten einen Weg finden, irgenddemokraten ins Boot holen
wie am Bundesrat vorbeizukommen – es wäre politisch unklug: Die Bürger würden ihm
solche Tricksereien übelnehmen.
Zwischen Diplomatie und Machtpolitik
Rösler hat sein politisches Schicksal mit der Einführung
einer Prämie verknüpft. »Wenn es nicht gelingt, ein vernünftiges Gesundheitsversicherungssystem auf den Weg
zu bringen, dann will mich keiner mehr als Gesundheitsminister haben«, sagte der fdp-Politiker Anfang Februar
in der ard-Sendung »Beckmann«. Schon damals spottete
spd-Fraktionsvize Elke Ferner, Rösler könne schon mal
seine Koffer packen. Damit es so weit nicht kommt, muss
der Gesundheitsminister rasch zum Befreiungsschlag
ansetzen. Die heikle Mission: Erst die widerspenstige csu
bändigen, dann die Opposition überzeugen. Dafür braucht
Rösler die richtige Mischung aus diplomatischem Fingerspitzengefühl und knallhartem Verhandlungsgeschick.
Es bleibt jedoch zu befürchten, dass der Drahtseilakt
misslingt. Dann droht die Gesundheitspolitik endgültig
zum Spielball der Machtpolitik zu verkommen. Jede
Partei wird der anderen vorwerfen, die entscheidenden
Reformen zu blockieren. Die Leidtragenden wären die Versicherten: Über kräftig steigende Zusatzbeiträge müssten
sie den Preis dafür zahlen, dass der Politik die Kraft für
dringend nötige Korrekturen fehlt.
Steffen Habit
istWirtschaftsredakteur
beimMünchner Merkur.
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